Die Phänomenologie und ihre Vieldeutigkeit.
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nicht, ob nicht die von der klassischen Philosophie zu¬
gelassenen und von ihr gekannten Vermögen des Wissens¬
erwerbs — Schauen von Urbedeutungen und Schauen
von besonderen verbesserbaren Ordnungstypen im Ge¬
gebenen — genügen. Sie genügen unseres Erachtens ohne
jeden Zweifel, und die Tatsachen nötigen hier, d. h. etwa
angesichts der Setzungen „Ding“ und „Du“, keinesfalls
dazu, eine neue Art des Wissenserwerbs einzuführen.
Und es kommt hinzu, daß das angeblich unmittelbar
Erfaßte am Erlebten ohne weiteres für metaphysisch aus¬
gegeben, der echte Begriff des Metaphysischen aber, der
im Gegensatz zum Erlebten als Erscheinung steht, gar
nicht gesehen wird. Alles ist auf Wunsch gegründet; man
wünscht ein Wissen, das erstens unmittelbar in Voll¬
endung erworben und zweitens absolut ist. Man tritt
zurück hinter die gesamte klassische Philosophie von
Descartes über Locke, Hume, Berkeley, Leibniz
bis Kant; man annulliert diese Philosophie.
Es ist aber gefährlich für den Fortgang gesunden
Denkens, Wissensinhalte auf den Wunsch zu gründen,
ohne Kontrolle neue Wege des Wissenserwerbs zuzulassen
und das, was man allenfalls „glauben“ mag, anzusehen,
als sei es sicheres Wissen.
Die Phänomenologie, wie sie heute betrieben wird, ist
eine Gefahr für die strenge Philosophie.
Driesch, Philosophische Gegenwartsfragen.
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