Die Phänomenologie und ihre Vieldeutigkeit.
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mehr. Das, was sonst Erscheinungswelt hieß, ist ihnen
die Ansich-Welt, die metaphysische Welt geworden. Ihre
Schau soll also unmittelbar das Wirkliche treffen; ein
anderes Wirkliche gebe es nicht, sagen sie uns.
Hier lehnen wir zweierlei ab: erstens daß ein wahres
Ansich nicht bestehen soll, und zweitens daß Erscheinung
das Ansich sei. Denn das sind zwei verschiedene, sich frei¬
lich durchdringende Behauptungen.
Wir selbst geben zu, daß sich die Existenz eines Ansich
nicht beweisen lasse; nur glauben können wir an sie
und dürfen es. Wir wissen freilich nicht, daß sie nicht
besteht. Wer das lehrt, ist „negativer Dogmatiker“.
Wer es vorzieht, mag also die Metaphysik beiseite
lassen. Aber er darf nun nicht die Welt des für mich,
„meine“ Welt, für das Wirkliche, das Ansich, aus¬
geben.
Sagen wir dasselbe noch einmal anders: Wer an ein An¬
sich glaubt, für den ist „meine“ Welt Erscheinung des An¬
sich. Für den, welcher nicht an ein Ansich glaubt, ist das
Wort „Erscheinung“ ohne Sinn, er muß von „Welt“
schlechthin reden, welche ja jedenfalls „seine“ ist — nach
anderem fragt er gar nicht. Aber Eines geht auf keinen
Fall an: „meine“ Welt ohne weiteres als „Ansich-Welt“
auszugeben.
Oder noch anders: Der Solipsismus ist ein unwider¬
leglicher, nur durch Glauben überschreitbarer Stand¬
punkt; nicht leugnet er ein Ansich, aber er kümmert sich
nicht darum. Unzulässig aber ist es, ohne weiteres zu
dekretieren, daß die solipsistisch erfaßte Welt eine An¬
sich-Welt sei.
Aber sie sei doch gültig für alle Iche, für Jedermann,
für „das Bewußtsein“! Was heißt denn das? Woher weiß
ich von „allen Ichen“, von „Jedermann“, von „dem Be¬