Schiußbetrachtungen. 119
soll die Ratio stammen, wenn nicht aus dieser höchsten
Quelle.
Seid besonders vorsichtig auf sogenanntem kultur- und |
geschichtsphilosophischem Gebiete. Werft jedes Buch in \
die Ecke, das euch mit schwammiger Pathetik einlullen
will. Haltet euch hei dem, was ihr lest, an das Klare. Ü
Viel gibt’s hier nicht davon; am meisten gibt es, scharf
begrifflich gefaßt, nationalökonomisch und soziologisch.
Aber Lamprechts, Breysigs, Th. Lessings, H.
Schneiders geschichtstheoretische Lehren sind auch
wahrhaft gediegen, ebenso Litts Analyse des sozialen
„Verstehens“ (namentlich seine Lehre vom „Dritten“
und vom „geschlossenen Kreis“), und ebenso die For¬
schungen über Charakterpsychologie von Seheier,
Spranger, Klages, Jung, Grünbaum, Kretsch-
mar u. a.
Aber die Charakterologie ist doch offenbar bloße Klassi¬
fikation auf psychologischem Gebiet. Die Lehre vom „Ver¬
stehen“ aber ist deskriptive Psychologie; sie sagt uns:
„das könnte ich mir auch als mein eigenes Erlebnis
denken, das kenne ich schon als ,Wesen1 menschlichen
Erlebens“1).
Beide sind für echte wahrhaft „verstehende“ Theorie
gewiß von Wert, aber nur als Vorarbeiten. Ob es im
Rahmen der seelischen Menschengemeinschaft echte
Evolution oder nur auf Psychologie gegründete Kumu¬
lation gibt, das ist hier die eigentliche Grundfrage, die
Frage also, ob Geschichte eine „Grundwissenschaft“ ist
oder nicht. Und diese Frage wird meist gar nicht gesehen.
*) Gelegentlich freilich sagt man auch, daß man ein Geschehen
„verstehe“, wenn man es in einen auf ein Ziel gerichteten, also evo-
lutiven Zusammenhang setzt. Meist ist solche evolutive Beziehung
freilich nur hypothetisch (= „reflektierend“. Kant). Man vergleiche
das auf Seite 56 über das Wort „Sinn“ Gesagte.