[. DIE UMBILDUNG DES RELIGIÖSEN ERLEBNISSES
1. GLAUBENSKRISIS
je Entwicklung der bürgerlichen Klasse in Frankreich im
D XVIIL Jahrhundert ist, soweit es sich dabei um den
Glauben handelt, in ihren allgemeinen Grundzügen scheinbar
leicht zu umschreiben. Glaube und Unglaube sind die beiden
Momente, auf die sich die einzelnen Phänomene zurückführen
lassen: Am Anfang herrscht der Glaube, wohingegen wir es am
Ende der Entwicklung mit einem mehr oder weniger verbreiteten
Unglauben zu tun haben. Die Zeitgenossen selbst haben im
Grunde auch nicht anders gedacht. Ehemals war man gläubig,
heißt es immer wieder in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr:
hunderts, jetzt ist man es nicht mehr. Dabei scheint es zunächst
gar nicht wesentlich, festzustellen, wie weit denn tatsächlich
dieser Unglaube verbreitet war. Es handelt sich jedenfalls
um ein kollektives Phänomen, dessen Wesen es zu erfassen
gilt, und dies setzt vor allem voraus, daß man näher zu be-
stimmen sucht, was es denn eigentlich hier bedeufet, wenn wir
von Glauben und Unglauben sprechen. Ehemals war der ge-
bildete Laie gläubig; jetzt ist er es nicht mehr — aber was
glaubte er eigentlich damals, als er noch gläubig war? Und
was ist jetzt aus seinem Bewußtsein geschwunden., da er nicht
mehr gläubig ist?
Vielleicht wird es zunächst scheinen, als ob die Beant-
wortung dieser Frage eigentlich keine Schwierigkeiten darböte.
Als der gebildete Laie noch gläubig war, könnte man meinen,
glaubte er an alles, was die Kirche lehrt. Jetzt wo er den
Glauben verloren hat, glaubt er im Grunde von alledem nichts
mehr. Wenn man den Ton auf das Wort Glauben in seiner
eigentlichen Bedeutung legt, so könnte man allerdings viel-
leicht sagen, daß er an nichts mehr glaubt, (hierauf wird später
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