Bürgertum und Volk
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wovon er tatsächlich überzeugt ist, wofür er persönlich ein-
zustehen bereit ist, und dem, was er im besten Falle eben nur
hinnehmen kann, weil er weiß, daß es die Kirche lehrt, und
daß diese nicht irren kann.
Alle solche Fragen und Problemstellungen setzen voraus,
daß der Glaube aufgehört hat, sich als unmittelbare Einheit
darzustellen, daß er immer mehr in eine Reihe von Einzel-
sätzen zerfällt, die als solche diskutiert werden müssen. Will
die Kirche dann die Einheit des Glaubens wiederherstellen
und gewissermaßen aus den verschiedenartigen Individuen,
deren Glaubenserlebnisse nicht mehr die gleichen sind, von
Neuem eine Gemeinde bilden, so muß sie eine Reihe von
Fiktionen zu Hilfe nehmen. Wer sich der Autorität der
Kirche unterwirft, glaubt auch weiterhin an das, was er
nach seinem eigenen Eingeständnis nicht mehr zu glauben
vermag. Das ist die erste Fiktion. Aber auf welche Weise
kann er nun tatsächlich an das glauben, woran er beim besten
Willen nicht mehr zu glauben vermag, weil es ihm zu etwas
Fremdem, in jeder Hinsicht Unverständlichem geworden ist?
Wie soll er sich davon überzeugen, daß eine Lehre die seiner
ganzen Geistesverfassung widerspricht, doch einen Bestandteil
dessen bildet, woran er glaubt? Hier kommt die Theorie der
fides implicita zu Hilfe. Was er nicht explicite zu glauben
vermag, kann er implicite glauben. Das ist die zweite Fiktion,
die gewissermaßen der ersten als Ergänzung dient.
Die Theorie der Fides implicita ist, wie wir schon an-
gedeutet haben, nicht neuen Ursprunges, und wir wollen auch
nicht behaupten, daß etwa die religiös-kirchliche Entwicklung
des XVIIIL. Jahrhunderts in Frankreich sich auf Grundlage dieser
Theorie vollzogen habe. Sie ist aber jedenfalls ein charakte-
ristischer Ausdruck einer bestimmten Lage und kann wohl
dazu dienen, bestimmte Phänomene der religiösen Entwicklung
begreiflich zu machen. Der Katholik weiß nur verhältnis-
mäßig wenig von der Lehre seiner Kirche, und was er davon
weiß, hat er sich immer nur in mehr oder weniger unvoll-
kommener Weise zu eigen gemacht, und häufig in einer Form,
die, wenn sie zu klarem Ausdruck gelangen könnte, nicht
mehr ganz der ursprünglichen Lehre entsprechen würde. So
liegt denn tatsächlich hier ein Problem vor, das zum mindesten
alle die betrifft, die nicht gelehrte Theologen sind. Die Frage