Die Idee der Sünde
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physische Hypothese darstellt, sondern irgendwie ein be-
stimmendes Moment in seiner Lebensgestaltung, eine Regel und
einen Wertmaßstab, nach dem er sich richten kann, wenn es
sich darum handelt, die Aufgaben zu erfüllen, die sich für
ihn aus den veränderten Bedingungen des wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Lebens ergeben?
Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man in
die Einzelheiten des bürgerlichen Lebens selbst eindringt, den
Bürger gewissermaßen über seine Sorgen und Hoffnungen
befragt und damit dann die Anweisungen und Ratschläge
vergleicht, die ihm die Kirche zu geben vermochte. Der
Bürger spricht mit den Geistlichen über alle seine Lebens-
verhältnisse, sei es um sich Rats zu holen, sei es einfach um
mit ihnen zu diskutieren und sich in seinen eigenen Augen zu
recht fertigen. Da handelt es sich nun nicht mehr nur darum,
die Welt so oder so zu deuten sondern um erlebte Wirklichkeit,
um das Alltagsleben des Bürgers. Er spricht von seiner Arbeit
und von seinen Kindern, von seinem Wohlstand und von seinen
Lebenszielen. Er möchte wissen, was die Kirche zu alledem
zu sagen hat, und die Prediger geben ihm auch Antwort. Aber
ihre Antworten können ihm nicht genügen. Je mehr sich sein
Klassenbewußtsein entwickelt, desto klarer wird es ihm auch,
daß er seine Werte selbständig entwickeln muß. Damit soll
nicht gesagt sein, daß man nicht auch bei den Vertretern der
kirchlichen Welt- und Lebensanschauung manchen Ansatz
findet, den Forderungen des neuen bürgerlichen Lebens gerecht
zu werden. Aber so bedeutsam auch hierfür vieles sein mag,
was man sowohl bei den Jansenisten wie bei den Jesuiten
findet, es fehlt doch immer ein Letztes, das der Zustimmung
der Kirche erst ihre volle Bedeutung hätte geben können: die
Entwicklung neuer Werte und Maßstäbe, um das bürgerliche
Leben in seiner Besonderheit zu erfassen und vor Gott zu
rechtfertigen. Irgendwie tritt dabei immer wieder der Gegensatz
zwischen Priestertum und Bürgertum in Erscheinung. Der
Bürger hat das Gefühl, daß der Priester ihm, wenn nicht gerade-
zu feindlich, doch im Grunde auch nicht wohlgesinnt ist, daß
die Kirche, wenn sie seine Bestrebungen billigt, es doch immer
nur innerhalb gewisser eng gezogener Schranken tut.
Je mehr nun aber der Bürger zu Macht und Einfluß
vgelangt, desto mehr wird er sich bewußt, daß die Sozial-