Full text: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung (1)

Die Idee der Sünde 
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physische Hypothese darstellt, sondern irgendwie ein be- 
stimmendes Moment in seiner Lebensgestaltung, eine Regel und 
einen Wertmaßstab, nach dem er sich richten kann, wenn es 
sich darum handelt, die Aufgaben zu erfüllen, die sich für 
ihn aus den veränderten Bedingungen des wirtschaftlichen und 
gesellschaftlichen Lebens ergeben? 
Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man in 
die Einzelheiten des bürgerlichen Lebens selbst eindringt, den 
Bürger gewissermaßen über seine Sorgen und Hoffnungen 
befragt und damit dann die Anweisungen und Ratschläge 
vergleicht, die ihm die Kirche zu geben vermochte. Der 
Bürger spricht mit den Geistlichen über alle seine Lebens- 
verhältnisse, sei es um sich Rats zu holen, sei es einfach um 
mit ihnen zu diskutieren und sich in seinen eigenen Augen zu 
recht fertigen. Da handelt es sich nun nicht mehr nur darum, 
die Welt so oder so zu deuten sondern um erlebte Wirklichkeit, 
um das Alltagsleben des Bürgers. Er spricht von seiner Arbeit 
und von seinen Kindern, von seinem Wohlstand und von seinen 
Lebenszielen. Er möchte wissen, was die Kirche zu alledem 
zu sagen hat, und die Prediger geben ihm auch Antwort. Aber 
ihre Antworten können ihm nicht genügen. Je mehr sich sein 
Klassenbewußtsein entwickelt, desto klarer wird es ihm auch, 
daß er seine Werte selbständig entwickeln muß. Damit soll 
nicht gesagt sein, daß man nicht auch bei den Vertretern der 
kirchlichen Welt- und Lebensanschauung manchen Ansatz 
findet, den Forderungen des neuen bürgerlichen Lebens gerecht 
zu werden. Aber so bedeutsam auch hierfür vieles sein mag, 
was man sowohl bei den Jansenisten wie bei den Jesuiten 
findet, es fehlt doch immer ein Letztes, das der Zustimmung 
der Kirche erst ihre volle Bedeutung hätte geben können: die 
Entwicklung neuer Werte und Maßstäbe, um das bürgerliche 
Leben in seiner Besonderheit zu erfassen und vor Gott zu 
rechtfertigen. Irgendwie tritt dabei immer wieder der Gegensatz 
zwischen Priestertum und Bürgertum in Erscheinung. Der 
Bürger hat das Gefühl, daß der Priester ihm, wenn nicht gerade- 
zu feindlich, doch im Grunde auch nicht wohlgesinnt ist, daß 
die Kirche, wenn sie seine Bestrebungen billigt, es doch immer 
nur innerhalb gewisser eng gezogener Schranken tut. 
Je mehr nun aber der Bürger zu Macht und Einfluß 
vgelangt, desto mehr wird er sich bewußt, daß die Sozial-
	        
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