Full text: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung (1)

Die Idee der Slinde 
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konnte ja eine solche Annäherung, begünstigen. Die kirch- 
liche Welt- und Lebensanschauung mußte dem bürgerlichen 
Geiste viel weniger fremd erscheinen, seitdem die haupt- 
sächlichsten Gegensätze, die eben in dem Widerstreite der 
augustinischen und der modernen Weltanschauung zutage 
getreten waren, nur noch der Vergangenheit angehörten und 
dem Gerechtigkeitsgefühl des neuen Menschen in weitem Maße 
Genüge getan war, d.h. vor allem: seitdem von der Prädesti- 
nationslehre, von der kleinen Anzahl der Auserwählten, von 
der Erbsünde usw. immer weniger die Rede war. Keine dieser 
schroffen Gegensätze fortan mehr, die den neuenMenschen einAn- 
stoß waren und immer von neuem Ärgernis erregt hatten. Die 
Kirche hatte sich bis zu einem gewissen Grade mit dem neuen 
Menschen, soweit er nicht seinen Unglauben in schroffen Formen 
zum Ausdruck brachte, abgefunden. Ohne noch etwas von der 
großen Sehnsucht zu verspüren, die ehedem das Grundmotiv 
des religiösen Erlebnisses gebildet hatte, konnte er es sich auf 
Erden gut gehen lassen und sich dabei auch noch weiterhin 
als eine Art Durchschnittskatholik betrachten, mit dem man 
zwar nicht allzu streng ins Gericht gehen durfte, der aber 
nach der Lehre der neuen Theologen doch noch ganz wohl 
als Christ gelten konnte, wenn er nur gewissen kirchlichen 
Verpflichtungen nachkam, die im übrigen sich recht wohl mit 
seinen sonstigen Pflichten vereinbaren ließen, ja deren Erfüllung 
seinem pflichttreuen und ehrbaren Leben eine gewisse Weihe 
verleihen und auch nach außen hin den Eindruck verstärken 
konnte, daß er ein ehrbarer Bürger ist. Im übrigen stellt 
sie keine allzugroßen Anforderungen an ihn und läßt ihn 
gewähren. 
So wesentlich aber auch diese Zugeständnisse und die aus- 
gleichenden Momente überhaupt für die Gestaltung des Verhält- 
nisses des bürgerlichen Geistes und der katholischen Welt- und 
Lebensanschauung gewesen sein mögen, die Kirche hat es doch 
nicht verhindern können, daß sich außerhalb ihrer Vorstellungs- 
welt und im Gegensatz zu ihr eine selbständige Laienkultur ent- 
wickelte. Zwischen der profanen, moralisch bestimmten Lebens- 
anschauung des Bürgers und den katholischen Vorstellungs- 
und Gefühlsweisen bleiben auch nach Ausschaltung der 
spezifisch augustinischen Motive, tiefe Gegensätze bestehen. 
Das zeigt sich vor allem, wenn wir wiederum die Vorstellung
	        
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