Die Idee der Slinde
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konnte ja eine solche Annäherung, begünstigen. Die kirch-
liche Welt- und Lebensanschauung mußte dem bürgerlichen
Geiste viel weniger fremd erscheinen, seitdem die haupt-
sächlichsten Gegensätze, die eben in dem Widerstreite der
augustinischen und der modernen Weltanschauung zutage
getreten waren, nur noch der Vergangenheit angehörten und
dem Gerechtigkeitsgefühl des neuen Menschen in weitem Maße
Genüge getan war, d.h. vor allem: seitdem von der Prädesti-
nationslehre, von der kleinen Anzahl der Auserwählten, von
der Erbsünde usw. immer weniger die Rede war. Keine dieser
schroffen Gegensätze fortan mehr, die den neuenMenschen einAn-
stoß waren und immer von neuem Ärgernis erregt hatten. Die
Kirche hatte sich bis zu einem gewissen Grade mit dem neuen
Menschen, soweit er nicht seinen Unglauben in schroffen Formen
zum Ausdruck brachte, abgefunden. Ohne noch etwas von der
großen Sehnsucht zu verspüren, die ehedem das Grundmotiv
des religiösen Erlebnisses gebildet hatte, konnte er es sich auf
Erden gut gehen lassen und sich dabei auch noch weiterhin
als eine Art Durchschnittskatholik betrachten, mit dem man
zwar nicht allzu streng ins Gericht gehen durfte, der aber
nach der Lehre der neuen Theologen doch noch ganz wohl
als Christ gelten konnte, wenn er nur gewissen kirchlichen
Verpflichtungen nachkam, die im übrigen sich recht wohl mit
seinen sonstigen Pflichten vereinbaren ließen, ja deren Erfüllung
seinem pflichttreuen und ehrbaren Leben eine gewisse Weihe
verleihen und auch nach außen hin den Eindruck verstärken
konnte, daß er ein ehrbarer Bürger ist. Im übrigen stellt
sie keine allzugroßen Anforderungen an ihn und läßt ihn
gewähren.
So wesentlich aber auch diese Zugeständnisse und die aus-
gleichenden Momente überhaupt für die Gestaltung des Verhält-
nisses des bürgerlichen Geistes und der katholischen Welt- und
Lebensanschauung gewesen sein mögen, die Kirche hat es doch
nicht verhindern können, daß sich außerhalb ihrer Vorstellungs-
welt und im Gegensatz zu ihr eine selbständige Laienkultur ent-
wickelte. Zwischen der profanen, moralisch bestimmten Lebens-
anschauung des Bürgers und den katholischen Vorstellungs-
und Gefühlsweisen bleiben auch nach Ausschaltung der
spezifisch augustinischen Motive, tiefe Gegensätze bestehen.
Das zeigt sich vor allem, wenn wir wiederum die Vorstellung