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blick selbst für einen so gewaltigen Felsen wie
Manhattan=Island der Belastungshöhepunkt über=
schritten ist und die Katastrophe beginnt. Doch die
Ingenieure und Architekten sind manchmal Opti=
misten, sie stellten eine Gegenrechnung auf und
behaupteten nun, daß man, wenn ein Wolken=
kratzer gebaut werde, bei der Ausschachtung grö=
ßere Mengen an Erde und Steinen gewichtsmäßig
entferne, als nachher das Gebäude in Stahlbeton
ausmache. Es fragt sich nur, ob der Felsen von
Manhattan=Island diese Rechnung zur Kenntnis
nimmt und gutheißt.
„Traum von Venedig" dem Untergang geweiht
Jeder weiß, daß die vielbesungene und roman*
tischste Stadt aller Städte, Venedig, auf Baum*
Stämmen ruht, die im Laufe der Jahrhunderte als
Grundlagen für alte venezianische Paläste in den
Boden gerammt wurden. Jahre hindurch, während
Jahrhunderten bewährten sie sich. Aber Luft und
Bakterien sorgten für den Verfall.
3 000 Paläste, Denkmäler und Häuser und Bau=
werke aller Art schweben in Gefahr, in die Kanäle
hineinzustürzen oder neben den Kanälen zu ver*
sinken. Es gibt kaum ein Gebäude mit einer ganz
geraden Wand. Stufen, die vor einigen Jahrzehnten
noch vom Ufer ins Wasser führten, sind längst
vom Wasser überschwemmt.
Dieses Versinken von Venedig wird in Zukunft
immer rascher vor sich gehen. Wenn nicht Hun=
derte von Millionen Lire für ein großzügiges Ret=
tungsprogramm zur Verfügung gestellt werden —
und woher soll diese Summe kommen? —, dann
ist Venedig in hundert Jahren nur noch ein
Trümmerhaufen. Das ist die Meinung der Exper*
ten. Diese wunderbare und einmalige Stadt wurde
für ihre Zeit, nicht aber für die Zukunft gebaut!
Weit zahlreicher als ganze Städte sind natürlich
einzelne Gebäude, bei welchen die große Ka=
tastrophe eines Tages nicht mehr aufzuhalten ist.
Das berühmteste Beispiel ist der Turm von Pisa,
der über fünf Meter aus der Geraden in die Schräg*
läge gesunken ist und der trotz aller Beton=
spritzen, die man dem Fundament verpaßt, auf
lange Sicht kaum noch zu retten sein dürfte.
Vom „Weißen Haus" zum „Tempel der Liebe"
Das Weiße Haus in Washington, die Wohnung
der Präsidenten der USA, zeigte vor einigen Jah=
ren so starke Risse in den Wänden und ein so
gefährliches Absinken durch Nachgeben im Unter=
bau, daß eine riesige Stahlkonstruktion eingezo*
gen werden mußte, um aus sentimentalen und
historischen Gründen das Weiße Haus zu retten.
Das Washington=Denkmal, ein Koloß von 165 m
Höhe, wurde in der Konstruktion im Jahre 1848
begonnen, bei 45 m war das Geld ausgegangen.
Schon als man 1873 weiterbaute, zeigte sich, daß
die Basis bereits auf einer Seite nachgab. Was
damals mühsam mit Zement ausgebessert wurde,
wird eines Tages gefährlicher als heute zutage*
treten und das Monument in sich zusammenfallen
lassen.
Die berühmte Westminster Kathedrale, das Mün=
ster von Straßburg, der Dom von Beauvais sind —
wenn auch nicht von heute auf morgen — von dem
gleichen Schicksal der Vernichtung, des Zusammen=
bruchs, des Versinkens im Boden bedroht. Der
berühmte „Tempel der Liebe", das Bauwerk aus
weißem Marmor, Tadj Mahal bei Agra in Paki=
stan, zeigt neuerdings gefährliche Risse und bau=
liehe Verschiebungen, die erkennen lassen, daß
auch die indische Halbinsel das Schicksal des ewi*
gen Vergehens und Verfalles für alles das erlebt,
was Menschenhand zu schaffen imstande ist.
Aber selbst wenn man mit den raffiniertesten
Methoden modernster Ingenieurkunst vorgeht,
muß man nach Ablauf einer gewissen Zeit re=
gistrieren, daß alles auf dieser Erde lebt und sich
bewegt und sich verändert und altert. Das Empire
State Building, eine Konstruktion, die 1930/31 voll*
endet wurde, wurde zweifellos mit dem allerbesten
und stärksten Material errichtet und immer wieder
in der Stabilität und im Unterbau kontrolliert. In
den 30 Jahren, die nun das Empire State Building
benutzt wird, hat sich der Boden unter dem gewal*
tigen Baukoloß um bereits 1,2 cm gesenkt. Man
wird sagen, daß ein solches Absinken lächerlich
wenig sei. Aber den Ingenieuren wurde heiß und
kalt, als sie von diesen Vorgängen erfuhren und
die gemachten Feststellungen allen Kontroll*
berechnungen standhielten.
Es wäre leichtfertig zu behaupten, daß nur die
Fehler der Bauingenieure, der Architekten undBau=
meister einer lang zurückliegenden Vergangen
heit schuld seien an den Katastrophen, die sich am
Horizont der Zukunft abzeichnen.
Immerhin hat man aus den Fehlern der Vergangen*
heit schon einige Lehren gezogen: Immer mehr
sind die Architekten und Ingenieure fest entschlos*
sen, die Städte der Zukunft nicht mehr aus Zu*
sammenballungen von Steinen, als Steinwüsten, zu
konstruieren. Man will die Städte weit ausein=
anderziehen, den Menschen Luft und Licht und viel
grüne Natur geben. Für diese Städte, für diese
Häuser brauchen wir nicht zu fürchten. Sie wer=
den der Mutter Erde keine Last sein. Diese Städte
werden wahrscheinlich noch weiterleben, wenn
unter den Baukolossen einer fernen Vergangen*
heit oder Gegenwart die Erde nachgibt. Für die
Ewigkeit bauen, wie es so oft in schönen Reden
heißt, wird der Menschenhand wohl immer versagt
bleiben.