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Oberehnheim i-ternenplatz.
(C’«3üuitration, Poris.)
denmauer. Ein heiliger Berg, an den sich uralte
Legenden knüpfen, Dichter zu herrlichen Ge¬
sängen begeisterte, ein Wallfahrtsort für Pilger
und Naturfreunde. Noch vor dreißig Jahren unter¬
brach nur der Schritt einsamer Wanderer die heilige
Stille dieser paradiesischen Einöde. Heute keuchen
knatternde Autos die steilen Kurven hinauf. Dank dem
Automobil hat sich die Zahl der Besucher verhundert¬
facht. Der Fortschritt hat seinen Einzug in die Berge
gehalten. Heute treten dichte Gruppen ehrfurchts¬
voll in dem'alten Klosterhof, in dem hundertjährige
Linden verzweifelt gegen die Unbilden der Witterung
und die fortschreitende Abnützung ankämpfen.
Manche haben einen Zementpanzer und eiserne
Stützen. Von der Terasse aus, auf die man durch
den weiten, inneren Hof und die gewölbten, hallen¬
den Gänge gelangt, genießt man eine unvergleich¬
lich herrliche Aussicht auf die wunderbare Ebene
des Elsasses und auf den Rhein. Bei klarem Wetter
sieht man die Spitze des Straßburger Münsters, den
Silberstreif des Rheines und die dunklen Umrisse
des Schwarzwaldes. Man möchte ganz allein sein,
um sich an diesem Panorama des „immer gleichen
und doch immer wieder neuartigen Elsasses", wie
Goethe einst sagte, nach Herzenslust satt schauen zu
können. Leider sind zu viele Leute da. Da wird
geraucht, gegessen, getrunken. Die Photoapparate
arbeiten ohne Unterlaß. Da hört man rufen,
schreien, lacyen. Geschäftige Kloster-Schwestern eilen
hin und her und man vermeint, in irgend einer
Karawanserei zu sein, in welcher sich Touristen zehn
verschiedener Nationalitäten getroffen haben. Dem
Pilger wird es nicht leicht, sich den Weg durch dieses
Gewimmel zu bahnen. Aber er gibt sich Mühe, der
Prüfungen Herr zu werden in der einen oder an¬
deren Kapelle, wo er dann still und andächtig zur
heiligen Odilie, der Schutzpatronin des Elsasses
betet ....
Langsam sinkt von Osten her die Dämmerung,
während wir die alte heilige Stätte verlassen.