den Überschrift „Wie stellt es mit der .sozi
alen Marktwirtschaft 4 ?“:
„Schon zweimal in den letzten 25 Jahren
hat die deutsche Wirtschaft eine auf einer
ausgesprochenen Uberinvestrtion beruhende
Hochkonjunktur erlebt, nämlich einmal den
Aufschwung der späten ZwanzigerJahre, der
mit der konjunkturellen Katastrophe von
1931 einen unerfreulichen Abschluß fand;
und dann weiter die sich nach 1933 anbah
nende nationalsozialistische Rüstungskon
junktur. Diese beiden „Überinvesti
tion s - B o o m s “ haben jeweils die P r o-
cl u k t i o n s s t r u k t u r in einer für die
ganze Wirtschaft nachteiligen Weise ver
zerrt, und es wäre nicht erfreulich, wenn
die gegenwärtige Investitionskonjunktur zu
ähnlichen Resultaten führen würde. Die
Forderung nach einer Ausweitung des Ge
samteinkommens ist daher konjunktu
rell nicht unberechtigt. Da nach
den bisherigen Erfahrungen nicht zu er
warten ist, daß dieses Ziel auf dem Wege
der Preissenkung für Konsumgüter erreicht
werden kann, bleibt als Mittel nur die Er
höhung der Löhne übrig, wenn sich die
Arbeitnehmer einen größeren Teil am
„Kuchen“ sichern wollen. Dabei ist auch in
__ Deutschland die Meinung verbreitet, daß
•die deutsche Industrie solche Erhöhungen
durchaus ohne gleich starke Preissteigerun
gen „verkraften“ könne.“
Dieses „Verkraften“ ist um so eher mög
lich, als ja auch in diesen Tagen die Bank
der Deutschen Länder in ihrem neuesten
Monatsbericht offen zugab, daß die Produk
tivitätskurve stärker angestiegen ist als die
Lohnkurve.
Viel Fragwürdiges ist in letzter Zeit über
die Erhöhung der Reallöhne und den Anteil
der Löhne am Sozialprodukt in Westdeutsch
land geschrieben und behauptet worden. Auf
die Schwierigkeiten des Reallohnvergleichs
haben wir wiederholt hingewiesen. Den Vogel
einer tendenziösen Berichterstattung hat in
dessen der Pressedienst der Deutschen Arbeit
geberverbände abgeschossen, indem er am
27. August behauptete, in der Bundesrepu
blik betrage der Lohnanteil am Sozialprodukt
{ohne betriebliche Sozialleistung) nahezu 65%.
Demgegenüber stellte das Deutsche Institut
für \Virtschaftsforschung am 9. April 1954 in
/S ^4er Abhandlung „Zur löhnpolitischen Situ
ation“ (Wochenbericht Nr. 15) fest, daß der
Anteil der Nettolöhne und -gehälter 1919
42,6*/» gegen 40,9",', 1953 am Nelto-Sozialpro-
dukt betragen habe. Erst wenn man die So
zialeinkommen und Ruhegehälter hinzufügt,
kommt man auf einen Anteil des Massenein-
kommens am Sozialprodukt auf 55,6% 1953
gegen 56.3% J949. Tatsächlich ist also das
Masseneinkommen am Netto-Sozialprodukt
gegenüber 1949 zurückgcgangen.
Es ist gewiß ein Beweis für die Rückkehr
zu einer ruhigeren Betrachtungsweise, wenn
inzwischen im politischen Teil der Deutschen
Zeitung, die in den vergangenen Wochen im
wirtschaftlichen zuweilen einen unfreund
lichen Ton gegen die Gewerkschaften ange
schlagen hat, gesagt wird, jene maßgeblichen
Vertreter einer liberalen Partei, die der An
sicht wären, das Streikrecht sei eigentlich
nicht mehr zu vertreten, beträten einen „ab
schüssigen Roden“. Das ist sehr milde geur-
tcilt. In Wirklichkeit begehen sie, sofern
ihnen der Liberalismus kein bloßes Lippen
bekenntnis ist, eine intellektuelle Unredlich
keit. Schließlich schreibt das Blatt — und dies
versöhnt einigermaßen: „Nicht die Gewerk
schaften sine! in der Geschichte des letzten
halben Jahrhunderts die unvernünftigsten und
einsichtslosesten Interessengruppen im S ! aale
gewesen, die saßen woanders.“ Freilich wäre
es nun tapferer gewesen, frank und frei zu
erklären, wo sic saßen.
Im übrigen verhalten sich die Gewerkschaf
ten durchaus marktkonform, wenn sie höhere
Löhne fordern. Unlängst wurde von den ge
samten deutschen Zeitungen gemeldet, daß
clie Arbeitslosigkeit im Augenblick den nied
rigsten Stand seit Jahren erreicht hat. In den
letzten Tagen berichtete die Presse übereinen
neuen Nachkriegsrekord des deutschen Ex
ports. Das Bundeswirtschaftsministerium er
klärte in einem Lagebericht, es sei. mit einem
beschleunigten Wachstum der industriellen
Produktion zu rechnen. Die industriellen
Unternehmungen verfügten über ansehnliche
Auftragsbestände. In erster Linie sei der Zu
wachs an Bestellungen der Investilions-Güter-
industrie zugute gekommen. Ist es nicht
durchaus marktgerecht, wenn in dieser Situ
ation auch die Arbeitnehmer in Form höherer
Löhne am Wachstum der Produktion teil
haben wollen? Auf niedrigere Preise warten
sie ja vergeblich schon seit der Geldreform.
Bleibt schließlich der Ruf nach einer staat
lichen Zwangsschlichtung. Daß dieser Ruf mit
aus dem Lager. der freien Marktwirtschaftler
kommt, ist kennzeichnend für deren theoreti
sche Konfusion.
Kein Geringerer als der verstorbene Natio
nalökonom Walter Eucken. der Begründer der
Freiburger Schule, identifiziert die staatliche
Zwangsschlich l ung mit „zentral verwalt ungs-
wirtschaftlicher Lenkung.“
Wiederholt haben die Gewerkschaften sich
für ein freiwilliges Schlichtung&system ausge
sprochen, sofern diese echte Verharidlungs-
möglichkeiten über den Lohn und Sicherhei
ten gegen eine Verschleppung gerechter Lohn
forderungen garantiert. Sowohl in Hamburg
als auch in Bayern hat sich die private Schlich
tung als durchaus fruchtbar erwiesen.
(ID 72/54 vom 9. September 1954)
Staatsoberhaupt für Einheitsgewerkschaft und Streikrechi
Zur Eröffnung des 3. ordentlichen Bundeskotigresses in Frankfurt
In Anwesenheit von 391 stimmberechtigten
Delegierten, zahlreichen Gästen und weiteren
Gewerkschaftsvertretern aus dem In- und Aus
land wurde der 3. ordentliche Bundeskongreß
des DGB in Frankfurt a. M. am 4. Oktober
eröffnet.
Zum ersten Male nahm an einem deutschen
Gewerkschaftskongreß das Staatsoberhaupt
persönlich teil. Bundespräsident Professor
Ileuß wurde von dem Vorsitzenden des DGB
Walter Freitag mit Freude unter Beifall der
Delegierten begrüßt. Überschattet war die Er
öffnung des Kongresses von der Nachricht
über das schwere Unglück auf der Zeche
Hansa, das bisher 10 Todesopfer forderte.
Der DGB-Vorsitzende sprach vor dem Kon
greß den Angehörigen der toten Bergleute
das Mitgefühl der deutschen Gewerkschaften
aus.
Unter den Gästen des „Parlaments der
Arbeit“ befanden sich weiter clie Minister
Jakob Kaiser und Anton Storch, der SPD-Vor-
sitzende Erich Ollenhauer und der Vizepiä-
sident des Deutschen Bundestages Prof. Carlo
Schmid, der hessische Ministerpräsident Georg
August Zinn und der Oberbürgermeister der
gastgebenden Stadt Frankfurt Dr. Kolb.
Unter den Gasten aus dem Ausland seien
genannt der niederländische Gesandte, der
Vertreter des Internationalen Arbeitsamtes,
viele Gewerkschafter aus europäischen Län
dern und von der Gew-erkscha ftsin ternationale
sowie clie deutschen Sozialattaches in den
verschiedenen Staaten.
Bundespräsident Prof. Heuß betonte in sei
ner Ansprache u. a. es sei ein sachlicher Ge
winn, daß sich clie deutschen Gewerkschaften
der verschiedenen weltanschaulichen und reli
giösen Richtungen vereinigt Hätten. Diester
Erhältlich in «lltn ASKD V«tt»iUngiyfil!tn das Saarland»*
Gewinn dürfe nie wieder verloren gehen.
Der Staat bejahe die Aufgaben und Wirkung
der Gewerkschaften,, er müsse für ihre sam
melnde und ordnende Kraft dankbar sein.
Zum Slreikredht erklärte der Bundespräsi
dent: „Das Streikrecht des Lohnempfängers
ist eine völlig legitime Sache und nicht nur
formalrechtlieh begründet, seitdem das Ar
beitsverhältnis in einem umgrenzten Vertrags*
eharakter übergegangen ist.“
Professor Carlo Schmid überbrachte die
Grüße des Deutschen Bundestages. Niemand
dürfe den Gewerkschaften verwehren, an clie
Pforte des Staates zu pochen. Dieser habe
dafür zu sorgen, daß dort, wo Formen der
Betriebsverfassung auf überalterten Vorstel
lungen beruhten, dem Neuen durch gute und
mutige Gesetze Bahn gebrochen werde.
Bundesarbeitsminister Anton Storch, Bun
desminister Jakob Kaiser — als Vertreter der
CDU — und Erich Ollenhauer, im Namen
der SPD, richteten gleichfalls Begrüßungsan
sprachen an den Kongreß. Ebenso der Senior
der deutschen Gewerkschaftsbewegung, fteichs-
arbeilsminister a. D. Dr. h, c. Rudolf Wisse 11.
(ND 153 54 vom 5. Oktober 1954)
Das Ministerium für Arbeit und Wohlfahrt
teilt mit:
Versorgung der Kr egsblinden
Auf Vorschlag des Herrn Ministers für
Arbeit und Wohlfahrt hat sich der Herr
Minister für Finanzen und Forsten damit ein
verstanden erklärt, daß im Hinblick auf den
besonderen sozialen Charakter der Versorgung
der Kriegsblinden, die Beihilfe bei außer
gewöhnlichen Kosten für Kleider- und Wäsche
verschleiß in Höhe von jährlich 4.000.— Frs.
rückwirkend ab 1. September 1952 nachgezahlt
wird, wenn ein entsprechender Antrag bis
spätestens Sl. Dezember 1954 beim zustän
digen Versorgungsamt vorliegt.
Dies gilt auch für die Nachzahlung der den
Kriegsblinden mit mehreren Schädigungen zu
bewilligenden erhöhten Beihilfe bis zu
10.000.— Frs. jährlich.