Saarkalender für das Jahr 1923
Was eine nlte fahne erzühlt.*)
Anus den Anfängen der Turnerei
im Saargebiet
Ko
20x, Ler
Dem älteſten Turner Deutſchlands
Serdinand Garelly:Saarbrüden
gewidmet von
Ludwig Bru.
4 ſchüttelſt den Kopf, lieber Leſer! Was wird eine alte Sahne wohl erzählen ?
Und doh iſt es gewiß, daß auch alte Fahnen ihre Sprache haben, ſo gut, wie die bemooſten Steine
einer Burgruine, wenn ſie von vergangenen Rittergeſchlehtern erzählen, und die Blümlein, wenn
ſie von Sonne und Frühling plaudern. Zwar iſt es keine Sprache wie die Menſ<enſprade ; es iſt
eine Sprache ohne Laut und Klang, eine Sprache, die niht zum Ohr, aber zum Herzen dringt.
Und eine. ſolhe Sprache raunt und flüſtert die alte Fahne.
Diele Jahre ſhon ſ<lummert ſie in der großen Truhe, einem morſch und grau gewordenen
Kämpfer gleich, der ſeine Schuldigkeit auf dieſer Welt getan hat. Tiefe Spuren in ihrem Antlitz
zeugen von den Stürmen des Lebens, in deſſen Mittelpunkt ſie ſtand, zeugen von großem und
ſtolzem Erleben und von ruhmreicher Vergangenheit. Ein Stück Heimat, ein Stük Geſchichte iſt
an ihr vorbeigerauſcht von den Tagen der Jugend an, da ſie im Märzwinde des Jahres 48 ihre
Schwingen regte bis zu jener Stunde, in der ſie ſinnend und traumverloren ſi< in ' die Truhe
legte. Alte Erinnerungen ranken ſi nun um dieſe Truhe, in der das Wahrzeichen deutſcher Treue
und Sreiheitsliebe ſhlummert, Saarbrücker Erinnerungen, verknüpft mit der Seit, deren Leitſtern
Deutſchlands Derfaſſung und Ehre war.
Als es das Licht der Welt erblikte, da war das Herz der Patrioten erfüllt von der Sehn-
jut nac Deutſchlands Einheit und Sreiheit. Einer vor allem war der Prediger dieſes Hodzieles
völkiſhen Gedankens, der FSeuergreis von Lanz bei Lenzen, der die im Bauernkrieg ver-
ſjhollenen ſchwarz -rot- goldenen Farben der Einheit während des ganzen Feldzuges 1813 um die
Bruſt getragen hatte. Ihm haben die Mainzer Unterſuhungsbehörden und der Bundestag
nachgerühmt, daß er die „gefährliche Lehre von der Einheit Deutſchlands zuerſt aufgebracht“, und
daß Sriedrich Ludwig Jahn deshalb des Hodyverrates ſchuldig ſei. Ihm haben ſie die Ehre angetan,
um Deutſchlands Einheit willen im Kerker leiden zu dürfen. Aber weder die Metterniche no<h
die Turnſperre haben vermo<t, den Geiſt des nationalen Jungtums, Körper und ſittliche Kraft
zum Wohle des freien Vaterlandes zu ſtählen, aus den Herzen des Volkes auszurotten. Er ſchlug
Wurzeln und wuchs und weckte Deutſchlands Gaue zu tauſendfaher Blüte.
Wie hat der Alte gebangt, daß der Pulverdampf der Barrikaden den Geiſt nationaler Geſittung
erſtiken könne, wie hat der Märtyrer der Sreiheit und Einheit, von Autokraten und ZSügelloſen
gleihmäßig gehaßt, gegen die Verfälſcher der Revolution ande Ihm ſchien das Vaterland,
bedroht von den Ketten der Reaktion und den Nadcbetern des Konvents, in zwiefa<Her Bedrängnis:
*) Fahne des Turnvereins Saarbrücken v. 1848.
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