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1. Die "Renazifizierung" der deutschen Verwaltung
Der Sieg der Ehemaligen:
Die stille, allmähliche, schleichende, unaufhaltsame Wiederkehr der Gestrigen
scheint das Schicksal der Bundesrepublik zu sein. Angetan mit alten und neuen
Gesetzesmänteln der Gerechtigkeit, lassen sie sich einzeln auf den hohen, rei
henweise auf den mittleren Sesseln der Verwaltung, der Justiz und der Verbände
nieder, ln der Wirtschaft halten sie ohnehin nicht erst seit heute die Hebel in ih
ren sicheren, ach so zuverlässigen, so welterfahrenen, so angesehenen Händen,
- nun wieder die Hände der Macht.
Dieses resignative Fazit zog Mitte der 50er Jahre der katholische Publizist und ehe
malige KZ-Häftling Eugen Kogon 1 . Auch in der französischen Zone wurde durch die
Amnestien der Jahre 1947/48 und die im Gegensatz zu den früheren Entnazifizie
rungsbescheiden durchweg milderen Spruchkammerurteile Anfang 1948 - in den an
deren Besatzungszonen eher noch früher - ein Prozeß in Gang gesetzt, der sowohl
von der Militärregierung als auch von deutschen Kritikern bald schlagwortartig
"Renazifizierung" 2 genannt wurde. Nach 1945 entlassene beziehungsweise nicht
wiedereingestellte Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, die amnestiert
oder als Mitläufer eingestuft waren, forderten ihren alten Arbeitsplatz zurück. Unter
stützt vom Beamtenbund und den Kirchen beriefen sie sich dabei auf die Bestim
mungen des deutschen Beamtenrechts. Die Militärregierung befürchtete, daß mit den
ehemaligen Pgs auch die nationalsozialistische Gesinnung wieder in die Verwaltung
zurückkehren würde und dadurch der Aufbau der deutschen Demokratie gefährdet
sei. Die Entwicklung der folgenden Jahre zeigte jedoch, daß sich die große Mehrheit
der ehemaligen Nationalsozialisten nicht mehr für rechtsextreme Ziele aktivieren
ließ 3 .
1.1. Saarland
Sowohl die saarländische Regierung als auch das Hohe Kommissariat kamen im Ja
nuar 1948 überein, daß durch eine Amnestie kein Rechtsanspruch auf Wiederein-
1 Kogon, Eugen: Beinahe mit dem Rücken an der Wand, in: Frankfurter Hefte 9 (1954), S. 641-645, hier
S. 641.
2 Zum Begriff "Renazifizierung" äußert sich kritisch Vollnhals, Einleitung, S. 63; Henke, Die Trennung,
S. 53f., will ihn höchstens als Analogie-Terminus zur politisch weitgehend entkernten Entnazifizierung
verwenden. Der Begriff wird hier verwendet, weil er a) zeitgenössischen Ursprungs ist und sowohl von
deutscher als auch französischer Seite verwendet wurde, und b) am anschaulichsten die weitgehende
Rückgängigmachung personalpolitischer Säuberungsmaßnahmen im Rahmen der Entnazifizierung
deutlich macht. Der Begriff wird hier nur auf den Prozeß der Rückkehr ehemaliger Pgs angewandt,
nicht auf eine etwaige gleichzeitige "ideelle Renazifizierung" - siehe auch die Erörterung der Frage des
Elitenwechsels im Schlußkapitel.
3 Dagegen wurde in den Nachkriegsjahren bei amerikanischen Meinungsumfragen in Deutschland fest
gestellt, daß der Nationalsozialismus keineswegs mit Krieg, Terror und Verbrechen gleichgesetzt
wurde. Die Hälfte der Befragten bejahte in den Jahren 1947/49 den zweiten Teil der Frage: Was Natio
nal Socialism a bad idea, or a good idea badly carried out ?\ Public Opinion in Occupied Germany.
The OMGUS Surveys 1945-1949/hrsg. von Richard und Anna Merritt. Urbana 1970, S. 33; Vollnhals,
Einleitung, S. 62f.