476
Dies geschah am 11. August 1945 mit einer Verfügung, die neben einer Trierer
Schwerbeschädigten-Verordnung die früheste, neues positives Recht setzende Nach
kriegsanordnung in der Kriegsopferfrage in Deutschland bildete. Beschädigte er
hielten damit ab einer Erwerbsfähigkeitsminderung um 50% ein Anrecht auf Lei
stungen nach Unfallversicherungskritierien, d. h. orientiert an ihrem früheren Ar
beitsverdienst. Blinde und Pflegebedürftige erhielten eine Pflegezulage. Hinterblie
bene sahen sich allerdings auf die Fürsorge angewiesen; für sie wurde eine Neurege
lung zunächst nur angekündigt.
Angesichts der Komplexität der Materie erwies die sehr rasch formulierte Verfügung
sich allerdings als unzureichend. Wenige Tage später ließ die Militärregierung sich
von einem Sachbearbeiter detailliert auseinandersetzen, welches Leistungsniveau
damit in der Praxis erreicht wurde, und erhob Einspruch. 4 Für Beschädigte, die vor
ihrer Einberufung noch nichts oder als Lehrling nur wenig verdient hätten, sei das
Leistungsniveau der Unfallversicherung unzureichend; es solle mindestens ein Jah
resarbeitsverdienst von 1 800 RM zugrundegelegt werden, entsprechend dem Ein
kommen eines ungelernten Arbeiters. Zur Verweisung der Hinterbliebenen an die
Fürsorge - fast allgemeine Praxis im Nachkriegsdeutschland - wurde erklärt, daß
man diese Unterstützungsart für die Hinterbliebenen nicht wünsche. Es solle keine
„Armenunterstützung“ sein .. . Man möge die Witwen und Waisen des Krieges so
behandeln, wie die ... der in der „Industrie" bei der Arbeit Umgekommenen. Die
Versorgung solle demgemäß auch nicht durch die Wohlfahrtsämter, sondern durch
die Landesversicherungsanstalten erfolgen. Die Hinterbliebenenversorgung sei von
der Bedürftigkeit abhängig zu machen, doch sollten die Leute soviel bekommen ...,
daß sie auch davon (bescheiden) leben könnten. Für die Zeit bis zum 1. Juli 1945 seien
Nachzahlungen gemäß den zuvor gültigen Versorgungsgesetzen zu leisten; für die
folgende Zeit sei in unverzüglich vorzulegenden Ausführungsbestimmungen dafür
zu sorgen, daß die Renten nicht so niedrig angesetzt würden, wie dies in der deut
schen Regelung vorgesehen war.
Damit waren von französischer Seite zwei Kriterien eingeführt, die in der Nach
kriegssituation nicht auf identische Lösungen hinausliefen: Sicherung eines „be
scheidenen“ Existenzminimums für die Kriegsopfer und Angleichung ihrer Renten
an die der Opfer von Arbeitsunfällen - ein Prinzip, das wenig später die Kontroll-
ratsdiskussionen und die Planungen in der Bizone bestimmen sollte.
Daß diese französische Initiative in Neustadt in der Besprechung vorgetragen wur
de, welche auch den ersten zentralen Anweisungen für die Sozialversicherungsre
form diente/ deutet darauf hin, daß auch in der Kriegsopferversorgung bereits im
Sommer 1945 eine Zentralisierung einsetzte. Dennoch ist hier Vorsicht angebracht.
Die Grundtendenz, den Kriegsopfern einen Rechtsanspruch auf Versorgung zuzuge
stehen und sie nicht der Fürsorge zu überlassen, entsprach den auch in Baden und
Süd-Württemberg 1945 verfolgten Grundsätzen. Doch anders als für die Sozialversi
cherung enthält das Neustädter Protokoll für die Kriegsopfer keinen ausdrücklichen
4 Niederschrift über Unterredung mit Aspirant Evain, 21. 8. 1945; LA SP H 13/62 Bl. 175-177.
J Siehe oben S. 214 f. u. 219 mit Anm. 2.