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aus den Gesellenvereinen hervorgegangenen Societes de secours mutuels, Hilfs
vereine auf Gegenseitigkeitsbasis. In ihrer Ausdehnung waren sie allerdings behin
dert durch die Beschränkungen des Koalitionsrechtes seit der Loi Le Chapelier 179P
und dem Code penal von 1810. Lockerungen, die besonders während der Revolution
von 1848/49 zu einem Aufschwung der Mutualite führten, wechselten mit Restriktio
nen oder mit stärkeren staatlichen Eingriffen wie 1850/52 ab, bis die Beschränkun
gen für die Gegenseitigkeitsvereine 1898 endgültig aufgehoben wurden. Die Hilfs
kassen widmeten sich vor allem dem Krankheits- und Arbeitslosigkeitsrisiko, ent
wickelten jedoch teilweise auch schon Altersvorsorgesysteme. Infolge der auf der
Freiwilligkeit des Beitritts beruhenden Konzentration schlechter Risiken, der unzu
reichenden Entwicklung der Versicherungstechnik und der oft mangelhaften Ver
waltung führten die Versicherungen aber vielfach zu einem Fiasko für die Betroffe
nen. * 4 5
Auf Arbeitgeberseite entstand in der ersten Jahrhunderthälfte eine Vielzahl be
trieblicher Vorsorgeinstitutionen unterschiedlichen Typs, 1 die sich aber in
Mittel- und Kleinbetrieben nur wenig entwickelten und häufig die Rentenzahlung
von der Bindung an das Unternehmen abhängig machten. Spektakuläre Firmenzu
sammenbrüche in den 1880er Jahren, bei denen die Arbeiter ihre Einlagen weitge
hend verloren, führten nach 1890 immerhin zu einer gesetzlichen Sicherung dieser
Arbeiterrentensysteme. Die staatliche Sozialpolitik hatte sich bis dahin jedoch, ge
treu der liberalen Doktrin der Eigenverantwortlichkeit des Individuums und hierin
unter umgekehrten Vorzeichen durch die Staatsfeindlichkeit der Mehrheit des fran
zösischen Sozialismus de facto unterstützt, wesentlich langsamer als etwa im deut
schen Bereich entwickelt. Während früh Vorsorgeinstitutionen für Staatsdiener ent
standen und z. B. mit der Etatisierung der Beamtenpensionen 1853 weiterentwickelt
wurden, beschränkte sich die allgemeine Vorsorgepolitik während des 19. Jahrhun
derts vor allem auf wenige Maßnahmen im Zeichen der liberte subsidiee, der staatlich
subventionierten Eigeninitiative. So wurde 1850 die Caisse nationale de retraites pour
la vieillesse gegründet; sie entwickelte sich jedoch infolge hoher Beitrags- und Ren-
tenmaxima und der relativ hohen staatlichen Verzinsungsgarantien nur unzurei
chend zu einem Instrument der Arbeitervorsorge, sondern vor allem zu einem Objekt
der Spekulation. Noch 1909 lagen rund 87% der ausgezahlten Renten unter dem
Existenzminimum. Immerhin schlossen sich die Gegenseitigkeitsversicherungen und
die Betriebskassen teilweise dieser nationalen Kasse an. 6 Das Prinzip der Freiwillig
keit wurde dabei, von entsprechenden Regelungen auf Betriebsebene abgesehen,
lediglich für den Bergbau durchbrochen. Hier wurden die Hilfs-Krankenkassen
sowie die der Caisse nationale anzuschließenden Rentenkassen 1894 (bis zur Jahres
verdienstgrenze von 2 400 FF) für obligatorisch erklärt: erster Schritt von der liberte
1 Zum Koalitionsrecht s. Helmich.
4 Zur Geschichte der Mutualite s. Lavielle; Durand, S. 33 ff.; Laurent.
5 Vgl. dazu Peter N. Stearns, Die Herausbildung einer sozialen Gesinnung im Frühindustria
lismus. Ein Vergleich der Auffassungen französischer, britischer und deutscher Unternehmer,
in: Peter Christian Ludz, Soziologie und Sozialgeschichte, Kölner Zeitschrift für Soziologie
und Sozialpsychologie Sonderheft 16, Opladen 1972, S. 320-342.
4 Vgl. den Überblick bei Bourquin, S. 117 ff.