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BIBLIOTHEK FÜR IDEALISTISCHE
PHILOSOPHIE
HERAUSGEGEBEN VON ERNST HARMS
ARTHUR L I E B E R T
DIE KRISE
DES IDEALISMUS
MCMXXXVI
RASCHER VERLAG ZÜRICH UND LEIPZIG
Nachdruck verboten
Alle Rechte, insbesondere die Übersetzung,--, und Senderedite,
Vorbehalten
Copyright 1936 by Rascher & Cie. A.-G. \ erlag. Zürich
Philosoph!sehe s Inr * '1 r-t
d. Universität d. ¿.artend* 5
- Bibliothek -
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Umschlagzeichnung von Ernst Camper.
Einbandausführung von Baumann & Cie. Erlenbach/Zürich
Seinem lieben und treuen Freunde und werten Kollegen
Herrn Professor
EDGAR SHEFFIELD BRIGHTMAN,
Ph. D., LL. D„
Bordeu Parker Bowne Professor of Philosophy
in Boston University Graduate School
im Bewußtsein enger geistiger Verbundenheit
und in aufrichtiger Dankbarkeit
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS.
Idealismus zu einer breiten wissenschaftlichen
Weltanschauungs-Bewegung in zeitgemäßer Form zu
erheben, ist die Absicht, die uns veranlaßt neben dem
im gleichen Verlage erscheinenden Jahrbuche für die
„idealistische Philosophie“ als eine an sich selbstän-
dige Ergänzung die „Bibliothek für Idealismus“ her-
auszugehen. Während das „Jahrbuch“ vor allem an-
strebt, einen Überblick über alles philosophische Ge-
genwartsleben zu vermitteln, das als idealistisches zu
bezeichnen ist, soll die Bibliothek zu einem Fo-
rum für die breiteren und tieferen Aufgaben einer
solchen Weltanschauungsarbeit ausgestaltet werden.
Neben der Darlegung der wesentlichsten Grundproble-
matiken der idealistischen Philosophie werden andere
Bände dem Aufgabenbereiche der idealistischen
Grundlagen der Fachwissenschaften gewidmet sein.
Weiter werden wir Übersichten über die heutige idea-
listische Philosophie einzelner Nationen bieten und
Monographien über vernachlässigte idealistische
Denker früherer Perioden, die uns für die aktuellen
Problematiken unserer Weltanschauung von hervor-
ragender Bedeutung zu sein dünken.
7
Arthur Lieberts in unserer Sammlung veröffent-
lichte Buch über die gegenwärtige Krise der idea-
listischen Philosophie ist der 2. Band in der Reihe
der Schriften, die wir den Grundprohleraen unserer
Geistesrichtung zu widmen beabsichtigen. Daß der
Fragenkreis von Weltanschauungs-Krisen überhaupt,
sowie der der heutigen Krise des Idealismus zu den
ersten und entscheidendsten Problemen für jeden ge-
hört, den diese Weltanschauungsart in irgendwelchem
Sinne tiefer angeht, wird kaum in Zweifel gestellt
werden. Und eine gründliche Durchklärung des gan-
zen hier in Rede stehenden Problemcnkreises muß
sowohl denjenigen willkommen sein, die sich in ihren
Weltansehauungsgrundlagcn unsicher fühlen, wie
auch solchen, die bereits eine gewisse Sicherung ihrer
philosophischen Orientierung gewonnen zu haben
glauben. Arthur Liebert, dessen Eintreten für Idea-
lismus, und dessen pädagogische und philosophische
Interpretation weitbekannt ist, dafür gewonnen zu
haben, die gegenwärtige Krisen-Prohlematik des Idea-
lismus darzulegen, betrachten wir als einen überaus
glücklichen Beitrag zur Lösung der Aufgaben, die
wir uns mit dieser Bibliothek gestellt haben.
E. Hs.
8
VORWORT.
Alle wirklich bedeutenden philosophischen Lei-
stungen sind von einer tiefen Leidenschaftlichkeit er-
füllt. Diese Leidenschaftlichkeit ist sowohl ein Beleg
und ein Ausweis für ihre Größe als auch die Ursache
für den Kampf in ihnen, für sie und gegen sie. Der
Geist der Philosophie ist stets ein kämpferischer, ein
kampffreudiger Geist gewesen.
Von einem solchen Ringen berichten auch die
Blätter des vorliegenden Buches, u. z. von einem Rin-
gen, das zu den ausschlaggebenden Bedingungen und
den maßgebenden Formen der Existenz und des Ver-
laufes der geschichtlichen Kultur gehört. Denn
erstens ist der Idealismus selber, sobald er in der er-
forderlichen Weise aus der vollen Wirklichkeit sei-
nes Wesens und in seiner tatsächlichen, durch die
Jahrtausende dahinströmenden und sich in ihnen be-
währenden Wichtigkeit verstanden wird, keine bloße
und keine blasse, keine künstlich ausgedachte Theorie.
Demgemäß bedeuten zweitens auch die Angriffe gegen
ihn, die Krisen, in die er durch sie gelangt, die Ver-
suche, ihn zu verteidigen und in seiner Notwendigkeit
zu erweisen und endlich seine siegreichen Erneuerun-
9
gen keine nur begriffliche und keine sozusagen vor-
nehmlich akademische Angelegenheit. Die großen
Philosophen errichten und verrichten ihr Werk so-
wohl mit der Kraft der Vernunft, mit der Energie des
Logos, als auch mit dem entschiedenen Einsatz einer
mutvollen Verantwortlichkeit, nicht zuletzt mit den
hingabebereiten Antrieben der Tapferkeit und einer
unentwegten Liebe, also mit einem innigen und begei-
stert-begeisternden Eros. Ihre Schöpfungen sind ge-
schichtliche Taten, sie steigen nicht bloß aus dem
Verstände auf, sie werden auch nicht bloß von dem
Verstände aufgenommen und weitergegeben, sie er-
fassen und erregen den Menschen vielmehr in der
Gesamtheit seines Wesens.
Dadurch ist auch ihr Verhältnis zur Allgemeinheit
der geschichtlichen Kultur bestimmt, und darin wur-
zelt ihre unabschätzhare Geltung für unser Leben.
Wohl sind die philosophischen Standpunkte und
Werke in gewissem Sinne die gedanklichen Spiegel-
bilder der allgemeinen geschichtlichen Bewegungen
und Geschehnisse. Aber sie sind darüber weit hin-
aus auch eigenwüchsige und eigenwillige Mächte von
hoher Selbständigkeit, von eindringender und durch-
dringender Wucht und von einer oft unfaßbaren, das
Sondergebiet der Philosophie gewaltig übergreifen-
den Stärke. Diese Mächte beugen sich nicht dem
Wollen und dem Walten des Zeitgeistes, und träte er
mit noch so betonten Ansprüchen auf, und neige er
noch so sehr zu Eingriffen in sie, Ihr Ethos lehnt der-
artige Versuche als unberechtigte Übergriffe ab. Nur
der erfaßt und versteht ihre Eigenart, der in ihnen
10
schöpferische Voraussetzungen unseres Schicksals er-
kennt und anerkennt. Von jeher glüht in der Philo-
sophie das Verlangen nach einem umbildenden Ein-
fluß auf das Trachten und Tun der Zeiten. Und von
jeher beeinflußt sie auch tatsächlich und auf das
Nachhaltigste die Gestaltung und den Gehalt der
Zeitalter.1)
Weder der Begriff noch die geschichtliche Ent-
wicklung der Philosophie bieten die Unterlage für
die restlose Beschränkung des philosophischen Den-
kens auf den Umkreis der reinen Betrachtung oder
auch nur für die Forderung nach einer solchen Be-
schränkung. Wohl trägt die wahrhaft philosophi-
sche Haltung in sich den Willen zu umfassender und
besonnener Erkenntnis des Seienden. Aber sie bleibt
nie eine reine, absichts- und wirkungslose Lehre vom
Wesen der Wirklichkeit, ln unmittelbarem Zusam-
menhang mit ihrem Charakter und Wert als allge-
meinste und höchste W issenschaft drängt sie zugleich
zu einem informatorischen Angriff auf die Realität,
ganz gleich von welcher Art und von welchem Anse-
hen das Gegebene sein mag. Denn sie hegt Sorge um
die Wirklichkeit und fühlt sich aus der Sittlichkeit
ihrer Idee und aus der Idee ihrer Sittlichkeit heraus
allem Seienden gegenüber verpflichtet zum Rat, zur
Warnung, zum Gebot, zur Aufstellung von Richtli-
nien und lebenüberlegcnen Werten. So nimmt sie
nicht bloß die Stellung der Erkenntnis, sondern sie
1) vgl, Theodor Litt, Philosophie und Zeitgeist. 2. Aufl.
1935. Felix Meiner. Leipzig.
11
nimmt auch die Stellung einer geschichtlichen Füh-
rerin ein.
Dieser iibertheoretische Zug, dieser praktische
Wille und Druck des Philosophieren» gelangt in der
unantastbaren, in der heiligen und dabei selbstver-
ständlichen Freiheit zur Kritik und in der Freiheit
der Kritik an allem, was der Philosophie sich darbie-
tet, zu überzeugendem Ausdruck. Ohne die mora-
lische Entschlossenheit zu dieser Kritik und ohne die
Fähigkeit zu ihrer Durchführung würde die Philo-
sophie zu einer gedanklich, zu einer menschlich und
zu einer geschichtlich belanglosen Angelegenheit ver-
armen und herabsinken. Sie bliebe nur Darstellung,
sie würde nie Forderung. Besonders offenbart und
bewahrheitet sich aber der Sinn des Idealismus in
dieser sittlichen Freiheit zur Kritik sowie in der Frei-
heit überhaupt.
Aus diesem Grunde würde es auch dem Wesen
der Philosophie, in erster Linie aber dem Wesen des
Idealismus widersprechen, wollten wir unserer Dar-
stellung lediglich das Gepräge und die Farbe eines
begrifflichen und theoretischen Berichtes geben. Um
zwischen unserem Gegenstände und dem Verfahren
seiner Behandlung die gebotene Eintracht nicht zu
verletzen, sprechen wir hier aus dem Geiste der Phi-
losophie heraus über den Idealismus, unterziehen
wir die gegen ihn erhobenen Bedenken einer philo-
sophischen Bewertung, prüfen wir sein — unerschüt-
terliches — Recht unter dem Gesichtspunkt der Phi-
losophie. Zugleich aber ist unsere Schrift selber wc-
12
gen ihrer Zugehörigkeit zu diesem Geiste des Idealis-
mus ein Buch des Kampfes. Es ist aus dem Wunsche
hervorgegangen, ein solches Buch zu sein. Es setzt
sich für den Idealismus ein. Und es sucht dem ihm
zugrundeliegenden Plan in einer bestimmten Absicht
zu dienen. Es will dazu beitragen, die Behauptungen
zu entkräften und zu widerlegen, daß die Krise, in die
»ler Idealismus geraten ist oder besser: mehr geraten
zu sein scheint als tatsächlich geraten ist, ein Anzei-
chen seiner Überlebtheit, seiner Entbehrlichkeit und
seines durch die Entwicklung der Wissenschaften und
der allgemeinen Kultur unvermeidlich gewordenen
und somit bevorstehenden Absterbens bedeute. Das
philosophische Denken, also ein innerlich freies, nur
an seine eigene Wahrheit und an seine eigene Sittlich-
keit verantwortlich gebundenes Denken, ist eines und
desselben W esens mit dem Idealismus. Und solange
die Menschen die Kraft und den Mut, den Willen und
die Fähigkeit zur Philosophie behalten werden, wer-
»len sich diese Gaben bei ihrer reinen Auswirkung in-
nerhalb des Reiches der Begriffe und der Erkenntnis
immer und notwendigerweise im Geiste des Idealis-
mus betätigen und als Idealismus verwirklichen.
*
♦
*
Bei unserer Darstellung haben wir die Lage und
«lie Problematik der ganzen Philosophie vor unse-
ren Augen. Diese Verhältnisse und diese Problema-
tik wollen wir aus den philosophischen Grundhaltun-
13
gen und aus der Spannung zwischen diesen Grund-
haltungen verstehen. Nun verkörpert und spiegelt,
wie gesagt, die Philosophie in sich und durch sich
in einer begrifflich unirissenen, begrifflich durchge-
führten und deshalb gleichsam zugespitzten Zeich-
nung die Hauptzüge in der Verfassung und in dem
Aufbau der Kultur überhaupt und alle wesentlichen
Vorgänge sowie alle wesentlich bedeutsamen Ent-
scheidungen auf diesem Gebiete. Für das allgemeine,
sich als geschichtliche Wirklichkeit darbietende Gei-
stesleben sind dieselben Einstellungen und Verhal-
tungsweisen maßgebend, die auch die Entwicklung
der Philosophie bedingen und leiten. Dieses gewal-
tige Schauspiel der Geistesarbeit entrollt sich aber in
dem ganzen Reichtum seiner Aufzüge und Auftritte,
mag es sich auf die Philosophie oder auf die Einzel-
wissensehaften oder auf das geschichtliche Dasein der
Menschheit beziehen, in dem Kampf zwischen Rea-
lismus und Idealismus und in der Wechselbeziehung
zwischen ihnen.
Gegen diese Auffassung und Schilderung werden
möglicher- oder wahrseheinlicherweise zwei Ein-
wände erhoben werden. Ist wirklich, so könnte der
erste Einwand lauten, die ganze Philosophie in der
Fülle ihrer geschichtlichen und systematischen Aus-
breitung, sind besonders die vielseitigen und —
scheinbar — ganz neuartigen Absichten und Leistun-
gen der Philosophie der Gegenwart durch jenen Ge-
gensatz von Realismus und Idealismus hinlänglich
berücksichtigt und ausreichend gekennzeichnet? Be-
findet sich eine solche Charakteristik nicht in einem
14
offenbaren Widerspruch zu der tatsächlichen Man-
nigfaltigkeit und Weite der philosophischen Bemü-
hungen? Verengt sie nicht künstlich und gewaltsam
den Umfang des riesigen Feldes, auf dessen frei aus-
ladender Fläche sich eine viel größere Verschieden-
artigkeit philosophischer Bestrebungen und Richtun-
gen zeigt, als unser Bericht erkennen läßt? Und dann
der zweite Einwand. Wir vertreten mit unseren Aus-
führungen den Standpunkt des Idealismus und tun
es mit der Behauptung und dem Anspruch, dadurch
überhaupt die eigentliche Idee und den eigentlichen
Sinn der Philosophie in ihrer höchsten Geltung zu
vertreten. Bedeutet das nicht ebenfalls eine zu enge
standpunktliche Festlegung? Zumal dann, wenn es
sich darum handelt, sich nicht bloß für eine beson-
dere philosophische Gedankenreihe, und sei diese
von noch so eindringlicher und eindrucksvoller Frucht-
barkeit, sondern für die Philosophie überhaupt ein-
zusetzen.
Was nun den ersten Einwand betrifft, so bewegt
sich der philosophische Geisteskampf, wenn wir von
allen Einzelausprägungen und von gelegentlichen, ih-
rem Werte nach untergeordneten Entwicklungen ab-
sehen und nur seine innersten metaphysischen Vor-
aussetzungen beachten, in der Tat in jener Grund-
spannung, die aus dem Gegensatz von Realismus und
Idealismus aufsteigt. Es ist nicht schwer, diese Be-
hauptung zu rechtfertigen. Jener Gegensatz nämlich
stellt nichts anderes dar als den klaren Ausdruck für
die schöpferische Dialektik in dem Wesen des mensch-
lichen Geistes. Wenn der Geist sein Wesen aus-
15
spricht und betätigt, dann tritt seine Arbeit ans Licht
in jener dialektischen Gegensätzlichkeit von Realis-
mus und Idealismus. Niemals offenbart und ver-
wirklicht er sich in einer von dieser Spannung unab-
hängigen Standpunktlosigkeit und Unparteilichkeit.
Realistisch und idealistisch zugleich erfassen und be-
stimmen wir jegliche Erscheinung. Realistisch und
idealistisch zugleich erfolgt der Prozeß der Erkennt-
nis. Realistisch und idealistisch zugleich geht un-
sere Auseinandersetzung mit dem Leben, mit der
Umwelt, mit der Natur, mit der Geschichte und nicht
zuletzt mit uns selber vor sich. Nicht die Philoso-
ph ie, noch weniger wir haben diesen Gegensatz erfun-
den und zurechtgemacht. Er besitzt seine Wurzeln
in der Eigentümlichkeit der geistigen Aktivität. Ihre
Hauptzüge gestalten sich nun einmal ihrer allge-
meinsten metaphysischen Verfassung nach in diesen
beiden Formen des Realismus und des Idealismus.
Und deshalb braucht eine allgemeine und metaphy-
sische, also philosophische Betrachtung der Philoso-
phie ihr Augenmerk und ihre Aufmerksamkeit nur
auf jene beiden geistigen Hauptgestalten zu richten,
in denen sowohl die Philosophie als das Geistesleben
überhaupt ihre unaufhörliche Schöpferkraft be-
kunden.
Sind aber diese beiden wesenhaften Entfaltungs-
formen einander durchaus gleichwertig und ebenbür-
tig? Wir antworten auf diese Frage mit einem Nein.
Unsere Darlegungen sollen und werden keinen Au-
genblick die Notwendigkeit und die Berechtigung des
Realismus verkennen lassen. Dem Naehweis dieser
16
Notwendigkeit und der Begründung dieses Rechtes
sind der erste und der zweite Hauptteil des vorliegen-
den Buches gewidmet. Ebenso wenig lassen wir den
Sinn und Wert seiner Angriffe gegen den Idealismus
außer acht. Auch das zeigen unsere Ausführungen.
Dennoch setzen wir uns für die Überlegenheit des
Idealismus gegenüber dem Realismus ein, wenn wir
ihr Verhältnis zueinander rein von dem Standpunkt
der Philosophie aus erwägen, von einem Standpunkt
aus, der uns auch die Vorzüge des Realismus vorur-
teilslos würdigen läßt.
Weshalb jedoch der Idealismus jene Überlegen-
heit aufweist, weshalb er für die Philosophie nicht
bloß schlechthin unentbehrlich und grundlegend ist,
sondern auch die gebotene und unvermeidliche Fort-
setzung des auf halbem Wege stehenbleibenden Realis-
mus bedeutet, das versucht dann der dritte Teil, der
Schlußteil, in eingehenden Darlegungen zu beleuch-
ten. Der Idealismus stellt sowohl die Grundlage und
die Voraussetzung als auch die Vollendung der Phi-
losophie dar. Der Realismus hingegen eine Vorbe-
reitung und eine Vorstufe. Er trägt in sich das Sy-
stem von Hilfsmitteln für die Stoffbeschaffung, wäh-
rend die eigentliche philosophische Verarbeitung des
auf diese Weise gewonnenen Stoffes dann die Aufgabe
und die Leistung des Idealismus bedeutet. Der Rea-
lismus vertritt mit anderen Worten das materiale
Element, der Idealismus hingegen das formale, das
gestaltende, das sinnverleihende, also dasjenige Ele-
ment, durch dessen Kraft die Erhebung des Gege-
benen in die Höhe des Gedankens und des Wertes
2 A. Liebert, Die Krise d. Idealismus.
17
vollzogen wird. So macht er erst die Philosophie zu
dem, was sie in geschichtlicher und in systematischer
Hinsicht darstellt. Er schallt, er begründet, er recht-
fertigt ihre Geltung, ihre Idee, und dadurch begrün-
det und rechtfertigt er dann auch ihre tatsächliche
Erscheinung und Stellung in unserem Leben und in
dem Leben der Geschichte.
Bei dieser Kennzeichnung und Würdigung des
Idealismus bedeutet er für uns nicht bloß eine
einzelne philosophische Richtung. Wir denken viel-
mehr dabei an die Idee des Idealismus, an die Spon-
taneität seines Wesens, die ihm die Möglichkeit ver-
leiht, die Philosophie zu reiner Selbsterkenntnis zu
bringen, die Vergeistigung alles ihres Inhaltes durch
seine spekulative Erhebung in die Freiheit des Be-
griffs vorzunehmen. Die schöpferische Kraft des
Gedankens ist im Idealismus und durch den Idealis-
mus Herr geworden aller außerphilosophischen Be-
standteile. Und nun vermag das Denken sich in der
Sphäre der Ideen zu bewegen. Und von dieser schöpfe-
rischen, rein ideellen Selbständigkeit des Denkens
gibt uns der Idealismus die philosophische Erkennt-
nis. So steht er an der Spitze der Philosophie, an je-
ner Stelle, an der die Philosophie sich in ihrer Idee
selber erfaßt und in ihrer ideellen Unbedingtheit und
Autonomie hervortritt. Was würde aus der mensch-
lichen Geschichte, wenn sie die emportreibende Macht
des Idealismus entbehren müßte? Welche Grund-
lage, welchen Sinn hätten ohne ihn die Zukunft und
der Glaube an die Zukunft, ohne die kein menschli-
ches und menschenwürdiges Leben möglich ist? Idea-
18
lismus und Humanismus gehören zueinander, sie be-
dingen einander wechselseitig und helfen einander.
Vielleicht ruht die tiefste Rechtfertigung für den
Idealismus in seiner Unentbehrlichkeit, in seiner Not-
wendigkeit, in seiner sich immer wieder bezeugenden
Fruchtbarkeit für das geschichtliche Leben, in seiner
erhofften und in seiner tatsächlichen Leistung für
den Menschen und für die Kultur der Humanität und
für die Humanität der Kultur.
Beograd, im Januar 1936.
Arthur Lieber t.
19
2*
EINLEITUNG;
VOM WESEN DEH KRISE ÜBERHAUPT.
1. Die Hauptmotive
für die geschichtlichen Krisen.
Die Behauptungen über die Krisennatur unserer
Zeit wollen nicht verstummen. Von allen Seiten und
in allen möglichen Stärkegraden und Überzeugungs-
formen erklingt die nachdrückliche Versicherung,
die Gegenwart stelle in ihren sämtlichen Sinnes«- und
Wirkungsrichtungen die Zeit einer ungewöhnlich
tiefen geistigen, seelischen, weltanschaulichen, auch
praktisch-wirtschaftlichen, sozialen, politischen W ende
dar. Diese unaufhörlichen und mannigfaltig begrün-
deten und gekennzeichneten Beteuerungen lassen un-
willkürlich die Frage entstehen, welches Recht, wel-
cher Sinn und welche Geltung jenen Ansichten und
Urteilen innewohnen, und welche allgemeinen Mo-
tive die Voraussetzungen für den Ausbruch und für
die Entladung der geschichtlichen Krisen ahgeben.
Sobald wir diese Frage in dem angedeuteten prin-
zipiellen, also philosophischen Sinne ins Auge fas-
20
sen, begegnet dem überlegenden Blick sofort eine
machtvolle, für jede Entwickelungsstufe maßgebende
und charakteristische dialektische Spannung in dem
geistesgeschichtlichen Gefüge aller Zeiten schlecht-
hin. Zu den eigenartigsten und erregendsten, sowohl
in ihrer Tatsächlichkeit als auch in ihrer Wichtigkeit
nicht zu verkennenden und ununterbrochen wirksa-
men Verschlingungen in dem Gewebe des geschicht-
lichen Lebens und Schaffens gehört nämlich die nie-
mals zu beseitigende Reibung zwischen den bindenden
Gesetzen der Kontinuität und einer geformten Ent-
wicklung auf der einen Seite und dein Willen nach
schöpferischer Eigenmächtigkeit des menschlichen
Geistes, des menschlichen Denkens und Vollbringern
auf der anderen. In einem letzten Sinne handelt es
sich um die aus den tiefsten metaphysischen Schich-
ten unseres Wesens auf steigende Gegensätzlichkeit
der beiden Urerlebnisse und der beiden ursprüngli-
chen Haltungen der Autonomie und der Autorität.
Sie verkörpern sieh in dem Willen zur Kritik, zur
Selbstgestaltung und Selbstverantwortlichkeit l>ezw. in
der demutvoll gläubigen Hinnahme und in der schlich-
ten Anerkennung des überlieferten Kulturgutes.
Jede Zeit hat neben ihrer Abhängigkeit von
der Vergangenheit und neben dem Wissen um diese
Abhängigkeit doch auch den inneren Drang, das Zeit-
alter eines fundamentalen Wandels und einer wur-
zelhaften Erneuerung sein zu müssen. Dieses Streben
und die mit ihm engverbundene Hoffnung fließen aus
einem notwendigen und schönen Vertrauen zum Le-
ben und aus einem tiefen moralischen Kraftgefühl
21
und Kraftbewußtsein. Der Pubschlag der Geschichte
erfährt nun einmal die entscheidenden Einflüsse nicht
bloß aus den Antrieben, die sich aus der Zusammen-
setzung seines Blutes und aus der gewöhnlichen Rich-
tung seiner Blutbahn ergeben, auf ihn wirken auch
geheimnisvolle in ihrem Emporkommen und Verlauf
nicht klar erkenn- und bestimmbare Strömungen ein.
Diese Strömungen entstammen der unmittelbaren In-
nigkeit des Gewissens und der Verantwortlichkeit, mit
der ein Zeitalter oder eine Generation die bisherige
Lagerung und Geformtheit der geschichtlichen Ver-
hältnisse auf nimmt, nachprüft, mit einem neuen Geist
und Wert zu erfüllen, in eine andere Höhenlage zu
erheben sucht.
Jede Schwächung dieses moralischen Willens zu
geschichtlicher Umbildung schließt, gleichgültig ob
sie bewußt oder unbewußt erfolgt, eine Verlangsa-
mung der geschichtlichen Bewegung und die Gefahr
ihrer Erstarrung in sieh. Auf die Dauer lassen sich
jedoch jenes metaphysisch-moralische Verantwortlich-
keitsgefühl gegenüber der Geschichte und jene — oft
revolutionäre — Bereitschaft zu geschichtlichen Wag-
nissen und Neugestaltungen nicht unterdrücken.
Denn in einem solchen Widerstande erblickt der
Mensch eine unerträgliche Bedrohung seiner sittli-
chen Freiheit und seines unantastbaren Rechtes zur
Kritik und zu einer Einrichtung seines äußeren und in-
neren Daseins, die aus den Kräften seines eigenen
Glaubens und Willens stammt. Deshalb empfindet
und beurteilt er die Überwindung und Vernichtung je-
nes Widerstandes als eine nicht nur biologisch, son-
22
dem auch sittlich notwendige Tat. Und in der Durch-
führung dieser Tat erblickt der Mensch nichts mehr
und nichts weniger als die Wiedergewinnung der
Wirklichkeit und der Wahrheit seines Lebens.
Diese Wahrheit und Wirklichkeit erscheint ihm
bei einem einfach und ohne Ansatz zur Kritik hinge-
nommenen und anerkannten geschichtlichen Ablauf
verkümmert oder geradezu zur Lüge umgebogen und
entartet zu werden. Nicht aus politischen, nicht aus
wirtschaftlichen, sondern aus sittlichen und aus reli-
giösen Gründen lehnt sich der Mensch gegen die Zu-
mutung auf, alles was ihm die Geschichte darreicht
und aufzwingt, ohne weiteres zu bejahen, es sich in
der überlieferten Form anzueignen und in dem über-
lieferten Gehalt weiterzuleiten und seinen Nachfol-
gern zu vererben. Gewiß: Der Mensch ist ein Rebell.
Aber er ist es nicht aus Laune und Willkür, nicht aus
Leichtfertigkeit oder aus einer billigen Freude am
Neuen. Wo derartige Motive am Werbe sind, kommt
es nur zu oberflächlichen und bald vergessenen und
verschwundenen Beanstandungen der Geschichte, nicht
zu wirklichen Erneuerungen der Kultur. Die wesent-
lichen Umgestaltungen brechen hervor aus den schöp-
ferischen Wurzeln unserer ganzen Existenz. Sie sind
der Niederschlag und das Ergebnis einer höchsten
moralischen und religiösen Forderung. In ihr drücken
sich das Verlangen und der Ruf aus, das Leben wie-
der das Vertrauen zu sich selbst finden, das Dasein
den Weg zu seinen eigenen Kräften, zu seinem „We-
sen“ nehmen zu lassen. Der Mensch will wieder seiner
eigenen Realität und Wahrheit und dieser Realität in
23
Wahrheit bewußt und gerecht werden ohne Abschwei-
fungen, ohne schwächende Entfernungen von dem
„Eigentlichen“ seines Wesens. Von diesen, in der Ge-
schichte immer aufs neue sich energisch durchsetzen-
den Sendungen zur Wiederergreifung der eigenen
Wahrheit und des wahren Selbst aus wird dann die
vergangene und zurückliegende Epoche als eine Zeit
der Untreue gegenüber dem Wesentlichen des eigenen
Seins, als eine Periode des Verrates an den wahren
und natürlichen Gesetzen und Bedingungen, denen die
Gestaltung des Lebens unterstehen sollte, beurteilt
und verurteilt. Dabei spielen die Erwägung oder der
Umstand, ob diese Kritik gerecht oder ungerecht ist,
gar keine Rolle. Die Maßstäbe der geschichtlichen
Urteile haben ebenso wenig wie die geschichtlichen
Umwälzungen und Krisen ihre Grundlage vornehm-
lich in einem besonnenen Gerechtigkeitsempfinden.
Das können und dürfen sie schon deshalb nicht haben,
weil ihre Berechtigung und Anwendung dann von der
überlieferten Moral und von den moralischen Konven-
tionen abhängig wären. Und gerade gegen diese Mäch-
te wollen sie sich doch mit aller Entschiedenheit rich-
ten. Anderenfalls würden sie sich ihres moralisch-
revolutionären Schwunges berauben und eich der
Freiheit ihrer Kritik und damit ihres Rechtes und
ihres sittlichen Wertes entledigen.
Die Hauptmotive für die geschichtlichen Krisen
liegen also, von allen Einzelheiten abgesehen, in dem
Verlangen der Rückkehr zu den „eigentlichen“ Grund-
kräften des menschlich-geschichtlichen Daseins und
Wirkens. Sie ergeben sich aus der Forderung und
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dem Wunsche, der wahren Realität und der realen,
nicht durch Parteiung, nicht durch mutlose Anbe-
quemung an die Gegebenheiten entstellten, nicht
durch irgendwelche Rücksichten und Fiktionen her-
ahgewürdigten Wahrheit des Lebens wieder habhaft
zu werden. Und zwar habhaft zu werden in einer
Form und in einem Grade, die der Reinheit und
Größe der erstrebten Realität und der ersehnten
Wahrheit des Lebens gemäß sind, die mithin selber
die Züge der Reinheit und der Größe aufweisen. Als-
dann aber muß diese Wiedergewinnung der Realität
und der Wahrheit die Kennzeichen der Unbedingt-
heit, der Ungeschwächtheit, der Absolutheit tragen.
Sie muß sich in ihrer geistig seelischen Gestalt von der
voraufgegangenen Zeit unterscheiden. Dieser zurück-
liegenden Zeit wird nämlich — gleichgültig ob mit
Recht oder Unrecht — der Vorwurf gemacht- daß sie
sich ebenso wie von der Substanz des Lebens und von
der Wahrheit des Seins so auch in ihrer geistigen Hal-
tung, in ihrem Bewußtsein, in ihrer ganzen Erkennt-
nisart katastrophalerweise von der Wahrheit und
Realität entfernt und einem denksrhwachen, wdrk-
lichkeitsblinden und erkünstelten Relativismus über-
antwortet habe. Dabei wechseln die Angaben über
die Gründe, die für jene Unehrlichkeil auf gezählt wer-
den, in bezeichnender Abstufung.
Auf jeden Fall erfolgt der Durchbruch der ge-
schichtlichen Krisen stets im Namen der — angeb-
lich gefährdeten — Realität und Wahrheit. Er er-
folgt in der Form eines unbedingten Anrufes an die
unbedingte Realität und au die nicht relativistisch ge-
25
minderte Wahrheit, auf die da» menschlich-ge-
schichtliche Dasein wieder gestellt werden sollen.
Mit dieser Behauptung vollziehen wir lediglich eine
Feststellung. Wir beleuchten nur eine in der Ge-
schichte sich unzählige Male bekundende Macht und
Tendenz. Aber wir enthalten uns vorerst noch jeder
kritischen Stellungnahme. Im Augenblick fragen wir
noch nicht nach der Realität und nach der Wahrheit
dieser Macht und Tendenz selber. Wir widmen uns
hier nicht der schweren und bitteren Überlegung, wie-
viele Selbsttäuschungen, wieviele wilde und unklare
Absichten, wieviele rücksichtslose Bestrebungen in
jene zur Krisis treibende revolutionäre Einstellung
und Tätigkeit mitverwoben sind, wieviele und welche
Naivitäten oder wieviele und welche feinen oder gro-
ben, schlauen oder plumpen Durchtriebenheiten und
Gewaltsamkeiten und welche einfach neuerungsgieri-
gen Herrschsüchte zu den Voraussetzungen der ge-
schichtlichen Krisen gehören.
Doch selbst bei der Wirksamkeit derartiger Mo-
tive fehlt den geschichtlichen Krisen nicht der Cha-
rakter der Notwendigkeit und der Unwiderstehlich-
keit. Denn auch in jenen Beweggründen gelangen
emotionale Grundkräfte und ganz menschliche Wil-
lensrichtungen zur Geltung. In ihnen kommt nicht
bloß der gewaltige Drang zu einer Erneuerung des
Lebens und der nicht weniger gewaltige Drang zu
einer Abwehr des Überlieferten, das den Menschen
mit einer brennenden Langeweile erfüllt und die Emp-
findung des Widerwillens erweckt, zum Ausdruck, in
der tiefsten Schicht ihres Wesens arbeitet der ewi-
26
ge sittliche Trieb, der darauf gerichtet ist, Gerichts-
tag über den Menschen und über die ererbten und
uns angesonnenen Güter und Werke abzuhalten. Der
tiefste Sinn dieses Strebens besteht in der Erfüllung
der heiligen Pflicht zur Selbsterkenntnis.
Sobald jedoch ein Mensch und ein Zeitalter sich
zu dieser heroisch-kritischen Haltung entwickeln, tre-
ten sie in die autonome, weil durch den Menschen
selber hervorgerufene Situation der Krisis ein. Jene
kritische Haltung steigt auf aus der schöpferischen
und eigenwilligen, aus der nicht einzudämmenden und
ihre Macht immer wagenden Kraft des Geistes und
des Lehens. Sie ist eine überlegene und notwendige Be-
dingung der Geschichte, Sie gehört zu ihren Wesens-
formen und Wesenszügen, in denen sich nicht bloß
das geschichtliche Sein des Menschen, sondern auch
sein geschichtlicher Wert und Sinn erproben. Wegen
ihrer natürlichen Zuordnung zu dieser schöpfe-
rischen Geisteshaltung der Kritik, der Freiheit, der
Verantwortlichkeit bedeuten auch die geschichtlichen
Krisen keine Zufalls- und keine zeitlich beschränkten
Begleiterscheinungen und keine vermeidbaren Ne-
benprodukte des geschichtlichen Lebens. Sie sind
in keiner Weise etwa von unruhigen Köpfen künstlich
gemacht. Deshalb stellen sie eine Gruppe im Ge-
samtkreis und in dem Gesamtwirkungszusammen-
hange derjenigen Formen und Gestalten, derjenigen
Werte und Gehalte dar, in denen und kraft derer der
Mensch sich in der Geschichte wesenhaft verwirklicht,
bewährt und beglaubigt.
27
2. Die Krisen in der Philosophie und
ihre Gründe.
Genau dieselben Quellen, aus denen sich die all-
gemeinen Wendungen in der Entwickelung der ge-
schichtlichen Kultur speisen und herleiten, und bei-
nahe dieselben Kräfte, die für diese Wendungen und
Krisen verantwortlich sind, machen sich auch in der
Philosophie und in ihrer Geschichte geltend. Daher
auch die durch eine große Reihe der verschiedenar-
tigsten Motive allsgelöste Vielgestaltigkeit in der
Struktur und in der Geschichte der Philosophie. Gibt
es überhaupt in dem weiten Umkreise der menschlich-
geschichtlichen Wirklichkeit noch ein anderes Gebil-
de, das sich hinsichtlich seiner inneren Verwickelt-
heit, ferner hinsichtlich der Schwierigkeit seiner Stel-
lung in dieser W irklichkeit mit der Philosophie auch
nur von ferne vergleichen ließe? Ist doch ihre Ein-
zigartigkeit schon durch den einen entscheidenden
Umstand mitgegeben, daß auf sie von allen Seiten des
Geisteslebens her tiefgreifende Einflüsse tinströmen.
von der Seite der Wissenschaften ebensowohl wie von
der Kunst und der Religion, der Sprache und der
Wirtschaft, des Staates und des Rechtes, nicht zuletzt
von derjenigen der allgemeinen Willensstellung, Ge-
sinnungs- und Inleressenrichtung einer Zeit, also von
dem allgemeinen Lebensgefühl, von dem die Zeit
durchdrungen ist. Und zu allen diesen Einwirkun-
gen gesellen sich noch jene Antriebe die aus der ei-
genen inneren Entwickelung der Philosophie, aus der
verwickelten Struktur ihrer Idee und ihrer jeweiligen
28
tatsächlichen Gestalt und Verfassung und aus der
sehr verschiedenartigen Werthaltigkeit und Wirksam-
keit der in ihr selber vorhandenen Stoßkräfte stam-
men.
Aus der spannungsreichen Zusammenarbeit aller
dieser Tendenzen ergehen sich für die jeweilige For-
mung der Philosophie zwei wichtige und beachtens-
werte Folgen. Erstens die eigentümliche, durch keine
noch so entschiedene Festlegung aus der Welt zu
schaffende Komplikation ihres Wesens und ihres Be-
griffes, auf die wir schon hinwiesen, und auf die da-
durch bedingte Schwierigkeit bezüglich einer eindeu-
tigen Begriffsbestimmung ihres Wesens. Über die Viel-
heit und Verschiedenartigkeit dieser Begriffsbestim-
mungen zu klagen, ist abwegig; eine solche Klage und
Anklage ist nur ein Zeugnis der Unkenntnis des Sach-
verhaltes. Denn in einer Hinsicht besteht tatsächlich
gar nicht eine so unübersehbare Vielheit. Die in dieser
Beziehung von Laien häufig vorgebrachte Beschwerde
ist hinfällig. Die äußerliche Mannigfaltigkeit der ver-
schiedenen Definitionen läßt sich vielmehr ohne
große Mühe zu bestimmten großen Typen zusammen-
fassen und dadurch vereinheitlichen und vereinfa-
chen. Außerdem ist angesichts der dialektischen
Fülle der für die Grundlegung und für den Ausbau
der Philosophie maßgebenden Bestandteile und Fak-
toren eine gewisse Vielheit und Verschiedenartigkeit
in den Formengebungen der Philosophie unvermeid-
lich. Es bleibt einfach nichts anderes übrig als die
vorurteilslose Anerkennung und Würdigung dieser
dialektischen Fülle, aus der dann eben bestimmte
29
Konsequenzen inbezug auf die nie erreichbare Ein-
heitlichkeit der Philosophie gezogen werden müssen.
Zweitens entstammt jener zwischen den verschieden-
artigen Bedingungen und Absichten der Philosophie
herrschenden Spannung die weitere eindrucksvolle
Dialektik, die sich in der geschichtlichen Entwicke-
lung der Philosophie in so auffallender Weise bemerk-
bar macht. Denn diese Entwickelung weist keines-
wegs jene verhältnismäßig starke Geradlinigkeit auf,
die sich in der Geschichte der Einzelwissenschaften
zeigt. Dort treten Sprünge, beinahe Brüche auf.
Die Geschichte der positiven Wissenschaften ist von
revolutionären Zuckungen und von der Bedrohung
durch den Ausbruch umstürzender Krisen doch etwas
unabhängiger als diejenige der Philosophie. Eigent-
lich bedeutet jedes große System der Philosophie so-
wohl eine „Revolution der Denkungsart1* (Kant) als
auch eine Revolution in den bisherigen Ansichten und
in den bis dahin gültigen Gehalten der Erkenntnis
Und nicht zuletzt besitzt es gerade in dieser revolu-
tionären Kraft, die nicht nur die philosophiege-
schichtliche, sondern auch die allgemeine Kultur
und die geistesgcschichtliche Entwicklung in die Si-
tuation der Krise zu führen pflegt, einen einleuchten-
den Ausweis für seine geschichtliche und sachliche
Bedeutung. Ohne revolutionäre Kraft gibt es kein
fruchtbares Philosophieren, wie ohne sie auch kein
fruchtbares Geistesleben möglich ist.
Würden sich die philosophische Arbeit und die
Entwicklung der Philosophie im reinen Äther des
Logos vollziehen, wie es von beachtenswerten Vertre-
30
tern der Philosophie im Ton des Gebotes und mit ein-
leuchtenden und eindrucksvollen Begründungen ge-
fordert wird 1), auch dann könnten von der Philoso-
phie die Krisen und Revolutionen nicht ferngehalten
werden. Denn auch der Logos hat seine Dialektik,
seine Antinomien. Und es ist eine falsche, weil ein-
seitige Auffassung vom Wesen der logischen Dialektik,
sie mit Hegel in einem harmonistischen Sinne zu ver-
stehen, als wenn These und Antithese in der Synthese
ihren, wenn auch nur vorläufigen und relativen Aus-
gleich fänden. Der Logos arbeitet in der Philosophie
in einer anderen Weise als in den reinen Vernunftwis-
senschaften, z. B. in der Mathematik und in der Logik.
I nd auch bei ihnen ist die Frage noch offen, ob sie
wirklich Vernunftwissenschaften im vollen Sinne dar-
stellen. Denn das eine ist die Begriffsbestimmung ei-
ner Wissenschaft, und in sie läßt sich leicht die Forde-
rung nach einer reinen Vernünftigkeit mitaufnehmen,
das andere aber ist die Ausführung.
Nehmen wir jedoch einmal an, daß in der Philoso-
phie der Standpunkt und die Methode des Logos rein
zur Geltung gelangten. Auch dann geriete die Philo-
sophie in eine, aus den schwersten Angriffen gegen sie
hervorgehende Krise. Man braucht die Einwände,
die von der Seite der mehr oder minder irrationalisti-
schen Lebensphilosophie (Friedrich Nietzsche und
Wilhelm Dilthey, Henri Bergson, Ludwig Klages usw.
x) Vgl. das anregende nnd eindringende Buch von Emil
Utitz „Die Sendung der Philosophie in unserer Zeit“, Leiden
1935, z. B. S. 11, 13, 115, 128, 137, 142.
31
und vor ihnen als ihr gemeinsamer Anreger und Leh-
rer Arthur Schopenhauer) aus gegen die Macht und
das Recht des Logos und damit gegen die sogen. Ver-
nunft- und Geistesphilosophie und mittelbar und un-
mittelbar gegen den Idealismus erhoben werden, nicht
zu überschätzen- Hinwiederum ist auch ihre Unter-
schätzung, wie sie in einer oft allzu hoheitsvollen Hal-
tung von manchen Vertretern des alten Rationalismus
vorgenommen wird, nur ein Zeichen eines vorurteils-
vollen Dogmatismus und einer allzu einseitigen Par-
teiergreifung zugunsten des eigenen Standpunktes, ln
der Lebensphilosophie und in ihrem Streit gegen die
idealistische Vernunftphilosophie stecken Züge, auf
die wir gerade in unserem Zusammenhänge achten
müssen, weil sie für die Entstehung der Gegenwarts-
krise des Idealismus mitmaßgebend geworden sind.
Denn die Grundlage ebenso wie die Spitze jener Pole-
mik bildet die Sorge um die Wahrung eines wirklich
aufgeschlossenen Philosophierens, das gerade den bei-
den philosophischen Grundproblemen, dem der Reali-
tät und dem der Wahrheit, ohne rationalistische Ver-
engung gerecht werden soll.
Es sind nämlich nicht bloß diese beiden Probleme
an und für sich, die die Lebensphilosophie allgemein
in den Vordergrund rückt. Täte sie dies, dann wür-
den ihre Angriffe gegen die Vernunftphilosophie hin-
fällig und gegenstandslos sein, weil doch auch diese Le-
hensphilosophie ihren Mittelpunkt und ihre Haupt-
gegenstände in eben diesenFragen hat. Allein jene An-
griffe erfolgen auf Grund der Überzeugung, daß die
Gegnerin den Gehalt und Sinn jener Probleme miß-
32
verstehe und verkenne und denjenigen Motiven nicht
Genüge tue, die zur Entstehung dieser Probleme ge-
führt haben. Im Augenblicke wollen wir den Grund
und das Recht jener Polemik nur kurz andeuten, um
dadurch jene späteren Ausführungen vorzubereiten,
die den Kern unserer Schrift darstellen. Wenn es,
so sagt die im Realismus verwurzelte Lebensphiloso-
phie, einem philosophischen Denken wirklich Ernst
sei um die uneingeschränkte Aufnahme, Erfassung,
Würdigung und Behandlung jener Probleme, dann
dürfe es ihre Kraft und ihre Schwere nicht spirituali-
stisch und intellektualistisch verdünnen, verkleinern
und zerreden. Es müsse dem Begriff der Realität und
der Wahrheit gegenüber eine andere Einstellung ein-
nehmen und ihrem Gehalt und ihrer Problematik
mit einer durchaus anderen Methode beizukommen
suchen, als das von der Seite der idealistischen Ver-
nunftphilosophie aus geschehen sei i).
Tadel und Vorwurf gegen die Gegnerin und Vor-
gängerin erfolgen also auch hier im Namen dersel-
ben Stimmungen und auf Grund desselben Eindru-
ckes und derselben Sorge, aus denen heraus innerhalb
des allgemeinen Geisteslebens eine geschichtliche
Kri se entsteht. Hier wie dort spielen für die Auslö-
sung einer Krise die gleichen Motive eine entscheideu-
1) Vgl. die neue Einsichten in die tiefsten Voraussetzun-
gen der philosophischen Welterfassung eröffnende Akademie-
abhandlung von Eduard Spranger „Die Urschichten des Wirk-
lichkeitsbewußtseins“ 1. Sitzungsberichte der Preuß. Akademie
der Wissenschaften. Phil .-Hist. Klasse 1934 XXII.
u A. Liebert, Die Krise d. Idealismus.
33
de Rolle. Auch innerhalb des Zusammenhanges der
philosophischen Arbeit kommt es immer dann zu ei-
ner Wendung und zu dem Hervortreten einer Krise,
wenn sich eine Abwehr gegen die auf der unmittelbar
vorangegangenen Entwickelungsstufe der Philosophie
— angeblich — schuldhaft vorgenommene Verken-
nung des Gewichtes der Begriffe der Realität und der
Wahrheit erhebt. Diese Entwicklungsstufe müsse des-
halb, so lautet die Forderung, von Grund aus überwun-
den, ja ausgelöschl werden. Denndamals habe die Phi-
losophie sich an dem Sinn, an der Bedeutung jenerBe-
griffe geradezu versündigt, sie habe an dem Wesen der
Realität und Wahrheit vorbeigeredet und damit eine
der höchsten Pflichten der Philosophie verletzt. Des-
halb verdiene sie den Vorwurf der Wirklichkeits-1)
und Wahrheitsfremdheit; sie schwebe gegenstands-
und beziehungslos in der freien Luft und beschränke
sich auf den mageren Wert einer rein akademischen
Angelegenheit.
Die Schwere dieses Tadels, mag er nun zu Recht
*) Auf diesen, nach bestimmten Zwischenzeiten immer wie-
der auf tauchenden, aber trotz seiner Wiederholung sein Recht
nicht verbessernden Vorwurf der „Wirklichkeits- und Lebens-
fremdheit“ gewisser philosophischer Richtungen werden wir
später zu sprechen kommen. Zu diesem Tadel in seiner Allge-
meinheit vgl. das scharfsinnige Buch von Paul Haeberlin
„Das Wesen der Philosophie“, München 1934 z. B. S. 107 u. ö.
H. setzt sich kurz, aber in durchschlagender Weise mit diesem
Vorwurf auseinander und deckt seine Unhaltbarkeit auf. Er zeigt,
daß dieser Vorwurf einem fundamentalen Mißverstehen der
Aufgabe und des Wresens der Philosophie entstammt.
34
bestehen oder nicht, wird dann ganz verständlich, so-
bald man die entscheidenden Motive für die Teil-
nahme, für die Verpflichtung der Philosophie gegen-
über den Problemen der Realität und Wahrheit von
Grund aus begreift. Es handelt sieh in der Haupt-
sache um mindestens fünf Motivreihen.
a) Da ist zunächst ihre rein intellektuelle und
theoretische Teilnahme an jenen Problemen in ih-
rem ungebrochenen und umfassenden Sinne. Denn
wodurch anders unterscheidet sich die Philosophie
von den Einzelwissenschaften als dadurch, daß diese
nur an Teilen, nur an Ausschnitten, fast nur an Split-
tern dieser Probleme interessiert und tätig sind, wäh-
rend jene, die Philosophie, die Frage der Realität und
die der Wahrheit in ihrer vollen Inhaltlichkeit auf-
nimmt? Tut sie das nicht, versteht sie diese Proble-
me nur in einem spezialistischen Sinne, behandelt sie
sie z. B. bloß in einem erkenntnistheoretischen Sinne,
dann verengt und verfälscht sie die gebotene Univer-
salität ihrer Fragestellung und ihrer Methode. Und
indem sie sich auf diese Weise zu einer Spezialwissen-
sehaft zusammenzieht, ruft sie als Philosophie da-
mit notwendigerweise eine Krise über sich herbei.
b) Oder betrachten wir zweitens das „praktische4’
und das ethisch-weltanschauliche Motiv, das der Phi-
losophie zur Voraussetzung dient, ln dem Menschen
arbeitet das unwiderstehliche Verlangen, von irgend-
wem eine volle und umfassende Auskunft auf die
Frage nach dem, was ist u. z. nicht bloß hier und
3*
35
dort, nicht bloß jetzt, sondern überhaupt und in
Wahrheit und eigentlich ist, zu bekommen. Und in
engster Verbindung damit will er eine Antwort auf
die ebenso brennende Frage erhalten, ob es denn nicht
bloß Teil- und Annäherungswahrheiten, sondern so
etwas wie die Wahrheit überhaupt gibt, und ob und
wie wir Menschen ihrer teilhaftig werden können. Die
Würde der Philosophie, ihr Ansehen und ihre Stel-
lung innerhalb der Kultur hängen von der Art der
Auskunft auf diese Fragen ab. Denn weicht sie einer
angemessenen Antwort auf diese, aus metaphysischem
Bedürfnis und aus innersten seelischen Nöten hervor-
gegangenen Fragen aus, dann erweist sie sich auch als
außerstande, die metaphysische Frage zu beantworten,
nämlich die nach dem Wert und Sinn der Realität und
der Wahrheit. Kann oder will sie aber nicht die Rea-
litäts- und die Wahrheitsfrage als solche in ihrem
ganzen geistig- seelisch- moralisch- weltanschaulichen,
also metaphysischen Vollgehalt und Schwergewicht
zulassen und sich mit ihnen nicht in diesem Sinne be-
schäftigen, dann versagt sie auch vor der Antwort
nach dem Wert und Sinn des Daseins und der Wahr-
heit. Ja, sie wird alsdann schon diese Fragen als das
Zeugnis einer intellektuellen Grenzüberschreitung und
als eine Angelegenheit, die eine wirklich „wissenschaft-
liche“ Philosophie nichts anginge, ablehnen.
Welches aber ist die Folge einer solchen Einstel-
lung und Haltung? Eine derartige Philosophie löst
das Gefühl der Enttäuschung aus. Und da die Men-
schen sich nicht gern enttäuschen lassen, weil dieses
Gefühl sie bedrückt und ihren Lebensschwung behin-
36
dert, weil es. um mit Spinoza zu sprechen, zu den nie-
derziehenden Leidenschaften gehört, so verfällt der
Gegenstand, der den Anlaß und Ausgang für dieses
Gefühl darstellt, der Geringschätzung. Damit aber
ist die Krise über ihn hereingebrochen.
c) Diese Krise ist jedoch noch aus einem dritten
Grunde unausbleiblich. Die Menschen hängen aus
mehr als einem Grunde an einer sie innerlich befrie-
digenden Beantwortung jener Fragen nach dem We-
sen der Wirklichkeit und der Wahrheit. Es sind für
sie Wertfragen im höchsten und tiefsten Sinne. Das
ergibt sich vor allem daraus, daß das „wahre“ Wesen
der Wirklichkeit und der Wahrheit nur Gott als dem
höchsten Gut und Wert zuerkannt wird. Die Reali-
täts- und die Wahrheitsfrage sind nur dann angemes-
sen zu verstehen, wenn sie von der religiösen Haltung
aus und als religiöse Forderung begriffen werden.
Die Unbedingtheit dieser Haltung und dieser Forde-
rung macht aber ein Umgehen oder eine Abschwä-
chung und Vereinseitigung dieser Fragen u. z. etwa so,
daß die Wirklichkeit als abhängig von dem System
logischer Formen oder als eine Setzung des Denkens
und seiner Kategorien angesehen und von hier aus ins
Auge gefaßt wird, einfach unmöglich. Das heißt:
Der Mensch will eine volle Antwort auf jene Fragen
haben. Es ist dabei nötig, diesen Willen in seiner
ganzen und umfassenden Bedeutung zu nehmen. Em-
pirisch-biologische Willensbewegungen sind hier eben-
so im Spiele wie moralisch-normative und religi-
öse. Ein Hauptteil des menschlichen Seins und Wer-
37
te» haftet an der angemessenen Antwort auf jene Ur-
fragen. Die metaphysischen Fragen und die meta-
physischen Antworten sind nicht bloß intellektuelle
und theoretisch-gültige Vollzüge, sie sind nicht bloß
sozusagen akademische Angelegenheiten, sie betref-
fen vielmehr den ganzen Menschen, sie gehören zu den
Bedingungen seines Schicksals und sind ein Teil sei-
nes Schicksals.
Wenn nun eine Richtung in der Philosophie jenem
Wollen, jenen Forderungen nicht gerecht zu werden
vermag, dann wird nur eben sie, nicht aber die Philo-
sophie überhaupt in Acht und Bann getan. Man be-
schuldigt sie eines Verkennens des religiösen Hinter-
grundes und der religiösen Dringlichkeit, aus denen
heraus jene Fragen geboren werden. In der Tat sind
das religiöse Leben und Erleben sehr stark an der
Schöpfung und dem Hervortreten der genannten
Probleme beteiligt. Gilt doch nicht nur, wie wir
schon sahen und sagten, Gott als der Inbegriff und als
die volle Wirklichkeit des Seins und der Wahrheit,
auch der Wert und das Recht einer Religion oder ih-
rer Enlwicklungsformen und Entwicklungsstufen
werden darnach bestimmt und abgemessen, ob und
in welchem Ausmaße und mit welcher Tiefe sie als
„wirkliche“ und als „wahre“ Religion gelten können.
Werden ihnen aber aus irgendeinem Grunde — und
der Gründe dafür gibt es viele, ebenfalls „wirkliche
und „wahre“, aber auch erschlichene und unwahre
Gründe — die Anerkennungen der „Wirklichkeit“
und „Wahrheit“ vorenthalten, dann bricht unter der
Führung eines im Namen der Wirklichkeit und der
38
Wahrheit erfolgenden Kampfrufes die Krise über die
betreffende Religion bezw. über eine ihrer Entwicke-
lungsabschnitle herein. Sie verfallen dem Gericht,
weil sie nicht oder nicht mehr als „wirkliche“ und
„wahre“ Zeugnisse des religiösen Geistes und nicht
mehr als „wirkliche“ und als „wahre“ Offenbarun-
gen Gottes empfunden und beurteilt werden.
Nur von einem sinnwidrig verengten Standpunkt
aus, d. h. künstlich und gewaltsam läßt sich die Beein-
flussung der Philosophie durch religiöse Fragestel-
lungen und Forderungen bestreiten oder ablehnen.
Die Probleme der Realität und der Wahrheit können
ihre Beziehung zu dem Mutterschoße der Religion
nicht verleugnen. Darum verstößt die Unterbindung
des Verhältnisses von Philosophie und Religion ge-
gen die Natur der Sache. Dieses Verhältnis bekundet
seine natürliche Kraft auch in allen wirklich großen
und fruchtbaren Systemen der Philosophie. Ihr Stu-
dium ist für die Erreichung einer aufgeschlossenen,
der Sache entsprechenden Einsicht in das, was Philo-
sophie ist und bedeutet, unerläßlich 1).
Ist dem aber so, stellt ihr Verhältnis zur Religion
keinen zufälligen und keinen nebensächlichen Faktor
für die Grundlegung und für den Aufbau, aber auch
für das Ansehen und für die subjektive und objektive
Geltung der Philosophie dar, dann wird ein Wandel
in der religiösen Haltung und in der Tiefe des reli-
giösen Bewußtseins zu jeder Zeit von Einfluß auf
die Philosophie sein. Eine in religiöser Beziehung
1) So auch Emil Utitz a. a. 0. S. 142, 149.
39
mehr zu dem Standpunkt der Autonomie, der selbet-
verantwortlichen Freiheit neigende Haltung und Be-
wußtseinsrichtung wird eine andere Art und Form
des Philosophierens fordern und sich mit einer an-
deren Art und Form der Philosophie verbinden als
eine Geistesgestalt, die in dem Grundgefühl der Ach-
tung vor der Autorität verwurzelt ist, und die sich in
dem Gehorsam gegenüber einer durch Tradition und
Pietät festgelegten Dogmatik ausdrückt. Die Lehre
und die Behauptung von der Existenz einer „ewigen
Philosophie“ (philosophia aeterna), wie sie von der
katholischen Kirche vertreten werden, stellen eine
anziehende Ideologie und eine in gewissem Umfange
begreifliche Forderung dar. Sie entsprechen in be-
achtenswerter Weise der Selbstbeurteilung der Kirche
als einer auch „ewigen“ Schöpfung und Einrichtung.
Aber diese großartige Ideologie und diese geschicht-
lich überaus einflußreiche Forderung haben die Ent-
stehung einer „anderen“ Philosophie und einer „an-
deren“ Kirche nicht zu hindern vermocht. Jene be-
ginnt mit der Zeit der Renaissance und findet ihre
ersten klassischen Vertreter in Galilei, Descartes u. a.
Die Begründung der neuen, der „anderen“ Kirche ist
bekanntlich an die Reformation Luthers geknüpft.
Mit der unvermeidlich gewordenen Entstehung des
reformatorischen Geistes, der sich bereits ziemlich
lange vor der Wirksamkeit Luthers ankündigt und
auch praktisch-konkret bekundet, mußte aber eine
Krise über das „katholische“ Denken hereinbrechen.
Ebenso war mit jenem neuen Geiste als dem Trä-
ger und dem Ausdruck einer geschichtlichen Macht
40
auch eine neue Methode de? Philosophieren^ gefor-
dert und gegeben.
Weil sowohl in der Philosophie als auch in der
Religion Urerlebnisse sich offenbaren und nach For-
mung und Gestaltung drängen, ist eine wechselseitige
Beeinflussung dieser beiden Geistesmächte und Gei-
stesgebiete eine Selbstverständlichkeit, mögen sie
sich dann auch in der besonderen Art der Formung
jener Urerlebnisse noch so sehr voneinander unter-
scheiden. Auf jeden Fall aber ergibt sich aus jenem
Wechselverhältnis der in seiner Wirklichkeit durch
keine Bestreitung zu verkleinernde Umstand, daß ein
Umschwung im religiösen Leben auch einen Um-
schwung in der philosophischen Haltung und Denk-
arbeit nach sich ziehen wird und muß. Dabei macht
es für die tatsächliche Lage und Gestaltung gar nichts
aus, ob diese Einwirkung der religiösen Stimmung auf
die Philosophie dem einen Philosophen lieb und wert
ist, oder ob sie von einem anderen Philosophen auf
Grund eines anderen Standpunktes geleugnet oder
versuchsmäßig ferngehalten oder unterdrückt wird.
Für die persönliche Arbeit und Leistung des betref-
fenden Denkers mag ein solches Bemühen viel-
leicht noch von Erfolg sein. Dabei wollen wir auf die
zahlreichen, gerade hier vorliegenden Selbsttäu-
schungen nur im Vorübergehen hinweisen. Anders
ist es um die allgemeine Entwicklung der Philosophie
bestellt. Unvermeidlicherweise zeigt sie nicht bloß
gelegentliche, auch nicht bloß von der Persönlichkeit
und von der Gesinnungsweise der einzelnen Philo-
sophen, von ihrer Einstellung zum Leben, von ihrem
41
Temperament, von ihrer Weltanschauung, von ihrer
Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, von ihrer
Ansicht über die Aufgaben und das Wesen des Staates
abhängige, sondern sie zeigt allgemeine, notwendige
und selbstverständliche Einwirkungen des religiösen
Geistes auf sie. Die Befreiung gerade von diesen Ein-
wirkungen, ihre Möglichkeit und Tatsächlichkeit ein-
mal hypothetisch zugegeben, würde sogar zu einer
Aushöhlung und Entleerung derjenigen Bewußtseins-
stellung und Situation führen, die die Grundlagen des
Philosophierens darstellen. Ein Mann von einer
„katholischen“ Sinnesart philosophiert nun einmal
anders, als ein „protestantisch“ gerichteter Geist. Da-
bei ist es natürlich gleichgültig, ob der betreffende
Denker auch äußerlich und sozusagen bekenntnis-
mäßig zur katholischen bezw. zur protestantischen
Kirche gehört. Je nachdem das Geistesleben in sei-
ner Allgemeinheit und seiner Hauptströmung nach
einen stärkeren Zug zur „katholischen“ oder zur
„protestantischen“ Denkungsart aufweist, wird auch
das Philosophieren einer Zeit schon von seinem
Grunde, von seiner Urschicht an die entsprechende
Tendenz in sich tragen. Ist also eine Richtung in der
Philosophie mehr mit der protestantischen Denkweise
verbunden, dann wird über sie bei einem Wandel
dieser Denkungsart notwendigerweise eine Krise kom-
men. Das Gesetz dieses Verhältnisses, dieser Entspre-
chung besitzt allem Anschein nach seine Wurzel in
der Tiefe des religiösen Lebens und Erlebens. Des-
halb hat bei dem Vollzug dieses Wandels und bei
dem Eintritt in das Stadium der Krise wohl das reli-
42
giöse Leben und Erleben die Führung itme. Dieser
Einfluß und dieser Wandel bewegen sich in der Haupt-
sache immer innerhalb des riesigen Bogens und der
riesigen Ausschwingung, deren Pole durch den Gegen-
satz zwischen einer mehr auf Autonomie und einer
mehr auf Autorität eingestellten Geistesart gekenn-
zeichnet sind. Dieser Gegensatz deckt sich im gro-
ßen und ganzen mit dem vorhin genannten Gegensatz
zwischen dem protestantischen und dem katholischen
Glauben und Philosophieren.
d) Aber noch ein viertes Motiv, das die Bedin-
gung für den Ausbruch einer Krise in der Philosophie
darstellt, muß kurz gestreift werden. Es stammt
gleichsam nicht von außen, nicht von einer an die
Philosophie herangebrachten Forderung, sondern aus
ihr selber, aus ihrem Begriff und aus ihrer Aufgabe,
Dieser Begriff und diese Aufgabe beziehen sich auf
die Pflicht und auf die Notwendigkeit einer vollen
Erkenntnis der Realität und der Wahrheit. Das heißt:
Die Erkenntnis soll sowohl die Realität in ihrer gan-
zen Wahrheit als auch die Wahrheit in ihrer ganzen
Realität zum Gegenstände haben und beide Probleme
bewältigen.
Was geschieht nun. wenn ein bestimmter Stand-
punkt, wenn eine bestimmte Methode und eine be-
stimmte Richtung in diesen Beziehungen versagen?
Sei es, daß diese Richtung von vornherein die Stel-
lung der Probleme in dem angedeuteten Sinne als eine
über die strenge Wissenschaft hinausgehende Forde-
rung ablehnen zu müssen glaubt, sei es, daß sie trotz
43
aller Anstrengung außer Stande war oder ist, dem in
jenen Fragen wirksamen Anspruch tatsächlich Ge-
nüge zu tun. Die Antwort lautet dann: Die betreffende
Entwicklungsrichtung hat eben der Grundpflicht und
der Hauptaufgabe der Philosophie nicht entsprochen.
Und mögen ihre Beweisführungen für die Unmöglich-
keit der Erfüllung jener Pflicht und Aufgabe noch so
gesichert sein, es wird sich doch eine Doppeltheit von
Gegengründen erheben, um die Haltlosigkeit oder
Unhaltbarkeit jener Beweisgänge darzutun. Erstens
kann, wovon schon vorhin die Rede war, der Mensch
die Philosophie darum auf keinen Fall von der Ver-
wirklichung jener Aufgabe freisprechen, weil er mit
seinem ganzen Innern, mit seinem ganzen Gemüt,
mit seiner ganzen Seele an ihrer Verwirklichung
hängt. Zweitens würde die Philosophie bei einem sol-
chen Verzicht einfach sich selber des tiefsten Sinnes
ihrer Aufgabe berauben und ihrer doch gewiß ruhm-
reichen Vergangenheit untreu werden. Denn ebenso
wie diese Aufgabe die Forderung der Befriedigung
der metaphysischen Fragen und Bedürfnisse in sich
schließt, so zeigt auch die ehrwürdige Geschichte der
Philosophie ein unentwegtes und nicht ergebnisloses
Ringen um die Bewältigung jener Urprobleme. Die
Metaphysik ist und bleibt ein bedeutsamer, dem We-
sen der Philosophie innerlichst zugehöriger Bestand-
teil des spekulativen Denkens. Ihre Entfernung und
Fernhaltuug kann auf die Dauer nicht anerkannt und
nicht zugelassen werden. Aus der geschichtlichen
Vergangenheit der Philosophie selber und das heißt
eigentlich; aus der Philosophie selber erschallt der
44
Abwehrruf gegen die Behauptung, daß das Denken
außerstande sei, sich der absoluten Wirklichkeit in
der Form absoluter Wahrheit zu bemächtigen, daß
seine Kraft lediglich zur Erkenntnis der Welt der
Erscheinungen ausreiche. Die Ehrfurcht vor dieser
großen geschichtlichen Tradition verbietet der Philo-
sophie, sich mit dem Phänomenalismus, d. h. mit der
Lehre, daß unsere Erkenntnis auf das Feld der Er-
scheinungen beschränkt sei, zufrieden zu geben. Jede
ihrer gewaltigen Gestalten, jeder dieser denkschärf-
sten und zu höchster begrifflicher Konstruktion be-
gabten Köpfe stellt eine Mahnung gegen die dem
Menschengeiste unwürdige Beschränkung dar, die in
der Theorie des Positivismus zum Ausdruck gelangt.
Die Preisgabe der Metaphysik verstößt gegen den
Sinn und Begriff, sie verstößt aber auch gegen die
tatsächlichen Errungenschaften der Metaphysik und
damit tier Philosophie überhaupt. Die Leistungen
auf dem Gebiete der Metaphysik sind ein Prüfstein
für die Leistungen der Philosophie als solcher. Und
wenn eine philosophische Richtung oder Entwick-
lungsstufe keine Leistungen dieser Art zu verzeichnen
hat, oder wenn sie bewußt und absichtlich auf solche
Leistungen verzichtet, dann dienen diese Fehlgänge
und diese Stellungnahme nicht nur dazu, daß sich die
allgemeine menschlich-seelische Teilnahme von ihr
abwendet, sondern die Philosophie selber eilt in und
mit ihrer Arbeit über jene Richtung oder Stufe hin-
weg, die damit der Krise verfallen ist.
Die Paradoxie und die einzigartige Dialektik die-
ser Entwickelung liegen nun in der unaufhörlichen
45
Wiederkehr hzw. in der ununterbrochenen Fortdauer
dieser Krise, die nicht eine einmalige oder mehrma-
lige, sondern eine beständige Erscheinung, ja noch
mehr, die geradezu ein Gesetz u. z. ein durchaus
schöpferisches Gesetz der philosophischen Entwick-
lung bedeutet. Einerseits nämlich vermag keine phi-
losophische Schule den Forderungen nach einer abso-
luten Erkenntnis der absoluten Realität voll und ganz
Genüge zu tun. Allen philosophischen Leistungen
haftet „ein Erdenrest zu tragen peinlich“, ein anthro-
pologisch-subjektivistischcr Rückstand an. Anderer-
seits aber ergehen sich jene Forderungen mit unein-
schränkbarer Dringlichkeit aus der Idee, aus dem
Wesen der Philosophie. Durch diese Spannungen
wird die Philosophie von Stufe zu Stufe getrieben.
Sie wirken gleichsam %vie unaufhörliche Peitschen-
hiebe oder wie ununterbrochene und ununterbrech-
bare Gewissensbisse; sie wirken wie eine unermüdliche
Kritik, nein, sie sind die unermüdliche Kritik der
Philosophie an sich selber und aus sich selber.
e) Damit ist aber die Notwendigkeit der kriti-
schen und krisenhaften Situation für die Philosophie
gegeben u. z. einer Krise, die kraft der Selbstkritik
der Philosophie aus der Philosophie selber stammt.
W enn wir sogleich unseren Blick genauer der Krisis
des Idealismus zuwenden werden, dann haben wir
damit nur ein Kapitel aus der General- und Univer-
salkrisis vor Augen, in der sich die Philosophie im-
merfort befindet.
Dieser Zustand der Krise gereicht ihr jedoch we-
46
der zum Schaden noch zum Vorwurf. Es kann kein
größeres Mißverständnis für das Wesen der Philoso-
phie geben als ihre Ablehnung oder Geringschätzung
auf Grund jener dauernd kritisch-krisenhaften Lage.
Sehen wir einmal von allen inhaltlichen Fragen ab,
mit denen die Philosophie sich beschäftigt, und er-
wägen wir nur die geistige Haltung und Form des
Philosophierens rein in ihrer grundsätzlichen Bedeu-
tung und Eigenart.1) Welchen Sinn hat nun diese
Haltung? Und welche Rolle spielt sie innerhalb der
menschlich-geschichtlichen Kultur und für diese Kul-
tur? Wo die Philosophie sich gemeldet hat, und
wann immer große Philosophen aufgetreten sind, nie-
mals ist das ausschließlich in der neutralen Form und
Gestalt reiner Erkenntnis geschehen. Niemals haben
sie das Sein als solches einfach hingenommen. Oder
vielmehr: Wo diese reine Erkenntnis angestrebt und
in welchen Formen auch immer sie verwirklicht
wurde, stets war sie gerade als „reine“ Erkenntnis zu-
gleich eine „kritische“ Erkenntnis, die das Sein ge-
wogen, beurteilt, unter den kritischen Gesichtspunkt
des Wertes und unter den Wertgesichtspunkt der Kri-
tik gerückt hat. Selbst Hegels Philosophie ist nicht
einfach eine Bejahung, nicht einfach eine Verteidi-
gung und Verherrlichung des Seins, wie so oft ge-
*) Von dem Wesen der philosophischen Haltung gibt ein
scharf profiliertes Bild Paul Haeberlin in seinem schon ge-
nannten Buche „Das Wesen der Philosophie“ (vgl. oben S. 34)
H. bestimmt das Wesen der Philosophie überhaupt als die Ein-
nahme einer besonderen Haltung fz. B. S. 110, 134, 152 u. ü.).
die er genauer kennzeichnet.
47
meint wird, sei es im Sinne der Zustimmung zu einer
solchen Auffassung, sei es im Sinne der Ablehnung,
der Kritik an ihr, wie Schopenhauer es tat. Man muß
aus jener immer wieder angeführten Grundbestim-
mung und Grundentscheidung, die den Leitgedanken
für Hegels ganze Philosophie darstellt, daß nämlich
das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich
ist, den kritischen Unterton heraushören, um jener
großen philosophischen Leistung nicht — anerken-
nend oder tadelnd — nachzusagen, ihr einziges Be-
streben sei einfach auf die objektive und allgemeine,
von jeder Wertstellungnahme und Wertung der Reali-
tät freie Erkenntnis gerichtet. Jeder große Philosoph
ist auch als Erkennender ein Richter über das Sein.
Ohne den Mut und ohne die Fähigkeit zu diesem Rich-
teramt und ohne die — konstruktive — Aufstellung
von Wertmaßstäben und Werttafeln und ihre Anwen-
dung auf den gesamten Umkreis des Seins, des klein-
sten ebenso wie des größten, gibt es keine Philosophie.
3. Die Bedeutung der philosophi-
schen Krise für die Geschichte.
Der Sinn der Stellung der Philosophie inmitten
des geschichtlichen Lehens ist mit der genannten Ent-
scheidung bezeichnet: Die Philosophie ist das in die
Sprache der Begriffe und in die Form der „reinen1"
Erkenntnis gebrachte, also zu objektiver Gestalt erho-
bene Gewissen der Menschheit. Auf diese Gestalt und
Leistung begründen sich ihre Weltgeltung und ihre
Eigenart und Einzigartigkeit. Ihr Verzicht auf jene
48
Leistung schließt den Verzicht auf ihre geschichtliche
Geltung in sich. Vollzieht sie ihn dann und wann,
um möglichst nichts anderes als objektive Welter-
kenntnis zu sein, dann muß sie aus der Tiefe ihres
eigenen Wesens, aus der Idee der Kritik und aus der
Kritik der Idee heraus den Stab über eine solche „Vor-
urteilslosigkeit“ brechen. Sie beschwört alsdann über
einen solchen Standpunkt und über die aus ihm sich
ableitende Richtung die Krise herauf als eine Not-
wendigkeit, die ihr Recht aus dem unaufgebbaren und
unaufhebbaren Recht der Freiheit der Philosophie
zur Kritik an allem Seienden und mithin auch an sich
selber zieht. Sie muß es, und sie tut es. Auch sich
selber steht sie mit der heiligen Verpflichtung zur
Freiheit und Kritik gegenüber. Damit trägt sie doch
in und aus sich selber die Verpflichtung und das Recht
zur Krise über sich.
Und durch diese Haltung der Kritik, der kriti-
schen Verantwortlichkeit, der kritischen Freiheit,
durch die Haltung des Gewissens gelangen diejenigen
Krisen zur Entladung, die ihren inneren Grund in der
unendlichen Selbsthewegung des philosophischen
Denkens, in seiner tiefen und schöpferischen Unzu-
friedenheit mit seinen Anstrengungen und Ergebnis-
sen besitzen. Wenn es angebracht wäre, dem Denken
überhaupt den Charakter des Heroischen nachzusa-
gen, und wenn nicht das Verständnis für die Proble-
matik dieses Begriffes und der ihm entsprechenden
Willensweise eine gewisse Zurückhaltung bei seinem
— leider viel zu häufigen und leichtfertigen, wie Was-
ser oder Sand ausgestreuten — Gebrauch gebieten
4 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
49
würde, dann dürfte vor allem dem philosophischen
Denken das Ehrenprädikat des Heroismus zuerkannt
werden. Denn dieses Denken befindet sich immer in
der Haltung des Wagnisses und damit immer in der
Haltung und in der Lage der Krise. Aber nur das
Heroische hat die Kraft und den Mut zum Wagnis,
und nur das Heroische hegt keine Furcht vor der
Krise. Zu welchem Versuch aber gehört mehr Mut,
welcher Versuch und Ansatz ist durch den Einbruch
einer Krise mehr gefährdet als das — schon tausende
Mal mißglückte — Unternehmen, die absolute Realität
in der Form absoluter Wahrheit zu erkennen?
Aber dieser Heroismus des philosophischen Den-
kens und seine Kraft und Fähigkeit, der Träger und
der Dolmetscher des Gewissens der Menschen zu sein,
sind es nun auch, die, ebenso wie sie die Entwickelung
der Philosophie in die ihr notwendigen und heilsa-
men Krisen verstricken und den philosophischen Ge-
danken auf diese Weise weitertreiben, auch zur Ent-
stehung von Krisen in der allgemeinen, menschlich-
geschichtlichen Arbeit und Entwicklung beitragen. In
dieser Leistung bekundet sich am deutlichsten und
lehrreichsten der Anteil der Philosophie an dem gei-
stig-geschichtlichen Leben, d. h. ihr Einfluß auf
die Kultur. Es ist so häufig die Rede von der Mög-
lichkeit bzw. Tatsächlichkeit derjenigen Einwirkung,
die der Geist einer Zeit auf die Philosophie
ausübt. Hier haben wir nun umgekehrt den Ein-
fluß der Philosophie auf die Zeit in einer konkre-
ten und deshalb überaus wirksamen Gestalt vor uns.
Jene soeben kurz geschilderten metaphysisch-sittli-
50
oben Grundzüge der philosophischen Denkhaitung.
nämlich ihre Kraft zur Kritik, ihre Stimmung der
Freiheit, ihr Heroismus und nicht zuletzt jene Ei-
gentümlichkeit, die darin besteht, der Anwalt des
Gewissens der Menschheit zu sein und sein zu sol-
len, sie sind es, die nicht bloß die Philosophie in
den Zustand der Krise führen, sondern die Krisen kom-
men auch der Entwicklung der allgemeinen Kultur
entscheidend zugute. Die Krisen spenden die Samen,
die auch das geschichtliche Leben vor der Vertrock-
nung schützen; sie verhelfen mit dazu, der allgemei-
nen geistigen Entwicklung eine Erneuerung oder zum
mindesten einen Umschwung durch die wohltätige
Erweckung des Gewissens zu schaffen und ihr auf diese
Weise ihre lebendige Bedeutung und ihren geschicht-
lichen Charakter zu sichern. Wo anders als in der
Philosophie kann der Geist sittlicher Kritik und ver-
antwortungsvoller Freiheit seine Stätte haben? Und
wo er herrscht und zum Ausdruck gelangt, da ist ech-
tes philosophisches Denken am Werke. Und was
würde aus der allgemeinen geistig-geschichtlich-
menschlichen Kultur ohne diesen philosophischen
Geist der Freiheit und Kritik? Wo er unterdrückt
wurde, d.h. wo die Philosophie nicht ihrem eigenen
Logos und Ethos folgen durfte, trat eine Verkümme-
rung der Kultur ein. Da jedoch der Mensch und die
Philosophie die Kraft des Logos und des Ethos auf
die Dauer nicht verleugnen und nicht preisgeben kön-
nen, ohne sich selber zu verleugnen und preiszugeben,
so wird auf Grund dieser ewigen Mächte die Stockung
überwunden durch den Eintritt einer Krise und durch
4*
51
den Eintritt in eine Krise. Und an ihrer Entstehung
ist die Philosophie auf das innigste beteiligt. Sie ver-
hilft, und damit greifen wir auf die Ausführungen des
ersten Kapitels zurück, der allgemeinen Kulturent-
wicklung zur Wiedergewinnung der Realität und der
Wahrheit. So können wir an die beiden soeben auf-
geworfenen, natürlich mehr rhetorisch gemeinten
Fragen in gleichem Sinne noch die dritte Frage an-
schließen; Kann die Philosophie einen machtvolle-
ren Beitrag, einen kräftigeren Antrieb für die allge-
meine Kultur leisten als den, der in der Erweckung
und Auslösung einer Krise besteht?
52
A. DIE KRISE DES IDEALISMUS.
1. Allgemeine Betrachtung
dieser Krise.
Alle jene allgemeinen Motive, die wir als Beweg-
gründe für die Entstehung von Krisen in der geschicht-
lichen Kultur und dann in der Philosophie überhaupt
kennen gelernt haben, treten nun auch als Antrieb-
kräfte für den Ausbruch einer Krise, in die die ge-
waltige philosophische Richtung des Idealismus ge-
rät, wieder auf. Natürlich in einer gleichsam mehr
/ugespitzten, in einer mehr konkreten und deshalb
auch in einer ziemlich leicht faßbaren Gestalt.
Wenn wir aber —- und darin spricht sich ein Haupt-
zweck unserer Schrift aus — eine Ehrenrettung, eine
Verteidigung des Idealismus vornehmen wollen, so
soll diese Verteidigung doch nicht zu einer billigen
und der Kritik leicht Spielraum verschaffenden Lob-
preisung und Verherrlichung hinabgleiten. Alsdann
müssen wir aber zunächst einmal diejenigen Einwän-
de ins Auge fassen, die gegen das Recht und gegen die
behauptete Überlegenheit des idealistischen Stand-
punktes über alle anderen philosophischen Gesichts-
53
punkte und Richtungen, besonders aber gegen seine,
von seinen Vertretern so nachdrücklich und beinahe
eifervoll hervorgehobene Unbedingtheit ins Feld ge-
führt zu werden pflegen.
Bei der Betrachtung dieser Angriffe fällt sofort
ein Umstand auf. Das ist die merkwürdige Unaufhör-
lichkeit und die beständige Wiederholung derselben
Angriffe. Sie setzen beinahe mit der Entstehung des
Idealismus selber ein und begleiten dann seine ganze
geschichtliche Entwicklung bis zur Stunde. Man
denke nur an die wichtige und berühmte Polemik des
Aristoteles gegen den eigentlichen Schöpfer des Idea-
lismus in seiner systematischen Form, gegen Platon.
In dieser Polemik sind schon nahezu alle Einwände
enthalten, die dann in der Folgezeit immer aufs neue
gegen den Idealismus erhoben worden sind. Die
Größe der Leistung Platos hat in der ihr durch Ari-
stoteles zuteil gewordenen Kritik eine ihrer würdige
Gegnerin gefunden. Deshalb verdient diese Kritik
ernste Betrachtung. Aristoteles macht sich die Sache
nicht leicht. Diese Anerkennung verdienen seine An-
griffe selbst dann, wenn wir bekennen, daß sie den
Idealismus nicht außer Kampf zu setzen, geschweige
denn ihn zu überwinden und als unhaltbar nachzu-
weisen vermögen. Sie erreichen nicht ihr Ziel; sie
dringen nicht bis zu den eigentlichen und tiefsten
Wurzeln des Idealismus Platos vor. Aber dieses
Schicksal teilen eben alle, von dem Standpunkt des
Realismus aus erfolgenden Angriffe gegen den Idealis-
mus, der aus diesem Kampf und aus allen späteren
Kämpfen unverwundet, um nicht zu sagen als Sieger
54
hervorgegangen ist. Ist das vielleicht deshalb ge-
schehen, weil er in der Tat unverwundbar ist und die
Gewißheit seines Sieges im Grunde genommen von
Anfang an feststeht? Wir werden sehen, ob es sich
so verhält.
Seine — tatsächliche — Überlegenheit und seine
Unentbehrlichkeit für die Philosophie und in der
Philosophie können aber erst dann mit überzeugender
Klarheit ans Licht treten, nachdem wir uns die Ein-
wände und Bedenken objektiv vergegenwärtigt haben,
denen er seit jeher ausgesetzt war, und die das Urteil
und den Anschein entstehen ließen, daß er durch sie
in den Zustand der Krise geraten sei. Dabei wollen
wir einen, auf den vorangehenden Blättern schon
mehrfach hervorgehobenen Gedanken wiederholen:
Krisen brauchen keine Bedrohungen oder gar Schä-
digungen einer Geisteshaltung und einer geistigen
Entwicklung zu sein. Im Gegenteil: Sie gehören zum
Wesen und Wirken des geistigen Lebens, sie sind ihm
notwendig, sie sind für sein Gedeihen fördernde Mo-
mente. Diese Erkenntnis gilt auch für diejenige Krise,
in die der Idealismus sowohl durch die von der Seite
des Realismus aus erfolgenden Angriffe, als auch
durch sich selbst gekommen ist. Weil jede Krise den
Charakter der Fruchtbarkeit, auf jeden Fall den der
Notwendigkeit besitzt, verdienen jene Angriffe eine
objektive Würdigung. !)
*) Unberücksichtigt bleibt jene seil einigen Jahren entstan-
dene Gruppe von Angriffen gegen den Idealismus, die, ohne
sein Wesen und seine Leistungen objektiv nachzuprüfen und
55
Bevor wir uns aber dieser Betrachtung zuwenden,
müßten wir doch eine allgemeine Begriffsbestimmung
vom Wesen des Idealismus geben, um wenigstens ganz
allgemein das Streitobjekt kennen zu lernen. Wir
unterlassen diese Definition an der vorliegenden Stelle
aus zwei Gründen. Erstens wird schon durch die
Schilderung der Angriffe gegen den Idealismus eine
— zum mindesten ungefähre — Klärung seines We-
sens geboten. Allerdings eine nur ungefähre Klärung.
Denn es kennzeichnet zum guten Teil die Eigenart
dieser Polemik, daß sie den Sinn der idealistischen
Philosophie verfehlt, und daß sie ihn — höchst para-
doxer- und fast komischerweise — verfehlen muß. Sie
beruht beinahe durchweg auf überaus charakteristi-
schen Mißverständnissen. Diese Mißverständnisse
sind aber nicht das Zeugnis oder die Folge einer ir-
gendwie oberflächlichen oder leichtfertigen Deutung
und Kritik, die dem Idealismus zuteil wird. Sie er-
folgen vielmehr von der Grundlage einer ganz anders
gearteten Einstellung zur Wirklichkeit aus. Des-
halb verkennen sie mit einer natürlichen Notwendig-
zu würdigen und sich mit ihm in der gebotenen ruhigen und
sachlichen Weise auseinanderzusetzen, nur in leeren Behaup-
tungen über seine — angebliche — Überlebtheit und Weltfremd-
heit bestehen. Ihre Quelle ist ausnahmslos eine aus Unkennt-
nis seines Wesens und aus dogmatischer Bindung an eine ihm
gegnerisch gesinnte Weltanschauung zusammengesetzte, vorur-
teilsvolle und den Idealismus gar nicht treffende, typisch dilet-
tantische Haltung, ihr Verlauf ein wesen- und wertloser Feder-
krieg.
56
Leit das Wesen des Idealismus. Und deshalb vermö-
gen sie auch nicht, ihm etwas anzuhaben.
Zweitens werden wir in demjenigen Teil, der der
Verteidigung und Rechtfertigung des Idealismus
dient, seine Grundziige genauer kennen lernen. (Vgl.
das Kapitel: Wesen und Notwendigkeit des Idealis-
mus). Indem er seinerseits zum Kampf auszieht,
zeigt er dann deutlich, wessen Geistes er ist.
2. Die philosophischen Züge
dieser Krise.
a. Der Einwand vom Sein aus.
Der ontologische Einwand.
Mit diesem Einwand bezeichnen und kennzeichnen
wir- wohl überhaupt den ersten Einwand gegen den
Idealismus. Ihn hat schon Aristoteles erhoben, und
ihn wiederholen alle diejenigen Denker, die dem Ari-
stoteles — fast immer auf Grund verwandter Geistcs-
haltung — folgen. Hier wäre an erster Stelle und als
der gedankenschärfste und verhältnismäßig einfluß-
reichste antiidealistische Denker im 19. Jahrhundert
besonders Franz Brentano 1) zu erwähnen.
Das ontologische Bedenken gegen den Idealismus
verläuft allgemein in folgender Form. Dem Men-
schengeiste und der Philosophie ist als Gegenstand
1) Vgl. als einen der ersten Versuche einer Gesamtwürdi-
gung der bedeutenden Denkergestalt Franz Brentanos den auf-
schlußreichen Aufsatz über B. von Emil Utitz in den „Kant-Stu-
dien“, Jahrgang XXII, 1917 S. 217 ff.
57
der Erkenntnis das Sein gegeben und aufgegeben, u. z.
so wie es sich der unvoreingenommenen, der objekti-
ven Betrachtung darbielet, sei es der Betrachtung
durch den auf die Außenwelt gerichteten, also durch
den „äußeren“ Sinn, sei es der Betrachtung durch den
auf das Innenleben des Menschen gerichteten „inne-
ren“ Sinn. Die Verkehrtheit dieser Bezeichnungen sei
nur kurz hervorgehoben. Es ist aber deutlich, was mit
ihnen gemeint ist. Mit Hilfe ruhiger, besonnener,
vorurteilsloser Schau soll eine klare, unverfälschte
Erkenntnis der Gegenstandswelt erreicht werden.
Auch das Hineinspielen von Denkformen, von Kate-
gorien, dürfe die klare und schlichte Aufnahme des
Tatbestandes nicht beeinträchtigen, mag es sich dabei
um Gegenstände der „äußeren“ oder der „inneren“
Natur handeln, d. h. jener Natur, die entweder die
Erkennlnisaufgabe der Naturwissenschaften oder die
der Psychologie als der Wissenschaft von der seeli-
schen Welt des Menschen bildet. Diese Denkformen
sollen nicht dazu führen, und sie führen auch, wenn
sie ohne die Anwendung künstlicher und gewaltsamer
Eingriffe in das Gegebene ins Spiel gesetzt wcrden.
nicht dazu, den rein in der anschauenden Betrach-
tung aufgenommenen Gegenstand umzugießen und
ihn seines Wesens zu berauben. Sie dienen vielmehr
nur der logischen Sicherung, der begrifflichen Sicher-
stellung des Tatbestandes. Sie verbürgen ihn somit
in seinem Sein, in seiner Realität. In diesem Sinne
sind sie eben Seinsformen, also die logischen Prinzi-
pien für die begriffliche, für die gedankenmäßige, für
die intellektuelle Gewährleistung des Sachverhaltes.
58
Husserls mit Hecht berühmt gewordene Phänome-
nologie setzt dann später, so um 1900, diese ontologi-
schen Gedanken fort. Sie konnten zunächst, d. h. zur
Zeit ihrer Entstehung in den siebziger und achtziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts angesichts der
damaligen starken Herrschaft verschiedener idealisti-
scher Schulen, wie der des idealistischen Neukantia-
nismus oder des Neufichteanismus Lotzes und Rudolf
Euckens u. a. nicht recht zu der ihnen gebührenden
Geltung gelangen x). Der mit Zustimmung begrüßte
Aufruf Husserls des „Hin oder Zurück zu den Phä-
nomenen“ bringt die Tendenz, die auf die angemes-
sene Bemächtigung des wirklich Gegebenen gerichtet
ist, zu scharfem Ausdruck. Dieser Aufruf erweckte
nicht bloß Aufsehen, er veranlaßte auch das Suchen
nach dem sichersten Wege zur vollen Durchführung
dieser ontologischen Absicht. Unter Auswertung von
Anregungen Brentanos betrachtet die Phänomenolo-
gie die Wesensschau als diesen Weg. Für den Zweck
ihrer Verdeutlichung läßt sich am besten die Einstel-
lung des Künstlers zu den Erscheinungen heranzie-
hen, besonders jene weltenweite Aufgeschlossenheit
und herrliche Unvoreingenommenheit, mit der z. B.
Shakespeare oder Goethe das Geschehen in der Au-
x) Der I. Band von Brentanos „Psychologie vom empiri-
schen Standpunkt“ erschien 1874. Die Schrift „Was für ein Phi-
losoph manchmal Epoche macht“ erschien 1876. Sie war der
Darstellung und Kritik nach gegen Plotin, tatsächlich aber ge-
gen Hegel als den schlimmsten und gefährlichsten Vertreter der
idealistischen Spekulation gerichtet, die Brentano als das „Sta-
dium des äußersten Verfalls“ bezeichnet.
59
ßen- und der Innenwelt aufzunehmen und zur sinn-
lichen Anschauung zu erheben vermögen. Goethe hat
diese, in einem besonderen Sinne intuitive Bega-
bung zu freier und reiner Schau, in der sich wie in
dem Auge Gottes alles Sein in unverkrümmter Form
spiegelt, oft geschildert, als wollte er sich dadurch die
Eigenart seiner Fähigkeit, an die Dinge vorurteilslos
heranzugehen und sie vorurteilslos zu betrachten und
zu würdigen, selber klarmachen. Von diesen häufi-
gen Selbstcharakteristiken sei nur die eine aus dem
„Tasso“ erwähnt:
Sein Ohr vernimmt den Einklang der Natur;
Was die Geschichte reicht, das Leben gibt.
Sein Busen nimmt es gleich und willig auf;
Das weit Zerstreute sammelt sein Gemüt.
Und sein Gefühl belebt das Unbelebte.
Und erreicht ist das Ziel, sobald sich die innere Über-
zeugung, die Evidenz einstellt, nämlich die Gewißheit,
daß die Erscheinung auch wirklich so ist, wie sie auf-
genommen ist, ohne daß hinter ihr noch ein Rück-
stand, ein geheimnisvolles und unerkennbares Ansich
übrigbleibt. —
Der Vertretung dieser ontologisch-phänomenolo-
gischen Auffassung entspricht Punkt für Punkt eine
teils ausgesprochene teils verschwiegen mitlaufende
Polemik gegen den Idealismus.
Was wird ihm von jener Auffassung zum Vorwurf
gemacht? Statt sich, wie es der Aufgabe der Philo-
sophie gemäß sei, an die Erkenntnis der Seinsbe-
60
stände selber heranzumachen, frage er zunächst und
umständlich nach den logischen Voraussetzungen für
ein solches Erkennen. Die Untersuchung dieser for-
malen Voraussetzungen läßt ihn — in seiner erkennt-
nistheoretischen Richtung — nicht zu den Erschei-
nungen selber kommen. Aus der Natur dieser Vor-
aussetzungen und aus der Bindung der Erkenntnis
an sie ziehe der Idealismus dann eine bedenkliche
Folgerung. Indem der menschliche Geist mit diesen
formalen Voraussetzungen an die Erscheinungen her-
angehe, zwinge er sie hinein in jene Formen, in jenes
Formgerüst oder, anders ausgedrückt, er behaup-
tet, di© Erscheinungen seien nicht so zu erkennen, wie
sie „an sich“ sind, sondern eben nur so, wie sie einem
mit jenem Formapparat ausgerüsteten und mit ihm
unvermeidlich arbeitenden Bewußtsein erscheinen.
Was noch „hinter“ ihnen als ihr realer Träger anzu-
nehmen sei, das sei unserer Erkenntnis entzogen. Wir
vermögen mithin noch nicht einmal die ganze Er-
scheinung zu erkennen. Demi jener metaphysische
Träger, einmal zugegeben, es gäbe ihn, und es hätte
einen Sinn, von einem solchen unerkennbaren Rück-
halt zu sprechen, gehört doch irgendwie zur Erschei-
nung. Bleibt er jedoch nach der Lehre der idealisti-
schen, der kantischen und der neukantischen Erkennt-
nistheorie unerkennbar, dann ist nicht die ganze Er-
scheinung erkennbar. Der Idealismus vertritt also
nicht einmal einen vollen und uneingeschränkten
Phänomenalismus, d, h. die Behauptung, daß unsere
Erkenntnis nicht auf das metaphysische Ansich der
Dinge, sondern lediglich auf die Weit der Erscheinun-
61
gen bezogen und beschränkt ist. Sein Phänomenalis-
mus sei gebrochen und verkürzt, er sei nur ein relati-
vistischer Phänomenalismus.
Beinahe noch gewichtiger aber ist ein anderer Vor-
wurf. Nach der idealistischen Theorie bedinge die
unvermeidliche und sehr intensive Beteiligung der
Erkenntnisforraen an dem Prozeß der Erkenntnis
ihre intellektualistische und rationalistische Beein-
flussung dieses Prozesses. Mithin gelangten auch in
dieser Hinsicht die Erscheinungen nicht rein, nicht
unverfälscht zur Erkenntnis. Die Gewalt der Er-
kenntnisforraen biege den sinnlichen Stoff der Erfah-
rung um, sie biege ihn zurecht zugunsten und im
Sinne einer logischen Einheit, einer formalen Einheit-
lichkeit, einer von der Erkenntnis angestrebten und
geforderten, ja geradezu als Bedingung für die Er-
kenntnis aufgestellten Systematik.
Dieser Auffassung und Entscheidung gegenüber
vertritt die Phänomenologie und Ontologie den ge-
rade entgegengesetzten Standpunkt. Sie will die Er-
scheinungen selber in ihrer reinen Gegebenheit zum
Sprechen bringen; sie will sie nicht dem vergewalti-
genden Druck pressender Erkenntnisformen unter-
werfen. Die Erscheinungen — denken wir z. B. ein-
mal an die des menschlichen Innenlebens — sollen
selber Vorbehalts- und vorurteilslos nach ihrem We-
sen befragt werden. Und bei dieser Aushorchungs-
methode, die natürlich eine nicht kleine Übung ver-
langt, die den Willen und die Gabe zu ruhiger, erst
allmählich erwerbbarer Hingabe an die Gegebenheiten
voraussetzt, werden dann die Erscheinungen von sich
62
aus sagen, was sie sind, und wie weit sie erkennbar
sind.
Die idealistische Erkenntnistheorie bringe viel
zu früh die logischen Bildungs- und Umbildungsfor-
men ins Spiel und überschätze gewaltig ihre Bedeu-
tung. Die erste Aufgabe der Erkenntnis bestehe in
der reinen und willfährigen Aufnahme der Erschei-
nungen mit Hilfe der reinen Wesensschau. Zu ihr
können und müssen wir Menschen uns erziehen, wenn
wir ernstlich beabsichtigen, das Sein ganz schlicht
und ohne die Herantragung von „synthetischen“ Prin-
zipien zu erfassen und zu verstehen. Alle diese Prin-
zipien verleiten uns nur dazu, das Sein in seinem We-
sen zu verfälschen und auch die Erkenntnis des Seins
zu verfälschen. Der Idealismus verdrehe und verderbe
nicht nur das Sein, sondern auch den Begriff des
Seins. Sein Wesen und sein Begriff seien doppeldeutig
und doppelzüngig.
Das eine Mal nämlich zwänge und zwinge er
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in ein dogma-
tisch und doktrinär aufgestelltes Schema und System
von herrischen und als herrscherlich anerkannten Be-
griffsformen. Dadurch aber gehe jene tatsächliche
Mannigfaltigkeit schließlich zugunsten einer gewalt-
sam konstruierten und spekulativ ersonnenen „Ein-
heit“ verloren. Diese metaphysische Einheitsformung
sei jedoch eine Versündigung an der Fülle der Phä-
nomene, und sie beeinträchtige auch das auf das Ein-
zelne gehende Studium dieser Fülle. Wie aber ver-
möge die Wissenschaft einen sachlichen Fortschritt
zu erzielen, wenn sie den Blick lediglich oder vor-
63
nehmlich auf die im Grunde doch immer gleiche und
gleich farblose formale Einheit gerichtet halte, statt
munter in die ergiebige Weite und Vielheit der Ge-
gebenheiten, in den konkreten Reichtum des Seins
einzudringen? Die ganze Einstellung und Forschungs-
richtung des üblichen Idealismus, d. h. dieses Hin-
drängen zu einer systematischen Einheit, sei verkehrt
und nicht im Interesse der Bereicherung unserer Er-
kenntnis. Eine Bereicherung ergebe sich nur dann,
wenn, um hier ein Wort Kants anzufiihren, die For-
schung nicht den Weg nach oben, d. h. zur Auffindung
der vorausgesetzten Grundeinheit, sondern den Weg
nach unten, nämlich zur W^elt der realen und konkre-
ten Erscheinungen und zu dem fruchtbaren Feld der
Erfahrung einschlage.
Das andere Mal reiße der Idealismus die Ein-
heit der Erscheinungswelt aber auch wieder aus-
einander. So trenne er die phänomenale und in der
Erfahrung und als Erfahrung gegebene Erscheinungs-
wirklichkeit von der metaphysischen Welt des wahr-
haft Seienden. Er spalte die Realität willkürlich und
im Widerspruch zu dem, was wir in der unvoreinge-
nommenen Anschauung wirklich vorfinden, in einen
,.sensibelen“ und in einen „intelligibelen“ Teil. Diese
Trennung mache auch nicht Halt vor dem Menschen.
Statt ihn als eine psychophysische Einheit aufzufas-
sen und seine körperliche Seite und Tätigkeit unter
ständiger Rücksicht auf seine seelisch-geistige zu be-
trachten, werde er so angesehen, als bestehe er aus
zwei einander vollkommen verschiedenen Teilen. Und
die Folge daraus? Schließlich fehle jede Möglichkeit,
64
um einzusehen, wie derartig verschiedenartige Teile
noch in irgendeiner Beziehung zueinander stehen
könnten. Am meisten aber fehle dem Idealismus eine
solche Möglichkeit.
Und was sei nun eigentlich jene absolute Welt des
,.wahrhaft“ Wirklichen? Habe sie ernstlich An-
spruch darauf, als Realität angesehen zu werden?
Oder sei sie nicht vielmehr eine reine Gedankenkon-
struktion? Wie immer es um die formale Notwen-
digkeit und um das begriffliche und theoretische
Recht dieser Konstruktion bestellt sein mag — und
für diese Konstruktion lassen sich der Gründe meh-
rere angeben —, so ist doch damit noch nicht das
Mindeste inbezug auf diese Wirklichkeit, inbezug auf
das „Wirklichsein“ dieser als absolut konstruierten
Welt ausgemacht. Sie mag ein noch so einleuchtendes
Gedankending sein — ein Seiendes sei sie deshalb
noch lange nicht. Es ist nichts als eine Irreführung,
wenn der Idealismus Gedankenformen, Gedankenset-
zungen, Gedankengebilden den Charakter der Reali-
tät zuschreibe. Eine Irreführung im doppelten Sinne.
Einmal verkenne er das Wesen des Gedankens, indem
er es als ein Seiendes betrachtet. Ferner vergehe er
sich an dem Wesen der Realität. Durch die Bin-
dung der Realität an den Gedanken mißverstehe,
schwäche, durchlöchere er ihren Seinswert, ja er
verneine diesen Seinswert geradezu um seines Ratio-
nalismus, seines Intellektualismus willen.
Alles in allem genommen: Der Idealismus ver-
trete, so wird von dem realistischen Standpunkt aus
in theoretischer Hinsicht eingewendet, einen geradezu
5 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
65
falschen Begriff des Seins. Er habe diesen Begriff in
seinem eigentlichen Gehalt nicht nur nicht verstan-
den, sondern schlechthin verdreht und verdorben.
Und schon deshalb müsse sich die Philosophie von
dem Idealismus lossagen.
6. Der Einwand vom Wert aus:
Der ethisch-axiologische Einwand.
Das Interesse des Menschen am Sein ist niemals
bloß ein theoretisches, ein wissenschaftliches. Das
verbietet schon die menschliche Doppelnatur, in der
intellektuelle Züge aufs engste mit moralischen und
mit anderen Tendenzen verbunden sind. Aus einem
eigentümlichen Drang und Zwang heraus trachten
wir darnach, unserer Einstellung gegenüber der Wirk-
lichkeit nicht bloß den Charakter der Wahrheit im
theoretischen Sinne zu geben. Ferner belassen wir
es auch nicht dabei, diese Wirklichkeit selber bloß
als „wirklich“, als unabgeschwächt „wahr“, als in sich
gegründet und in sich ruhend anerkennen zu können.
Wir verlangen, daß diese Realität und diese Wahrheit
nicht bloß theoretisch wirklich und seiend und nicht
bloß theoretisch wahr sein sollen. Ihre Wirklichkeit
und ihre Wahrheit sollen auch wirklich und wahr im
ethischen, im praktischen Sinne sein. In der Ver-
schwisterung des theoretischen Verlangens mit einem
sittlichen Verlangen spricht sich die tiefe und unauf-
hebbare Wechselbeziehung zwischen der „reinen“
und der „praktischen“ Vernunft, um mit Kant zu
sprechen, oder mit Plato die Wechselbeziehung zwi-
66
scheu dem Wahren und dem Guten aus. Von ande-
ren Zügen dieser Beziehung sehen wir im Augenblick
noch ab.
Psychologisch und philosophisch ist dieses Wech-
selverhältnis wegen seiner weittragenden Folgen un-
gemein beachtenswert. Setzen wir einmal den Fall,
es sei auf Grund irgendeiner Beweisführung oder ei-
ner künstlichen Spekulation gelungen, uns von
dem Scheincharakter, von der Scheinhaftigkeit der-
jenigen Welt zu überzeugen, die wir sonst gewöhnlich
als die wirkliche Welt anschauen und würdigen. Doch
auch dann verlangen wir die „Wirklichkeit“ dieses
Scheincharaklers. Sogar in der Bezeichnung „nichti-
ger Schein“ steckt diese Realität. Denn auch dann
soll es eine wirkliche Nichtigkeit sein. So wie wir —
vergleichsweise — von dem wirklichen Nichts, von
dem wirklichen Nein sprechen, wie wir das Nein, das
Nichts auch als Nein und als Nichts unbedingt als
wirklich ansehen und würdigen. Dieser Hunger nach
Wirklichkeit ist einer der bezeichnendsten Züge der
menschlichen Natur. Und dieser Hunger sucht und
findet die verschiedenartigsten Wege zu seiner Befrie-
digung. Der Glaube an das Leben und sein Ausdruck
in der Lehensphilosophie sind, von allen wissen-
schaftlichen und philosophischen Gründen abgese-
hen, einer dieser Wege.
Weil es für unseren Zweck besonders wichtig ist,
gerade von diesem Punkt eine klare Erkenntnis zu
gewinnen, seien zur Beleuchtung dieses Realitäts-
bedürfnisses noch weitere Beispiele angeführt. Ge-
wöhnlich werden das Märchen und die Lüge als solche
5*
67
Gebilde betrachtet, die ihrem ganzen Vt esen nach von
der Wirklichkeit und Wahrheit abweichen bzw. ihr
zuwiderlaufen. Aber gerade das Gegenteil stimmt.
Auch das Märchen und die Lüge tragen eine Wirklich-
keit und eine W ahrheit in sich. Das gelangt schon in
der sprachlichen Bezeichnung zu bemerkenswerter
Hervorhebung. Wir sprechen von einem „wahren“
Märchen, von einer „wahren“ Lüge. Wir vermögen
nicht zu verstehen und uns nicht vorzustellen, was
eine „falsche“ Lüge, was ein „falsches“ Märchen sei.
Diese — und ähnliche — Ausdrücke sind nichts ande-
res als sinnlose W ortzusammenstellungen. Ferner las-
sen sich auch die Wissenschaften als Formen und Ein-
richtungen für die Befriedigung unseres Wirklich-
keitsverlangcns u. z. in intellektueller und theoreti-
scher Gestalt auffassen. Wir werten sie nicht bloß
nach dem Grade der Gewißheit, in dem sie uns die
Wirklichkeit erkennen lassen, sondern auch nach ih-
rer stofflichen Ergiebigkeit, nach der Fülle und Ei-
genart dessen, was sie uns von der Wirklichkeit und
als was sie uns die Wirklichkeit zeigen.
Aber diese Realitätsgier, diese« ganz schlicht und
ganz natürlich und in seiner vollen Kräftigkeit aufzu-
nehmende Verlangen nach Realität muß durch die-
jenige Antwort, die der Idealismus auf die Frage nach
dem Wesen der Wirklichkeit erteilt» enttäuscht sein.
Wir berufen uns in dieser Hinsicht einfach auf die
Empfindung des philosophisch nicht vorgebildeten
Menschen als des Vertreters des sog. gesunden Men-
schenverstandes. Wenn er die idealistische Antwort
68
hört, das W irkliche sei an sich Geist, dann überfällt
ihn das Gefühl, eigentlich nicht die angemessene Ant-
wort erhalten zu haben. Es überschleicht ihn der
Verdacht einer Irreführung durch realitätsabgelegene
oder realitätsverachtende dialektische Konstruktio-
nen. Es ist nur nötig, sich einmal vorurteilslos in
jenen seelisch-geistigen Zustand zu versetzen, aus dem
heraus die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit
aufgeworfen wird. Maßgebend für sie ist keineswegs
zunächst ein wissenschaftliches, ein theoretisches Inter-
esse, sondern mindestens ebenso stark ein unmittel-
bares und naives Verlangen nach Realität, ein Glaube
an sie, eine geheime Freude an ihr. Sie sind durch eine
gewisse Sorge und Angst um die Realität weniger beein-
trächtigt und beunruhigt als genährt, und deshalb hal-
ten sie nach Sicherungen für ihr Recht Umschau. Man
braucht nur an die Erscheinung des Todes zu denken,
um zu wissen, welche Sorgen um die Realität auftau-
chen können. Lautet nun die Auskunft, die Wirk-
lichkeit sei an sich Geist, so begegnet diese Antwort
zunächst keinem entsprechenden Verständnis oder
besser: der philosophisch nicht Geschulte hat von sei-
nem, auf Erfassung der Realität gerichteten Willen
her den wie eine Bestürzung wirkenden Eindruck:
Das ist doch „eigentlich“ nicht die erwartete Antwort.
Denn wenn die Wirklichkeit im Grunde „nur“ Geist
ist, dann mangelt ihr eben der wirkliche Realitätswert,
ihr gebricht die Massivität des Seins als des obersten
und sichersten Wertes.
Welche Stellung nimmt also der in der Tiefe sei-
nes Wesens realistisch gestimmte Mensch gegenüber
69
jener idealistischen Auskunft ein? Er glaubt ihr kei-
neswegs sofort. Und ihre Anerkennung durch ihn
würde, wenn sie überhaupt erfolgt, noch langsamer
und zögernder vor sich gehen, wenn sie nicht in ge-
wissem Umfange durch die Religion und den Religi-
onsunterricht vorbereitet wäre. Doch auch in dieser
Hinsicht bleibt der naturalistische und realistische
und realisierende Zug beachtlich, der in jeder Reli-
gion bis hinauf in die höchsten Geistesreligionen sich
auswirkt. Er bekundet sich in der unwillkürlichen
und dem Menschen natürlichen Materialisierung der
Idee Gottes, in ihrer typischen und naiven Übertra-
gung in die Zone der Anschaulichkeit, der Körper-
lichkeit, der Persönlichkeit bis hin zur Ausstattung
mit ganz irdisch-körperlichen Eigenschaften und sehr
realen Verhaitungsweisen Gottes.
Das naive Bewußtsein lehnt sich in seiner Reali-
tätssucht und Realitätsbezogenheit gegen di * ideali-
stische Auskunft auf Grund eines aus der Tiefe des
sittlichen Willens auftauchenden elhisch-axiologi-
sehen Einwandes auf. Das soll heißen; Wenn ich mit
allen Fasern meines Wesens an der Realität hänge,
und wenn ich bei der Anwandlung eines wissenschaft-
lichen Interesses Begründungen für die Wirklich-
keit der Realität und Belehrungen über das Wesen
der Wirklichkeit verlange, und wenn ich mich des-
halb an die Philosophie wende, dann muß die idea-
listische Antwort wie eine Unwahrheit, wie eine Ver-
kennung' des Sinnes und der Absicht der zu Grunde
liegenden Frage und wie eine Verdrehung des Tatbe-
70
slamles erscheinen. Sie schließt mithin ein doppeltes
Unrecht in sich.
Wohlverstanden: Diese Beurteilung des Idealismus
durch einen Parteigänger des Realismus gilt uns nicht
als unantastbar. Wollen wir uns jedoch mit überzeu-
genden Gründen für den Idealismus einsetzen, dann
würden unsere Ausführungen der notwendigen Objek-
tivität und Gerechtigkeit ermangeln, wenn wir den
Standpunkt seiner Gegner und die von diesem Stand-
punkt aus erfolgenden Entscheidungen nicht ruhig
und sachlich würdigen würden. Jene Haltung ermög-
licht uns ein Verständnis für die Ablehnung der idea-
listischen Auskunft durch den Realismus und für die
auch aus dieser Gedankenrichtung sich ergebende
Krise des Idealismus. Der „Wert“, der „Gehalt“, die
„Wahrheit“, die „Wirklichkeit“ der Realität scheinen
zum „Unwert“, zur „Leerheit“, zur „Unwahrheit“, zur
„Unwirklichkeit“ verkehrt, wenn der Geist in seiner
Feinheit, in seiner doch eben überrealen Vornehm-
heit, in seiner „Geistigkeit“, in seiner Entferntheit von
der Wirklichkeit gerade ihr Schöpfer, Träger und
Bürge sein soll. Dem massiven Wirklichkeitsbewußt-
sein und Wirklichkeitshunger des Realisten erscheint
die idealistische Theorie wie eine gefährliche, unlau-
tere, beinahe unmoralische Illusionierung. Er empfin-
det sie fast wie eine moralische Lüge.
71
c. Der Einwand von der Form aus:
Der ästhetisch-morphologische Einwand.
Der Fülle der Erwartungen und Forderungen, mit
der der Mensch der Wirklichkeit gegenübersteht, fer-
ner der Fülle seiner versuchten oder gelungenen Ein-
griffe in sie, diesen beiden Gruppen von Verhal-
tungs- und Tätigkeitsformen entspricht die Fülle in
dem Bau der Realität selber. Zwischen ihr und dem
Menschen obwalten tausendfache Wechselbeziehun-
gen. Und es bedeutet nichts als eine Verengung und
Verkennung dieses dialektischen Tatbestandes^ wenn
das Schwergewicht oder der Wnrzelpunkt dieses Ver-
hältnisses mehr nach der Seite des Menschen, des Sub-
jektes (Subjektivismus) oder mehr nach der des Ob-
jektes, der Wirklichkeit (Objektivismus) verlegt wird.
In dem Geflecht dieser Beziehungen spielt nun das
Prinzip der Formgebung, der Gestaltung, der Gestalt
eine hervorragende Rolle. Sei es, daß der Mensch als
der aktive Partner in diesemVerhältnis aufgefaßt wird
und auf tritt, der also die ihm ungeordnet zustromende
Mannigfaltigkeit des Stoffes dann der Wirksamkeit der
Idee und der Kraft der Form unterwirft, sei es, daß
die geordnete Wirklichkeit aus den großen Formge-
bieten der Natur und der Geschichte dem Menschen
ihre Gestalten, ihre physischen und ihre geschicht-
lich-gesellschaftlichen Gestalten, zuschickt mit dem
zwingenden Gebot zum Gehorsam ihnen gegenüber
und zur Anpassung an sie bezw. zur Einpassung in
sie. Eine Klarstellung und Entscheidung über die
Verteilung der Kräfte und über die Frage, wer hier
72
der Nehmende und wer der Gebende ist, wollen
wir in dem vorliegenden Zusammenhang nicht ver-
suchen. Für uns handelt es sich um eine unendli-
che dialektische Verschlingung, deren einzelne Fäden
ganz vorsichtig nach Herkunft und Stärke zu unter-
suchen wären.
Auf keinen Fall obwaltet eine einfache und ein-
heitliche Formgebung, mag sie nun vom Menschen
oder von der Wirklichkeit der Natur und der Ge-
schichte ausgehen. Eine solche Einheit, eine solche
Einfachheit und Einheitlichkeit werden ebenso sehr
von dem unüberschaubaren Reichtum menschlichen
Wollens und menschlichen Vorgehens, wie von der
spannungsvollen Vielheit von Kräften und Bewegun-
gen in der Wirklichkeit selber unmöglich gemacht.
Fassen wir jene Fülle von der Seite des Menschen aus
ins Auge, so müssen wir einer gewaltig langen Reihe
verschiedenartigster Formungen entlang wandern, die
sich über alle Gebiete des menschlichen Tuns er-
streckt. Eigentlich sind wir keinen Augenblick ohne
diese aktive Tätigkeit unbewußten oder bewußten For-
mens, und der ganze ungeheure Prozeß der mensch-
lichen und geschichtlichen Kultur beruht in sei-
nem Prinzip und in seiner Geschichte auf dieser For-
mung. Sie beginnt bei der unwillkürlichen und un-
mittelbaren Arbeit der Gestaltung unserer intimsten
Gefühle und Erlebnisse zu Bildern, zu Vorstellungen
im Wachen und im Traum, bei der Formung unserer
Einfälle zu Gedanken, unserer Kenntnisse zu Erkennt-
nissen usw., und sie endigt niemals, auch dann nicht,
wenn wir uns ganz in sich ruhenden, von unserem
73
Sein wesenhaft unabhängigen und entfernten Berei-
chen der Wirklichkeit zuwenden. Kunst und Religi-
on, Staat und Recht, Wirtschaft und Wissenschaft.
Sprache und Gemeinschaft bilden die Ergebnisse die-
ser unermüdlich formenden Handlungen. Aber auch
umgekehrt trägt die Natur und trägt die Kultur un-
zählbare Kräfte zu objektiver Formung in sich,
Ordnungsprinzipien von größter Macht und Verschie-
denartigkeit. Der Mensch bekommt sie unaufhör-
lich zu spüren. Und in der dialektischen Auseinan-
dersetzung dieser von dem Menschen ausgehenden
und der auf ihn einwirkenden Formen entwickeln sich
unser Leben und Schicksal.
In dieser hier kurz angedeuteten Weise stellt sich
für eine tunfassende philosophische Betrachtung die
beinahe unermeßlich weite und reiche Welt der For-
men dar. Kennzeichnend für eine solche Betrach-
tung sind die Bereitschaft und die Fähigkeit zu un-
voreingenommener Aufnahme und Würdigung des
Sachverhaltes in seiner ganzen subjektiven und ob-
jektiven, seelischen und begrifflichen, natnrhaften
und kulturellen Mannigfaltigkeit. Sie gibt dann wei-
ter die Grundlage ab für eine reichgegliederte Lehre
von den Gestalten des Seins, für eine Morphologie,
die ebenso die seelischen wie die nalurhaften und die
geschichtlichen, die psychischen wie die begriffli-
chen Gestalten der Wirklichkeit umfaßt1).
Hinsichtlich der Forderung, die reale Fülle der
*) vgl. Hermann Friedemann „Die Weh der Formen,
System eines morphologischen Idealismus“. Berlin, 1926.
74
Gestalten und Formen offen und frei zu berücksich-
tigen, und hinsichtlich der tatsächlichen Erfüllung
dieser Forderung scheint nun der Idealismus wieder-
um zu versagen. So urteilt wenigstens der Realismus,
und so muß eine realistisch gestimmte Morphologie
auch urteilen. In welcher Beziehung zeigt sich dieses
Versagen des Idealismus? Der ihm eigentümliche
Konstruktionsdrang führe und verführe zur Unterstel-
lung der Formenfülle unter ein oberstes und höchstes,
spekulativ ersonnenes Formprinzip. Auf diese Weise
gelangen die einzelnen Formprinzipen nicht zu der
ihnen gebührenden Beachtung und Entfaltung. Ent-
weder würden sie nur als Abzweigung aus jener
höchsten Einheit, als ihre Glieder und Stufen aufge-
faßt, oder sie würden noch nicht einmal als solche rea-
len Nebenzweige und Unterstufen anerkannt, sondern
nur als unleidliche Entartungen, als Übergangsfor-
men, als flüchtige Gestalten einer vorübergehenden
Zeit- oder Modeströmung angesehen. Jedenfalls wür-
den ihnen entweder ihre Ewigkeit oder ihre Selbst-
ständigkeit und ihre selbständige Berechtigung ab-
gesprochen.
Hinzu käme eine durchaus einseitige und künst-
liche Deutung und Absolutheitserklärung jenes höch-
sten und obersten Formenprinzips. Was heißt das?
Gemäß seiner Herkunft und Artung könne der Idealis-
mus nur dasjenige Forraprinzip als gültig ansehen,
das die Merkmale des griechischen Geistes, der grie-
chischen Kunst, der griechischen Denkform aufweist,
das sich ganz rein, ganz klar, ganz harmonisch, ganz
symmetrisch, ganz streng in der Gliederung der Teile,
75
ganz beherrscht von einer höchsten, der Mathematik
und der Gestalt der logischen und der ethischen Eu-
rythmie gemäßen Formkraft und Formeinheil auf-
haut. Also das „klassische“ Formprinzip. Natürlich
wird von der Seite des Realismus kein Einspruch laut
gegen die Schönheit, gegen die beseligende und erlö-
sende Wirkung dieses Prinzips. Er lehnt sich aber
auf gegen die Vergottung dieses Prinzips. Auch seine
Vertreter empfinden selbstverständlich die erlauchte
Größe in der Formenklarheit einer griechischen
Plastik, die unvergleichliche Wohlabgewogenheit in
der Gestaltung eines hellenischen Tempels. Und sie ver-
stehen es natürlich auch, wenn diese Kunstform und
Geistesart als Vorbild hingestellt wird, sobald und
solange der Mensch von den gedanklichen, seelischen
und moralischen Voraussetzungen des Griechen- und
Hellenentums aus in der Philosophie und in der
Kunst tätig ist und tätig sein kann. Aber der Wan-
del der Stimmungen und Gesinnungen, die geschicht-
liche Entwickelung der Kultur, das Auftreten neuer
Zeiten und neuer Generationen, die aus eigenem und
neuem Erleben neue und eigene Formen des innern
und des äußeren Daseins suchen hzw. hervorgebracht
haben, mit anderen Worten: die unermüdlichen und
unendlichen Schöpfungskräfte des menschlichen Gei-
stes widersprächen der Gnbedingtheitserklärung der
„idealistischen“ Geistesform, sie widersprächen und
widerstünden ihrem Anspruch auf unumschränkte Gel-
tung und Herrschaft.
Aus diesem Widerspruch und Widerstand ist be-
kanntlich der jahrtausendealte Streit des Realismus
76
gegen den Humanismus hervorgegangen. Für diesen
noch nicht abgeschlossenen und allem Anschein nach
nicht abschließbaren Streit gibt es, von allen Einzel-
begründungen und Einzelheiten abgesehen, keine trif-
tigere Allgemeinbegründung als den Hinweis auf die
ewige Kraft und das ewige Recht des Geistes zur Er-
zeugung immer neuer Gestalten, also die Berufung
auf das unendliche Schöpfungsvermögen des Lebens.
Wer hat die Befugnis, und wer kann die Macht und
den Mut besitzen, dieser Schöpferkraft Einhalt zu ge-
bieten? Es wäre das nicht bloß eine Auflehnung ge-
gen Gott, sondern im Grunde die Auflehnung Gottes
gegen sich selbst, gegen die schöpferische Unermeß-
lichkeit seines unendlichen W esens — ein unvollzieh-
barer Gedanke und ein unvollziehbares Tun. Einer
solchen widergöttliohen Unsinnigkeit sehr nahe oder
eigentlich ihr schon gleich käme die von dem Idealis-
mus begünstigte und vollzogene Dogmatisierung einer
bestimmten Form zur Alleinherrschaft.
Mit der Bestreitung der Möglichkeit und des Rech-
tes einer Lniformierung des Lebens und des Wirkens,
wie sie der Idealismus durch die Verabsolutierung des
klassischen und humanistischen Formprinzips an-
strebt, ist nun auch von der Seite der formal-ästheti-
schen Kritik seines Wesens und Wertes eine Krise
über ihn heraufgeführt. Vielleicht ist es gerade die-
se Krise, die auf das geistig-geschichtliche Leben den
stärksten Eindruck hervorgerufen hat. Denn irgend-
wie klingt in allen Bemühungen der europäischen
Geieteswelt, die darauf gerichtet sind, bei den einzel-
77
neu Völkern und Nationen und in den einzelnen Zei-
ten eigene Kulturen zu erzeugen, also auf den Gebie-
ten der Kunst und des Rechtes, des staatlich-politi-
schen Lehens, der Erziehung, der Bildung, des Unter-
richtes usw. solche Leistungen hervorzubringen, die
aus der eigenen Kraft, aus der eigenen Gemütsverfas-
sung und Berufung stammen, jene Abwehr, jener
Kampf mehr oder minder deutlich an. Im gewissen
Sinne vollzieht sich die geistige Entwickelung des
Abendlandes seit dem „Untergang“ der antiken U eit
in einer ständigen und bisweilen leidenschaftlichen
Auseinandersetzung mit der klassischen Kultur. Die
Dauer und die Heftigkeit dieser Auseinandersetzung,
der Trotz und die Unbeugsamkeit der an ihr beteilig-
ten Persönlichkeiten erklären sich ungezwungen aus
einem geistesgeschichtlich entscheidenden LImstande,
Sowohl die Grundlegung als auch der Aufbau und
nicht zuletzt die Sinn- und Zielbestimniung einer Kul-
tur sind nämlich fast stets Fragen und Schöpfungen
der „Form“. Der bekannte Ausspruch: der Stil macht
den Menschen, läßt sich berechtigtermaßen zu der
Behauptung erweitern; der Stil oder die Form ist die
Kultur. Die persönliche Begabung eines Menschen
oder eines Zeitalters offenbart sich in der Gewinnung
einer ihm wesensgemäßen und eigentümlichen Form.
Damit aber sind die Forderung und die Notwendig-
keit der Auflösung, der Zertrümmerung des als ewig
und allgemeingültig erklärten „idealistischen“ Form-
gedankens gegeben.
78
d. Der Einwand vom Erleben aus:
Der emotionale Einwand.
Unmittelbar zusammen mit dem Willen zur „eige-
nen“ und „persönlichen“ Form und W esensgestaltung
bängt das Verlangen nach Bewahrung und Durchset-
zung der eigenen Individualität, des Erlebens seiner
selbst als dieses bestimmten Menschen oder Zeital-
ters. Die Rücksicht auf die Gemeinschaft, die Ver-
pflichtung, uns ihrem W ohl zu widmen, die Erkenntnis
unserer undurchbrechbaren Zugehörigkeit zu ihr in
Ehren. Trotzdem bedeutet es eine Einseitigkeit und
eine Übertreibung, alle diejenigen Empfindungen und
Willensregungen, alle diejenigen Vorstellungen und
Gedanken, die mit dem Wesen der Individualität ge-
geben sind, einfach zu unterdrücken oder in einen
Übeln Ruf zu bringen. Eine freie und aufgeschlossene
Betrachtung und Beurteilung des Menschen und des
allgemeinen Lebens wird sowohl seinen „individuellen“
als seinen „sozialen“ Zügen gerecht werden und Ge-
rechtigkeit widerfahren lassen. Eine solche Haltung
allein weist die Kennzeichen eines vorurteilslosen Rea-
lismus, einer klaren und offenen Auffassung des Tat-
bestandes in seiner Fülle und in seiner Verschiedenar-
tigkeit auf.
Wie es eine biologische und eine moralische Sorge
und Verpflichtung inbezug auf die Gemeinschaft gibt,
so gibt es eine solche Sorge und Verpflichtung auch
inbezug auf das Individuum. Und aus beiden Gruppen
von Sorgen und Verpflichtungen gehen hohe Leistun-
gen und hohe W erte hervor. Doch wollen wir hier das
79
Verhältnis zwischen „Sozialismus“ und „Individualis-
mus“ und das Recht jedes dieser beiden Standpunkte,
Gesinnungsweisen und Verhaltungsarten nicht weiter
verfolgen. Uns beschäftigt vielmehr die Frage, welches
Urteil die realistische Lebensansicht, gerade weil sie
bei einer Wahrung der Freiheit des Blickes neben der
Anerkennung der „sozialen“ Züge auch den „indivi-
duellen“ und „individualistischen“ Zügen des Men-
schen und des Lebens eine verständnisvolle W ürdigung
zuteil werden läßt, dann über den Idealismus abge-
ben wird.
Nach einer weitverbreiteten Ansicht pflegt die
mehr dem Idealismus zuneigende Einstellung und
Willensrichtung auch mehr den Wert und die Berech-
tigung aller individualistischen Züge zu betonen und
gerade diese Züge zu fördern. Mit dem Idealismus
und mit dem ihm nahe verbundenen Humanismus
stehe in enger Gemeinschaft ein Aristokratismus, der
auf Absonderung von der mit einer gewissen Gering-
schätzung oder auch offenen Verachtung betrachteten
Maße bedacht sei.
Ohne Zweifel, ein derartiger Zusammenhang
kann bestehen, und er besteht tatsächlich auch in
zahlreichen Fällen. Aber er muß keineswegs obwal-
ten. Weshalb soll nicht eine idealistische Gesinnung
und Weltanschauung zu der Anerkennung und Unter-
stützung einer sozialen Gesinnung und eines ihr ge-
mäßen Verhaltens führen? Fast sämtliche politi-
schen Bewegungen und Parteien sozialer und sozia-
listischer Willensrichtung und Betätigungsweise ver-
80
leihen den Voraussetzungen, Gesetzen, Formen und
Zielen ihres Handelns die Wesensmerkmale des Idea-
lismus. Doch wie dem auch immer sei: Die aus-
schließliche Förderung des „Sozialismus“, diesen
jetzt nicht im politischen, sondern höher und allge-
meiner, d. h. im geistesgeschichtlichen Sinne verstan-
den, bedeutet eine unverkennbare und unbestreitbare
Einseitigkeit. Diese Feststellung erfolgt, wie viel-
leicht nicht besonders hervorgehoben zu werden
braucht, von der Grundlage des Realismus aus, der
doch eben das ganze Leben, das subjektive und das
objektive, in der ganzen Weite und Fülle seiner
Kräfte, seiner Anlagen, seiner Aufgaben und seiner
laten unabhängig von Weisungen, die außerhalb der
Freiheit der Betrachtung liegen, zu erfassen und zu wür-
digen bestrebt ist. Von dem Standpunkt einer solchen
aufgeschlossenen realistischen Betrachtung aus läßt
sich dann gegen den Idealismus folgendes einwenden:
ln ähnlicher Weise, wie der Idealismus eine Über-
schätzung der einen klassischen Formidee auf Kosten
der Selbständigkeit und Anerkennung aller anderen
Formgebilde vornimmt, vollzieht er auch eine Über-
wertung des „Allgemeinen“ auf Kosten des „Beson-
deren“, des „Singulären“, des „Individuellen“. Er
will und kennt nur die Herrschaft des Einen Ewigen
Geistes in seiner ewigen und heiligen Allgemeinheit.
Diesem Geiste habe sich auch unser Innenleben zu
beugen. Er errichtet kraft seiner unerschütterlichen
Eigenmächtigkeit ein System, eine Dogmatik, ein Sche-
ma allgemeiner Erlebnisforraen und seelischer Ver-
haltnngsweisen. Eine individualisierende Abweichung
H A. Liebert. Die Kri.se d. Idealismus.
81
straft er als Auflehnung gegen die Unbedingtheit und
Heiligkeit der von ihm ersonnenen und erlassenen
Vorschriften. Mit der ihm eigenen Härte brand-
markt der Idealismus, wie das Beispiel Platos zeigt,
eine solche Abweichung als eine Verirrung, und er
führt sie zurück auf den gefährlichen individualisie-
renden Drang der Gefühle zur Vereinzelung und zur
Gewinnung eines eigenen und besonderen Rechtes.
Im Hintergründe dieser Überlegung und die-
ses ganzen Beweisganges ruht der uralte Gegensatz
zwischen dem Walten des auf die Schaffung und Be-
folgung allgemeiner, überindividueller Vorstellungs-,
Denk- und Erlebnisformen eingestellten Verstandes
auf der einen und der Kraft des Gefühlslebens zu ei-
ner ihm gemäßen, seinen individuellen Ansprüchen
genau gemäßen Betätigung auf der anderen Seite. Dort
die Forderung und die Fähigkeit der Orientierung an
einer allgemeinen Form, am liebsten und am besten
an einer von logischer, von begrifflicher Gestalt, weil
es gerade der Begriff ist, der das Ansehen der Allge-
meinheit am deutlichsten zum Ausdruck bringt und
am sichersten gewährleistet, hier die Forderung und
die Fähigkeit zu einem, von den allgemeinen Formen
ganz abweichenden Erleben, Anschauen, Vorstellen,
das sich der Unterordnung unter die allgemeinen Sat-
zungen des Geistes entzieht bzw. zu entziehen sucht.
Es ist ein Erleben, ein Anschauen, ein Vorstellen, ein
Wollen, ein Urteilen ganz aus der Gabe und Gunst
des schöpferischen Augenblickes, des Kairos, heraus,
der ganz individuellen, nur auf diesen einen Fall und
auf diese eine bestimmte Zeit und Stimmung be-
82
schränkten, nur für sie gültigen, nur auf sie berech-
neten Einstellung.
Wir stehen hier, wie ohne weiteres klar ist, vor
oder in der Spannung zwischen den Geisteshaltungen
und den Erlebnisweisen der Klassik und der Ro-
mantik. Diese Spannung ist nicht bloß für die
abendländische Kulturentwickelung in ihrer Allge-
meinheit charakteristisch, vielmehr weiß um sie jeder
in seinem Innern freie und aufgeschlossene Mensch,
jeder Mensch, der sich nicht einer besonderen Welt-
anschauung und ihrer verengenden Dogmatik ausge-
liefert hat. Sie findet ihren wissenschaftlichen Aus-
druck in einer recht verschiedenen psychologischen
Deutung des menschlichen Wesens. Die Psychologie,
auf die die Klassik sich stützt und beruft, und mit
der sie arbeitet, ist von ganz anderer Art als die in dem
geistigen Raum der Romantik heimische Seelenlehre.
Und ebenso wie diese beiden Typen der Psychologie
gegeneinander stehen, ferner ebenso wie Klassik und
Romantik gegeneinanderstehen, so kommt auch alle-
mal über die Geltung des Einheitsgedankens und der
einheitlichen und allgemeinen Bildungsidee der Klas-
sik eine Krise, sobald sich aus den Tiefen des roman-
tischen Welterlebens eine Auflehnung zu Gunsten des
Rechtes und des Wertes der Individualität erhebt. In
dem unmittelbar vorangehenden Kapitel, also bei der
D vgl. Ricarda Huch „Blütezeit der Romantik“ und „Aus-
breitung und Verfall der Romantik“ 2 Bände, Leipzig; 10. Aufl.
1920. Fritz Strich „Deutsche Klassik und Romantik oder Voll-
endung und Unendlichkeit“ München 1924.
6*
83
Behandlung des Einsprüche» von der Seite des objek-
tiven ästhetischen Formgedankens, bildet den Gegen-
stand unserer Betrachtung die realistische Abwehr
derjenigen Versuche, die auf eine Uniformierung der
ganzen äußeren, der geschichtlichen und objektiven
Kultur gerichtet sind. Diese Abwehr hat sich nun
gemäß den Ausführungen des jetzt vorliegenden Ka-
pitels in und auf das Innere gewendet. Auch in die-
ser Beziehung verficht der Realismus die Berechti-
gung eines Formgefüges und einer Formgestaltung
von nicht universaler, von einer nicht für alle Zeiten,
nicht für alle Menschen und nicht für alle Lebensla-
gen gleichermaßen gültigen Prägung. Er betont seine
Ehrfurcht vor der Mannigfaltigkeit der nun doch ein-
mal vorhandenen individuellen Weisen des Fühlens
und des Urteilens. Er unterstreicht den Wert dieser
Mannigfaltigkeit, die nicht künstlich erzeugt, son*
dem das Zeichen und Zeugnis einer in hunderttau-
send verschiedenen und unaufhörlich wechselnden
Gestalten sein unendliches Schöpfertum bekundenden
und bewährenden Lebens des Geistes ist. Wir erfas-
sen und betätigen uns nicht bloß als Glieder einer
seelischen Gemeinschaft, deren Kraft und Geltung so
stark wäre, daß sie unser Eigenleben, unser individu-
elles Fühlen, Wollen, Vorstellen ganz und gar aus-
löschte, sondern wir erleben uns auch als unverwech-
selbare Einzelmenschen, als diese bestimmten Indivi-
duen im guten und im schlechten Sinne.
Die Berechtigung dieses Erlebens ist ebenso un-
antastbar wie der persönliche Wert, den dieses Erle-
ben sowohl für unsere eigene Entwicklung als auch
84
für die Entwicklung der Gemeinschaft besitzt. Nie-
mals umfaßt und besitzt uns die Gemeinschaft ganz
und gar. Wir tragen in uns unveräußerbare Vorbe-
haltswerte und Vorbehallsgüter persönlicher, indivi-
dueller Natur, die sich in keiner Weise in eine allge-
meine, idealistisch geforderte und idealistisch und
spekulativ konstruierte Einheit einfiigen, einspan-
nen lassen. Ja, eine unvoreingenommene realistische
Betrachtung des seelischen Sachverhaltes muß zu der
Einsicht und Feststellung gelangen, daß gerade aus
der — selbstverständlich nicht ausschließlichen —
Pflege und Förderung dieser individuellen Gaben und
Werte, bei deren Betätigung zunächst gar nicht an
das allgemeine Wohl gedacht wird, dann doch auch
die Gemeinschaft den größten Nutzen zieht. Deshalb
also weg mit der von einem lebensfremden Idealismus
aufgestellten und geforderten Einheit des Erlebens.
Das Erleben ist vielfältiger Natur, und gerade darin
zeigt es seine Größe und seine Schönheit.
3. Die Einzel wissen schäften und
der Idealismus.
a) Die allgemeine Spannung zwischen ihnen.
Die Tendenzen der Differenzierung und
der Spezialisierung.
Für die Entwicklung der Wissenschaften und für
den Aufbau jeder Wissenschaft im besonderen
scheint die feste Orientierung an einem als allgemein-
gültig anerkannten Erkenntnis- und Wahrheitsideal
von entscheidender Bedeutung zu sein. Geschaffen und
85
mit der Kraft überlegener Verbindlichkeit ausgestat-
tet wurde dieses einheitliche Erkenntnis- und Wahr-
heitsideal durch die Philosophie des Idealismus. Ihre
Hauptleistung und ihr Hauptmerkmal bestehen in der
Errichtung einer auf konstruktivem Wege gewonne-
nen Einheitsidee. Dabei handelt es sich um eine dop-
pelte Ausprägung dieser Idee. Tn einer Hinsicht be-
deutet sie die reale Einheit des Seins: die metaphy-
sisch-ontologische Gestalt der Einheitsidee; in anderer
Beziehung bedeutet sie den auf den Gedanken der
Systematik bezogenen inneren logisch-theoretischen
Zusammenhang des objektiv wahren Denkens: die lo-
gisch-erkenntnistheoretische Form der Einheitsidee.
Wir haben hier nur die zweite, die logische, die theo-
retische, die gedankliche Seite der Einheitsidee zu
beachten, da wir die ontologische Wendung bereits
berücksichtigt haben (S. 57 ff.).
Selbstverständlich können und müssen wir eine
für alle wissenschaftliche Arbeit überhaupt gültige
Wahrheitsidee auf stellen und anerkennen. Sie wäre
etwa folgendermaßen begrifflich zu bestimmen: Un-
ter der Idee der Wissenschaft und unter dem Wesen
und der Wahrheit der wissenschaftlichen Arbeit ist
ein Erkenntniszusammenhang zu verstehen, der den
Charakter der systematischen Einheit und der gegen-
ständlichen Gültigkeit besitzt. Diese Idee verbindet
mithin in sich die beiden Momente der formalen Not-
wendigkeit und der Objektivität. 1 I
*) vgl. meine ..Erkenntnistheorie4* . Band II, S. 15 ff.,
28 ff., u. '6.
86
Sofort aber erhebt sich ein gewichtiges Bedenken
gegen eine solche idealistische und apriorische Fest-
legung der Wissenschaft. Und indem es zum Aus-
druck gebracht wird, nähert sich jetzt auch von der
Seite der konkreten wissenschaftlichen Forschung
eine Krise für den Idealismus und für die von ihm
vertretene und geforderte Einheit und Einheitlichkeit
eben dieser Forschung. In dem Verhältnis zwischen
den Einzelwissenschaften und dem Idealismus wirkt
sich nämlich eine sehr eigentümliche und schwere
Dialektik aus. Sie erleuchtet die zwischen ihnen ob-
waltende Polarität und Spannung, die ebensowohl
ähr Aufeinanderangewiesensein als auch ihre unauf-
hehbare Gegensätzlichkeit erklärlich macht. Worin
besteht sie?
Die wissenschaftliche Forschung, ganz gleich wel-
chem Gegenstandsgebiet sie zugewendet sein mag, un-
tersteht einer streng einheitlichen Logik und logi-
schen Einheit. Wir fassen diese Einheit als die für
die ganze wissenschaftliche Arbeit in allen ihren
Spielarten maßgebende Idee der Wahrheit. Das ist
die eine Seite der Sache. In anderer Hinsicht jedoch
muß diese Arbeit die ungeheuere Vielheit und Ver-
schiedenartigkeit der einzelnen Bereiche der Wirk-
lichkeit genau berücksichtigen, wenn sie nicht einem
leeren Formalismus verfallen will. Gewiß weist auch
der Formalismus gar nicht unbeträchtliche Vorzüge
auf. Durch ihn erhält und behält jene Arbeit ihre
logische Sicherung und Sicherheit. Die Sehnsucht
nach dieser Sicherung und Sicherheit bildet ein
Hauptmotiv für die Vorliebe, die von bestimmten
87
Zeitaltern gerade der Mathematik enlgegengebracht
wurde. Zugleich veranlaßt die Verwirklichung des
mathematisch-logischen Vorbildes eine überaus große
formale Gleich- und Einförmigkeit des Forschungsver-
fahrens. Das bekannteste und eindrucksvollste Bei-
spiel einer solchen Uniformierung der Wissenschaften
zeigt das Zeitalter der Aufklärung in der Herrschaft
des Rationalismus. Verträgt sich aber diese Gleichför-
migkeit mit der Verschiedenartigkeit der zu erfor-
schenden und erforschten Wirklichkeitsbereiche?
Da entsteht nun folgende Frage: Welchen Weg
soll die Wissenschaft einschlagen bei der Wahl zwi-
schen dem Gehorsam gegenüber der gebieterischen
Forderung der Einheit und Einheitlichkeit auf der
einen und der nicht weniger gebieterischen Forde-
rung einer Rücksichtnahme auf die Eigenart der
einzelnen Sach- und Fachgebiete auf der anderen
Seite? Das Dilemma, die Dialektik ist klar. Auf je-
den Fall muß die unbedingte Geltung der idealisti-
schen Einheitstendenz eine zur Krise drängende Be-
anstandung erfahren. Das Gebot der Differenzierung
und Spezialisierung erheischt Folgsamkeit. Denn nur
durch jene Methoden können die einzelnen For-
schungsgebiete der Eigentümlichkeit ihrer Gegen-
standsgebiete gerecht werden. Der Geist der Diffe-
renzierung und Spezialisierung hat nicht bloß auf
dem Gebiete der allgemeinen Kultur seinen Einzug
gehalten, er ist auch im stürmischen Vordringen be-
griffen auf allen einzelnen Bereichen der wissen-
schaftlichen Ai beit. Und ebenso wie wir soeben den
Wert einer strengen Einheit und Systematik für die
88
Wissenschaft anerkannten, so müssen wir jetzt doch
auch die Bedeutsamkeit jener differenzierenden und
spezialisierenden Tendenz hervorheben. Ihrer Wirk-
samkeit vor allem verdankt die Wissenschaft die Mög-
lichkeit der Erfassung und der Heranschaffung neuen
Wissensstoffes. Und deshalb ist auf sie die Bereiche-
rung unserer Erkenntnis zurückzuführen. —
Aus dieser differenzierenden und spezialisierenden
Arbeitsrichtung ergeben sich in Bezug auf die Ver-
suche einer Auflösung und Zersetzung des idealisti-
schen Einheitsgedankens zwei überaus beachtens-
werte Folgen.
a) Bei allem verständlichen Bemühen, die Idee der
Einheit der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten, erfüllen
sich sowohl die Wissenschaft als auch unsere persönli-
chen Überzeugungen immer stärker mit der Gewißheit
einer Vielheit und Verschiedenartigkeit von Wirklich-
keitsschichten, zwischen denen wir kaum oder über-
haupt nicht mehr einen festen und eindeutigen Zusam-
menhang zu erkennen und herzustellen vermögen. Zur
Unterstützung dieser Gewißheit und zum Teil als Ver-
anlassung für ihre Entstehung kommen in erster Li-
nie zwei Gruppen scharfgespannter Gegensätzlichkei-
ten in Betracht. Die eine Gruppe bezieht sich auf den
Gegensatz zwischen Natur und Geschichte und auf den
durch diesen Gegensatz bedingten Unterschied von
Natur- und Geschichtswissenschaften. Die zweite
Gruppe verkörpert den nicht zu überbrückenden Un-
terschied zwischen dem Sollen und dem Sein, zwi-
89
sehen Aufgabe oder Idee einerseits und Gegebenheit
oder Tatsache andererseits.
Die Wissenschaften unserer Zeit und die ihr zur ge-
danklichen und zur moralischen Voraussetzung die-
nende Gesinnung sind in einem eigentümlicheren Sinne
von dem Willen beseelt, der Wirklichkeit restlos hab-
haft und gerecht zu werden und zu uneingeschränk-
ter Herrschaft über sie zu gelangen, als das zur Zeit
ihrer Entstehung im 17. und 18. Jahrhundert der Fall
war. Zwar zeigte sich auch damals die Wissenschaft
von einem intensiven Wirklichkeitsdrang erfüllt. Aber
sie verwendete zur Erreichung ihrer Absicht das Kon-
struktionsmittel der Mathematik, das, erwachsen aus
einer Beziehung zu dem mathematisierenden Geiste
des platonischen bzw. platonisierenden Idealismus,
die Forschung doch nicht ganz unmittelbar an den
konkreten Stoff der Erfahrung herankommen ließ.
Aus dieser mathematisch-idealistischen Geisteshaltung
ging die Überzeugung von einem harmonischen, ein-
heitlichen, bei allen irrationalistischen Schwankungen
im einzelnen dennoch vernünftigen Aufbau der Welt
hervor. Und sie behielt und bekundete ihre
Macht sowohl für das Gebiet der Philosophie als auch
für das der Einzelwissenschaften noch über den Tod
Hegels (1831) hinaus. Vorstöße etwa von der Seile
der Mystik, des Pietismus, der Romantik, der Gefühls-
philosophie vermochten an diesem Zustand prinzi-
piell nichts zu andern. Zwar handelte es sich hier
um solche Lebens- und Erlebniskreise, in denen das
Bewußtsein oder wenigstens eine Ahnung von dem
Walten unheimlicher und der Vemunftformung un-
90
zugänglicher Kräfte wirksam war. Aber die Gewiß-
heit von der Existenz eines einheitlichen und im
Grunde harmonisch geformten Kosmos wurde da-
durch nicht erschüttert, jene Gewißheit, die durch
die idealistische Vernunftphilosophie begründet wor-
den war und genährt wurde. Die Vertreter des Idea-
lismus forderten nichts weiter als die Erhebung zu
einer universalphilosophischen Betrachtung und
Würdigung der Erscheinungen. Alsdann würde sich
sofort die Unabweisbarkeit jener harmonistisch-idea-
listischen Überzeugung ergeben.
Zur Verdrängung oder wenigstens zur Zurück-
drängung dieser idealistischen Vernunftauffassung der
Wirklichkeit bedurfte es der Wucht außerordentlicher
Erfahrungen und neuartiger Erkenntnisse in allen
Bereichen der Forschung. Wohl sämtliche Wissens-
richtungen haben zu dieser Wandlung beigetragen.
Auf der Seite der Naturwissenschaften vermittelten
vor allem die Leistungen der biologischen Entwick-
lungslehre einen Einblick in die selbständige Gewalt
der Naturtriebe, die sich nicht so einfach einem ein-
heitlichen Vernunftgesetz unterwerfen zu lassen
scheinen. Den Naturwissenschaften schlossen sich die-
Psychologie und weiter auf der Seite der Geisteswis-
senschaften eigentlich sämtliche Erkenntuisrichtun-
gen an. Sie alle öffneten uns den Blick für die gren-
zenlose und unabsehbare Fülle irrationaler und indi-
vidueller Tendenzen und Gestalten, in denen die
Wirklichkeit sich ausbreitet. Was haben in dieser
Hinsicht die Erforschungen des religiösen Lebens, sei-
91
ner Wurzeln und seiner Entwicklungen, und die Er-
kundungen des allgemeinen Volkslebens alles au
neuem Material gezeitigt! Sie machten uns bekannt
mit der bis dahin kaum geahnten Macht derjenigen
Urkräfte, die, entscheidender als die Vernunft es ver-
mag, gerade in ihrer brutalen und bluthaften Wild-
heit und in ihrer kämpferischen Irrationalität das Le-
ben in der Natur und in der Geschichte bedingen.
Alle diese neuen Aufschlüsse schufen ein neues Welt-
erleben und ein neues Wissen um die Wirklichkeit.
Tn enger, nicht bloß geschichtlicher, sondern auch
sachlicher Verbindung mit ihnen stehen die irratio-
nalistischen Willensphilosophien Schopenhauers und
Nietzsches und die zahlreichen, von ihnen abhängi-
gen Lebenslehren. Vielleicht niemals in ihrer jahr-
tausendealten Geschichte haben der Idealismus und
der Humanismus so heftige Angriffe erfahren, wie es
unter dem Einfluß und Eindruck jener Erlebnisse und
Erkenntnisse geschah.
h) Den Hauptkämpfer gegen die Einheits- und
Vernunftauffassung des Idealismus stellt der Geist des
Positivismus dar. Er erfüllt das 19. Jahrhundert nach
dem Heimgang Hegels. Seine Herrschaft erstreckte
sich nicht bloß auf die Wissenschaften, sondern er
wurde auch für das allgemeine Leben der Kultur eine
geschichtliche Macht von umfassender Bedeutung. 1 )
1) vgl. meine Schriften .,Die geistige Krisis der Gegenwart“.
Berlin, 3. Auflage 1924 und „Zur Kritik der Gegenwart“. Lan-
gensalza 1927.
92
Wir stehen damit vor einem Vorgang, der für das
Zeitalter des Spezialistentums überhaupt charakteri-
stisch ist. Er zeigt die außerordentliche Beteiligung
der Einzelwissenschaften an der Befriedigung jenes
von uns mehrfach hervorgehobenen leidenschaftli-
chen Verlangens nach wissenschaftlicher Erfassung
und nach tatsächlicher Eroberung der erfahrbaren
Wirklichkeit. Nur bei einer Zerteilung und Auftei-
lung sowohl des wissenschaftlichen Einheitsgedan-
kens, als auch der Realität selber konnte es der ein-
zelnen Wissenschaft möglich werden, zusammen mit
der Gewinnung ihrer Selbständigkeit zugleich auch
an das zu ihr gehörige Stück der Wirklichkeit heran-
zukoinmen. Wäre für die Wissenschaft der allge-
meine, abstrakte, idealistische Begriff der Wirklich-
keit in der alten und vollen Strenge erhalten und
richtunggebend geblieben, dann hätte keine Einzel-
forschung den ihr zugrundeliegenden realistischen
und positivistischen Drang befriedigen können. Für
die Spezialisierung des wissenschaftlichen Geistes ist
nicht bloß die Spezialisierung in der Methode und in
der Form der Forschung wichtig, sondern mindestens
ebensosehr die gedankliche und praktische Aufteilung
der Einheit des Seins, Und erst dieser zuzweit ge-
nannte ontologische Zug in dem Prozeß der Differen-
zierung und Spezialisierung gewährt der einzelnen
Wissenschaft die Möglichkeit und die Voraussetzung,
sich mit einem ihrem Begriff, ihrem Wesen, ihrer be-
sonderen Aufgabe entsprechenden Inhalt zu füllen
und die theoretische Vertretung eines bestimm-
93
te n Ausschnittes aus der Allgemeinheit der Realität
zu übernehmen.
Den Sinn dieser Behauptungen wollen wir durch
folgende Aufklärung beleuchten und belegen. Jene
doppelte Aufteilung der Einheit des Seins, der theo-
retischen Einheit der Wissenschaften und der realen
Einheit der Wirklichkeit, läßt sich am besten be-
obachten an jener Änderung, die sich innerhalb der
wichtigsten Seinsvorstellung vollzog, nämlich inner-
halb der Vorstellung vom Wesen der geistig-geschicht-
lich-gesellschaftlichen Welt. Weshalb führen eigent-
lich die von so vielen Seiten mit größter Begabung
und Energie unternommenen Bemühungen um die
Schaffung einer wirklich umfassenden und einheitli-
chen Geistes- und Geschichtsphilosophie, wie sie zu-
letzt in genialer Weise noch Hegel entwickelte, nicht
zu einem Erfolge, der sich mit den Leistungen der
älteren idealistischen Geschichtsphilosophie verglei-
chen läßt? Der Grund dafür liegt nicht in dem Man-
gel an subjektiven Fähigkeiten, auch nicht in dem
Fehlen eines auf systematische Erkenntnis der ge-
schichtlichen Welt gerichteten Verlangens und Wil-
lens. ln beiderlei Beziehungen herrscht sogar ein
gewisses Übermaß. Der Grund liegt in der wurzel-
haften Änderung unserer Einstellung gegenüber je-
ner Welt.
Die idealistische Geistes- und Geschichtsphiloso-
ph ie wird immer vereinheitlichend, immer systema-
tisch und systematisierend, immer konstruktiv ver-
fahren. Eine derartige Geistessystematik und Ge-
schichtsdeutung ist jedoch abhängig von der grund-
94
sätzlichen Gewißheit der wirklich einheitlichen Exi-
stenz und existentiellen Einheit dieser geschichtlichen
Welt und von der Überzeugung eines vernünftigen
Zusammenhanges in der Aufeinanderfolge ihrer Stu-
fen, ihres Geschehens usw. Der Einheit der vernünf-
tigen Auffassung entspricht die vernünftige Einheit
des Seins. Glaubte jene Geschichtsphilosophie doch
sogar an die durch die menschlichen Handlungen und
ihre Entwicklung gerechtfertigte Möglichkeit, von ei-
nem „vernünftigen Plan in der Geschichte“ sprechen
zu können und zu sollen. Wenn jedoch jene Über-
zeugung schwindet, und wenn zusammen mit ihr der
Glaube an die Eintracht zwischen der Einheit der
Vernunft und der Einheit des Seins und damit die
Voraussetzung für die Anwendung jener Einheit auf
die letztere verloren gehen, dann entfallen begreifli-
cherweise die sachlichen Voraussetzungen für jene me-
taphysische Geistes- und Geschichtssystematik. Dem
seelisch tiefbegründeten Ringen um die Erkenntnis
einer unerschütterlichen Welteinheit, besonders einer
Einheit des geschichtlichen Werdens, stellt sich die
spezialisierende und differenzierende Einsicht in die
spannungsvolle Mannigfaltigkeit einander bedrän-
gender und einander ablösender, keinem einheitli-
chen Entwicklungsverlauf freie und restlose Entfal-
tung gewährender Gruppen und Mächte in den Weg.
Mit dieser Einsicht verbunden ist die Erkennt-
nis, daß erst oder nur in jenem tausendfältigen Zu-
sammenprall, in dessen oder mit dessen einzelnen
Stößen die Geschichte beinahe jedesmal wieder von
vorne zu beginnen scheint, sich die Wirklichkeit des
95
geschichtlichen Lebens offenbart und betätigt. Aus
diesem Grunde besteht ihre „Wahrheit“ auch nicht
in einem ideellen Einheitsschema oder in einer ideel-
len sittlichen Forderung, sondern nur in diesen diffe-
renzierten Realitätsballungen und ihren unendlich
verschiedenartigen, ganz uneinheitlichen Auswirkun-
gen. Den Kern aber dieser zahllosen Ballungen bil-
det nicht ein ideelles Streben zu einer verbindenden
Einheit, sondern der rücksichtslose Wille, die in der
einzelnen Gruppe oder Lage vorhandenen Möglichkei-
ten und Kräfte, unbekümmert um den Stand und Zu-
stand in den übrigen Macht- und Interessengruppen,
zur Entladung und Durchsetzung zu bringen. Dieser
ungeheure Wandel in unseren Vorstellungen vom
\^esen und Werden des geschichtlichen Lebens ist na-
türlich nicht dazu angetan den — optimistischen.
noch von Hegel so stark genährten — Glauben an ei-
nen einheitlichen, weil in einem einheitlichen Sinn
sich vollziehenden, von der Vernunft getragenen Auf-
bau der Geschichte zu stützen. Im Gegenteil: Dieser
Glauben wird als das Zeugnis einer traumseligen und
der herben Wirklichkeit der Geschichte widerspre-
chenden Lebensfremdheit des Idealismus verurteilt.
h) Antiidealistische Tendenzen
in der modernen Psychologie.
Verfolgen wir nun des Genaueren, wie sich der
Kampf gegen den Idealismus von der Seite der Ein-
zelwissenschaften aus gestaltet. Aber auch bei dieser
Schilderung nehmen wir jetzt nur die Haltung des
Berichterstatters, nicht die des Richters ein.
%
Da ist zunächst die moderne Psychologie. So wie
sie sich in den letzten Jahrzehnten in mannigfachen
Typen ausgebildet hat, steht sie in einem doppelten
Streit. Einmal ist sie die Gegnerin der alten, noch
von Platon begründeten sogenannten rationalisti-
schen Seeleulehre. Diese ging aus von der Annahme
der Existenz eines „Wesens4" der Seele. Und aus die-
sem Wesen, aus dieser Substanz wurden dann weniger
auf dem Wege der Beobachtung und des Erlebens als
auf dem einer vorherrschend gedankenmäßigen Ab-
leitung die verschiedenen seelischen Vermögen und
Erscheinungen entwickelt. Grundlegend dabei war
die Voraussetzung der — logisch erfaßbaren — Ein-
heit des seelischen Lebens. Diese Einheit zog fast
ausschließlich die Aufmerksamkeit des Seelenfor-
schers auf sich, seine wissenschaftliche Teilnahme
galt vor allem ihrer Erfassung und Deutung. Dabei
mußte notwendigerweise die Berücksichtigung der
wirklichen seelischen Vorgänge zu kurz kommen.
Weil diese rationalistische Psychologie für das tat-
sächliche seelische Geschehen kein Auge zu besitzen
schien, verfiel sie der Ablehnung durch die moderne
realistisch eingestellte Psychologie.
Aber diese realistische Psychologie steht noch in
einem zweiten Gegensatz. Sie macht auch der na-
turwissenschaftlich verfahrenden Seelenforschung
den Vorwurf, die wahre Natur und die konkreten Ei-
gentümlichkeiten ihres Gegenstandes deshalb nicht
in die Sicht zu bekommen, weil sie von einer unange-
brachten Fragestellung ausgehe und mit einem der
7 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
97
Sache nicht entsprechenden Konstruktionsapparat
arbeite. Sie suche, geleitet von dem in diesem Falle
irreführenden Vorbild der exakten Untersuchungs-
weise, apriori nach „Gesetzen“ des seelischen Ablaufs.
Als wenn solche Gesetze, solche Assoziationen, solche
Bindungen das Wesentliche an dem Seelenleben wa-
ren und nicht dieses selbst in seiner Fülle, in seinen
tatsächlichen Inhaltlichkeiten. Die Einstellung auf
Gesetze, ganz gleich wie diese beschaffen sein mögen,
bedeute im Grunde aber immer wieder die Einstel-
lung auf eine irgendwie ideelle Einheit oder auf eine
Reihe solcher Einheiten. Wenn es sich jedoch um
eine möglichst echte Aufhellung des seelischen Le-
bens, um einen wahrheitsgetreuen Einblick in seine
Eigenheiten handelt, was ist dann angemessener und
gebotener: Die Einstellung der Untersuchung auf die
Erkenntnis der gesetzlichen Regelungen und der re-
gelnden Gesetzlichkeiten, die doch immer nur in ei-
nem verallgemeinernden, also von der Sache wegfüh-
renden Verfahren gewonnen werden können, oder der
Versuch intimen Sichhineinversetzens in ganz be-
stimmte Vorstellungen, Willensregungen, Gefühls-
äußerungen, also der Versuch des lebendigen und un-
mittelbaren Innewerdens konkreter seelischer Ver-
haltungsweisen, Lagen, Erscheinungen eben in ihrer
Individualität und in ihrer individuellen Realität?
Viel charakteristischer für das seelische Sein, seine
Eigentümlichkeiten und Werte als die allgemeinen
Gesetzlichkeiten, in die es sich vielleicht ein-
ordnen läßt, oder die es vielleicht aufzeigt, sind
die seelische Dynamik, mit der es stromartig und
98
spontan hervorbricht, ferner seine augenblickliche
Gestalt und Gestaltung, endlich seine besonderen Lei-
stungen in der Verkörperung eines bestimmten
menschlichen Tuns. Vom Standpunkt des Allgemei-
nen und von der Vorliebe für die Einheit aus erfolgt
viel leichter eine von der Sache abgleitende Verken-
nung des Tatbestandes. Der forschende Blick des
„Richters“ (Kierkegaard) streift bei diesem Verfah-
ren viel ahnungsloser an dem, was eigentlich vorliegt
und sich begibt, vorüber als bei einer individualisie-
renden, sich von der gewalttätigen Anwendung eines
Konstruktionsschemas freihaltenden Betrachtung,
mag dieses im Sinne der alten klassischen Psychologie
deduktiv-rationalistischen oder im Sinne der mit der
Neuzeit beginnenden naturwissenschaftlichen Psy-
chologie mechanistisch-experimentellen Charakters
sein.
Aus Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden
Raum müssen wir uns hier begnügen mit einer sum-
marischen Aufzählung der Hauptrichtungen und
Hauptvertreter dieser mehr realistischen, mehr diffe-
renzierenden und individualisierenden Psychologie:
1) Die Psychologie der Romantik: Schleiermacher
(1768-—1834), Schopenhauer (1788—1860), Carus
(1789—1869), von Baader (1765—1841) u. a., die
einmal genau durchforscht und dargestellt werden
müßte; 2) die —- sehr realistische — Psychologie des
großen dänischen Religionspsychologen Sören Kier-
kegaard (1813—1855); 3) die reiche und ergiebige
Leistung der sogenannten geisteswissenschaftlichen
Psychologie. Sie setzt mit Nietzsche (1844—1900)
7*
99
und Dilthey (1833—1911) ein und hat sich nach den
verschiedensten Richtungen entwickelt. Von diesen
seien hier nur erwähnt 4) Die Psychologie der Ge-
schichtswissenschaften von Spranger, Litt usw., 5) die
soziologische Psychologie des gesellschaftlichen Le-
hens von Scheler, Mannheim, Horkheimer, Freyer.
Vierkandt usw., 6) die Charakterologie von Bahnsen
(1830—1881), Klages, Prinzhorn, Utitz, die im Ge-
gensatz zu der soziologischen Fragestellung der ge-
sellschaftswissenschaftlichen Psychologie die seeli-
schen Eigentümlichkeiten einzelner Kulturgestalten
und Kulturgruppen untersucht, und die sich in dem
von Utitz begründeten und geleiteten „Jahrbuch der
Charakterologie“ ein eigenes literarisches Organ mit
ausgezeichneten Beiträgen geschaffen hatte (erschie-
nen im ganzen sieben Bände), 7) die sogenannte Ge-
stallpsychologie von Karl Stumpf, Wolfgang Köhler,
Max Wertheimer, Kaffka u. a., deren Aufgabe und
Gegenstand in der Herausstellung der seelischen Ein-
heiten an akustischen oder optischen Phänomenen
oder an Gebilden und Vorgängen der äußeren Natur
besteht, z. B. Einheit einer Melodie als einheitliche
Gestalt im Unterschied von der Summe der einzelnen
Töne; 8) die sogenannte Tiefenpsychologie von Sieg-
mund Freud und seiner Schule mit ihrer wichtigen
Aufdeckung der Eigentümlichkeit des menschlichen
Triebsystems, des Unbewußten und der Vorgänge
in ihnen.
Verbunden sind diese Richtungen der modernen
Psychologie zunächst durch eine gewisse Gemein-
schaft oder wenigstens Verwandtschaft in ihren For-
100
schungsweisen, die sie nach Möglichkeit so gestalten,
daß sie der eigentümlichen Wirklichkeit und Wir-
kungsweise des seelischen Lebens innerlichst habhaft
zu werden vermögen. Sie sind verbunden ferner durch
die ihnen gemeinsame, sich aus jener Verwandtschaft
ergebende Ablehnung nicht bloß der mechanisch-na-
turwissenschaftlichen, sondern auch der idealistischen
Seelenauffassung und Seelenforschung. Und deshalb
sind sie die Mitveranlasser für die Krise des Idealis-
mus. Bei ihrem Streben, das Innenleben in seiner
tatsächlichen Erscheinungsweise, in seiner Gegeben-
heit aufzufassen, zu verstehen, wiederzugeben, suchen
sie, sich jeder idealistischen Normgebung und jeder
ethischen Bewertung zu enthalten, von jeder meta-
physischen Konstruktion einer Einheit der Seele und
von der Behauptung eines absoluten Ansich der Seele
abzusehen. Als dieses Ansich, als dieses Wesen gilt
ihnen vielmehr die seelische Erscheinung in ihrer er-
lehnismäßigen Darbietung und Darstellung, wie sie
sich in einem seelischen Akt oder in einem gestalte-
ten Zusammenhang von Akten rein und anschaulich
in der inneren Wahrnehmung bekundet.
Endlich äußere sich einer der allerärgsten Fehler
der „idealistischen“ Psychologie nicht nur in ihrer
erdichteten Aufstellung eines einheitlichen Wesens
der Seele, sondern ebenso sehr auch in ihrer
unwissenschaftlichen, aber fortwährend vorgenomme-
nen Beurteilung oder Verurteilung, kurz Bewertung
der seelischen Erscheinungen. Entnommen seien
diese Bewertung und die Maßstäbe, mit denen sie ar-
beitet, irgendeiner idealistischen Ethik. Ein solches
101
Vorgehen verwehre jedoch Jas ruhige, sachliche Her-
ankommen an den Tatbestand. Statt über die Phä-
nomene Auskunft zu erteilen, statt eines sachlichen
Verstehens dieser Erscheinungen tische die von einer
idealistischen Ethik abhängige idealistisch-konstruk-
tive und idealistisch-normative Psychologie Richter-
sprüche auf. Sie ziehe jede seelische Erscheinung,
im Widerspruch zu der ersten und dauernden Pflicht
jeder Wissenschaft, sofort vor ein kritisches Forum
zu obrigkeitlicher Bewertung und Entscheidung. Da-
mit aber werde die Selbständigkeit der Psychologie
als Wissenschaft preisgegeben, und diese Forschung
selber werde von Anfang an von ihrem Wege ahge-
drängt und verbogen.
c) Antiidealistische Tendenzen
in der modernen Theologie !).
1) Für die realistische Psychologie sind nun die
Mitarbeit hervorragender Theologen und Religions-
philosophen, wie die des soeben erwähnten Soren
Kierkegaard, * 2) und die angelegentliche Heranzie-
J) Vgl. Eduard Spranger, Der Kampf gegen den Idealis-
mus. Sitzungsberichte der Preuß. Akademie der Wissenschaf-
ten. Phil.-Hist. Klasse 1931. XVII. Spränget beschäftigt sich
besonders mit der Gegnerschaft, in der die moderne Theologie
vornehmlich unter Berufung auf das Christentum zum Idealis-
mus stehen zu müssen glaubt.
2) vgl. über K. folgende Werke: Vor allem Eduard Geis-
mar „Sören Kierkegaard, seine Lebensentwicklung und seine
Wirksamkeit als Schriftsteller“, Göttingen, 1929; dann Martin
102
hang gerade religiöser Erlebnisse außerordentlich
bemerkenswert. Seine Aufgabe und seine Stellung
als Seelsorger lassen den praktischen Theologen viel-
leicht am tiefsten in die menschliche Seele, in ihre
Hintergründe und Abgründe, hineinblicken; sie er-
möglichen es ihm in vielen Fällen sogar in einem
noch höheren Grade als dem Arzt, als dem Lehrer
und dem Dichter, ein Menschenkenner zu sein.
Kommt er doch in eine Berührung mit den schwer-
sten und entscheidenden Erlebnissen der Menschen.
Der theologischen Tiefenpsychologie bietet sich die
Gelegenheit, gerade hinter die „manifesten“ Erschei-
nungen des Seelenlebens zu greifen und auf die ge-
heimnisvollen, zum Teil durchaus dämonischen Kräfte
und Vorgänge in den letzten Schichten unseres Inne-
ren aufmerksam zu werden. Hat sich doch auch
Freuds Psychoanalyse neuerdings mit beachtenswer-
ter Eindringlichkeit gerade der tiefenpsychologischen
Aufhellung und Ausdeutung der religiösen Erleb-
nisse zugewendet. Diese Teile seiner Forschung könn-
ten als Beiträge zu einer „praktischen“ Theologie, zu
einer Theologie auf psychologischer (psychoanalyti-
scher) Grundlage gelten.1)
Die von dieser theologischen Psychologie oder
psychologischen Theologie erbrachten Erkenntnisse
Thnst „Sören Kierkegaard, der Dichter des Religiösen“, Mün-
chen, 1929; Walter Rulterbeck „Sören Kierkegaard, der christ-
liche Denker und sein Werk“, Berlin, 1929.
a) In Betracht kommen hier von Siegmund Freud vor al-
lem die Schriften: „Tabu und Totem“, und „Die Zukunft ei-
ner Illusion“.
103
und Aufschlüsse geben von dem menschlichen Innen-
leben, besonders auch von den Zusammenhängen, in
denen es sich aufbaut, ein völlig anderes Bild als die
alte idealistisch-rationalistische und als die natur-
wissenschaftlich-mechanistische Seelenlehre. Sie of-
fenbaren das Walten bluthaft durchglühter Strömun-
gen von iiberrationaler Dynamik, sie machen uns be-
kannt mit Urerlebnissen. Es wäre reizvoll und er-
giebig, z. B. die „Bekenntnisse“ des H. Augustinus
daraufhin zu erforschen, was in ihnen an Beiträgen
zu einer solchen tiefenpsychologischen Theologie dar-
geboten wird. Ihm sehr nahe hinsichtlich der Ehr-
lichkeit der Selbstbeobachtung und hinsichtlich der
Auswertbarkeit der Funde steht Kierkegaard, zeitle-
bens ein entschiedener Gegner Hegels und der von
Hegel vertretenen idealistischen Rechtfertigung der
Kultur, jener Kulturbejahung, die schließlich auf eine
optimistische und humanistische Geschichtsverklä-
rung hinausläuft. Der dänische Theologe und Psy-
chologe kennt und schildert die furchtbaren seelischen
Erschütterungen, die Schuld-, Verzweiflungs- und
Sündengefühle, die metaphysische Lebensangst, die
uns, zumal der unendlichen Erhabenheit Gottes ge-
genüber, in „Furcht und Zittern“ (dies der Titel eines
Buches von K.) versetzt. Und auf diesen Gefühlen
und der durch sie verursachten Qual beruhe das Chri-
stentum. Von ihm besitzt Kierkegaard eine andere
Vorstellung, und von ihm erweckt er eine andere Vor-
stellung, als es die übliche, alles mildernde, alles in
das Licht der Versöhnung rückende, die Furchtbar-
keit des religiösen Erlebens verklärende offizielle
104
Theologie tut. Sie ist deshalb auch keine „existen-
tielle“ Theologie, wie die ältere Psychologie keine
„existentielle“ Psychologie war. Denn beide sprachen
nicht wirklich, nicht unumwunden von dem „Wesen“
der Sache, nicht von dem. was wirklich vorliegt.
Dieser Wendung zu einer antiidealislischen, zu
einer existentialistischen Betrachtung und Behand-
lung der Phänomene *) wohnt an sich ein hoher Wert
inne. Sie ist ferner wegen ihrer geistesgeschichtlichen
Auswirkung, wegen ihrer anregenden Bedeutung von
großer Wichtigkeit für die antiidealistische Existenz-
philosophie von Heidegger, Jaspers u. a. Deshalb
müssen wir ihr hier einige besondere Worte widmen.
ln doppelter Beziehung unterscheidet sich diese
„existentialistische“ Seelenanalyse und Theologie von
der üblichen, gerade durch Kierkegaard ah unzuläng-
lich aufgedeckten Beschäftigung mit den in Betracht
kommenden Erscheinungen. Einmal nämlich ist ihre
üntersuchungsart himmelweit verschieden von derje-
nigen der Assoziationspsychologie, die zu Kierke-
gaards Zeit, also um die Mitte des vergangenen Jahr-
hunderts, und dann noch ein paar Jahrzehnte darnach
als die eigentlich anerkannte, offizielle und allein uni-
versitätsreife Seelenforschung galt. Kierkegaard
blickt unmittelbar hinein in die Tiefen und Untie-
fen unseres Innern. Wahrhaft seelisch ist ihm nicht
*) vgl. Arnold Gehlen „Idealismus und Existentialphilo-
sophie“ (Vortrag), Leipzig 1933 und Johannes Pfeiffer „Exi-
stenzphilosophie. Eine Einführung in Heidegger und Jas-
pers“, Leipzig 1933.
105
das — vielleicht vorhandene, jedenfalls sehr — dünne
Netzwerk halbwegs gesetzmäßiger Beziehungen, auf
das die Assoziationspsychologie vorherrschend den
Blick gerichtet hielt. Das eigentlich Seelische ist all das
Dunkele und Geheimnisvolle, Schwebende und Trei-
bende, Dämonische und Irrationale, was sich da in
unserem Innern in einem fortwährend erregten und
erregenden Spiel begibt. Nach den großen Psycholo-
gen der Romantik (vgl. oben S. 99) ist es Kierkegaard
gewesen, der wieder in die Unheimlichkeit des mensch-
lichen Innenlebens hineinsah, ja, der diese Unheim-
lichkeiten überhaupt wieder sah.
Doch noch in einer anderen Beziehung unter-
scheiden sich Kierkegaard und die von ihm beein-
flußte Denkrichtung wesentlich von den Vertretern
der offiziellen und überlieferten Theologie und Psy-
chologie. Dort obwaltet nämlich ein besonderes Ver-
hältnis zu den seelischen und vor allem zu den reli-
giösen Erscheinungen. Das heißt: Kierkegaard steht
als Theologe und Psychologe nicht außerhalb dieser
Phänomene; er spricht über sie nicht, als wären sie
von ihm unabhängige Gegenstände. Er nimmt m. a.
W. ihnen gegenüber keine Reflexionshaltung ein, als
gehörten sie eigentlich und innerlich nicht zu ihm,
als bildeten und bestimmten sie nicht einen Teil sei-
ner Existenz. Er denkt existentiell, d. h. er stellt sei-
ne theologischen und psychologischen Untersuchun-
gen mitten aus der theologischen und psychologi-
schen Situation heraus an. Er weiß die behandelten
Phänomene in sich lebendig, und so erfaßt er sie aus
seinem eigenen Sein heraus. Deshalb lebt in
106
seinen vielbeachteten religionspsychologischen Be-
trachtungen die Wirklichkeit dieser Phänomene,
er nimmt sie in einem „existentiellen“ Sinne, und
seine Untersuchungen üben auch auf den Leser eine
solche „existentielle“ Wirkung.
Bei Kierkegaard wird also nicht aus der kühlen
Zone der Betrachtung und nicht in der Haltung einer
reinen Schau, einer reinen Theorie über das Phäno-
men der Angst, der religiösen Ehrfurcht, über das
tiefe Grauen, in dem der Fromme sich seinem Gotte
gegenüber befindet, und über die anderen religiösen
Erlebnisse philosophiert. Dem einzigartigen onti-
schen Wert der Religion muß von der Seite des Men-
schen her ein entsprechendes Erfassen oder Erfassen-
wollen zur Seite gehen. Hier handelt es sich um den
durch Franz Brentano hervorgehobenen und aus der
modernen Phänomenologie bekannten Akt der Aner-
kennung eines Sachverhaltes, aber um eine Anerken-
nung weit, weit hinaus über den Umkreis einer bloß
gedanklichen und theoretischen Zustimmung. Der
Betrachtende steht viel mehr unter der Macht des
Phänomens. Was das bedeutet, und wie gewaltig
diese Macht ist, wird sofort klar, sobald man nur
daran denkt, daß es sich um nichts weniger als um die
Verwirklichung Gottes im Innern des Menschen, also
um die Verwirklichung der schlechthin absoluten
Macht und des stärksten Erlebnisses handelt.
2) Diese heiße realistische Tendenz zur Erfassung
der religiösen Wirklichkeit und das innere und inner-
liche Wissen um die Wucht dieser Wirklichkeit, ja.
107
da» Sicheinsetzen für diese Realität lassen jede Art
von idealistischer Auffassung der Wirklichkeit Gottes
als den unerträglichen Zug zu ihrer Versuhjektivie-
rung empfinden und mit Heftigkeit ablehnen. Der
„Geist“, von dem der Idealismus spricht, und den er
als den Schöpfer und Träger der Wirklichkeit an-
sieht, erscheint als unzulänglich, wenn es sich darum
handelt, die absolute Wirklichkeit Gottes zu begrün-
den und zu erklären. Diese Absolutheit bedarf doch
keiner „Begründung“ durch den „Geist“, am wenig-
sten dann, wenn es ein „bloß“ philosophischer Geist
und bloß der Geist der Philosophie ist. dem diese Be-
gründung zugebilligt wird, und der diese Begründung
versucht oder vornimmt. Wird ferner gar Gott mit
diesem Geiste gleichgeselzt, so erscheint diese Identi-
fizierung als das geradezu lästerliche Bemühen einer
Verminderung der göttlichen Allmacht, Denn Gott
ist mehr als nur Geist. Er ist mehr als alles, was wir
von ihm wissen und ihm zuschreiben können, ln
diesem bis aufs Äußerste realistisch gemeinten Sinn
versteht diese Psychologie und Theologie den Begriff
Gottes.
Von hier aus wird die Ablehnung des Idealismus
als einer Form des Subjektivismus begreiflich, wenn-
gleich nicht gerechtfertigt. Kierkegaard und die sich
zum Teil auf ihn berufende und stützende dialektische
Theologie (Karl Barth, Friedrich Gegarten, Emil
Brunner u. a.) verwerfen den Idealismus, weil er nach
ihrer Ansicht den ganzen Bau der Welt und vor allem
die erhabene Wirklichkeit der Religion und Gottes
auf den von ihnen subjektivistisch gedeuteten Geist
108
gründe und von dieser Grundlage aus Gott und Welt
und Mensch zu einem unmöglichen und unerträgli-
chen Monismus verbinde. Gewiß liegt hier ein außer-
ordentliches Mißverständnis vor. Von solchen Miß-
verständnissen ist übrigens die ganze Geschichte des
Idealismus in bemerkenswerter Weise begleitet. Aber
Mißverständnis hin, Mißverständnis her: Jene Ausle-
gung hat, so irrig sie ist, der Geltung des Idealismus ei-
nen schweren Stoß versetzt, und sie gehört dem Kreise
derjenigen Motive an, die zur Entstehung der über
ihn hereingebrochenen Krise beigetragen haben. Aus
der Gruppe dieser Motive haben wir somit ein neues
Glied kennengelernt.
Diesem Vorgang vermögen wir jedoch noch eine
andere Erkenntnis zu entnehmen. Mißverständnisse
spielen oft eine wichtige geschichtliche Rolle. Und es
wäre reizvoll, das geschichtliche Leben einmal auf
die in ihm auftretenden und sich zu geschichtlicher
Wirksamkeit entfaltenden Mißverständnisse hin ins
Auge zu fassen. Dabei mag es in dem vorliegenden
Falle unerörtert bleiben, ob solche Mißverständnisse
bedrohlicher oder förderlicher Natur sind, und ob
nicht bestimmte und recht triftige Gründe dafür vor-
liegen, daß gerade das theologische Denken derartige
„Mißverständnisse44 dem Idealismus gegenüber bege-
hen und sich den Schrittmachern der Opposition ge-
gen ihn beigesellen muß. Von einem gewissen Stand-
punkt aus gibt es sozusagen objektiv notwendige Miß-
verständnisse, bei denen nicht von einer Schuld oder
von einer intellektuellen Unzulänglichkeit die Rede
sein kann. Zu denjenigen Begriffen und Problemen,
109
die seitens der Theologie derartigen Mißverständnis-
sen vor allem ausgesetzt sind, gehören der philoso-
phische Begriff und das philosophische Problem des
Geistes. Und zwar besonders dann, wenn dieser Be-
griff, wie es in dem gegenwärtigen Zusammenhänge
der Fall ist, in eine Beziehung zu dem Begriff und
Wesen Gottes gebracht wird. Der Theologe und der
religiöse Mensch verstehen unter dem Begriff des
(göttlichen) Geistes etwas anderes als der Philosoph
bzw. die Philosophie. Während die Philosophie näm-
lich mehr oder minder zu seiner spiritualistischen
und intellektualistischen Auffassung und Auslegung
neigt, liegt hei der Theologie die begreifliche und not-
wendige Tendenz zu seiner mehr massiven, nach der
sinnlich-anschaulichen Seite entwickelten Auffassung
vor. Diese Tendenz geht schließlich bis zu einer förm-
lichen Gestaltgebung und Personifikation des Gottes-
gedankens, bis zu seiner Umsetzung nicht nur in eine
Vorstellung, sondern in eine irgendwie menschenähn-
liche Einzelwirklichkeit im Sinne eines künstlerischen
Bildes vom Wesen des Schöpfers.
Maßgebend für diese theologische Gesinnung und
Denkart ist ein sehr viel engeres Haften an der Reali-
tät, als das bei der idealistischen Philosophie der Fall
ist. Und daraus erklären sich schon zur Genüge die
zwischen ihnen herrschende Spannung und die zwi-
schen ihnen waltende grundsätzliche Unverträglich-
keit. Theologisches und philosophisches Denken ste-
hen sich in vielen Beziehungen so fern, daß sich dar-
aus zum Teil auch die Wirkungslosigkeit derjenigen
„Widerlegungen“ ergibt, mit denen sie sich gegensei-
110
lig ihr Recht und die Ergebnisse ihrer Forschungen
zu entkräften suchen. Das theologische Denken trägt
in sich die Züge des Ontologismus, d. h. die Neigung
und die Verpflichtung zu einer apriorischen Anerken-
nung des Seins. Es ist auf das Sein festgelegt, u. z. um-
somehr als es sich bei ihm ja um das unbedingte und
alles, somit auch dieses theologische Denken umfas-
sende, einschließende, überragende Sein Gottes han-
delt. Nichts kann und darf das theologische Bewußt-
sein weniger zulassen und weniger ertragen als den
Versuch oder die Absicht, jenes absolute Sein irgend-
wie einer — philosophischen — Begründung und
Rechtfertigung zu unterwerfen.
Aber gerade solche, eben kritischen Züge trägt
nun das philosophische Denken in sich. Ohne sie
fehlt ihm seine Eigenart und sein Wert, In ihnen
und durch sie besitzt und betätigt es seine Autonomie.
Indem es nun aber von dieser Grundlage aus auch oder
sogar die Absolutheit Gottes und den in dieser Abso-
lutheit ruhenden Anspruch auf unbedingte Anerken-
nung auf ihr Recht zu untersuchen und zu beglaubi-
gen unternimmt, macht es sich, so empfindet und ur-
teilt das theologische Denken, einer sträflichen Über-
hebung schuldig. Es sieht so aus, als mißtraue es je-
ner Unbedingtheit und ihrem Anspruch auf schlecht-
hinnige Geltung, als müßten sie erst bei der Philoso-
phie nach ihrer Beglaubigung anfragen. Das theolo-
gische Denken verneint dem philosophischen Kriti-
zismus die Möglichkeit und die Macht, sich zum Herrn
und Richter über das Sein zu erklären. Es sagt so:
Erst ist Gott in der Allmacht seiner Realität und in
111
der Realität seiner Allmacht, und erat dann kann und
darf das philosophische Denken sich an ihm versu-
chen, jedoch versuchen nur nach Maßgabe der ihm
von der göttlichen Allmacht zugestandenen und ge-
schenkten Kräfte und Rechte. Nicht das Denken,
sondern Gott ist autonom. Von dieser autoritären
Autonomie sei das philosophische Denken, auch das-
jenige in der idealistischen Prägung abhängig. Wenn
der Idealismus behauptet: Der Geist allein ist frei
und allmächtig, dann widerspricht die Theologie mit
Entschiedenheit dieser Erklärung und den aus ihr
gezogenen Folgerungen mit der realistischen Gegen-
entscheidung: Nein, Gott allein eignet Freiheit und
Allmacht.
Diese Spannung zwischen dem Realismus des theo-
logischen und dem Idealismus des philosophischen
Denkens kann auch nicht aus der Welt geschafft wer-
den durch die Einnahme eines dritten Standpunktes,
desjenigen Standpunktes nämlich, von dem aus die
Behauptung vertreten wird, Gott sei doch eben der
absolute Geist, und der absolute Geist sei Gott. Ein
derartiger Harmonismus verheimlicht und verschleiert
die hier vorliegende Dialektik. Denn wenn von dem
philosophischen Idealismus der für ihn notwendige
Versuch gemacht wird, den Sinn jener Übereinstim-
mung von Gott und von Geist aufzuhellen, zu begrün-
den und innerhalb eines philosophischen Systems dar-
zustellen (z. B. in den sogenannten Identitätssyste-
men wie von Schelling u. a.), dann verrät für die
religiöse Einstellung und das theo-
logisch-dogmatische Denken der Idealis-
112
mus gerade durch ein solches Unlernehmen seinen
unreligiösen Selbständigkeitsdrang und seine anthro-
pozentrisch-kritische Überheblichkeit. Man mag die-
ses Verhältnis drehen und wenden wie immer: Die
Schärfe des zwischen ihnen herrschenden fundamen-
talen Gegensatzes läßt sich durch kein Ausgleichshe-
mühen entkräften. Der theologische Realismus, auch
der, der in einer idealistischen Form auftritt, erfaßt
und versteht das Erkennen und das Sein von Gott aus.
Er ist theozentrisch und radikal absolutistisch. Der
philosophische Idealismus, selbst der, der nach der
realistischen Seite geartet ist, oder besser: geartet zu
sein scheint, ergreift und begründet das Erkennen
und das Sein von der Kraft des Denkens aus. Er
beruht auf der Freiheit der Kritik und auf der Kri-
tik, die durch die Freiheit gesichert ist. Er ist logo-
zentrisch und trägt einen anthropozentrischen Ein-
schlag in sich.
Die moderne Theologie ist nach Hegels Tode und
durch die Entfernung von dem Standpunkt des in
Hegel zur Vollendung gelangten spekulativen Har-
monismus mit seiner Versöhnungstendenz von Glau-
ben und Wissen, Gott und Denken zur Einsicht in die
Stärke jener Spannung gelangt, die nun einmal zwi-
schen dem die Gewalt der Realität anerkennenden
Zuge des theologischen Denkens und dem die Wucht
und Massigkeit des Seins kritisierenden Zuge des
Idealismus obwaltet. Ein Ausdruck und ein Ergebnis
dieser Entwicklung ist die Entstehung der sogenann-
ten dialektischen Theologie, die in Kierkegaard einen
ihrer Begründer besitzt. Vor die Entscheidung bei
8 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus,
113
der Wahl zwischen der rcalistisch-theozentrischen
und der logozentrischen, der autoritären und der au-
tonomistischen Grundhaltung gestellt, kann und wird
die Theologie keinen Augenblick im Zweifel darüber
sein, welche Form der Einstellung und welches Be-
kenntnis für sie in Betracht kommen.
d) Antiidealistische Tendenzen
in der modernen Pädagogik.
Der Entstehung und Ausbildung einer realistischen
oder „existentialistischen“ Psychologie und Theologie
geht die Schöpfung und Ausbreitung einer realisti-
schen oder, wie sinngemäß gesagt worden ist, einer
„existentiellen Pädagogik“1) zur Seite. Die Betrach-
tung dieser Richtung und Form der Erziehungslehre
ist für unsere Zwecke deshalb besonders wichtig, weil
für die Begründung dieser realistischen Systembildun-
gen der Pädagogik sehr klar und eindrucksvoll alle
diejenigen Motive herangeholt und ausgewertet wer-
den, die überhaupt die Voraussetzungen und die
Triebkräfte für die allgemeine Wendung zum Realis-
mus und zum Existentialismus darstellen. Die Erfas-
sung und Erkenntnis der Wirklichkeit, sei es die
Wirklichkeit des Lebens und der Geschichte oder die,
auf die wir im Augenblick den Blick richten, des
Kindes erfolgt a) unter individualpsychologischem,
b) unter sozialpsychologischem oder soziologischem.
') vgl. Fritz Heinemann „Neue Wege der Philosophie“,
1929, S. 407 f. Für den Hinweis vgl. Peter Petersen „Pä-
dagogik“, Berlin 1932, S. 114.
114
c) unter biologischem Gesichtspunkt. Psychologie,
Soziologie und Biologie bilden im engen Verein mit-
einander diejenigen „realistischen“ Wissensgebiete,
die kraft ihrer Verfahrungsweisen und auf Grund
ihrer Ergebnisse dem für die Geisteshaltung der Ge-
genwart charakteristischen Zuge zum Realismus die
wissenschaftliche Grundlage und Beglaubigung geben.
Indem die Pädagogik gleichfalls diese Wissen-
schaften heranzieht und auswertet, hat sie sich in der
Tat zu einer ihres Realismus bewußten und auf ihn
stolzen, neuartigen Erziehungslehre entwickelt. Sie
läßt uns das Kind anders, d. h. viel konkreter und in
seiner singulären Existenz viel bestimmter und deut-
licher und viel unabhängiger von allgemeinen ratio-
nalen oder moralischen Konstruktionen sehen als die
ältere mehr idealistische Erziehungslehre. Zu den
Führern dieser realistischen Pädagogik gehört vor
allem Peter Petersen. Auf sein ausgezeichnetes Buch
„Pädagogik“ sei hier mit Empfehlung hingewie-
sen. *) Eine Weiterführung nach der praktisch-kon-
kreten und technischen Seite unternimmt Petersen
u. a, in seinem sogenannten „Jena-Plan“, einer Aua-
gangsform für die neue deutsche Schule.* 2) Von den
Vertretern dieser realistischen Pädagogik seien noch
erwähnt Friedrich Delekat, Helmut Schreiner und
*) Erschienen Berlin 1929 in der von mir berausgegebenen
Sammlung „Die Philosophischen Hauptgebiete in Grund-
rissen“ Verlag Mittler & Sohn.
2) vgl. die Zeitschrift „Die Erziehung“, 10. Jahrgang, 1934.
Heft 1, S. 1 ff.
S*
115
Lud wie Heitmann.1) Ihre Ahnherren erblickt diese
Richtung in Martin Luther und in Johann Heinrich
Pestalozzi. Allerdings nicht mit vollem Recht. Denn
hei Luther ist die Mitwirkung dogmatisch-theologi-
scher Konstruktionselemente ebensowenig zu verken-
nen, wie bei Pestalozzi ein Einfluß der moralistisch-
rationalistischen Äufklärungsphilosophie des 18. Jahr-
hunderts mit ihrem edlen und erzieherisch so bedeu-
tungsvollen Glauben an die unbedingte Vervollkomm-
nungsfähigkeit und den unentwegten Vervollkomm-
nungswillen des Menschen. Bei ihm befinden sich
idealistische und realistische Züge in einer beachtens-
werten und aus seiner doppelseitig unterbauten Stel-
lung im Geistesleben begreiflichen Mischung. Wenn
Pestalozzis erste Frage immer lautet, wie Petersen
treffend formuliert: „Was ist und wer ist der Mensch,
was ist die Bestimmung des Menschengeschlechts,
welche Bedürfnisse seiner Natur müssen gekannt, be-
achtet und gepflegt werden, damit er darauf den Ge-
nuß und den Segen seines Lebens bauen kann?“-),
dann ist deutlich, wie schon hier in der Grundhaltung
und in der Ausgangsstellung realistisch-positivistische
Betrachtungen und idealistisch-normative Forderun-
gen und Erwartungen miteinander verwoben sind.
Denn der erste und der dritte Teil der Frage bekun-
den klar den realistisch-positivistischen Zug in Pesta-
lozzi. Der Mittelteil, die Frage nach der „Bestim-
mung des Menschengeschlechts“, bezieht sich dagegen
x) vgl. Peter Petersen a. a. O. S. 113 ff.
*) Petersen S. 102.
116
nicht bloß auf die Verwirklichung der sinnlichen, auf
irdisches Glück und Wohlergehen und auf soziale
Besserung gerichteten Wünsche, sondern er gilt in
erster Linie der sittlichen Veredelung der Menschen-
natur durch Erfüllung seiner Pflicht, er gilt der Ge-
winnung und Hochhaltung der moralischen Würde
im Kantisch-Fichteschen Sinne.
Allerdings verlieren von da an jene idealistischen
Züge immer mehr ihre Geltung, während die realisti-
schen Einschläge zunehmen. Diese Entwicklung
steht in Übereinstimmung mit dem ansteigenden all-
gemeinen Realismus nach dem Hinscheiden Hegels
(1831) und mit der außerordentlich intensiven Erwei-
terung des Erfahrungsfcldes und seiner vertausend-
fachten Beachtung. Die Pädagogen des 18. Jahrhun-
derts huldigten einer mystisch-romantischen Verherr-
lichung des Kindes; sie waren inbezug auf die Ent-
wicklungsfähigkeiten des Kindes von einem grenzen-
losen Optimismus erfüllt. Und von dieser Beurtei-
lung aus erhoben sie den Glauben an die Erreichung
eines mindestens moralischen Vollkommenheitszu-
slandes zum Hauptmotiv ihrer Tätigkeit. Im Gegen-
satz dazu trat von dem zweiten Drittel des 19. Jahr-
hunderts an die Beachtung des Kindes in seinem tat-
sächlichen Wesen und Verhalten immer mehr in den
Vordergrund. Die biologische Erforschung der kör-
perlichen Beschaffenheit des Kindes, die psychologi-
sche Untersuchung seines Innenlebens, die soziologi-
sche Erforschung der gesellschaftlichen Umstände, un-
ter denen es aufwächst, führten natürlicher- und be-
greiflicherweise zu einer „Desillusionierung der päda-
117
gogischen Welt'“1) und damit zu einer sehr be-
trächtlichen Entfernung von jeder Art von idealisti-
scher Auffassung. Ihr hängen, wenn wir die führen-
den Pädagogen des späteren 19. Jahrhunderts ins Auge
fassen, eigentlich nur wenige Vertreter an, von denen
wir nur Otto Willmanu, Wilhelm Rein, vor allem Paul
Natorp und schließlich Georg Kerschensteiner nen-
nen. So bedeutende und angesehene Pädagogen wie
Eduard Spranger und Theodor Litt behalten zwar
einerseits den Idealismus noch bei, aber doch in einer
etwas gedämpften Form und in der Gestalt von An-
lehnungen, andererseits tragen sie dem realistischen
Zeitgeist Rechnung, sie durchsetzen also den Idealis-
mus mit starken psychologischen und mit geschicht-
lichen und gesellschaftswissenschaftlichen Betrach-
tungen und aus ihnen sich ergebenden Anweisungen.
Auf zwei geistesgeschichtlicb bemerkenswerte Fol-
gen dieser Entwickelung sei noch aufmerksam ge-
macht. Die erste Folge zeigt sich in einer bezeichnen-
den Änderung desjenigen Grundes, von dem aus in der
Gegenwart die erzieherischen Gebote aufgestellt wer-
den. Diese Forderungen werden nämlich nicht mehr
im Namen einer unbedingten religiös-kirchlichen Vor-
schrift erhoben, um dem Leben allmählich eine reli-
giöse Weihe. Verklärung, Erlösung zu verschaffen. Sie
entstammen aber auch nicht mehr den apriorischen
Geboten einer unbedingten Vernunft, d. h. sie haben
weder eine irrational-mystische Quelle in dem Willen
Gottes, noch eine logische Quelle. Sie ergehen viel-
1) Petersen S. 113.
118
mehr im Namen des wirklichen Lebens und unter
Berufung auf die natürlichen Kräfte des Menschen,
auf sein Recht zum Leben und zum Sichausleben.
Eine andere, eine „höhere“ Beglaubigung als dieje-
nige aus dem vornehmlich biologisch und nicht mora-
lisch verstandenen Willen zum Leben wird weder
gesucht, noch für nötig gehalten. In dieser unver-
kennbar naturalistischen, also realistischen Entwick-
lung offenbart sich der gewaltige Einfluß Friedrich
Nietzsches auf das ganze Geistesleben seit dem letz-
ten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, sowie die
Macht der sogen. Lebensphilosophie, die ja in Nietz-
sche einen ihrer Hauptträger hat. Seine außeror-
dentliche Bedeutung für dieses Geistesleben läßt sich
fast am deutlichsten gerade aus seiner tiefen Einwir-
kung auf die Erziehungswissenschaft und auf die Er-
ziehung ersehen.
Die zweite, nicht weniger eingreifende Folge
äußert sich in der Entstehung einer Unstimmigkeit
zwischen dem Geistesleben unserer Zeit und seinen ge-
schichtlichen und moralischen Voraussetzungen.
Diese Unstimmigkeit, dieser Widerspruch müßte ein-
mal umfassender beleuchtet und in seiner Notwen-
digkeit eingehender abgewogen werden, als wir es in
dem Zusammenhang der vorliegenden Betrachtung zu
tun vermögen.
Worum handelt es sich? In unserem Verhalten
sowohl zu uns selbst als auch gegenüber unserer Ver-
gangenheit hat nämlich eine tiefe Unwahrheit und
Unechtheit Platz gegriffen. Sie muß jeder empfinden,
und unter ihr muß jeder leiden, der die Grundlagen
119
unserer geistig-geschichtlichen Existenz kennt unii
außerdem auch imstande ist, sie offen und vorbehalts-
los zu würdigen.
Auf der einen Seite stützt sich unsere geschicht-
lich-sittliche Existenz auf diejenige geistige Macht
und Schicht, die wir kurz als das Zeitalter des deut-
schen Idealismus zu bezeichnen pflegen. Und zahl-
reiche und wesentliche Kräfte in unserer Bildung ha-
ben uns zur Verehrung für dieses Zeitalter und für
die Stimmung des Humanismus, von der es getragen
und durchweht ist und auf der eines der Momente
seiner unvergleichlichen Größe beruht, erzogen. Es
bedarf nur eines Hinweises auf die Mitarbeit an der
Entstehung jener Verehrung durch die höhere Schule
und durch die Universität. Ist aber diese Hochach-
tung wirklich zu einer substantiellen und existentiel-
len Bedeutung für unser Denken und Tun geworden?
Ist sie mehr als eine traditionelle Geste? Männer
von so starkem Einfluß auf die allgemeine Entwick-
lung der Kultur wie Ludwig Feuerbach, Arthur Scho-
penhauer, Friedrich Nietzsche, ferner die Leiter des
theoretischen und des praktischen Sozialismus sparen
nicht mit oft reichlich kräftigen Äußerungen der
Kritik und der Ablehnung des Idealismus. Wohl
sind solche Urteile über ihn beinahe ausnahmslos un-
gerecht, sie sind die unverkennbaren Zeugnisse von
Mißverständnissen, die fast immer unter dem Druck
polemisch-demagogischer und auch wohl politischer
Absichten zustande gekommen sind. 1 ) Aber was wir
1) vgl. Paul Ernst, Der Zusammenbruch des Deutschen
Idealismus. 1931, München.
120
üben über jene Mißverständnisse gesagt haben, die
von Seiten der Theologie dem Idealismus gegenüber
begangen zu werden pflegen (vgl. S. 111 ff.), das paßt
auch für unseren Fall.
Durch den Eindruck, den jene ..Mißverständnisse'"
hervorriefen, verminderte sich die seelische und gei-
stige Beziehung der Zeit zum Idealismus. Die Ab-
wanderung von ihm bildet eines der wichtigsten
Kapitel in der Bildungsgeschichte des vergangenen
und des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unserer Beru-
fung auf ihn wohnt neben einer gewissen Prahlerei
mit unserer Kenntnis seines Wesens eine typische Un-
aufrichtigkeit inne. Denn wir führen die Hochach-
tung vor ihm eigentlich nur im Munde. In Wahrheit
überschreitet sie, sobald wir einmal unser wirkliches
Handeln prüfen, nicht den engen Rahmen einer im
Grunde doch nur akademisch-platonischen Bezie-
hung. Die tatsächlichen und konkreten Richtschnu-
ren für unser Tun, ja, schon für unser Denken und
für die Art unseres Urteilens über die Welt und den
Menschen pflegen wir kaum noch demjenigen Gei-
stesgut zu entnehmen, das in den Leistungen Lessings
und Kants, Herders und Wilhelm von Humboldts,
Schleiermachers, Goethes und Schillers vorliegt. Sie
entstammen solchen Quellen, die von unserer klas-
sisch-idealistischen Kultur recht weit abliegen. Wir
lieben es, jene Männer als unsere „Geistesführer“ zu
bezeichnen. Dabei handelt es sich beinahe aus-
schließlich um eine formale und gewohnheitsmäßige
Huldigung. Sie berührt doppelt peinlich angesichts
der Freiheit und Lauterkeit derjenigen Persönlichkei-
121
len, die mit einer solchen „Anerkennung“ bedacht
werden.
Gewiß ist die Entfernung von dem Standpunkt
und von der Gesinnungsweise unseres idealistischen
Zeitalters eine geschichtliche Notwendigkeit. Sobald
aber diese Einsicht wach geworden ist, dann soll man
ihr auch ehrlich Ausdruck geben. Geschieht das, dann
gelangt eine der tiefen dialektischen Spannungen
zum Vorschein, an denen das deutsche Geistesleben
übervoll ist. Und weil jener Widerspruch zwischen
dem platonischen Ansehen unserer geistigen Ahnen
und der tatsächlichen Gestaltung unseres Lebens nun
einmal aufgebrochen ist, erweist sich auch unter dem
Gesichtspunkt unserer Bildung und Erziehung die-
jenige Krise als begreiflich, die sich des Idealismus
bemächtigt hat.
e) Antiidealixtische Tendenzen
in der modernen Geschichtsschreibung.
I) Durch das Denken und das Handeln großer
Persönlichkeiten werden das Wesen und die Umwäl-
zungen der Zeitalter am deutlichsten offenbart. Schon
in Georg Wilh. Friedrich Hegel beginnt die Wendung
von der idealistischen Spekulation zur realistischen
und empirischen Forschung sich für den Bereich der
Philosophie vorzubereiten und zu verkörpern*).
Dann veranschaulicht und belegt Ranke bezüglich des
1) vgl. mein Buch „Die geistige Krisis der Gegenwart“
3. Anfl. Berlin 1924 S. 54 ff„ 63 ff- 66 ff„ 88 ff. u. ö.
122
Gebiete» der allgemeinen und der politischen Ge-
schichtsschreibung den allmählichen Übergang von
der spekulativen und konstruktiven Schau des ge-
schichtlichen Werdens, einer Schau, die ganz der
Philosophie unterstellt war, hin zur konkreten und
sich an die Quellen und an die in ihnen aufgezeich-
nelen Erfahrungsbestände haltenden, also unver-
blendeten, den Tatsachen hart und mutig ins Auge
sehenden realistischen Erkenntnis der geschichtli-
chen Gegebenheiten. Jener Übergang hat seinen
Abschluß aber noch nicht erreicht. Die restlose
Erfüllung und Durchdringung der geschichtlichen
Forschung mit einem vollständig realistischen Geist
und einer uneingeschränkt realistischen Forschungs-
weise befindet sich erst auf dem Wege zur Erreichung
ihrer Absicht. Der Charakter dieser noch nicht zu
ihrem Ziele gelangten Bewegung zeigt sich in lehr-
reicher Weise in dem unaufhörlichen Bemühen der
geschichtlichen Forschung um Abstreifung jedes ge-
schichtsphilosophischen Konstruktionschemas und
um Gewinnung ihrer vollen wissenschaftlichen Selb-
ständigkeit, d. h. um die Begründung ihrer Untersu-
chung auf eigene und für sie bezeichnende Prinzipien
und Methoden. Es wäre natürlich eine Frage, die
nicht ohne weiteres zu bejahen ist, ob der Geschichts-
wissenschaft das vollständige Gelingen dieser Bemü-
hung zu wünschen und ob dieses Gelingen für sie von
Vorteil wäre. Das Ergebnis wäre schließlich nichts
anderes als die Befreiung von jeder Form einer Welt-
anschauung oder, anders ausgedrückt, nichts weiter
als die einfache, nichtssagende positivistische Fest-
123
Stellung und Beschreibung des Tatbestandes und die
irgendwie verständlich gemachte Verknüpfung der
Glieder dieses Tatbestandes untereinander.
Aber wir haben hier die Möglichkeit, das Hecht
und endlich das Ende einer solchen Entwicklung noch
nicht nachzuprüfen, sondern ihre Absicht und ihre
Hauptlinie ins Auge zu fassen. Und da gewahren wir
nun eben jenen positivistischen und realistischen Zug.
Denn die Hücksichtsnahme auf die zu erkennenden
Tatsachen verwehrt jede Verwendung einer weltan-
schaulich-philosophischen Einstellung und Auffas-
sung und verurteilt sie als Schädigung der wissen-
schaftlichen Objektivität, als subjektivistische Ver-
drehung des Sachverhaltes und der Sachlichkeit. Die
Abhängigkeit etwa von dem humanistischen oder von
dem kirchlichen Weltbilde oder von irgendeinem spe-
ziellen philosophischen System stört nach der Über-
zeugung führender Historiker die Freiheit der For-
schung. Sie gilt als das Zeichen dogmatischer Vor-
eingenommenheit und als das Zeugnis der Bindung
an eine der Untersuchung vorhergehende und die
Selbständigkeit der Untersuchung fesselnde Speku-
lation.
Nun wird es schwerlich genau zu erkunden sein,
wann die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts
und diejenige der Gegenwart sich wirklich von jeder
Bezugnahme auf eine „Dogmatik4* abgelöst hat, und
ob sie dazu überhaupt im Stande ist. Nur die eine
Behauptung läßt sich mit einer gewissen Sicherheit
aussprechen: Durch und seit Ranke ist in den Ge-
schichtsforschern das Bewußtsein einer liefen Un-
124
stimmigkeit wach geworden zwischen der von der
Achtung auf die Tatsachen geleiteten, also empiri-
schen und positivistischen Forschung auf der einen
Seite und der religiösen und kirchlichen oder philo-
sophisch-metaphysischen Überzeugung von der Füh-
rung des Geschehens durch einen göttlichen Willen
oder durch ewige Vernunftideen auf der anderen
Seite. Zwar lebt in den großen Historikern das — mo-
ralische und religiöse — Bedürfnis, beide Formen der
Betrachtung miteinander zu verbinden. Das zeigt
sich nach dem Urteil Friedrich Meineckes z. B. ganz
deutlich bei Johann Gustav Droysen. „Empirisch zu
forschen und an Gottes Leitung der Geschichte zu
glauben, war und blieb bis zuletzt, wie die Briefe be-
weisen, der Wille Droysens. Es war bei Banke nicht
anders.“ Es ist gewiß richtig, wenn Meinecke er-
klärt, daß Rankes und Droysens Glaube an einen per-
sönlichen Gott ihrer Wissenschaftlichkeit zustatten
kamen, weil sie „mit dem sicheren Tröste einer Auf-
lösung aller Well- und Forschungsrätsel in Gott“ ihre
geschichtlichen Studien trieben. *■) Doch wenn dann
von einer „Symbiose von Glauben und Wissenschaft“
die Rede ist, dann meldet sich die Frage, ob für den
Historiker nicht die Möglichkeit oder gar die Gewiß-
heit jener Eintracht, mag sie glaubensmäßig noch so
fest unterbaut sein, zuletzt doch vor der erschüttern-
den Erkenntnis der tragischen Spannung zwischen
dem wirklichen Geschehen und der Führung durch
l) Friedrich Meinecke „Staat und Persönlichkeit“, Berlin
1933 S. 112.
125
eine heilige göttliche Macht bezw. durch vernünftige
Ideen wankend werden und schließlich zerbrechen
muß. Denn die aachgebundene induktive Forschung
vermittelt uns allerorten ein Wissen um Erscheinungen
und Bewegungen, die in der Jähheit ihres Hervorbre-
chens und in der Roheit und Gewalttätigkeit, mit
der sie sich durchsetzen, den Gesetzen einer sinnvol-
len moralischen oder religiösen Ordnung spotten.
Wir stehen damit vor einer schweren und aufwüh-
lenden Dialektik nicht bloß der Geschichtsforschung,
sondern unseres Lebens überhaupt. Unsere morali-
schen Wünsche und Erwartungen scheinen in einem
verhängnisvollen Widerspruch zu den nüchternen Er-
gebnissen der konkreten historischen Tatsachener-
kenntnis zu stehen. Als moralische Menschen emp-
finden wir das Bedürfnis, an einen Vernunftzusam-
menhang in der Geschichte zu glauben. Wie jedoch
sieht dieser Zusammenhang nun in Wirklichkeit aus?
Tn ihm arbeiten tausend Motive, tausend Bewegun-
gen, tausend Gesetze. In ihm ringen alle natürlichen
Begabungen und Kräfte eines Volkes, einer Genera-
tion, einer Zeit um Entfaltung. In ihm suchen, sich
alle politischen und alle wirtschaftlichen Absichten
und Leidenschaften, alle vitalen Hoffnungen und Be-
strebungen zu erfüllen. Ohne Zweifel bedeutet eine
solche Entwicklung ein hohes und unwiderstehliches
geschichtliches und biologisches Lebensgesetz. Und
über seine Entstehung und über die Formen und Stu-
fen seines Verlaufs erteilt die positive und kritische
Geschichtsforschung eine höchst realistische Auskunft.
Ihrem Gewicht können wür uns weder intellektuell
126
noch seelisch-moralisch entziehen. Aber diese Beleh-
rung prallt zusammen mit unserem moralischen Ver-
langen nach einem geschichtlichen Verlauf von sitt-
lich-vernünftigem Charakter, der nicht bloß die irdi-
schen Triebkräfte des harten Willens zum Leben, son-
dern doch auch unsere „ideellen“ Forderungen in ei-
nigem Umfange zu ihrem Rechte kommen läßt. Was
aber zeigt die politisch-realistische Betrachtung inbe-
zug auf eine derartige Entwicklung?
Hier haben wir einmal einen klaren und erhebli-
chen Beleg für denjenigen Beitrag vor uns, den eine
wissenschaftliche Erkenntnis dem Prozeß einer seeli-
schen Umbildung leisten kann. Müssen wir uns vor
ihren Ergebnissen nicht auch gefühlsmäßig und mo-
ralisch beugen, müssen wir, von ihr geleitet, nicht see-
lisch und moralisch umlernen? Welche Geltung
kann einer idealistischen, von dem Glauben an eine
„weise“ Weltregierung oder an einen vernünftigen
und göttlichen Weltplan getragenen und diesen Glau-
ben stärkenden Geschichtsdeutung noch verbleiben,
wenn der Blick des Geschichtsforschers sich immer
voller erfüllt mit der Kenntnis und Erkenntnis des
realistischen Waltens der menschlichen Leidenschaf-
ten und den schlagartigen Ausbrüchen ihrer dämoni-
schen Dynamik? Wie sollen wir uns als mitfühlende,
als mitleidende Menschen verhalten gegenüber der
idealistisch-hegelschen Lehre von der „Vernunft in
der Geschichte“? Welches Vertrauen kann auf die
Dauer dieser Lehre entgegengebracht werden? Müs-
sen wir uns nicht von ihr abwenden? Müssen in uns
nicht Enttäuschungen zum Durchbruch gelangen, die
127
sich zu schweren Bedrückungen und Erschütterungen
steigern können bzw. tatsächlich steigern? Doch wol-
len wir hier diesen Erwägungen nicht weiter nach-
gehen.
Für uns handelt es sich nur darum, auf die in der
modernen Geschichtsschreibung sich immer energi-
scher durchsetzenden antiidealistischen Züge aufmerk-
sam zu machen. Allerdings wird sie die versuchte
Loslösung von jeglicher „idealistischen“ Konstruk-
tion nicht restlos durchführen können. Jede Wissen-
schaft bedarf der Grundlegung in einer Metaphysik.
Vielleicht ist die Schöpfung von verschiedenen For-
men der sogen. Kulturkreis-Lehre (Oswald Spengler,
Leo Frobenius u. a.) bereits als ein Ansatz zu einer
neuen Geschichtsmetaphysik zu werten1). Vorerst
aber zögern fast alle maßgebenden Historiker sowohl
vor der Anerkennung dieser neuen morphologischen
Geschichtsdeutung als auch vor ihrer Hereinnahme
in die konkrete geschichtliche Forschung. Sie wollen
den unter so vielen und schweren Kämpfen gewonne-
nen wissenschaftlichen Realismus und die mit ihm
verbundene Unabhängigkeit und Freiheit der Ge-
schichtswissenschaft nicht wieder preisgeben. Denn
sie würdigen die erreichte Stellung nicht bloß als ein
wissenschaftliches, sondern auch als ein moralisches
Gut. —
1) vgl. Eduard Spranger „Die Kulturzyklentbeorie und das
Problem des Kulturverfalles'’*; Sitzungsbericht der Akademie
der Wissenschaften zu Berlin, 1926.
128
2) Und wandert von der Grundlage der realisti-
schen Auffassung aus der forschende Blick hin zum
geschichtlichen Leben, dann ist es selbstverständlich
vor allem der Mensch, der in einem anderen Lichte
als früher gesehen wird. Jetzt nämlich sind seine Auf-
gabe und seine Leistung für die Geschichte und in der
Geschichte zweifelhaft und unfaßbar geworden, ja, er
selber, der eigentliche Schöpfer und Träger, aber auch
der eigentliche Gegenstand der Geschichte, so recht
ihr Schoßkind und ihr Sorgenkind, offenbart sich
in einer geradezu abgründigen Problematik. Und an-
gesichts dieser Enthüllung scheint nun schließlich
auch die letzte Spur jener harmonistischen Geschichts-
auffassung zu schwinden, die dem Idealismus eigen
ist.
Um die unvergleichbare Schwere dieser Erkennt-
nis zu verstehen, ist es nur nötig, die gegenwärtige
Auffassung vom Wesen des Menschen mit derjenigen
früherer Zeiten zu vergleichen. Wie einfach lag ver-
hältnismäßig damals noch alles. Die christlich-kirch-
liche Deutung verstand und bestimmte das Dasein und
das Schicksal des Menschen durch einige wenige, dog-
matisch festgelegte und damit weiteren Erörterungen
entzogene oder unbedürftige Entscheidungen: Schaf-
fung des Menschen durch Gott, Ungehorsam und Sün-
denfall, Vertreibung aus dem Paradies, irdische Lei-
denswanderung, Mensch- und Fleischwerdung Gottes
in seinem Sohne, Stiftung der Heiligen Kirche, da-
durch bedingte Möglichkeit der Erlösung, Nahen des
jüngsten Tages mit dem Gottesgericht. Für den Gläu-
bigen war dadurch eigentlich alle geschichtliche Frag-
9 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
129
Würdigkeit und Unsicherheit ausgeschlossen hezw.
überwunden. Im Prinzip nicht anders lauteten die
Deutung und die Entscheidung der idealistischen Phi-
losophie. Sie sind zusammengefaßt in zwei Haupt*
thesen, die schon in der Festigkeit ihrer Formulie-
rung die Festigkeit der zugrunde liegenden Überzeu-
gung und die Freiheit von aller Dialektik verraten, ob-
wohl sie beide von jenen Philosophen stammen, die
allgemein als die klassischen Vertreter der „Dialek-
tik“ betrachtet werden. Fichte kennzeichnet den Ge-
samtsinn des geschichtlichen Lebens und die Aufgabe
und Tätigkeit des Menschen in diesem Leben mit den
Worten: „Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit
ist der, daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse
mit Freiheit nach der Vernunft einrichte“. Und ganz
auf den Bahnen dieser Auslegung bewegt sich Hegel
mit der nicht weniger berühmten, aber auch nicht we-
niger einfachen, allzu einfachen Bestimmung: „Die
Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit, — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwen-
digkeit zu erkennen haben.“
Zweifellos stellt diese idealistische Geschichtsphi-
losophie gerade in ihrem Dogmatismus eine histo-
risch und grundsätzlich bedeutsame Stufe in der Ent-
wicklung der geschichtlichen Erkenntnis dar. Aber
die Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte und
der Gegenwart hat sich notwendigerweise und einge-
standenermaßen von dieser Stufe in recht erhebli-
chem Ausmaße entfernt. Aus ernsten wissenschaftli-
chen Gründen versagt sie sich eine derartig verein-
heitlichende und vereinfachende Zusammenfassung
130
der ungeheueren Mannigfaltigkeit des geschichtlichen
Lebens. Dieses Leben ist ihr in seiner mengen- und
geJiallmäßigen Überfülle bekannt geworden. Fast
gebannt und betäubt durch die Unenneßlichkeit sei-
ner Problematik, durch die Dämonie seines dialekti-
schen Spieles und durch die Dialektik seines dämoni-
schen Treibens nimmt sie bewußt und kritisch Ab-
stand von einer in einigen Formeln und Thesen aus-
sprechbaren Deutung. Eine derartige Auslegung er-
scheint ihr als eine künstliche und gewaltsame Kon-
struktion, als eine Konstruktion, die weniger dem
Reichtum des Sachverhaltes als den heimlichen Er-
wartungen ihrer Urheber und Verfertiger entspricht.
Wohl bedeutet auch für sie der sichere und freudige
Glaube an die Möglichkeit der Erreichung einer fe-
sten wissenschaftlichen Lösung eine unentbehrliche
und aufmunternde Voraussetzung für das Gelingen
ihrer Erkenntnisarbeit. Aber wird diese Hoffnung
nicht allzu hart durchkreuzt und erschüttert durch
die geschichtswissenschaftiiche Erfahrung und durch
die auf diese Weise gewonnene und vielleicht recht
bittere Einsicht in die Unerhellbarkeit der geschicht-
lichen Probleme, besonders des Problems des Men-
schen?
Gewiß bringt das Bewußtsein dieser ewigen Pro-
blematik auch in die Geschichtswissenschaft einen
philosophischen Zug hinein. Aber dieser philosophi-
sche Zug ist anderer Art als die geschichtsphilosophi-
sche Wirklichkeitsauffassung des Idealismus. Für
diesen sind, wie wiederholt werden darf, die geschicht-
lichen Persönlichkeiten und Verhältnisse letztlich ei-
Ü*
131
nein höchsten Gesetz, einer höchsten vernünftigen Not-
wendigkeit und Einheit unterstellt. Die Macht dieser
Einheit und Notwendigkeit bedingt eine trotz aller
Schwankungen im Einzelnen doch überragende ver-
nünftige und in dieser Vernünftigkeit schließlich auch
harmonische Entfaltung des Gesamtverlaufs. End da
diese Entwicklung, auf das Große und Ganze gesehen,
in ihrem Wesen, also existentiell oder ontisch, als ver-
nünftig gilt, kann sie auch mittels der erkennenden
Vernunft angemessen erfaßt und philosophisch dar-
gestellt werden. Wir brauchen nach allen unseren
Ausführungen nun nicht noch einmal zu schildern,
daß und weshalb der gegenwärtigen Einstellung zur
geschichtlichen Welt dieser „monistische“ Zug fremd
geworden ist und als ein Widerspruch zu dem ge-
schichtlichen Befund erscheinen muß. Jeder Fort-
schritt auf dem Gebiete der geschichtlichen Erkennt-
nis bohrt neue Tiefen, neue Untiefen, neue Fragwür-
digkeiten, neue Probleme auf, bis unser nach festen
Grenzen ausspähendes Auge statt eines Abschlusses
und Zieles auf die erregendste Unergründlichkeit aller
Unergründlichkeiten trifft, auf die Problematik des
Menschen. Und kein Begriff und keine Vorstellung
in dem ganzen Bereiche der Wissenschaften haben
einen so tiefen Wandel erfahren, wie der Begriff und
die Vorstellung vom Wesen des Menschen.
Das Denken und das Leben am Leitfaden der un-
voreingenommenen geschichtlichen Betrachtung ver-
breitern und verlängern nicht bloß die Grundlagen
der menschlichen Existenz, sondern auch die unserer
Erkenntnis bis ins Unabsehbare. Wer einmal im rea-
132
listischen Sinne geschichtlich zu fühlen und zu über-
legen begonnen hat, der verspürt dasselbe Hingeris-
senwerden zum Unendlichen wie der idealistische
Denker. Doch im vollständigen Gegensätze zum Idea-
listen bedeutet für den realistisch denkenden Histori-
ker dieses Unendliche nicht die teleologische Einheit-
lichkeit logisch erfaßbarer Vernunftformen und Ver-
nunftwerte; sie bedeutet ihm nicht die allmähliche,
innerlich klare und allmächtige Entwickelung des Lo-
gos, sondern die stoßweise hervorbrechende Dämonie
unergründlicher und unerschöpflicher Urkräfte. Des-
halb vermag auch der moderne, realistisch gestimmte
und durch den Realismus belehrte Historiker nicht
der bekannten Überzeugung Hegels zuzustimmen, ge-
mäß der das Universum dem Mute des Erkennens kei-
nen Widerstand leisten und der Wissenschaft seine
Tiefen vor Augen legen werde. Er zweifelt daran, ob
das Universum das Gesetz der Vernunft in sich
trage und demgemäß durch die Vernunft erkennbar
sei. In der Ablehnung der idealistisch-rationalisti-
schen und rationalistisch-optimistischen Geschichts-
auffassung gipfelt der Widerspruch der modernen Ge-
schichtsschreibung gegen die idealistische Geschichts-
philosophie.
j) Antiidealistische Tendenzen
in der modernen Naturwissenschaft.
Wenn wir unter dem Begriff des „Modernen“ die
gesamte Zeitspanne seit der Renaissance, dem ersten
Humanismus und der Reformation verstehen, dann
133
können wir nicht ganz allgemein von antiidealisti-
schen Tendenzen in der modernen Naturwissenschaft
sprechen. Denn vom 16. Jahrhundert an bis zum Ab-
schluß des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts steht
die Erforschung der Natur in einer engen und ein-
leuchtenden Beziehung zum Idealismus. Es waren
nämlich gerade die großen idealistischen Systeme, be-
sonders von Descartes und von Leibniz, die sich als
Grundlagen, als Förderungen und als Verbündete der
neuen Naturwissenschaft erwiesen. Der Grund dafür
liegt in dem unmittelbaren und natürlichen Verhält-
nis dieser Form des Idealismus zum Rationalismus,
in dem felsenfesten Vertrauen zur Macht, zur Ilnhe-
diugtheit des Verstandes.
Die Wurzel für dieses Vertrauen brauchen wir hier
nicht zu untersuchen1). Hingegen müssen wir der
Frage nach der Leistung dieses älteren rationalisti-
schen Idealismus für die Naturerkenntnis eine kurze
Aufmerksamkeit schenken. Geleitet durch das maß-
gebende Vorbild der Mathematik, unternahm es die-
ser Idealismus, ein System reiner Verstandesformen
(Kategorien) aufzustellen, mit dessen Hilfe die Er-
scheinungen und Vorgänge der „Natur“ wie in einem
stählernen Netz aufgefangen, zusammengefaßt und in
die Höhe der Erkenntnis erhoben, mit einem Worte:
konstruiert wurden. Die Erfolge dieses mathematisch-
konstruktiven Vorgehens sind allbekannt und in ihrem
außerordentlichen Werte unzählige Male dargestellt
*) Darüber näheres in meiner „Philosophie des Unter-
richtes“ S. 42 ff.. 101 ff., 262 ff.
134
und gerühmt worden. i\ur drei Kennzeichen dieser
Erfolges allerdings ihre Hauptmerkmale, seien kurz
hervorgehoben. Einmal wurde durch jene rationalisti-
sche Methode die Gewißheit der Einheit der Na-
tur, die Gewißheit ihrer einheitlichen Gesetzlichkeit
und gesetzlichen Einheitlichkeit hervorgerufen und
gesichert. Da sich die Menge und die Verschieden ar-
tigkeit der Naturvorgänge durch eine so einheitliche
Methode wissenschaftlich bewältigen ließ, so schien
der Grund dafür in der realen, in der existentiellen
Einheit der Natur selber zu liegen. Dem Monismus der
Erkenntnis entsprach der Monismus des Seins, jener
beruhte auf diesem und war durch ihn ebenso gerecht-
fertigt, wie umgekehrt der Monismus der Erkenntnis
den Monismus des Seins logisch begründete und theo-
retisch rechtfertigte. Das zweite Hauptkennzeichen
jener Erfolge besteht in der Gewinnung einer stren-
gen, klaren, überzeugenden Erkenntnis der Na-
tur. An die Stelle einer flackernden, mit Zauberkunst-
stücken, mit Geheimniskrämereien oder mit der Be-
rufung auf übernatürliche Eingebung arbeitenden
Mystik, die ihre wissenschaftliche Wertlosigkeit in
den Spielereien der alten Kosmologie, der Alchemie,
der Astrologie warnend genug offenbart hatte, trat
jetzt die Bestimmtheit verstandesmäßiger Einsichten.
Ein wesentliches und die größten Erkenntnisfort-
schritte bedingendes Ergebnis dieser Form der Ein-
sicht bestand in der Aufdeckung fester Gesetze als der
beherrschenden Zusammenhänge für alles Naturge-
schehen. Indem aber die Wissenschaft und der Wis-
senschaftler solche Gesetze in die Hand bekamen, trat
135
das dritte Merkmal jener Erfolge ans Licht, die den
modernen, der Führung durch den konstruktiven, ma-
thematisierenden Idealismus unterstehenden Natur-
wissenschaften vergönnt waren: die Beherr-
schung der Natur durch die Macht der Erkenntnis.
Die Fülle und die Weite, die Sicherheit und die Stren-
ge dieser Beherrschung der Natur zeigen sich am deut-
lichsten in dem Siegeszug der Technik, dieser Anwen-
dung der Mathematik auf die Natur, dieser Bezwin-
gung der Natur durch die Mathematik.
Da setzte ungefähr von der Mitte des 19. Jahrhun-
derts an der Umschwung ein. Der Gedanke der Ein-
heit der Natur und der Begriff einer einheitlichen,
unantastbaren und sicheren Erkenntnis der Wirklich-
keit in ihrer Einheit und als Einheit gerieten immer
mehr ins Schwanken. Gerade die letzte große wissen-
schaftliche Methode für den Nachweis dieser Einheit,
der Entwicklungsgedanke Charles Darwins, vermochte
entgegen allen Erwartungen keinen sicheren Beleg für
eine solche, das ganze Sein wirklich umfassende Ein-
heit zu erbringen. Sie machte halt und mußte halt
machen vor den Grenzen der Wirklichkeit der ge-
schichtlichen Kultur, also des eigentlich menschlichen
und sinnvollen Daseins, vor den Grenzen gerade jenes
gewaltigen Teiles der Wirklichkeit, dem aus zehnfa-
chen Gründen, aus intellektuellen, aus moralischen,
aus religiösen, aus politischen, aus wirtschaftlichen
Ursachen unsere besondere Teilnahme gehört. Bei
ihrem Eintritt in dieses neue Reich empfängt die bio-
logische Entwicklung ganz neue, ganz selbständige,
ganz eigenartige Antriebe, die gar nicht aus ihr selber
136
stammen, die nicht aus ihr ableitbar sind, und die ih-
ren, im Gebiete des biologisch-organischen Lebens we-
nigstens in einigem Umfange nachweisbaren Monis-
mus aufheben. Aus der Kraft der Geschichte strö-
men Entwicklungstendenzen von einer keineswegs
ausschließlich biologischen Natur hervor. Es be-
ginnt eine neue Entwicklung, durch die die elemen-
tare vitalistische Richtung nicht bloß tausendmal
durchkreuzt, sondern auch von ihrem Wege abge-
drängt, in ihrem Wesen umgeformt, mit ganz neuen
Tendenzen und Gehalten erfüllt wird. Die vertiefte
Beschäftigung mit dem Wesen der geschichtlichen
Kultur, die besonders durch die deutsche Romantik
eine entschiedene Förderung erfahren hat und seit
jener Zeit in einem ununterbrochenen Ausbau sich
befindet, hat uns immer mehr von der Unvereinbarkeit
der Kultur mit der Natur überzeugt.
Die wissenschaftliche und theoretische Begleiter-
scheinung zu dieser sachlichen, seinsmäßigen Teilung
der Wirklichkeit in den Dualismus von Natur und von
Kultur bildet die wichtige Unterscheidung der beiden
Erkenntnis- und Unterrichtsbereiche der Naturwissen-
schaften und der Kulturwissenschaften. Auch diese
Unterscheidung ist durch die Romantik vorbereitet
und dann durch die großartige Entwicklung der mo-
dernen Geschichtswissenschaften immer mehr ver-
tieft worden. Von maßgebender Bedeutung wurden
hier die Untersuchungen W ilhelm Diltheys, der in
seinem grundlegenden Werke „Einleitung in die
Geisteswissenschaften“ (1883) jene beiden Wissensge-
biete deutlich voneinander trennte und fast alle Vor-
137
aUmsetzungen für die Erkenntnis der Eigenart und der
Selbständigkeit der Geisteswissenschaft ans Licht
hob !). Die bedeutsame Erkenntnis der Selbständig-
keit dieser Wissenschaftsgmppe führte zu der umwäl-
zenden Einsicht in die Unmöglichkeit, das in den Na-
turwissenschaften jahrhundertelang gebrauchte ratio-
nale Verfahren, zum Beispiel die Methode des mathe-
matisch-physikalischen Kausalitätsgedankens, einfach
auf die Erkenntnis der geistig-gescbichtlich-menschli-
chen Wirklichkeit der Kultur zu übertragen.
Welche Folge ergab sich aus dieser Trennung nun
für die Beibehaltung des Idealismus in Bezug auf die
Naturwissenschaften? Wie wir sahen, war die ratio-
nalistische Methode in enger Verbindung mit der mo-
dernen Form des Idealismus entstanden. Wurde dem
Rationalismus schon insofern eine Absage erteilt, als
er nicht als die geeignete Methode für die Geisteswis-
senschaften angesehen wurde, so zeigte sich auch in
den Naturwissenschaften eine solche bemerkenswerte
Loslösung von eben jenem Verfahren, in dem vor-
aufgehenden Kapitel haben wir bei der Betrachtung
der antiidealistischen Tendenzen in der modernen Ge-
schichtsschreibung die Gründe für die Entfernung der
modernen Art des geschichtlichen Sehens von der
konstruktiven Form des Idealismus zu schildern ver-
sucht (S. 122 ff.). Inwiefern aber haben nun auch die
Naturwissenschaften eine solche Abwendung vollzo-
gen? Wir berichteten soeben über die Preisgabe der
1) Vgl. meine Schrift über „Wilhelm Dilthey“, Berlin 1933.
138
Idee der Einheit der ftatur und über den Verzicht
auf unbedingte, auf mathematisch sichere Erkenntnis
der Naturerscheinungen durch die Naturwissenschaf-
ten. Was trat an ihre Stelle? Jener Gesichtspunkt
und jene Methode, die summarisch als Relativitäts-
theorie und als Statistik bezeichnet werden. Den ein-
heitlichen Begriff für diese Form der naturwissen-
schaftlichen Forschung und für die Bestimmung ihrer
Gültigkeit stellt der Begriff der „Wahrscheinlichkeit“
dar1)* Zwar unternimmt auch die moderne Wahr-
scheinlichkeitslehre ihre Unterhauung durch die Ma-
thematik. Es handelt sich aber nicht mehr um die
klassische, um die sogenannte deduktive Mathematik,
sondern bezeichnender- und beachtenswerterweise um
eine induktiv verfahrende Mathematik. Den Aus-
gangspunkt bildet m. a. W. nicht mehr eine oberste,
gedanklich aufgestellte Einheit, ein mathematisch-
kosmisches Weltprinzip, aus dem alle Einzelheiten in
einem streng logischen Verfahren einheitlich abgelei-
tet werden. Das nämlich wäre die deduktive Art des
Vorgehens. Der Anfang der Forschung liegt vielmehr
bei der einzelnen Wahrnehmung bzw. bei einer Reihe
von Wahrnehmungen, Von hier aus geht der Schritt
zu immer weiteren und mit den früheren Wahrneh-
mungen in Verbindung stehenden oder in Verbindung
zu bringenden Beobachtungen. Das Streben richtet
sich, vom Einzelnen ausgehend, auf die Gewinnung
*) Vgl. das ebenso umfassende wie tief dringende, kürzlich
erschienene Werk von Hans Reichenbach ..Wahrscheinlichkeits-
lehre“, Leiden 1935.
139
eines Zusammenhanges, der in jedem Stück seine Gel-
tung weniger der Kraft der logischen Konstruktion
als seiner Beziehung zu den erfahrungsmäßig feststell-
baren oder festgestellten Gegebenheiten verdankt. Die
Durchführung dieses Vorgehens stellt dann das induk-
tive Verfahren dar. Der Naturwissenschaftler der
Gegenwart wendet alle Mühen darauf, rationale Er-
wartungen und die Benutzung eines strengen logi-
schen Formgefüges beiseite zu lassen, um die Gnvor-
eingenotnmenheit seiner Beobachtung nicht zu beein-
trächtigen. Zur Verwirklichung dieser Absicht ver-
zichtet er auf jede allgemeine und allgemeingültige
Theorie. Er huldigt keinem anderen Willen als dem
Verlangen und der Erwartung, dem wirklichen Ge-
schehen auf die Spur zu kommen, und er ist ganz von
dem Wunsche erfüllt, seinem wissenschaftlichen Ver-
halten einen streng „realistischen“ Charakter zu ge-
ben.
Damit nimmt er jedoch bewußt Abschied von der-
jenigen Haltung und Methode, die dem Rationalismus
der idealistischen Philosophie und überhaupt dem
traditionellen Rationalismus eigentümlich waren. Für
diesen galt als das Hauptziel seiner Arbeit die Auf-
findung fester Gesetze und unverrückbarer Ordnun-
gen des Seins. Das Gelingen dieser Absicht empfand
er mit tiefem Stolz. Als entledige er sich einer alten
Schuld. Von dieser Einstellung lösen sich aber die
Naturwissenschaften der Gegenwart nach mindestens
drei, jedoch schlechthin entscheidenden Richtungen
ab. Der überlieferten Vorstellung des Raumes, ferner
derjenigen der Zeit, drittens dem Begriff der Ursäch-
140
lichkeit hafteten trotz aller ihrer Auflockerung und
Relativierung besonders durch den Empirismus der
englischen Philosophie (Locke, Hume, j. St. Mill)
noch immer Reste mathematischer Züge an. Bei der
Beibehaltung dieser — älteren, der sogenannten
klassischen — Naturauffassnng, die ihre Grundle-
gung in der mathematischen Raum-, in der mathe-
matischen Zeit-, in der mathematischen Kausali-
tätsvorstellung besaß, bedurfte es eigentlich gar
nicht so sehr der unaufhörlichen und geduldigen
\ehtsamkeit auf das tatsächliche Geschehen, Denn
die alte Naturwissenschaft glaubte oder wußte sich
in der Lage, mittels jener mathematischen Ge-
dankenformen von vornherein eine Erkenntnis des
wirklichen Verlaufes der Vorgänge zu besitzen, sie
•lern Prinzip nach von Anfang an zu kennen und vor-
ausherechnen zu können. So spannte die ältere Auf-
fassung ein festes, denkbar weitausgebreitetes Netz
von Begriffen aus, das, selbst wenn es nur aus „Hypo-
thesen“ oder aus „Fiktionen“ gewoben war, doch als
Ganzes bei seiner Anwendung einem bindenden Sy-
stem dogmatischer Festlegungen glich. Unter seinem
Druck und Halt vermochte sich die Naturbeobachtung
nicht in uneingeschränkter Freiheit dem tatsächlichen
Geschehen anzuschmiegen. Denn in ihre gedank-
lichen Voraussetzungen waren zwei, nun doch nicht
ganz und gar vorurteilslose Grundauffassungeu und
Grundforderungen eingebaut, die nämlich, daß die
Natur eine Einheit und daß sie streng objektiv und in
schlechthin unbedingt gültiger Weise erkennbar sei.
Vor allem waren es die Strahlungserscheinungen
141
der radioaktiven Substanzen, dann die Schwierigkei-
ten bei der Feststellung der Lichtgeschwindigkeit,
dann die Quantentheorie, überhaupt die ganze Pro-
blematik der modernen Bewegungslehre, die die Un-
möglichkeit der „apriorischen“ und „idealistischen“
Konstruklionsform mit ihrer alten klassischen Sche-
matik überzeugend darzutun schienen. Es ergaben
sich Rätsel über Rätsel. Denn die wirklichen Natur-
vorgänge, wie sie sich da auf einmal offenbarten, ge-
horchten ganz anderen Bestimmungen, als die Wissen-
schaft erwartet hatte. Ja, beliebte es ihnen überhaupt,
irgendwelchen Gesetzen zu folgen? In ihrem Ver-
halten kam vielmehr ein — fast geheimnisvoll anmu-
tendes, irrationales — Moment der Willkür und eines
beinahe freien Spieles zum Durchbruch, das die rest-
lose Übereinstimmung von auch nur zwei Vorgängen
verwehrte, je vorbehaltloser die Naturbeobachtung
den Tatsachen gerecht zu werden und sich an sie her-
anzuschleichen vermochte, desto mehr schwand die
alte und so angenehme Vorstellung von einer ein-
heitlichen Gesetzlichkeit und gesetzlichen Einheit der
Natur. Bis hart an die Grenze desjenigen Bildes, das
das Sein eher als ein von tausend unerklärlichen Kräf-
ten durchquirltes Spiel und Chaos denn als eine ein-
fache und schöne Ordnung schildert, schiebt sich die
neue Ansicht des Relativismus vor. Schon ein einziger
Bewegungsvorgang scheint der eindeutigen Einheit-
lichkeit zu entbehren. Deshalb gilt es als sachlich un-
angebracht, ihn als „einen einzigen“ aufzufassen und
zu bezeichnen. Bereits in anscheinend einfachen Ab-
läufen durchkreuzt sich eine Menge der verschieden-
142
artigsten, nach den mannigfachsten Seiten strebenden
und von den verschiedensten Seiten her angezogenen
Kräfte. Hundert Möglichkeiten bieten sich für das
Einschlagen dieser oder jener Richtung. Es ist un-
gereimt, sie nach dem Vorbild der älteren klassischen,
also mathematisch einfachen Erkenntnisart zu bestim-
men, geschweige denn vorherzubestimmen, als wüßte
der Physiker mit prophetischer Genauigkeit, welchen
Weg eine solche Bewegung einschlagen, wie lange sie
andauern und welchen Endpunkt sie erreichen werde.
Wenn die moderne Naturwissenschaft sich überhaupt
zur Aufstellung einer gebotsmäßigen Behauptung über
die Naturvorgänge versteigert würde, dann höchstens
zu der, kein Gebot aufzustellen, d. h. alles Reden über
ein „Müssen“, dem die Naturvorgänge unterworfen
seien, aufzugeben. Trägt sie doch sogar kein Beden-
ken, einen sehr eigentümlichen Begriff wieder einzu-
führen und mit ihm wie mit einer festen Größe zu ope-
rieren, einen Begriff, in dem die ersten Jahrhunderte
der Neuzeit ein Überbleibsel aus einer angeblich
durchaus überwundenen Wirklichkeitsauffassung sa-
hen, und den sie als ihrem Rationalismus gänzlich
zuwider auch entsprechend ablehnten, wenn nicht so-
gar verspotteten, nämlich den Begriff des Zufalls. Heu-
te aber wird, so sieht es aus, die Selbstverständlich-
keit des Gesetzes, seiner Geltung, seiner Notwendig-
keit, seiner scheinbar in allen Fällen möglichen und
erreichbaren Nachweisbarkeit ersetzt durch die Selbst-
verständlichkeit des Zufalls oder jedenfalls durch ei-
nen nicht mehr eindeutig rationalistischen Entwick-
lungsvorgang. Es erscheint umgekehrt beinahe wie
143
ein Wunder, um einen kräftigen Ausdruck zu gebrau-
chen, daß es in der Wirklichkeit. überhaupt noch
so etwas wie eine Zusammenstimmung, wie eine ge-
setzliche Abfolge der Erscheinungen und in den Er-
scheinungen selber so etwas wie eine einheitliche Ver-
fassung gibt. Zeigen sie überhaupt noch ein einheitli-
ches Verhalten?
Selbstverständlich will die Naturwissenschaft der
Gegenwart auch einem derartig in sich aufgelösten,
stoßweise, wolkenbruchartig und in geballten Mengen
sich entladenden Geschehen mit wissenschaftlichen
Begriffen auf die Spur kommen. Ist die Erfüllung
dieser Absicht nicht möglich durch die Verwendung
der älteren Begriffe und Methoden, dann entsteht eben
die Aufgabe, für die neue relativistische und über sta-
tistische Angaben sich nicht wesentlich hinauswagende
Naturansicht auch einen neuen Begriffs- und Metho-
denapparat zu schaffen. Dieser Tätigkeit widmet sich
die Naturwissenschaft unserer Zeit in weitem Umfan-
ge. Wir brauchen ihr hier bei dieser Arbeit nicht zu
folgen und nicht festzustellen, wie weit diese Arbeit
schon gediehen ist. Der Gesamtverlauf dieser Bewe-
gung richtet sich auf die Loslösung von einer Natur-
auffassung, die sich unter dem nun allmählich immer
mehr schwindenden Einfluß des Idealismus und des
alten, überlieferten, klassischen und dogmatischen Ra-
tionalismus ausgebildet hatte. Was für das allgemeine
geschichtlicheXeben gelte, das habe auch für das Ge-
biet der Naturwissenschaften sein Recht. Mit dem
Wechsel des Inhaltes, mit einer anderen, neuen, ge-
wandelten Darbietung und Offenbarung der Gegen-
144
stände und mit einem gewandelten Sehen müsse auch
eine Veränderung des Formgefüges der Erkenntnis er-
folgen. Es sei immer dann eine katastrophale Erstar-
rung der Wissenschaften eingetreten, oder wenigstens
habe sich die Gefahr einer solchen Erstarrung ihnen
immer dann genähert, wenn innerhalb der Wissen-
schaft die Pietät vor der Form eine höhere Achtung
genossen habe als die Rücksicht auf neue stoffliche
Erkenntnisse, auf neue Inhalte, auf neue sachliche Ge-
winne. Schließlich wird fast die gesamte Entwicklung
der Wissenschaften, ganz gleich um welche besonderen
Gruppen es sich dabei handeln mag, zu einem guten
Teil beherrscht durch den Kampf neuer Sachkennt-
nisse gegen die Festigkeit und gegen das Ansehen al-
ler und anerkannter Wissensformen. Auch die neuen
Sache rkenntnisse vermögen natürlich der Formen
nicht zu entbehren. Nur fragt sich, ob die alten For-
men und welche von ihnen noch tauglich sind zur Er-
fassung, Umfassung und gedanklichen Bewältigung des
neuen Wissensstoffes. Der Kampf der jüngsten Natur-
wissenschaft besteht nicht zuletzt in dem Ansturm sol-
chen neuen realistischen Sachwissens gegen die Mauer
der alten idealistischen Wissensformen.
Diese ganze dialektische Auseinandersetzung stellt
jedoch nur einen Ausschnitt aus der allgemeinen Dia-
lektik des Geisteslebens überhaupt dar. Ihr Wesen
und ihr Werden bekunden sich immer wieder in dem
reibungsvollen und unendlichen Spiel zwischen dem
Idealismus der Form und dem Realismus des Gehal-
tes, in der Spannung zwischen dem Idealismus des Be-
griffes und dem Realismus des Inhaltes.
145
10 A, Liehert. Die Krise d. Idealismus.
B. WESEN UND SCHWÄCHE DES REALISMUS.
1. Das Ernstnehmen der Erschei-
nungen.
a) Unbestreitbar gehört der Realismus zu den
großen und entscheidenden Formen und Mächten des
Geisteslebens. Über sein Wesen und seinen Wert wer-
den die Ausführungen der vorangehenden Kapitel ge-
nauere Auskunft geboten haben, ln der Geistesge-
schichte der Menschheit bildet er immer wieder die
Gegenhaltung und das Gegenspiel zum Idealismus.
Diese gegnerische Haltung bezieht sich nicht bloß
auf das Gebiet der Philosophie. Auch auf den Gebie-
ten der Politik und des Staatslebens, der Wirtschaft
und des Rechtes, der Sittlichkeit und der Kunst, ja in
allen Bereichen des Lebens bis hinein in entlegene
und untergeordnete Einzelkreise und Unterteile sol-
cher Einzelkreise erweist er sich als der unermüdliche
Bekämpfer des Idealismus. Nur tritt innerhalb der
Philosophie diese Spannung in begrifflich klarer und
deshalb gut geformter und verhältnismäßig leicht
verständlicher Gestalt hervor.
Was ihn zunächst und vor allem auszeichnet, ist
eine schöne, weil unvoreingenommene Achtung vor
146
den Erscheinungen, ist der ihm eigentümliche und
wertvolle Zug des Ernstnehmens der Erscheinungen *).
Der wissenschaftliche Ausdruck für dieses Verhalten
ruht in der für den Realismus so oft charakteristischen
empirischen Methode. Das heißt: Es waltet die Ab-
sicht, ja, es wird als eine unumgängliche Pflicht emp-
funden, sich zuerst einmal an dasjenige zu halten, was
uns in unserer Erfahrung und als Erfahrung gegeben
ist. Einen realistisch gerichteten und realistisch ge-
stimmten Menschen bedrückt die Beschränkung seines
Forschens und Wissens auf den Kreis erfahrungs-
mäßig gegebener Erscheinungen der äußeren oder der
inneren Welt nicht weiter. Darin kommen zunächst
noch keine bequeme Zufriedenheit, auch kein Mangel
an freier schöpferischer Spekulation und Konstruktion
zum Ausdruck. Die Erscheinungen scheinen ja an sich
allen Hoffnungen der Erkenntnis eine so ausbeuterei-
che Verwirklichung zu gewähren, daß es dem Realis-
mus ein Zeichen der Unweisheit und der intellektuel-
len Unmäßigkeit, ja das Zeugnis eines unkritischen
und unsoliden Schwärmertums bedeutet, wenn das
l) Es gehört nicht zum Plan des vorliegenden Buches, alle
Seiten des Realismus genauer zu beleuchten. Wir beschäftigen
uns hier mit dem Realismus nur insoweit, als es erforderlich ist,
um sein Wesen und Wollen von dem des Idealismus abzugren-
zen, und um diese beiden Weltansehauungstypen möglichst klar
erkennen zu lassen. Jene genauere Beleuchtung habe ich zu
geben versucht a) in meiner „Erkenntnistheorie“, Band II, S. 136
und 138 ff„ b) besonders aber und in ziemlich eingehender
Darstellung in meiner kürzlich erschienenen „Philosophie des
Unterrichts“ S. 178ff. und S. 182—187 u. ö.
10*
147
wissenschaftliche Trachten auf ein .Jenseits” der Er-
scheinungswelt eingestellt wird.
b) ln dieser realistischen Beschränkung auf die
Welt des tatsächlich Gegebenen läßt sich sogar in dop-
pelter Hinsicht ein religiöser Zug entdecken. Einmal
eine Demut gegenüber der Unendlichkeit der Wirk-
lichkeit, die wir hei der Kleinheit, Endlichkeit, Unzu-
länglichkeit unserer Erkennlniskräfte doch nicht zu
durchmessen vermögen, ln einem Verzicht braucht
sich keineswegs nur eine Schwäche zu äußern; in ihm
kann ebenso gut das ehrfürchtige Verständnis für die
Wirklichkeit der nun einmal gegebenen Verhältnisse
zum Vorschein kommen. Zweitens kann jene Be-
schränkung gerade aus Liebe und aus Dankbarkeit
für das, was mir gewährt ist, erfolgen. Da breitet sich
das Sein aus in millionenfacher Pracht, in einem über-
wältigenden Reichtum an äußeren und an inneren
Realitäten. Wie dürften wir uns erlauben, die Fülle
dieser Gegebenheiten „nur als Stoff“ für die formale
Gestaltung durch den Geist anzusehen, mag er nun
unser eigener Geist oder ein metaphysischer Weltgeisl
sein? Die Überzeugung, daß die Erscheinungen nur
Material für ihre Aufnahme und Verarbeitung durch
den Geist seien, ferner ein dieser Überzeugung ge-
mäßes Verfahren mit den Erscheinungen können gera-
dezu als eine unreligiöse Überheblichkeit empfunden
werden, als eine Herabwürdigung des Wertes eines
Teiles der Schöpfung und damit eines Teiles des Wer-
kes Gottes. Die ruhige Hinnahme und Bejahung des-
sen, was uns durch die Allmacht zuteil geworden ist,
148
nennen wir sie nun Gott oder Natur, kann die Bekun-
dung innerer Kraft und Freiheit bedeuten und ein Be-
weis unserer Fähigkeit sein, die Realität als solche zu
achten und sie nicht ah unsererUnterstützung bedürf-
tig aufzunehmen.
Und begegnen wir nicht dieser ruhigen und dank-
baren Zustimmung zu dem Bestehenden, sowie zu dem,
was uns im guten und im schlechten Sinne zuteil wird,
in den höchsten und innerlichsten Stiramungslagen des
religiösen Lebens? Bildet sie nicht einen Grundzug
in dem Gefühl der Frömmigkeit? Unverkennbar ist
jeder Religion ein gewisser Realismus eingewoben.
Er bekundet sich in seiner reinsten und stärksten
Form in dem realistischen Ernstnehmen nicht bloß
der von Gott geschaffenen Erscheinungen, sondern
noch mächtiger in dem restlosen Ernstnehmen des
Schöpfers der Erscheinungen, in der unbedingten Be-
jahung seiner Existenz. Gott als ens realissimum aner-
kennen, das erfordern einmal der Begriff Gottes, aber
auch der Sinn und das W esen der realistischen Gei-
steshaltung als der für die Religion notwendigen Ein-
stellung. Und die berühmten Beweise für die Exi-
stenz Gottes sind, ganz abgesehen von ihrem theoreti-
schen Wert, über den sehr verschiedene Meinungen
möglich sein können — man denke an ihre Kritik
durch Kant —, echte Ausflüsse und Zeugnisse einer
realistischen Gesinnung.------
c) So ist es keine enge, keine befangene Weltan-
schauung, die sich im Realismus ausspricht, wie bis-
weilen gemeint worden ist. Wie wir in den früheren
149
Kapiteln uns bemühten, den einzelnen Angriffen ge-
recht zu werden, die von seiner Seite aus gegen den
Idealismus erfolgen, so muß uns unser Streben nach
Objektivität und Gerechtigkeit auch weiterführen zu
einem ruhigen Verständnis für den allgemeinen
geistesgeschichtlichen Wert und für die zweifellose
Kulturbedeutung, die dem Realismus nachweisbar ei-
gen sind. Gerade weil wir seine Schwächen se-
hen und seinen Vorstößen gegen den Idealismus
nicht diejenige Erfolgskraft beimessen, die er selber
ihnen zuschreibt, ist uns seine gerechte Würdigung ein
Gebot. Vielleicht bedeutet es eine Folge unserer idea-
listischen Einstellung, wenn wir dem Realismus, den
wir jetzt in seiner Gesamtheit und als Gesamterschei-
nung ins Auge fassen, ganz unbefangen entgegentreten
und ihn in seiner fruchtbaren Tatsächlichkeit und tat-
sächlichen Fruchtbarkeit verstehen und würdigen. Es
kann ira Geistesleben kaum etwas Verkehrteres geben
als vorschnelle Urteile über das Wesen und den Wert
derjenigen Kräfte und Strömungen, die in ihm nun
doch einmal eine positive Rolle spielen. Und wenn
derartige Urteile sich gar zu den so beliebten „Wider-
legungen“ steigern, so ist es leicht, ihre relative Wir-
kungslosigkeit nachzuweisen. Solche Widerlegungen
pflegen den Rahmen und die Geltung akademischer
Unterhaltungen nicht zu überschreiten. Ihrem Gegen-
stand schaden ihre Pfeile kaum etwas, natürlich vor-
ausgesetzt, daß in ihm eine wirkliche Lebenskraft und
eine sinnhafte Notwendigkeit anzutreffen sind. Der
Realismus aber entbehrt weder der einen noch der an-
deren.
150
Und wie sollten schließlich der Wissenschaft auch
Errungenschaften nicht in formaler, sondern in sach-
licher Hinsicht vergönnt sein ohne ein aufgeschlosse-
nes Eingehen auf die Tatsachen? Aus diesem rea-
listischen Zug ergeben sich alle jene, von uns früher
besprochenen Einwände gegen den Idealismus. Auf die
Notwendigkeit und Berechtigung, sowie auf die Er-
folge jener Haltung in einer kurzen zusammenfassen-
den Vergegenwärtigung aufmerksam zu machen,
schien geboten, nicht nur darum, weil wir uns das Ge-
samtbild des Realismus noch einmal vor die Augen
rücken wollten, sondern weil wir jetzt auch die Kehr-
seite seiner Vorzüge zu betrachten haben. Wir be-
leuchten diese aus verschiedenen Quellen sich erge-
benden Schwächen nicht um eines bequemen Tadels
willen, nicht um den Realismus zu „widerlegen“, son-
dern um dadurch erstens seine Eigenart möglichst
stark hervorlrelen zu lassen, und zweitens um die Er-
kenntnis der Notwendigkeit und Überlegenheit seines
idealistischen Gegenspielers vorzubereiten.
2. Die Bindung an und durch die
Erscheinungen.
Ohne Zweifel bildet die Rücksicht auf die Erschei-
nungen die Hauptquelle für die Förderung unserer
Einsicht in sachlicher Beziehung. Vernachlässigen
wir diese Rücksicht, dann verfällt unsere Erkenntnis
sehr schnell einer Ausdörrung und Verarmung, oder
aber wir huldigen zum Ausgleich für jene Gefahr der
übermäßigen Ausbildung und Betätigung des Form-
151
triebes, um mit Schiller zu sprechen. Doch ebenso
zweifellos entsteht hei der ausschließlich realisti-
schen Achtsamkeit auf die Erscheinungen, wie das
hei jeder Fron der Fall ist, die Gefahr einer Veren-
gung und Kettung des Geistes durch die Gegebenhei-
ten. Gerade weil ihr Reichtum so groß ist und der
Schönheiten dieses Reichtums so viele sind, weil der
Dienst an ihnen neue Wunder und neue Reize ent-
decken läßt, gerät der Geist mit seinen formenden
Kräften und mit seiner Verpflichtung zur Formung
des Gegebenen in oder unter einen Druck. Seine
Selbständigkeit und sein Recht zu freier Entfaltung
kommen in Bedrängnis. Die Freude an dem Gewinn
neuer Realitäten überströmt oder unterdrückt die
Freude an der Entwicklung der Formarbeit. Der
Sachtrieb (Schiller) wird stärker als der Formtrieb,
und was der Mensch in einer Hinsicht gewinnt, das
büßt er in anderer Hinsicht wieder ein.
Nach drei Richtungen wollen wir diese Nachteile,
die in bestimmten Bindungen bestehen, in aller Kürze
verfolgen.
n) Die Bindung an das Lehen.
Diejenigen Menschen, die sich den gegebenen Um-
ständen anpassen und mit den Tatsachen zu rechnen
verstehen, stellen sicher einen wichtigen Typus dar.
Jeder von uns kennt solche Menschen und weiß, wie
ihre Klugheit, wie ihr „praktischer Verstand“ ihnen
zum Vorteil gereicht. Aber sie rufen doch auch sehr
gewichtige Bedenken gegen sich wach. Ihre jeweilige
152
Anbequemung an die Gegebenheiten bringt in ihr
Verhalten eine peinliche Undurchsichtigkeit und sehr
oft auch eine erschreckende Unzuverlässigkeit. Denn
da die Tatbestände unaufhörlich wechseln, so wech-
seln jene Menschen gleichfalls unaufhörlich ihren
Standpunkt, ihre Urteile und ihre Lebensbeziehungen.
Ihre Gewandtheit läßt keine eigentliche Treue zur
Entfaltung und Bewährung gelangen. So notwendig
es in einer Hinsicht ist, sich nach der gewaltigen Macht
des Lebens zu richten, so lockert sich jede Charakter-
festigkeit, wenn wir uns durch keinen anderen Ge-
sichtspunkt als durch den der Rücksicht auf das Le-
ben bestimmen lassen. Wir kommen dann bald dazu,
die freie Verfügung über die Verhältnisse einzu-
büßen.
Und diese Freiheit ist mindestens ebenso not-
wendig und des Menschen mindestens ebenso würdig
wie der Gehorsam dem Leben gegenüber. Die An-
passung an die Gegebenheit verträgt sich, so nützlich
und unabweisbar sie in vielen Fällen ist, oft nicht
mit den Forderungen des Gewissens und der Sittlich-
keit. Sie führt und verführt zu einem „politischen"
Verhalten, sie mindert oder zerstört unsere sittliche
Freiheit, die Freiheit des Denkens und des Handelns.
Sie läßt uns immer nur mitgehen mit den stärkeren
Bataillonen und verstauet dem Einfluß der Suggesti-
on, der immer von der Macht und dem von ihr aus-
geübten Eindruck ausgeht, einen schnellen Zwang auf
unsere geistige Selbständigkeit. Da der Mensch aber
dazu neigt, wenigstens den Anschein seiner Selbstän-
digkeit vor sich oder vor den anderen zu retten, so mo-
153
delt er an »einen Urteilen so lange herum, bis er sich
selber oder den anderen einzureden und glaubhaft zu
machen vermag, seine Ansichten seien nicht durch die
Rücksicht auf die Umstände und auf die jeweiligen
Inhaber der Macht bestimmt, sondern sie entstamm-
ten der Freiheit der eigenen Überlegung und seiner
kritischen Selbstverantwortlichkeit. Diese Unfreiheit
in Verbindung mit der fast stets versuchten Selbsttäu-
schung über diese Unfreiheit, also eine Unwahrhaftig-
keit sich selber und auch seiner Umgebung gegenüber,
sind wohl die schlimmsten Folgen einer ausschließ-
lich realistischen Einstellung zum Leben.
b) Die Bindung an die Einzelwissenschaften.
1) Es bedarf nicht vieler Worte, um den Wert des
Realismus für die Einzelwissenschaften zu begründen
und zu verdeutlichen. Er fordert und verwirklicht
die Blickrichtung auf die Tatsachen. Und seinem
Geiste entstammt eine Reihe auf das feinste ausge-
bildeter Untersuchungsmethoden zur konkreten Erfas-
sung der Gegebenheiten. Unter ihnen nimmt die ent-
wicklungsgeschichtliche Betrachtung einen hohen
Rang ein. Mit Recht. Denn dieses Verfahren scheint
in besonderem Ausmaße geeignet, die Heranführung
der Erkenntnis an die Tatsachen zu unterstützen und
uns wirklich in den Besitz konkreten Wissensstoffes zu
setzen. Daher seine unendlich häufige, beinahe unaus-
gesetzte Anwendung sowohl in den Natur- als auch
in den Geisteswissenschaften. Seiner Hilfe vor allem
verdanken wir eine unermeßliche Fülle neuer und
154
wertvoller Einsichten auf allen Gebieten de« Wissens.
Darüber erstattet die Entwicklung der Wissenschaften
etwa in den letzten hundert Jahren einen eindrucks-
vollen Bericht, d. h. in demjenigen Zeitraum, in dem
jene Betrachtung zum Hauplverfahren für die Heran-
schaffung neuen Wissensstoffes erhoben worden ist.
Aber gerade an diesem Verfahren läßt sich die
Gefahr gut verdeutlichen, die für die Einzelwissen-
schaften in einer überstarken Hinwendung zur Tat-
sachenwelt entsteht. Denn ebenso wrie wir Menschen
so verlangen auch die Wissenschaften nicht nur mate-
riale Bereicherung und stoffliche Anfüllung, sondern
zugleich Einheit und Gesetz, sollen sie nicht bei einer
allzu üppigen und rein inhaltlichen Wissensmehrung
die Herrschaft über ihr Gebiet verlieren. Unablässige
Zufuhr an neuem Wissen bringt die Wissenschaften
in den Zustand der Verstopfung. Sie werden unüber-
sichtlich. Die Wissenschaft ist mehr als ein Waren-
lager, in dem tausend verschiedene Dinge aufgesta-
pelt werden. Eine einseitige Anhäufung von Stoff-
massen hindert nicht nur die für jede Wissenschafter-
forderliche Systematik, sie beeinträchtigt auch die
Möglichkeit zu einheitlicher W'ertgebung und Sinn-
deutung. Eine übergroße Vielheit von Erscheinungen
verwirrt das Bewußtsein und erschwert die Aufstellung
einheitlicher Wertmaßstäbe und die Durchführung ei-
ner einheitlichen Prüfung.
2 ) Außer diesen mehr intellektuellen und theoreti-
schen Schwierigkeiten ergeben sich aus der realisti-
schen Überhäufung der Erkenntnis mit Kenntnisma-
155
terialien aber noch andere, gerade für uns recht be-
achtenswerte Verwicklungen. Entfällt nämlich die
Möglichkeit zu einheitlicher W ertgebung, dann wird
der Mensch durch die Mannigfaltigkeit der Erschei-
nungen in den Zustand einer merkwürdigen Unruhe
versetzt. Es erhebt sich nicht nur eine Befürchtung
und Sorge hinsichtlich ihrer begrifflichen Beherr-
schung, ihrer gedanklichen Vereinheitlichung und
Einheitlichkeit, sondern eine solche Verschiedenheit
übt auf uns auch einen eigentümlichen seelischen Ein-
druck aus. Wo und wie können wir die Fülle an-
packen, um mit ihr praktisch fertig zu werden? Man
muß einmal in sich selbst den Reiz verspüren, den die
Erhebung einer stofflichen Mannigfaltigkeit in die
Höhe sinnvoller Einheit in uns auslöst. Mit einem
Male wird diese Fülle nicht nur begreiflich, sie wird
nicht nur durchdrungen vom „Begriff“ und auf diese
Weise geeint, sie selber scheint außerdem eine innere
Klarheit, eine künstlerische Gestalt, eine- begründete
Wesensform zu gewinnen, ohne die sie ein Opfer ihrer
Vielheit würde und dem Chaos verfiele. Wer aber
vermag diese intellektuelle, moralische und künstle-
rische Vereinheitlichung zu leisten? Die realistische
Hingabe an die Stoffwelt oder die Formkraft des Idea-
lismus?
Seinen höchsten Ausdruck findet dieser theore-
tische und praktische Einigungstrieb in dem Gedanken
an die Existenz Gottes bzw. der Götter. Denn wie
Gott in seiner Macht die Fülle des Seins zusammen-
faßt, wie er die Vielheit verbindet und bindet, wie
er kraft des von ihm gestifteten Gesetzes der Ordnung
156
die Millionen umschlingt, so bürgt er in seiner Existenz
und in seinem Walten auch für die Dauer der Einheit.
Er ist der Überwinder des Chaos, und all sein Tun ist
ausgezeichnet durch ein ordnungssetzendes Maß, eben
durch die Schöpfung des Kosmos. Weil Gott aber in
dieser Form schafft, vermag der durch die Über-
fülle der Erscheinungen verwirrte und verängstigte
Mensch sich durch den Glauben an Gott zu beruhigen
und zu erlösen. Und eine Haltung oder eine Wissen-
schaft oder ein philosophisches System, durch die wir
in dem Bedürfnis nach der Erkenntnis übergreifen-
der Einheiten unterstützt und in unseren Hoffnungen
auf die Existenz solcher Ordnungen bestärkt werden,
übt außer der entsprechenden theoretischen auch
eine „praktische“, eine moralische, eine religiöse Wir-
kung aus.
3) Eine Entwicklung nach dieser Richtung kann
der Geist jedoch nur dann zeigen, wenn er den realisti-
schen Drang nach einem immer größeren Mehr an
Tatsachen zügelt, ln der Bedingtheit aller Tatsachen
offenbart sich die Mannigfaltigkeit des Seins, aber zu-
gleich seine Hinfälligkeit: sie legt die Möglichkeit ei-
nes Abgleitens in das Nichts, in den Zerfall nahe. So
fordert das Sein um seiner selber willen die Kraft der
Einheit. Denn erst sie verbürgt ihm seine W irklich-
keit. Und um der Erkenntnis dieser Sicherung und
Sicherstellung der Erscheinungen willen rufen wir die
Wissenschaften mit auf. Aus theoretischen, aus see-
lischen, aus moralischen und aus religiösen Gründen
sollen sie uns nicht bloß eine Nachricht über die Tat-
157
Sachlichkeit der Erscheinungen übermitteln, sondern
sie sollen uns auch überzeugen von dem Gesetz ihrer
Einheit und von der Einheit ihres Gesetzes, d. h. von
ihrer Unbedingtheit. Wir stehen damit vor einer der
größten Paradoxien der Wirklichkeit: Gerade ihre
Realität findet ihre Stütze und ihre Rechtfertigung
nur in der Idealität des Gesetzes, in der Idealität der
Einheit, in der Idee der Unbedingtheit.
Wer aber ermöglicht den Wissenschaften diese Wen-
dung zur Idee? Ohne diese Erhebung, durch die aller-
dings die Beziehung zur Welt der konkreten Erfah-
rung nicht gänzlich unterbunden oder unterbrochen
werden darf, könnten sie ihre Aufgabe nur einseitig
erfüllen. Sic blieben alsdann eben allzusehr den
Tatsachen ausgcliefert, zu sehr an sie gebunden, dem
Realismus allzu stark verhaftet.
Die Antwort auf die soeben aufgeworfene Frage
ist nicht schwer. Jene Erhebung bildet das Werk der
Philosophie. Aber welcher Philosophie? Vor der
Antwort auf diese Frage wollen wir einen Augenblick
bei der Überlegung verweilen, ob es für die Philoso-
phie überhaupt in vollem Umfange möglich und ge-
boten ist, dem realistischen Gesichtspunkt treu zu blei-
ben und als ihr Hauptgesetz die restlose Achtung vor
den Tatsachen anzuerkennen. Wie also steht es um
das Verhältnis des Realismus zur Philosophie über-
haupt bzw. um ihr Verhältnis zu ihm. W ir treten damit
an die Beantwortung der dritten Frage heran, nämlich
an die, welches Ausmaß an Geltung und an Recht wir
unter philosophischem Gesichtspunkt der Wirksamkeit
des Sachtriebes zubilligen können (Vgl. oben S. 152).
158
c) Die Bindung nn den Positivismus.
Die realistische, an die Tatsachen sich haltende
Tendenz in der Philosophie, allerdings nur ein Son-
derzweig innerhalb ihrer umfassenden Entwicklung,
erreicht ihre höchste Spitze in der Ausbildung des so-
genannten Positivismus. Er ist zu verschiedenen Ma-
len in der Geschichte der Philosophie aufgetreten. Er
meldet sich fast stets als eine Art von Opposition gegen
den Hochflug des Idealismus, er tritt also in der Form
einer Kritik des Idealismus auf. Er will gegenüber
der idealistischen Richtung in der Philosophie eine
„Wirklichkeitslehre“ sein, wie Eugen Diihring (1833—
1921) den Realismus und Positivismus bezeichnet
hat 1). Der Positivismus versucht, die Dinge so zu
nehmen, wie sic sind, bzw. wie sie uns in den Tatsa-
chen der Empfindungen gegeben sind.
Wir wenden uns hier gegen diese Auffassung mit
der doppelten Frage, ob eine derartige Aufnahme der
Dinge überhaupt möglich, ferner ob eine solche Auf-
nahme die eigentliche Aufgabe der Philosophie ist.
Die Dinge, deren Beachtung von dem Realismus so
nachdrücklich gefordert wird, können „an sich“ aus
physiologischen, aus psychologischen und aus logi-
schen Gründen gar nicht zur Erkenntnis gelangen.
Die von ihnen ausgehenden Reize erfahren bereits
innerhalb der physiologischen, dann weiter innerhalb
der psychologischen Zone die denkbar stärkste Um-
*) Die „Philosophie der Wirklichkeit“, wie sie Heinrich
Maier in einer Reihe hervorragender Werke entwickelt hat, hat
mit jener positivistischen Tendenz de» Realismus nichts zu tun.
159
bildung. Und innerhalb der für die Philosophie
wichtigsten Sphäre, innerhalb des eigentlichen Be-
reiches des Bewußtseins, ist von dein Dingcharakter
der Dinge gar nichts mehr übrig geblieben. Die un-
ermeßliche Tiefe des Eingriffes in den gegebenen
Stoff durch die Aktivität der philosophischen Arbeit
wird nur verschleiert, wenn gewisse positivistische
Richtungen den philosophischen Aufbau der geistigen
Welt aus „Empfindungen“ als den Elementen der
Wirklichkeit vornehmen wollen (Ferdinand Avenari-
us [1843—1896], Ernst Mach [1838—1916] und in
gewissem Umfange auch Hans Vaihinger [1852—
1933]). Das Reich der Philosophie fängt in einer an-
deren Höhenlage an als in der, in der die „Empfin-
dungen“ ihre Quelle und ihre Heimat haben.
Es ist unbedingt geboten, sich einmal ernst und
entschlossen mit der Frage zu beschäftigen, was denn
eigentlich unter dem Gesichtspunkt der Philosophie
und von ihrem Standpunkt aus der Begriff der Tat-
sache, der Gegebenheit, der Erscheinung bedeutet,
und in welchem Umfange die Philosophie zu einer
Berücksichtigung des ihr durch die äußere oder die
innere Erfahrung übermittelten Stoffes verpflichtet
ist, ja, wie weit sie überhaupt eine solche Berücksich-
tigung vorzunehmen hat, wenn sie ihrer Idee treu
bleibt und ihre Selbständigkeit und Eigenart wahrt.
Schon bei dem ersten Durchdenken dieser Fragen
stellt sich die Einsicht ein, wie notwendig es ist, eine
ganze Reihe von Typen des Begriffes des Gegebenen,
des Realen, der Erscheinung zu unterscheiden. Im
alltäglichen Leben verstehen wir unter einer „Erschei-
160
nung“ etwas ganz anderes, als die positiven Einzelwis-
senschaften unter diesem Begriff verstehen. Und hei
ihnen bedeutet der Begriff der Erscheinung wieder
etwas anderes, je nachdem er in den Naturwissen-
schaften oder in den Geisteswissenschaften gebraucht
wird. Eine physikalische Erscheinung z. B. ist in
ihrer Existenz und in ihrem physikalischen Sinn nicht
eines und desselben Wesens mit einer religiösen oder
künstlerischen oder sittlichen oder politischen Er-
scheinung, Vollends aber wandeln sich Realität und
Realitätssinn der Erscheinung, wenn sich die Philo-
sophie mit diesem Begriff beschäftigt. Die Philoso-
phie versteht diesen Begriff im strengsten Sinne, so-
zusagen wortwörtlich. Sie denkt hei ihm sofort an
das, was in der Erscheinung und als Erscheinung sich
kundgibt, also an das Erscheinende als den Schöpfer
und Träger der Erscheinung, mithin an das „hinter“
ihr Wirkende oder an das „Absolute“. Und von ihm
aus begreift und deutet sie die Erscheinung. Sie
nimmt die Erscheinung eben genau als Er-Scheinung,
sie macht sie gleichsam durchsichtig, durchscheinend,
sie schaut durch sie hin auf das in ihr erscheinende
Unbedingte. Im höchsten Sinne gesprochen: Es han-
delt sich bei ihr um ein „Spiel“ mit der Erscheinung,
um die Haltung der Freiheit ihr gegenüber. Davon
wird noch zu reden sein. Die Einzelwissenschaften
dagegen sehen von der Erscheinung in keiner Weise
ab. Im Gegenteil, sie halten sich an sie, um sie mit
ihresgleichen in einen gesetzlichen Zusammenhang zu
bringen. Sie sind mithin stärker an der Realität der
Erscheinungen interessier! und ungleich mehr an sie
11 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
161
gebunden, als das bei der Philosophie der Fall ist
oder besser: der Fall sein kann und sein darf.
Damit haben wir ersichtlicherweise eine außeror-
dentlich ernste Problematik berührt: Das Verhältnis
der Philosophie zur Welt der Erscheinungen über-
haupt. Und da hier der Begriff der Erscheinung als
Stellvertreter für den Begriff der Wirklichkeit steht,
natürlich nicht der absoluten, sondern der relativen,
sich eben als Erscheinung und in der Erscheinung
verwirklichenden Realität, so befinden wir uns in. a.
W. vor der Frage nach dem Verhältnis der Philoso-
phie zur Realität. W ir können diese Frage auch an-
ders und mehr in Verbindung mit einer Reihe zeit-
genössischer Richtungen und Forschungsinteressen in
der Philosophie ausdrücken und dann sagen: Vor uns
erhebt sich die Überlegung nach dem Verhältnis der
Philosophie zur Phänomenologie als der Lehre von
den Erscheinungen. Das ist eine Frage, die an sich
und in ihrer Beantwortung von einer nicht hoch genug
zu veranschlagenden Bedeutung für die Entscheidung
über das philosophische Recht des Realismus und für
seine Beibehaltung in der Philosophie ist. Hier muß
es sich klären, ob und in welchem Sinne die realisti-
sche Haltung ausreicht, um die Grundlage für eine
der Idee der Philosophie gemäße Betrachtung der
Wirklichkeit abzugeben. Damit erwartet den Realis-
mus selber die Kritik. Damit erwartet oder trifft ihn
vielleicht sogar die Krise, die er so oft über den Idea-
lismus heraufzubeschwören gewünscht und versucht
hat.
162
3. Die Wendung zur Phänomenologie1).
a) Unter dem Begriff der Phänomenologie fassen
wir hier eine Reihe von Richtungen zusammen, die,
untereinander in Einzelheiten verschieden, ihre Zu-
sammengehörigkeit doch in dem gemeinsamen Bemü-
hen besitzen, den Erscheinungen nahe zu kommen
und die Gesetzlichkeit des Gegebenen, nicht die äu-
ßere, die physikalische, auch nicht die innere, die
psychologische, sondern die logische und die logisch-
einleuchtende, die evidente Gesetzlichkeit in der
Form und in der Verbindung der Erscheinungen zu
erfassen, einsichtig zu machen und in Urteilen zu for-
mulieren. So durchwaltet die verschiedenen Phäno-
menologien ein bemerkenswerter logischer Zug: In der
Form und Gestalt von Urteilen soll das „Wesentliche“
an den Erscheinungen ausgesprochen werden. Ge-
lingt diese „Reduktion“ (Husserl), dann ist die Er-
scheinung bzw. Erscheinungsgruppe im philosophi-
schen Sinne erkannt. Es ist über sie alles ausgesagt,
was von einer „wissenschaftlichen“ Philosophie ver-
langt werden kann. Zugleich aber sind auch alle
Phänomenologien auf die Wahrung der Beziehung der
Urteile zur gegenständlichen Wirklichkeit bedacht.
Es handelt sich um keine freie, spekulative, aus der
formalen Kombination und aus der kombinatorischen
Konstruktion der Gedanken, der Begriffe, der Urteile
hervorgegangene Logik, sondern um eine im ausge-
*) Vgl. die ausgezeichnet lehrreiche, klare und scharfsinnige
Schilderung dieser Wendung hei Ernst von Aster „Die Philoso-
phie der Gegenwart“, Leiden 1935. S. 54 ff.
11*
163
sprochenen Sinne des Wortes auf das Sein sich stüt-
zende Logik, um eine Logik des Seins, um eine der be-
schreibenden Erfassung der gegebenen Phänomene
zugewendete, also um eine ,.ontologische“ Logik (vgl.
oben S. 57 ff.).
Als wir an der soeben angeführten Stelle den onto-
logischen Einwand gegen den Idealismus besprachen,
wurden auch die Gründe für die Wendung zur
Ontologie und Phänomenologie gekennzeichnet. An
dieser Entwicklung sind viele und bedeutende For-
scher beteiligt, und schon daraus ergibt sich ihre
Bedeutung. Ihr strömen von den verschiedensten
Forschungsbereichen zahlreiche und wertvolle Be-
gründungen und Förderungen zu. Von der allge-
meinen Philosophie aus z. B. durch Nikolai
Hartmann („Grundzüge einer Metaphysik der Er-
kenntnis“ 1921, „Ethik“ 1926, „Das Problem des gei-
stigen Seins“ 1933, „Ontologie“ 1935) und von der
Existenzialphilosophie Martin Heideggers („Sein und
Zeit“ 1927, „Vom Wesen des Grundes“ 1929, „Was ist
Metaphysik?“ 1927) und Karl Jaspers' („Philosophie“
1932); außerdem von der Seite der Soziologie aus
durch Max Scheler (z. B. „Zur Phänomenologie und
Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und
Haß“ 1913, „Der Formalismus in der Ethik und die
materiale Wertethik“ 1913—1916, „Vom Umsturz der
Werte“ 1919, „Die Wissensformen in der Gesellschaft“
1920); dann von der Logik und Psychologie her durch
Moritz Geiger („Systematische Axiomatik der Eu-
klidischen Geometrie“ 1924, „Die Wirklichkeit der
Wissenschaften und die Metaphysik“ 1930), durch
164
Richard Hoenigswald („Die Grundlagen der Denkpsy-
chologie“ 1925) und durch Alexander Pfänder („Lo-
gik“ 1921); ferner von der Kunstwissenschaft und Cha-
rakterologie aus, wie sie z. B. von Max Dessoir („Äs-
thetik und allgemeine Kunstwissenschaft“ 1906) und
von Emil Utitz („Grundlegung der allgemeinen Kunst-
wissenschaft“ 1. Bd. 1914, 2. Bd. 1920 und das von
Utitz herausgegehene, schon erwähnte „Jahrbuch der
Charakterologie“) vertreten wird. Die Mehrzahl die-
ser Forscher steht in einer unmittelbaren oder mittel-
baren Beziehung zu Edmund Husserls bahnbrechen-
den Leistungen, von denen hier nur genannt seien
seine „Logischen Untersuchungen" (1900) und vor
allem seine „Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie“ (1913). Und
von Husscrl aus geht dann die Linie zurück zu Franz
Brentano, dessen wir schon oben gedachten ( S. 57),
Nicht gering zu achten sind für diese Wenduns
zur Wirklichkeitslehre auch die von W ilhelm Dilthey
und seiner Schule, der sogenannten geisteswissen-
schaftlichen und strukturpsychologischen Betrach-
tung, ausgehenden Anregungen und Beiträge*).
b) Wenn wir dieser weitverbreiteten und vielzweigi-
gen Bewegung jetzt aber mit einer philosophischen
Prüfung gegenübertreten, so dreht sich das Blatt ent-
schieden zu Gunsten des Idealismus. Gewiß; Die Phi-
losophie kann und darf die gegebenen Phänomene
l) Vgl. darüber meine Schrift „Wilhelm Dilthey“, Ber-
lin 1933.
165
nicht vernachlässigen, sie muß auf ihre Heranholung
und Beschreibung bedacht sein. Woher würde sie
sonst den Inhalt für ihre Welterkenntnis und Welt-
deutung beziehen? Und für die Zuführung neuer In-
haltswerte, für die Auffüllung der Philosophie durch
reichste Lieferung neuen Stoffes haben die verschie-
denen phänomenologischen und realistischen Rich-
tungen eine ergiebige Beute herangetragen. Zum
Glück ist der Prozeß dieser Zufuhr noch keineswegs
beendet. Er kann es auch nicht sein. Denn das Feld
der Erfahrung ist unabsehbar groß und unerschöpf-
lich. Und die Herantragung neuen Wissensstoffes ver-
sorgt die Philosophie nicht nur mit dem ihr notwen-
digen Material, sie verhindert nicht bloß einen ge-
danklichen Leerlauf, sondern sie unterstützt auch die
Philosophie in ihrem notwendigen Bestreben, die Be-
ziehung zur Realität aufrecht zu erhalten und auf
diese Weise wirklich eine Lehre von der Wirklichkeit
zu sein.
Unverkennbarerweise hat dieses Bestreben noch
eine wesentliche Verstärkung erfahren besonders
durch die Entstehung und Ausbildung derjenigen rea-
listischen Phänomenologie, die sich nicht auf einzelne
Gruppen von Gegebenheiten bezieht und beschrankt,
also nicht bloß auf die Erscheinungen logischer oder
psychologischer oder ästhetischer oder soziologischer
Akte, die mithin nur eine phänomenologische oder
realistische Logik oder Psychologie oder Ästhetik oder
Soziologie anstreht. Wir meinen vielmehr jene Phä-
nomenologie, die sich ganz in die ganze Wirklichkeit
stellt, in die gewaltige Wirklichkeit und in die wirkli-
166
ehe und schöpferische Gewalt des Lebens. Das ist die
Lebensphilosophie von Friedrieh Nietzsche und Wil-
helm Dilthey, von Henri Bergson und Georg Simmel,
von Ernst Troeltsch. auch von Oswald Spengler und
dem Grafen Hermann Keyserling u. a. Sie unter-
nimmt den entschlossensten und kräftigsten Sprung
mitten hinein in die Wirklichkeit. Mit welcher Ein-
dringlichkeit schildert Nietzsche die unendliche Kraft
des Lebens. In dieser Hinsicht steht ihm Dilthey
nicht nach. Nur ist sein Ton weniger erregt, weniger
leidenschaftlich, aber gerade wegen seines mehr wis-
senschaftlichen Charakters mindestens ebenso über-
zeugend wie die glühenden Ausbrüche Nietzsches.
Nach dieser Auffassung stammen sämtliche Er-
scheinungen der Kultur aus der schöpferischen Unend-
lichkeit des Lebens. Mithin auch die Philosophie.
Deshalb verfällt eine Philosophie, die diese Abhängig-
keiten nicht wahrhaben oder unterbinden will, dem
schärfsten Tadel. Sie wird als leerer Formalismus,
als ein hölzernes Gebilde, als die taube Frucht eines
weitabgewendeten und lebensfremden akademischen
Geistes verurteilt und abgelehnt. Im Gegensatz dazu
wird diejenige Philosophie mit allem Lobe und mit
der Anerkennung bedacht, wirklich Philosophie, d. h.
eine umfassende und vorurteilslose Erkenntnis der
Wirklichkeit zu sein, die sich bei jedem Schritte ihrer
Herkunft aus dem Leben bewußt bleibt und jede Er-
kenntnis an dem Leben prüft. Wie sie ihre Quelle
in dieser Kraft des Lebens besitzt, so besteht auch ihr
Hauptanliegen darin, das Leben in die Schau, in die
Sicht zu bekommen und seine verschiedenen Schich-
167
ten und Ketten in unvoreingenommener Auffassung
erst einmal zu beschreiben.
Diese Hingabe an die Wirklichkeit bestimmt auch
das Verhältnis dieses Realismus und dieser Phänome-
nologie zur Metaphysik. Die Hauptvertreter dieser
W7endung erweisen sich fast ausnahmslos und auf
Grund einer gewissen Folgerichtigkeit als Gegner der
Metaphysik. Einige von ihnen rechnen die Metaphy-
sik überhaupt zu den vergangenen und überlebten
Größen, und lassen sie nur noch als einen Gegenstand
geschichtlicher Berichterstattung oder psychologi-
scher Analyse gelten, was zum Beispiel Nietzsche und
Dilthey tun1)- Andere wieder behaupten, und zu
ihnen gehört u. a. Nikolai Hartmann, vorläufig habe
die Philosophie mit der Aufnahme und Verarbeitung
des neuen Stoffes noch eine so riesige und fruchtbare
Arbeit zu leisten, daß seine metaphysische Ausdeu-
tung und seine Konstruktion zu einem philosophi-
schen System einer viel späteren Zeit Vorbehalten und
überlassen werden könne.
c) Damit aber kommen wir auf eine weiter oben
aufgeworfene Frage zurück (Vgl. S. 162 ff.). Ist mit
jener realistischen Hingabe an die Erscheinungswelt,
ist mit jener phänomenologischen Aufgeschlossenheit
nun wirklich schon die philosophische Haltung ge-
wonnen? Äußert sich in jener Hingabe nicht eine zu
starke geistige Passivität? Wenn wir diese Frage von * S.
1) Vgl. mein Buch „Geist und Weh der Dialektik“, 1929,
S. 67 ff., 79 ff.
168
dem Gesichtspunkt der Philosophie aus ins Auge fas-
sen, so ist ihre Bejahung unumgänglich. Gewiß, auch
in der Aufnahme der Erscheinungen, in ihrer Schau
und Sicht, in ihrer phänomenologischen Analyse und
in der Zuriickführung auf die ihnen wesentlichen Zü-
ge steckt ein reiches Stück Arbeit. Jedoch noch kei-
ne Produktivität im philosophischen Sinne. Weshalb
das nicht der Fall ist, werden wir bei der Betrachtung
der Grundzüge des Idealismus genauer sehen (vgl.
S. 189).
Wir halten uns zunächst erst bei der kritischen
Frage gegenüber der Wendung zur Phänomenologie
und dem Rechte dieser Wendung auf. Frage und
Antwort werden uns dazu führen, den Gegcnschlag ge-
gen den Realismus führen zu können. Das soll hei-
ßen: Wenn die Angriffe des Realismus gegen den Idea-
lismus für den letzteren eine Krise heraulzubeschwö-
ren schienen und eine solche Krise auch tatsächlich,
wenngleich in einem geringeren Umfange als behaup-
tet für ihn hervorgerufen haben, so ergibt sich aus
der Verteidigung des Idealismus eine ungleich stär-
kere Krise für den Realismus.
d) Aber um ganz gerecht und objektiv zu verfah-
ren, und um jede Gellungsmöglichkcit des — allmäh-
lich zu einem Rückzugsgefecht zu zwingenden—Rea-
lismus gebührend zu erwägen, wollen wir zu seiner
Rechtfertigung noch eine Betrachtung anstellen.
Wie die Philosophie ihren schöpferischen Ur-
sprung in dem zu ewigen Fragen befähigten Geiste des
Menschen und in der Kraft seines metaphysischen
169
Suchen» besitzt, so drehen sich auch alle ihre Mühen
und Sorgen in einem letzten und höchsten Sinne im-
mer wieder um den Menschen. Von allen besonde-
ren Interessen- und Forschungsrichtungen abgesehen,
ist doch dasjenige Sein, dasjenige Leben, das sie zu
erkennen strebt, das Sein und das Leben des Men-
schen. Wenn die Lebensphilosophie den Grund für
alle Erscheinungen der Kultur im geschichtlichen
Leben erblickt, so ist unter diesem Begriff nichts ande-
res gemeint und zu verstehen als der Begriff des Men-
schen. In dem Dienst dieser Blickrichtung auf den
Menschen stehen auch die moderne Phänomenologie
und der moderne Realismus, wie eigentlich die Phä-
nomenologie und der Realismus aller Zeiten. Und
wenn der energische Realist Ludwig Feuerbach (1804
— 1872), der auch mit Recht zu den Phänomenologen
gezählt werden kann, einmal erklärt, die Theologie
sei nicht anderes als Anthropologie, so kann vielleicht
in noch höherem Sinne die Philosophie als Anthropo-
logie bezeichnet werden. Zumal für die Phänomenolo-
gie trifft diese Gleichsetzung in weitem Umfange zu.
Das zeigt sich deutlich in einer der wichtigsten Rich-
tungen der Phänomenologie, in der sogen. Charakte-
rologie, wie sie z. B. von Emil Utitz, Ludwig Kiages,
Friedrich Seiffert u. a. mit reichem Ertrage ausgebaut
wird.
Was aber versteht diese phänomenologische An-
thropologie unter dem Menschen? Den seienden, den
in bestimmten Erscheinungen sich offenbarenden und
gegebenen Menschen, denjenigen Menschen, der be-
stimmten äußeren oder inneren Abhängigkeiten un-
170
tersteht. Sie übersieht also keineswegs die seeUsche
und die geistige Natur des Menschen. Aber auch die-
ses seelische und geistige Leben versteht sie unter dem
Gesichtspunkt seines Gegebenseins in tatsächlichen
Akten logischer, ästhetischer, religiöser, emotionaler
u. s. w. Art. Selbst da, wo sie sich mit dem Reich der
Werte beschäftigt, bezieht sie sich auf das Erschei-
nungsreich der Werte, also auf die sachlich gebunde-
nen Werte. Also z. B., auf die Gebundenheit eines
Wertes oder einer Wertreihe an logische oder an
ästhetische Akte oder an Intentionen. Doch bei die-
sen Intentionen, bei diesen in einem solchen Akte wir-
kenden Absichten, denkt sie an „wirkliche“ Intenti-
onen, wie solche psychologisch nachweisbar sind, und
an Akte und Intentionen, die auf Seiendes, auf Gegen-
ständliches bezogen sind und von ihm aus ihren Sinn
und Wert erhalten.
Und das ist nun eben das Entscheidende. Dadurch
verdeutlicht sich der empirische Charakter dieser
phänomenologischen Anthropologie. Sie hat bei ihren
Untersuchungen nicht die reine Spontaneität und Idea-
lität des Menschen im Auge. Sie sieht — von ihrem
Standpunkt aus mit vollem Recht — nicht au? den
ideellen Sollenssinn im Wesen des Menschen, nicht
auf seine geheimnisvolle Kraft zur Stellung sich nie-
mals verwirklichender Aufgaben, auf seine im eigent-
lichen Sinne „ethische“ Haltung. Sie sieht lediglich
auf das Ergebnis der Arbeit an diesen Aufgaben, auf
denjenigen Teil seiner spontanen Tätigkeit, der sich
in tatsächlichen Leistungen ausdrückt, und seien diese
Leistungen auch „ideeller“ Natur.
171
Doch da erhebt sich die Frage, oh diese Anthro-
pologie den ganzen Menschen, vor allem den Men-
schen in der reinen Idealität seines Denkens und
seines Wollen» sieht, also den Menschen, der
die unerhörte Begabung besitzt, sich in seiner
Freiheit von seiner Gegebenheit zur Aufgegeben-
heit, von seiner Realität zur Irrealität, von Sein
zum Sollen zu erheben. Sobald jene Phänomenolo-
gie die „idealen“ und als solche „irrealen“ Akte un-
tersucht, z. B. das Bewußtsein des Sollens oder das
der Pflicht, nimmt sie dieselben als tatsächliche Er-
lebnisse, als tatsächliche Gefühle, nimmt sie sie als
Seiendes! Diese Umsetzung des ideellen Sinnes eines
Aktes in die Realität zeigt sich deutlich in der phäno-
menologischen Erkenntnislehre Franz Brentanos.
Nach ihr stellt das „Urteil“ nicht eine ideelle und
apriorische Synthese im Sinne des kritischen Idealis-
mus Kants dar, sondern einen Akt der Anerkennung
bzw. der Verwerfung von Seiendem. Das heißt: Es
enhält seinen Sinn und Wert vom Sein aus, und seine
Geltungsart ist bestimmt durch denjenigen Bestimmt-
heitsgrad, mit dem es Seiendes erfaßt. Wenn wir die-
se höchste Geltungsart als „Wahrheit“ bezeichnen, so
ruht der Grund der Wahrheit nicht in einer ideellen
Forderung, nicht in einer nur in der Stimme der sitt-
lichen Pflicht sich meldenden Norm, sondern in dem
tatsächlichen Erlebnis der Evidenz, also in dem wirk-
lichen Gefühl: So ist es und nicht anders.
Oder denken wir an die allgemeinsten Forschungs-
gegenstände dieser Phänomenologie und Anthropolo-
gie, an die Gegenstände, die als die „Gestalten“ des
172
Seins bezeichnet werden. Dann zeigt sie sich auch als
Morphologie von jener Tendenz zum Realismus und
von der Abhängigkeit vom Sein erfüllt. Denn sie
sucht die wirklichen, nicht die aufgegebenen, nicht die
„ideell seienden'“ Gestalten zu entdecken, nicht jene
Gestalten, an die Plato in seiner Ideenlehre denkt.
Auch als Morphologie ist die Phänomenologie eine
Scinslehre, jedoch kein Platonismus. Sie hat vielmehr
die platonische Idee der Gestalt aus ihrer dialekti-
schen Freiheit hereingezogen in die erfahrungsmäßige
Wirklichkeit, damit dem Vorbilde des größten Rea-
listen, des größten Seinslehrers folgend, dem Vorbitde
des Aristoteles, ln Aristoteles besitzt die Wendung
zur Phänomenologie ihren geschichtlichen und syste-
matischen Ursprung. Dann aber bedeutet die Wen-
dung zur Phänomenologie zugleich die Wendung zur
Philosophie des Stagiriten. Diese Beziehung wird
hauptsächlich durch Franz Brentano vermittelt, einen
der treuesten, wenngleich selbständigen Schüler des
Aristoteles (vgl. S. 57 ff,).
e) Zugleich offenbart sich darin die Einseitig-
keit dieser Wendung. Sie kann nicht die Geltung be-
anspruchen, eine Erneuerung der Philosophie aus der
ganzen Fülle der Idee der Philosophie heraus zu sein.
Diese Idee ist der Totalität ihres Sinnes nach in den
allgemeinsten Umrissen verkörpert in der Dialektik
Platos, der umfassendsten und freiesten, weil ganz auf
dem Schöpfertum des Logos gegründeten Form des
Philosophierens. Deshalb besitzen wir auch an der
Dialektik Platos den Maßstab für die Bestimmung
173
nicht bloß des philosophischen Wertes einer philoso-
phischen Bewegung, sondern zugleich das Kriterium
für die Erkenntnis des Umfanges und der Qualität,
in denen eine solche Bewegung die Idee der Philo-
sophie aufnimmt und zu verwirklichen sucht. Genau
ebenso wie der Aristotelismus einen Teil und einen
Zug, allerdings einen sehr wertvollen und berechtigten
Zug, innerhalb der Universalität des Platonismus dar-
stellt, so stellt auch die Wendung zum Realismus und
zur Phänomenologie nur einen Teil und einen Zug
innerhalb der Universalität der dialektischen Philo-
sophie dar. Schon die Zurückhaltung der Phänome-
nologie gegenüber der Metaphysik, aber nicht weniger
der beachtenswerte Umstand, daß sic keine normati-
ve Ethik entwickelt hat bzw. zu entwickeln sich be-
müht, verraten den spezialistischen Zug in dieser Art
des Philosophierens, Auch sie ist nur ein Ast oder
nur ein Zweig an dem Ur- und Riesenstamm der Dia-
lektik Platos.
Keineswegs soll durch diese Kennzeichnung ihr
zweifellos vorhandener Wert verkleinert werden. Die-
se Kennzeichnung dient nur der Aufgabe und Absicht,
das Wesen und den W;ert dieser Wendung zur Phä-
nomenologie innerhalb der allumfassenden Entwick-
lung des Platonismus zu beleuchten. Und aus unseren
Darlegungen dürfte sich nun auch die Voraussetzung
für eine Kritik der Behauptung ergeben, »laß der mo-
derne Realismus eine Krise über den Idealismus her-
aufbeschworen habe. Die moderne realistische Phäno-
menologie ist ja nur ein Moment in der schöpferischen
Selbstentwicklung des Idealismus Platos. Diese Ent-
174
wicklung umfaßt und beherrscht die gesamte Ge-
schichte des abendländischen Denkens, also auch die
Geschichte der Philosophie. Somit schränkt sich das
Recht jener Behauptung in nicht geringem Umfange
ein. Von einer Krise, die den Idealismus durch die
Angriffe des Realismus betroffen habe, kann nur in
folgendem Sinne die Rede sein: Innerhalb des unend-
lichen Ausbaus des dialektischen Idealismus, wie er
von Platon geschaffen worden ist, muß auch dieje-
nige Tendenz einmal stärker zur Geltung gelangen,
die sich von der Innerlichkeit des Geistes mehr ab-
und der Sachwelt mehr zuwendet. Damit aber wird
die idealistische Richtung weniger in Frage ge stellt
als vielmehr in ihrer Universalität bestätigt. Das heißt:
Jene Krise ist ein Moment der Selbstförderung in der
Verwirklichung der platonischen Dialektik. Denn
zum Wesen der Dialektik gehört beides: die Idealität
des Denkens und die Beziehung auf die Realität; die
Selbaterfassung der Vernunft und die Erfassung der
Erscheinungswelt innerhalb des Prozesses der Selbst-
verwirklichung des Logos.
So ist der Realismus eine Seite an der Dialektik
des Idealismus. Und der tiefste und fruchtbarste Sinn
der gegenwärtigen Wendung wäre dann insofern eine
Krise des Idealismus, als in dieser Krise die Forderung
der Erneuerung des Idealismus in seiner platonisch-
dialektischen Ur- und Vollgestalt laut würde. Auf
diese Weise würden wir nicht die mehr negative, mehr
zur Verneinung führende Tendenz in der Kraft der
Krise gewahren, sondern mehr ihre aufbauende, ihre
schöpferische, ihre bejahende Funktion. Alsdann
17S
würde sich aber auch die dem Idealismus nachgeeagle
Krise als ein ihm für seine Entwicklung notwendiges
und fruchtbares Moment erweisen. Und von der Be-
zeichnung „Krise“ fiele jeder tadelnde Nebengedanke
weg. Eine solche Reinigung und Wendung des Begriffes
der K rise würde auch ihrer positiven und unentbehr-
lichen Leistung für die Kultur entsprechen.
Diese positive Bedeutung und Leistung der Krise
besitzt ihre Wurzel in dem Geiste des Idealismus. In
seiner Kraft und in seiner Freiheit, nämlich darin, das
Wagnis der Krise aus sich heraus entstehen zu lassen
und sich in dieses Wagnis zu begeben, ruht nicht in
letzter Linie die Überlegenheit seines Rechtes und sei-
ner Geltung.
4. Der neue Dogmatismus.
Der Realismus, ganz gleich in welchen Formen er
auftreten mag, steht niemals vor oder in der Situa-
tion der Krise. Er befindet sich in einem ungleich ge-
sicherteren Zustand als der Idealismus. Diese Be-
hauptung erweckt zwei Fragen. Erstens: Was ist unter
diesem gesicherten Zustand zu verstehen? Wie ist er
begründet? Zweitens: Gereicht er dem Realismus ge-
rade unter philosophischem Gesichtspunkte auf jeden
Fall zur Empfehlung?
a) Was die erste Frage betrifft, so rufe man sich
die eigentümliche Orientierung des Realismus an dem
Begriff des Seins, der Existenz, der Gegebenheit u. dgl.
ins Gedächtnis. Es handelt sich nicht um die kritische
176
Begründung der Erscheinungen aus den Vorausset-
zungen der Vernunft, sondern darum, der Erscheinun-
gen habhaft zu werden, sich ihres Seins zu vergewis-
sern und ihr Sein in seiner Unerschütterlichkeit zu be-
schreiben. Dabei drängt das erkennende Bewußtsein
immer mehr, immer enger an die Sphäre des Seins
heran. Es steht ihr nicht irgendwie gegenüber als eine
ihr ebenbürtige, als eine selbständige Größe, sondern
es dient ihr und ist nur darauf bedacht, aus dem Sein
so viel an Erkenntnis der Gegebenheiten heraus/uho-
len, als möglich ist.
Bei dieser Hinneigung zur Seinssphäre glaubt das
erkennende Bewußtsein die Entdeckung seiner Zuge-
hörigkeit zu dieser Sphäre zu machen; als sei es selber
ihr und ihren Zusammenhängen eingebettet, als stellte
es einen Teil ihrer Realität dar. Wir können diese Er-
kenntnis auch mit den Begriffen der Lebensphiloso-
phie ausdrücken. Das erkennende Bewußtsein verliert
angesichts der behaupteten Allmacht des Lebens die
Überzeugung seiner Unabhängigkeit von dieser All-
macht. Es gilt nur als ein Neben- oder Unter-
strom in der alles umgreifenden und alles tragenden
Gesamtströmung des Lebens. Und lediglich darum,
weil es einen Teil des allgemeinen Lebens ausmacht
und ihm innerlich zugehört, kann es, so lautet die Leh-
re der Lebensphilosophie, eine Erkenntnis des Lebens
erreichen. So bedeutet das Leben mithin nicht mehr
bloß den Gegenstand der Erkenntnis, sondern auch
seinen eigentlichen Schöpfer und Träger, und es ist
deshalb auch für die Erkenntnis verantwortlich.
Welcher erstaunliche, welcher philosophisch, weit-
12 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
177
anschaulich, seelisch, moralisch bedeutungsvolle Wan-
del hat sich damit vollzogen! ln dem Zustand der
Selbständigkeit ist das erkennende Bewußtsein immer
in einer eigentümlichen Bedrohung. Wo soll, wo kann
es den Halt für sich, für seine Arbeit und für seine Er-
gebnisse hernehmen? Wenn es auf sich selbst bezogen
bleibt, steht ihm die Gefahr nahe, den sichernden An-
schluß an die Realität zu verfehlen und höchstens
zu einer formalen, aber zu keiner gegenständlichen
Erkenntnis zu gelangen. Erfaßt und versteht es sich
aber als ein Stück des Lebens, dann weiß es sich in der
Allmacht dieser Realität geborgen und gegründet. Je-
der seiner Schritte verläuft unter dem Schutze des
Lebens und unter der Prüfung durch das Sein. Also
nicht das erkennende Bewußtsein schafft die Grund-
legung für das Sein, sondern umgekehrt, das Sein oder
sagen wir besser: das Leben gewährt der erkennenden
Vernunft die Grundlegung. In theologischer und re-
ligiöser Ausdrucksweise würde diese Wendung und
Entscheidung folgendermaßen ausgesprochen werden
können: Gott als der Inbegriff alles Seins schafft der
erkennenden Vernunft die Möglichkeit, die Gesetzlich-
keit und die Gewißheit der Erkenntnis. Er ist ihr
Fundament.
Diese — uralte — Auffassung vom Wesen der Er-
kenntnis und von ihrem Verhältnis zum Sein pflegt
als Dogmatismus bezeichnet zu werden. Indem wir
uns dieser Benennung als Charakteristik jener Hal-
tung bedienen, die dem Realismus zugrunde liegt, ist
uns nichts ferner, als mit ihrem Gebrauch ein ab-
schätziges Werturteil über die Art des realistischen
178
Denkens zu verbinden. Aber bei dem Versuche, ihn
einer philosophischen und das heißt: einer kritischen
Würdigung zu unterziehen, müssen wir auch jene
Züge hervorheben, die ihm vom Standpunkt der Phi-
losophie aus nicht durchweg zum Vorteil gereichen.
Denn um es kurz und klipp und klar zu sagen: Dem
Realismus eignet auf Grund seiner Blickeinstellung zur
Gegebenheit, mag es die relative Gegebenheit der Er-
scheinungswell oder die absolute Gegebenheit Gottes
oder die des allmächtigen Lebens sein, ein unverkenn-
barer und tiefer Zug der Unfreiheit. Die Autorität
des Seins übernimmt die Herrschaft über die Auto-
nomie der Vernunft und beeinträchtigt diese Au-
tonomie.
In den Ausdrücken Autorität und Autonomie ge-
langen aber nicht nur philosophische Haltungen und
bestimmte Arten der Erkenntnis zu begrifflicher Be-
stimmung, sie weisen auch auf allgemeine geistige
Verhaltungsformen und schließlich auf große ge-
schichtliche Mächte und Bewegungen hin. Genera-
tionen und Zeitalter unterscheiden sich dadurch von-
einander, daß die eine Generation oder Zeit mehr dem
Prinzip der Autorität, die andere mehr dem der Auto-
nomie zuneigt. Schließlich wirkt sich der unendliche
Kampf der Geschichte in der Auseinandersetzung
zwischen diesen beiden geistigen Gewalten aus. Sie
durchkreuzen und verschlingen sich in jedem einzel-
nen Menschen. Und ein großer Teil unserer Lebens-
kunst, unserer Bildung in allen ihren Verzweigungen,
unserer Entwicklung und nicht zuletzt unserer Lebens-
freude und unseres Lehensglückes besteht in den un-
12*
179
aufhörlichen Bemühungen um eineu vernünftigen und
gerechten Ausgleich zwischen den Gesetzen der Au-
torität auf der einen und denen der Autonomie auf
der anderen Seite, ln dem ununterbrochenen Wech-
selspiel von Bindung und Freiheit, Gehorsam und
Selbstverantwortlichkeit vollzieht sich die Selbstver-
wirklichung des geschichtlichen Daseins.
So bezieht sich der innerhalb der Philosophie und
innerhalb der Wissenschaften auftretende, sozusagen
nur intellektuelle Dogmatismus auf die Kraft und
Geltung einer allgemeinen, sehr realen dogmatischen
Geisteshaltung. Sie stellt den großen geschichtlichen
Gegensatz zu den autonomen Plänen und Entschlüssen,
den autonomen Ideen und Leistungen der Vernunft
dar. in dem Wesen der geschichtlichen Vernunft,
die in Millionen von Schöpfungen hervortritt, sind das
autoritäre und das autonome Prinzip zu einer höch-
sten dialektischen Einheit und zu einer schwer-
sten dialektischen Polarität miteinander verbunden.
Herrscht der Geist der Autorität, dann gilt jede Ge-
gebenheit als eine verehrungsvoll hinzunehmende
Realität. Deshalb ist dieser Geist eines und dessel-
ben Wresens mit dem Geiste des Dogmatismus. Herrscht
hingegen der Geist der Autonomie, dann ist jede Ge-
gebenheit zunächst ein Problem, zunächst eine Auf-
gabe. Deshalb ist dieser Geist eines und desselben
Wesens mit dem Geiste der Kritik.
b) Damit aber sind wir dazu gelangt und dafür
vorbereitet, eine Antwort auf die zweite Frage zu
geben (vgl. S. 176). Beruht der Realismus auf einer
180
dogmatischen Geisteshaltung, dann können wir von
dieser Erkenntnis aus seinen philosophischen Wert
näher bestimmen.
Nun zählen Realismus und Dogmatismus seit den
Tagen des Aristoteles zu den wichtigsten Standpunk-
ten und Richtungen in der Philosophie. Eindrucks-
volle und einflußreiche Denker sind seine Vertreter.
Außer Aristoteles seien hier nur noch der H. Thomas
und Spinoza genannt. Bei anderen Philosophen
durchkreuzen sich die realistisch-dogmatische und die
idealistisch-kritische Haltung. Dann entstehen wich-
tige und wertvolle Mischformen der Philosophie,
also die Systeme des kritischen Realismus und des
dogmatischen Idealismus. Ein System der ersteren
Art liefert sich bzw. das Denken nicht einfach dem
Sein aus, so hoch eine solche Philosophie die Macht
der Realität auch immer stellen mag, sondern es prüft,
ob und wieweit das Denken die Fähigkeit zur Er-
kenntnis des Seins habe, es prüft auch den Wert des
Seins bzw. die von dem Denken aufgedeckten Schich-
ten des Seins. Dann aber ist es eben kein reiner
Realismus. Durch die Aufnahme und Verwen-
dung des Momentes der ..Prüfung“ zeigt es eine
Anlehnung an den idealistischen Geist. Denn
eine Prüfung des Seins läßt sich nur von einem
„freien“, also von einem nicht an das Sein gebunde-
nen Geist vornehmen. Und frei ist der Geist gemäß
der idealistischen Auffassung. Ein System der zwei-
ten Art, also des dogmatischen Idealismus, huldigt
dem schöpferischen Geist nicht in blindem Vertrauen,
so sehr es auch auf die Kraft des Geistes baut, falls es
181
überhaupt den Charakter philosophischen Denkens
aufweisen und wahren will. Irgendwo und irgendwie
finden sich in solchen Systemen, wie die mittelalter-
liche Scholastik zeigt, mehr oder minder ausgespon-
nene Ansätze zu einer Kritik der Erkenntnis durch
den Geist und zu einer Kritik des Geistes durch die
Erkenntnis. Damit aber unternimmt dieser Dogma-
tismus eine Anleihe bei dem Kritizismus, bei dem kri-
tischen Idealismus. Also lehnt auch er sich notwen-
digerweise an den Idealismus an. Denn eine „Prü-
fung“ des Wesens und der Geltung des erkennenden
Geistes ist stets und unweigerlich ein Bekenntnis zum
kritischen Idealismus.
Wie also der reine und sozusagen absolute Realis-
mus und Dogmatismus für den Zweck seiner Begrün-
dung des kritischen Idealismus bedarf, wenn er den
Charakter eines selbstverantwortlichen Philosophie-
rens tragen will — und was wäre Philosophie ohne
diesen Geist der Selbstverantwortlichkeit und Auto-
nomie? — so benötigen auch die genannten philoso-
phischen Misohformen der Hilfe des kritischen Idea-
lismus. Anderenfalls müßte auch ihnen die Aner-
kennung vorenthalten werden, wirklich philosophi-
sche Standpunkte zu sein. —
Die realistische Phänomenologie in allen Spiel-
arten ihrer Ausbildung, d. h. nach allen Richtungen,
in denen sie auf die Erfassung und auf die Heran-
führung der Erscheinungen an die Erkenntnis einge-
stellt ist, bleibt, alles in allem genommen, auf halbem
Wege stehen, auf der Hälfte jenes W^eges, der in die
182
Höhe des freien, keinem Sein, sondern nur der Ver-
nunft verantwortlichen und eben deshalb selbstver-
antwortlichen Denkens führt. Bei einer ruhigen, ein-
gehenden und unvoreingenommenen Prüfung aller
Systeme des Realismus und des Dogmatismus wird
sich folgende Einsicht einstellen: ihre eigentliche
Wendung zu einem wirklichen Philosophieren kann
erst erfolgen, und sie erfolgt tatsächlich erst in dem-
jenigen Augenblicke, in dem der Geist der Kritik
und die Kritik des Geistes ihre Herrschaft über jeg-
liche Art von Gegenständlichkeit antreten und ge-
winnen. Eine andere Frage ist es natürlich, ob sie
imstande sind, diese Herrschaft auf die Dauer auf-
recht zu erhalten und rein und unverfälscht zu be-
wahren. Vielleicht bekundet sich darin eine eigenar-
tige und unaufhebbare Antinomie des Idealismus: Er
vermag seine philosophische Geltung niemals unge-
kürzt durchzusetzen. Er bedarf der Gegebenheiten,
u. z. schon darum um an ihrer wissenschaftlichen Be-
wältigung sich zu bewähren und sein Wesen zu ent-
falten. Dafür aber muß er etwas von der Freiheit
des Geistes opfern. Er bringt dieses Opfer um der
Entwicklung, um der Auswirkung, um der Verwirk-
lichung seines Wesens willen. Aber auch bei seiner
Verwirklichung verliert er seine Freiheit nicht an die
Gegenstände. Er läßt kein Sein zu der erdrückenden
Macht eines Dogmas anwachsen. In dieser Selbstän-
digkeit offenbart sich der entscheidende Zug seines
Wesens. Mit aller Sorgfalt achtet er auf die Wahrung
derjenigen Grenze, an der die größte philosophische
Gefahr entstehen könnte, die nämlich, in eine Abhän-
183
gigkeil von einem Sein zu geraten. Was für jede an-
dere Geisteshaltung die Geltung eines Dogmas be-
sitzt, bleibt für ihn ein Gegenstand der Kritik und als
solcher demgemäß ein Problem.
c) Aus diesem Grunde ergibt sich aus der phäno-
menologischen Wesensschau moch nicht ihr Platonis-
mus. Auch Plato lehrt die Wesensschau. Aber die
phänomenologische Wesensschau Platos und die der
Phänomenologie decken sich nicht, ja. sie berühren
sich sogar nur in einigen Punkten. Die moderne
phänomenologische Abart ist erstens einfacher, zwei-
tens mehr sachgebunden als die Schau der Ideen bei
Plato. Ihre größere Einfachheit zeigt sich in dem
prinzipiell bis zur Ausschließlichkeit gesteigerten
Vorwiegen der rein theoretischen Haltung, in jener
Leidenschaftslosigkeit, in jener Intellektualität, mit der
der Mathematiker seine Dreiecke und Kreise erschaut.
Plato hingegen schaut die Gestalten der Erscheinungen
mit einem vom Eros durchglühten Logos. In dieser
Schau der „Ideen“ durch den flammenden und en-
thusiasmierten Logos sind unaufhörlich die denkbar
schärfsten Strömungen zu moralischer und ästheti-
scher Wertgebung wirksam. Wie die Ideen selber
nicht bloß von dem Standpunkt einer reinen, ab-
strakten, in der Sphäre wertfreier Intellektualität ver-
bleibenden Theorie aus erfaßt werden, so sind sie auch
selber keine wertfreien, keine nur erkenntnismäßiger
Gestalten der Erscheinungen. Sie sind im höchsten
und vollsten Sinne universale, dialektische Wertfor-
men. sie sind dialektisch werthaltige Formen. In
184
ihnen walten und wirken sämtliche schöpferischen
Kräfte des zur Wert Verleihung befähigten und Werte
erzeugenden Logos und Eros und Ethos.
Dieser Auffassung und Bestimmung des Wesens
der Ideen entspricht die Dialektik und Universalität
des platonischen Idealismus. Er vereinigt in sich alle
idealistischen Einzelrichtungen, den idealistischen Ra-
tionalismus ebenso wie den idealistischen Ethizismus.
den idealistischen Ästhetizismus ebenso wie den idea-
listischen Zug in der Philosophie der Religion. Wenn
nach Plato die Eigenart des Philosophen darin be-
steht, sich mit den Menschen und den Dingen nicht
eines äußeren Vorteils wegen zu beschäftigen, son-
dern sie in reiner Theorie aufzunehmen und die Er-
kenntnis um der Erkenntnis willen zu treiben, so be-
deutet der Begriff der Theorie bei ihm doch eine
höchst universale Haltung. Durch sie unterscheidet
sich der wahre Philosoph von dem Durchschnittsmen-
schen. Sie ist ferner dem mehr theoretisch-rationa-
len Schauen der modernen Phänomenologie ebenso
überlegen, wie Plalos Begriff der Erkenntnis der bloß
formalen, vorherrschend rationalen und logischen Aus-
bildung und Gestalt des phänomenologischen Begrif-
fes der Erkenntnis überlegen ist. Niemals betrachtet
Plato seine Arbeit mit der reinen Schau und der rei-
nen Beschreibung der Phänomene und mit der Er-
schließung neuer Phänoraengruppen und Phänomen*
bereiche beendet. Thm genügt es nicht, nur einen
offenen Blick und eine „objektive“ Würdigung der
Wahrnehmungen zu gewinnen. Eine solche, in sich
geschlossene Betrachtung würde ihm überhaupt des
185
philosophischen Standpunktes und der persönlichen
Entschiedenheit, mit der die Einnahme eines solchen
Standpunktes erfolgt, entbehren. Als Philosoph will
er die Erkenntnis nicht bloß den Phänomenen hin-
halten und aualiefern. Sein Bewußtsein soll mehr
als ein bloßer Spiegel der Gegebenheiten sein. Den
Sophisten, seinen bitter gehaßten Gegnern, wirft er
den leidenschaftlich wiederholten Einwand entgegen,
durch ihren Relativismus und Utilitarismus nicht« an-
deres als ihre philosophische Standpunktlosigkeit zu
bekunden und damit den Mangel des Mutes zur Über-
nahme einer Verantwortlichkeit an den Tag zu legen,
einer Verantwortlichkeit, die von der unerschütterli-
chen Kraft des Ethos getragen ist. Rücksicht auf di?
gegebenen Verhältnisse, sei es eine theoretische oder
eine praktische Rücksicht, gilt ihm als des Philoso-
phen unwürdig. Als Denker fühlt und weiß sich
Plato verpflichtet, eine unerschrockene und vielfach
bis auf das letzte gehende Umwandlung und Empor-
hildung der Realität vorzunehmen. Davon ist auch
die Macht der jeweils herrschenden politischen Par-
teien nicht ausgeschlossen. Plato vergeistigt, er durch-
geistigt, er sublimiert die Erscheinungswelt. Er läßt
sich von ihrer Größe und Schwere nicht überwältigen
Keines ihrer Gebilde übt einen so starken Eindruck
auf ihn aus, daß dadurch die Freiheit der Kritik aus-
geschlossen wäre. Allem, was sich ihm darbietel, steht
er mit jener schöpferischen Freiheit gegenüber, die
sich für den wahren Philosophen geziemt. Zu deut-
lichstem Ausdruck gelangt diese Freiheit in der mut-
vollen Aufstellung von Werttafeln, von Nonnen, von
186
Maßstäben und ln der entsprechenden Entschlossen-
heit, den Stoff der Erscheinungen durch die Anwen-
dung dieser eniporbildeiiden Formen zu veredeln.
Der Philosoph behält sich das Recht vor, und er übt
auch das Recht aus, das Gegebene seiner Erdhaftig-
keit zu entkleiden, an der Verbesserung, an der sitt-
lichen Vervollkommnung des Seienden zu arbeiten, es
zu werten, es zu deuten, es umzugestalten.
Damit aber entschlägt er sich nicht bloß des Dog-
matismus des Seins, sondern er tritt auch weil hinaus
über den Rahmen der reinen Theorie, über den Um-
kreis und über die Geltung einer phänomenologischen
Analyse des Gegebenen. So erhebt er sich über allen,
an die Tatsächlichkeit der Erscheinungen gebunde-
nen und standpunktlosen Dogmatismus. Er erweist
sich viel mehr als ihr kühner idealistischer Kritizist
und kritischer Idealist, ln dieser Freiheit, einem
Standpunkt im höchsten Sinne, überwindet er den
Dogmatismus der Standpunktlosigkeit. In dieser Frei-
heit offenbart sich die herrliche Ironie des Sokra-
tes. Denn dort walten die Freiheit der philosoph.-
sehen Kritik und die Kritik durch die Freiheit, wo
die Freiheit der Ironie und die Ironie der Freiheit
walten und umgekehrt. In dieser Ironie und Freiheit
kommt es zur Geburt und Auswirkung des philosophi-
schen Spieltriebes, einer der erstaunlichsten und ge-
waltigsten, schöpferischsten und revolutionärsten Be-
gabungen des Menschen. Durch diese Ironie und Frei-
heit kommt es zu einem „Spiel'"' mit den Erscheinun-
gen. Allerdings zu einem Spiel, das ganz erfüllt ist
sowohl von dem Gefühl der Verantwortlichkeit ge-
187
genüber dem Sein als auch von dem ^ issen um den
Wert des Seins, aber eben einer kritischen Verant-
wortlichkeit und einem kritischen Wissen.
Mit diesen Andeutungen aber haben wir uns schon
den positiven Zügen des Idealismus zugewendel. Das
sind jene Züge, die ihn als den für die Philosophie
unentbehrlichen, ja ihr zugrunde liegenden Gesichts-
punkt und als die die Idee der Philosophie verwirk-
lichende Haltung gegenüber dem Sein kennzeichnen
und beglaubigen. Diese Behauptung ist jetzt zu be-
gründen und zu rechtfertigen.
188
C. WESEN UND NOTWENDIGKEIT
DES IDEALISMUS.
1. Idealismus und Philosophie.
Der hier dem Beweis unterstellte Leitsatz lautet
also: Der kritische Idealismus bzw. der idealistische
Kritizismus — inwiefern Idealismus und Kritizismus
Wechselbegrilfe sind und geradezu zusammengehören,
wird, abgesehen von dem darüber bereits Gesagten,
noch zur Sprache kommen — bildet nicht eine ein-
zelne Richtung innerhalb der Gesamtheit der Philo-
sophie. Er ist auch mehr als bloß das Gegenbild zum
Realismus, ln ihm gelangen vielmehr Wesen und
Wert der Philosophie überhaupt, ihr ideeller Sinn
und ihre Lebensbedeutung, zu geschichtlicher und
grundsätzlicher Verwirklichung. Ihm gegenüber stel-
len die verschiedenen Arten des Realismus die Mög-
lichkeiten und die Mittel der Vorbereitung für
die eigentliche Arbeit der Philosophie dar. Der Rea-
lismus ist, auch in den wertvollen Gestalten der Phä-
nomenologie und der Existentialphilosophie ebenso
wie in denen der Lebenephilosophie, eine Propädeutik
zur Philosophie. Wir schätzen die Leistungen diese!1
Propädeutik keineswegs gering. Sie sind, um es
189
noch einmal zu sagen, der Philosophie unentbehrlich
als Wege zur Beschaffung des Materials und selber als
Stoffmagazine. Darüber hinaus kann in ihnen auch
ein philosophischer Geist walten, ln diesem Falle
aber wird sich in einer solchen Tätigkeit immer die
Mitarbeit idealistischer Konstruktionsformen und idea-
listischer Wertgebungen entdecken lassen.
Indem wir nun die oben formulierte These zu be-
gründen suchen, entwickeln wir mit den Hauptpunk-
ten des Idealismus zugleich die Gründe und Momente
seiner entschiedenen Überlegenheit über den Realis-
mus. Alle diese Gründe und Momente sind es, die
das Versagen des Realismus offenbaren und erklär-
lich machen, wenn er einmal bis auf das Letzte hin
einer grundsätzlichen Prüfung seiner philosophischen
Bedeutung, seiner philosophischen Ansprüche und
seiner philosophischen Leistung unterworfen wird.
Beachtenswerterweise ist jedoch die Inangriffnahme
und Durchführung dieser Prüfung nur von dem Stand-
punkt des kritischen Idealismus aus möglich. Und
da das Amt der Prüfung zu den Hauptpflichten der
Philosophie gehört, zeigt sich der kritische Idealis-
mus als diejenige Haltung, die der Philosophie die
Grundlage für die Ausübung einer ihrer wesentlich-
sten und wichtigsten Obliegenheiten bietet.
a) Der idealistische Zug zur Synthese und zur
Systematik.
Sowohl im anerkennenden und lobenden als auch
im ablehnenden und tadelnden Sinne ist so oft auf
190
die der klassischen Philosophie eigentümliche Ten-
denz zur Zusammenfassung und Vereinheitlichung
hingewiesen worden* Im ablehnenden und tadelnden
Sinne durch die wiederholten Einwände, jede Syste-
matik beruhe auf bestimmten, aus einer geistigen Ein-
seitigkeit und aus vorgefaßten Annahmen hervorge-
gangenen Voraussetzungen. Besonders Nietzsche hat
den Weg der Systematik darum bemängelt, weil er
angeblich in „Vorurteilen“ verwurzelt sei und die Tat-
sachen nicht ungehindert sprechen, sie nicht zu freier
Entfaltung und zu ihrem Rechte kommen ließe. So
wirke jedes philosophische System und jede systema-
tische Philosophie wie ein Prokrustesbett. Es zu zer-
stören bzw. sich seiner überhaupt erst gar nicht zu be-
dienen, sei die Aufgabe und Pflicht jedes gesunden
Realismus, der auf die Natur der Erscheinungen ge-
bührend Rücksicht nehme.
Im Gegensatz zu dieser Stellungnahme sehen wir
eine möglichst strenge Vereinheitlichung der erarbei-
teten Wissensmassen geradezu als eine selbstverständ-
liche Notwendigkeit und als eine unaufhebbare Be-
dingung jedes Philosophierens an. Zugunsten des
Rechtes der Systematik sprechen bereits die großen
philosophischen Systeme. Jeder Klassiker hat zu ei-
nem System hingestrebt und ein System in einer mehr
oder minder durchgeführten Gestalt geschaffen. Und
wenn ein Plato und ein Aristoteles, ein Thomas von
Aquino, ein Duns Scotus, ein Descartes, ein Spinoza,
ein Leibniz, ein Kant, ein Fichte, ein Schelling, ein
Hegel, ein Schopenhauer uswr. jenem Streben ent-
sprochen haben, so muß ihm doch ein einleuchtender
191
und zwingender Anlaß zugrundeliegen. Denn wie
vermag die Philosophie ihre erste und nächste Auf*
gäbe zu erfüllen, die darin besteht, eine einheitliche
Erkenntnis der Vielheit des Seins zu gewinnen, ohne
die Anwendung der synthetischen und der systemati-
sierenden Bewußtseinsformen und ohne ihre Zusam-
menfassung unter die höchste systematische Einheit,
nämlich in der und unter die Einheit der Vernunft?
In der Tat: Das Recht zur Systematik und die
Ausübung dieses Rechtes mit Hilfe einer konstrukti-
ven Methode verneinen oder preisgeben, das bedeu-
tet, die Vernunft aus dem Spiele lassen wollen. Denn
die Vernunft ist das höchste und entscheidende Eini-
gungs- und Einheitsvermögen des Menschen. In ihr
wirkt sich die „synthetische4- Kraft des Geistes über-
haupt aus. Wie schon ohne die bindende Vernunft
keine einzelne Wissenschaft in Angriff genommen und
aufgehaut werden kann, so ganz besonders nicht die
Philosophie als die W issenschaft der Wissenschaften.
Selbst da, wo sie sich zu einer rein zergliedernden Ar-
beit anschickt, bedarf sie der Synthese für die Durch-
führung der Analyse, falls die letztere nicht ins We-
senlose zerflattem und in ihren Vereinzelungen sich
verlieren soll. Eine Analyse kann ihre Fruchtbarkeit
nur unter der Führung durch eine übergeordnete Sy-
stematik entfalten. Die W ahrheit dieser Gedanken
ist allzu offenbar, als daß noch eine weitere Ausfüh-
rung erforderlich wäre.
Wer aber vertritt in philosophischer Hinsicht den
Gedanken der Systematik? Wer ferner verleiht die-
sen Gedanken die notwendige philosophische Begrün-
192
düng und Rechtfertigung? Das kann begreiflicher-
weise der Realismus angesichts seiner Zuwendung zur
Wirklichkeit nicht tun. Seine Kraft ist durch die
Rücksicht auf die Fülle der Gegebenheiten in An-
spruch genommen. Sobald er diese Fülle binden und
vereinheitlichen will, stützt und beruft er sich in und
mit dieser Tätigkeit auf die synthetische Kraft desGei-
stes. Ob er es ausspricht oder nicht: Mit dieser Stüt-
zung und Berufung vollzieht er die unerläßliche Wen-
dung zu einer idealistischen Wirklichkeitsauffassung.
Denn die Eigentümlichkeit des Idealismus besteht in
einer Hinsicht darin, die Grundlegung und Sicherung
der Wirklichkeit durch jene synthetische Kraft zu
beglaubigen und den Nachweis dafür zu führen, daß
ohne diese Systematisierung und Synthetik von einer
Wirklichkeit weder im Ganzen noch in ihren Ein-
zelheiten mit Vernunft gesprochen werden kann.
Jede Aussage, auch die geringste, über das Wirk-
lichsein irgendeiner Erscheinung ist von jener Ver-
nunftsystematik abhängig, u, z. schon deshalb weil so-
gar von einer „Gegebenheit überhaupt“ oder von der
thelische Funktion der Vernunft wirksam ist. Ist aber
gar von einer „Gegebenheit überhaupt“ oder von dar
„Wirklichkeit“ die Rede, dann bedarf es keiner lan-
gen Überlegung, auch nicht für den philosophisch
nur wenig Geschulten, um in derartigen Behauptun-
gen die synthetische Arbeit der Vernunft zu gewah-
ren. Sind doch alle derartigen Begriffe in ihrem We-
sen und in ihrer Geltung allgemeinste Konstruktions-
formen, d. h. sie sind „Ideen“. Als Ideen aber sind sie
Geschöpfe der unendlichen Produktivität des Geistes.
13 A. Liehert. Dip Krise d. Idealismus.
193
Sie sind keine Realitäten oder aber: Sie sind Reali-
täten, nur eben solche geistiger, ideeller Art. Jede
Wirklichkeitslehre hat schon insofern, als sie eine
„Lehre“, eine Wissenschaft ist, einen Bezug zum Idea-
lismus. Ferner läßt sich das, was „Wirklichkeit“ sinn-
haft ist, nur von der Warte des Geistes und nicht von
der sogenannten Tatsache aus bestimmen, l'm der
Erkenntnis der Erscheinungen willen muß sich die
Erkenntnis in das Reich des Geistes, in das Reich der
Ideen erheben oder anders ausgedrückt; Ohne Einbe-
ziehung in das Reich der Ideen bleibt jede 1 at-
sache ein unerkennbares X. Daß sie ist und was sie
ist, bleibt immer bestimmt durch die schöpferische
Tat des Geistes, auf die der Idealismus alles Sein be-
gründet. Wenn ich von einer Erscheinung spreche,
so ist damit viel mehr als eine einfache Feststellung
vollzogen. Im Begriff der Erscheinung, der Gegeben-
heit, der Tatsache usw. steckt immer der Gedanke an
eine Aufgabe, an ein Problem. Ferner steckt in ihm
eine Wertung, eine Deutung. Und diese Wertung und
Deutung erfolgt immer von der Grundlage und unter
der Leitung des Idealismus.
b) Der idealistische Mut zur Konstruktion.
In enger Verbindung mit dem idealistischen Zug
zur Systematik steht der ebenfalls idealistische Zug
zur Konstruktion. Aber während die Systematik mehr
Idee und Voraussetzung, mehr Forderung und Plan
bedeutet, stellt die Konstruktion den Weg der Erfül-
lung dieser Forderung dar. Das heißt; Sie ist die
194
Methode der Ausführung u. z. in der zwingenden
Form der einheitlichen Ableitung der Gegebenheiten
aus einem Einheitsprinzip, d. h. sie ist die Methode
der Deduktion.
Wie gegen die Bemühungen tun die Gewinnung
der Systematik, so sind auch gegen das konstruktive
Verfahren viele und heftige Einwände erhoben wor-
den, Seinen Vertretern wird Gewaltsamkeit, Mangel
an Vorurteilslosigkeit und Objektivität vorgeworfen.
Der Tadel richtet sich gegen ihre Anlehnung an die
Mathematik und damit gegen ihre Verengung der
wissenschaftlichen Blickfreiheit und Blickweite. Passe
denn von allem Anfang jede Tatsache ohne weiteres
in das vorausgesetzte Konstruklionsschema? Dann
müßte zuallererst der Beweis für ihre grundsätzliche,
schon bei ihrer Schöpfung wirksame oder vorhandene
rationale Eingeordnetheit erbracht werden. Dann
müßte bei der Entstehung jeder Gegebenheit ein ei-
gentümliches Formprinzip tätig gewesen sein, nämlich
ein Formprinzip, das nicht bloß die Tatsache als
solche geformt, sondern sie auch zur Einfügung in
die Schubfächer des Verstandes und des erkennenden
Bewußtseins zurecht gemacht habe. Nun sei erstens
ein solcher Nachweis natürlich niemals zu erbringen.
Denn wer könne Gott in die Karten schauen und wis-
sen, wie es bei der Schöpfung in ihrer Allgemeinheit
und bei der Schöpfung jeder einzelnen Tatsache im
besonderen zugegangen sei, bei der der unzähligen
Tatsachen der Natur ebenso wie bei den unzähligen
Tatsachen der Geschichte? Zweitens widersprächen
doch neugefundene Tatsachen, wie tausendfache Bei-
13*
195
spiele lehren, dem Zwang der Einfügung in ein vor-
ausgesetztes Konstruktionsschema. Entweder veran-
lassen sie seine Änderung, seine Zurechtbiegung, seine
Anpassung an die tatsächlichen Befunde, oder sie be-
dingen seine Preisgabe. Eine solche Zureehtbiegung
beobachten wir jeden Tag. Der Gedanke an die Um-
wandlung der klassischen Physik zur modernen Rcla-
tivitätslehre liegt nahe. Während jene Physik mit
unbedingt gültigen Behauptungen, sogar mit unbe-
dingt gültigen Voraussagen gearbeitet habe, sei die
Relativitätstheorie in ihrer Bescheidenheit schon
ganz zufrieden, wenn für sie Aussagen mit einem bloß
statistischen Wert, mit dem Wert der Wahrscheinlich-
keit erreichbar seien (Vgl. oben S. 133 ff., besonders
S. 139 ff.). Oder um ein Beispiel für eine vollstän-
dige Preisgabe einer alten Wirklichkeitskonstruktion
zu nennen: Der Beginn der sogenannten Neuzeit ist
durch die umwälzende Entstehung der neuen mathe-
matischen Naturansicht gekennzeichnet, die sich von
Grund aus und in allen Richtungen von der mittelal-
terlich-theologischen Naturauffassung unterscheidet.
Diese und ähnliche Einwände sind uns schon aus
unseren früheren Darlegungen bekannt. Trotzdem
müssen wir ihnen gegenüber doch das Recht und die
Notwendigkeit einer ideellen Konstruktion der Wirk-
lichkeit durch die autonome Macht des Geistes ver
treten. Beziehen und beschränken wir das Recht und
die Notwendigkeit der Konstruktion jetzt nur auf die
Philosophie. Wie wir soeben die Unvermeidlichkeit
der Systematik in Hinsicht auf die Philosophie beton-
196
ten, so müssen wir mit derselben Strenge den Gedan-
ken der Unerläßlichkeit der Konstruktion unterstrei-
chen. Die Auflehnung gegen diesen Gedanken und
sein Recht erfolgt meistens nur auf Grund einer irri-
gen Vorstellung über das Wesen der ideellen Kon-
struktionsformen. Als handele es sich um eiserne
Fanggeräte, die der Natur des auf genommenen Stof-
fes die rücksichtsloseste Vergewaltigung zufügen.
Eine Haupteigenscbaft des Geistes äußert sich aber
gerade in seiner unerhört großartigen Dynamik. Nur
ist in dieser Dynamik der unwiderstehliche und um
des Stoffes willen notwendige Zug zur Konstruktion
im Sinne der einheitlichen Zusammenfassung, der ein-
heitlichen Wertung und der einheitlichen Deutung
wirksam. Wir können so sagen: Die Konstruierbar-
keit des Stoffes durch die synthetischen Bewußtaeins-
formen ist geradezu eine Bedingung für seine Er-
kennbarkeit. Es ist falsch, in ihr eine Vergewalti-
gung de« Stoffes und eine Tyrannei der Philosophie
zu sehen. Gerade ihre umgekehrte Würdigung ist
am Platze.
Die Konstruktion bildet nämlich einfach die not-
wendige Ergänzung und die nach dem Prinzip der
dialektischen Entsprechung gebotene Vervollständi-
gung zu der Offenheit und Weltzugewendetheit der
Philosophie. Wir wiesen schon weiter oben auf die
Haltlosigkeit der oft geäußerten Anklage gegenüber
der Philosophie hin, diese sei in vielen Fällen eine
lebensfremde Begriffskonstruktion und als solche ab-
geschlossen von den fruchtbaren Vorgängen des Le-
hens. Nun gehören ein feines Sehen und ein hoher
197
Grad der Ausbildung dazu, urn sogar in den schein-
bar rein akademischen Systemen der Philosophie die
in ihnen enthaltene Fülle der Wirklichkeit und den
Keichtum der Beziehungen zu gewahren, durch den
sie mit dem äußeren Sein der Natur oder mit der in-
neren Geschichte der Seele und mit der Seele der Ge-
schichte verbunden sind. Nicht selten besitzen ge-
rade diejenigen philosophischen Leistungen, die auf
ihre Nähe zum Leben pochen, sehr wenige wirkliche
Beziehungen zu ihm. Das für sie charakteristische
laute Reden über ihre Vertrautheit mit der Wirklich-
keit, über ihre Verwurzelung in den Tatsachen, in
dem Geschehen einer Zeit, in dem Wollen einer Ge-
neration, in den Sorgen und Nöten des Lebens, in den
Bedürfnissen einer gerade gegenwärtigen Entwick-
lungsstufe usw. tut es nicht. Oft ist ein solches Reden
nichts anderes als der Niederschlag einer propagan-
distischen Deklamation oder einer Ahnungslosigkeit
inbezug auf das wirkliche Wesen der Philosophie.
Es gibt kein System der Philosophie, das nicht
mittelbar oder unmittelbar, durch ein starkes Erleb-
nis, durch eine Wissenschaft oder durch einen großen
aufnahmefähigen Verstand in seiner Gesamtheit oder
durch tausend, nicht immer leicht aufspürbare Ein-
zelfäden mit der Wirklichkeit bzw. mit einem mehr
oder minder bedeutsamen Ausschnitt aus ihr in Ver-
bindung stünde.
Doch gerade aus dieser vielfältigen Beziehung zur
Wirklichkeit ergibt sich für die Philosophie die Not-
wendigkeit einer konstruktiven Regelung und Ord-
nung des Gegebenen. Diese Konstruktion ist nicht
198
ein Zeichen der Lebensfremdheit, sondern gerade um-
gekehrt ein Zeugnis der Offenheit und Aufgeschlos-
senheit der Philosophie. Sie ist ihr erforderlich nach
dem Gesetz der dialektischen Ergänzung. Wohin
würde es für die Philosophie führen, wenn ihre Ver-
treter nicht die ideelle Verpflichtung anerkennen und
nicht den Mut aufhringen würden, über die Mengen
der Gegebenheiten zu ihrer Konstruktion aufzusteigen?
Die Ablehnung dieser Verpflichtung und der Mangel
an diesem Mut widersprechen der Idee der Philoso-
phie. In vielen Fällen sind sie auch nur der Beweis
für das Vorhandensein einer Schwäche, die dann gern
in das Licht der Stärke gerückt wird. Die Liebe zu
den Gegenständen findet ihren Halt in der Sicherung
der Phänomene durch die Kraft der Konstruktion.
Nur auf diese Weise vermögen wir, sie uns zu eigen
zu machen, sie zu erkennen, sie zu werten, sie zu deu-
ten, d. h. alle diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die
durch die Idee der Philosophie gesetzt sind.
Aber auch hier brauchen wir nicht lange zu über-
legen, aus welchem Geiste die Anerkennung jener Ver-
pflichtung und die Aufbringung jenes Mute« stam-
men. Ihre Quelle ist eine „idealistische“ Gesinnung
gegenüber der Wirklichkeit, und ihr philosophischer
Ausdruck ist der Idealismus. Denn indem der Idea-
lismus die Grundlage der Wirklichkeit in der
Kraft des Geistes sieht, hat er damit jene Anerken-
nung und die Notwendigkeit jenes Mutes verkündigt
und zum Gesetz erhoben. In dieser Verkündigung
spricht sich die Energie des Geistes und sein Wissen
um die intellektuelle Verantwortlichkeit aus, die er
199
gegenüber der Erscheinuugswelt besitzt. Durch seine
konstruktive Energie und durch seine energische Kon-
struktion schützt er sie vor dem Verfall. Deshalb ist
ihr um ihrer selbst willen der Idealismus notwendig.
Er befreit sie aus einer andernfalls recht kritischen
und verhängnisvollen Lage, aus der, in dem Nebel
und Dunkel der Unerkennbarkeit zu verschwinden.
c) Der idealistische Zug zum Vniversalisinus.
Wie aber diese Konstruktion der Wirklichkeit
aus der vollen Tiefe des philosophischen Bewußtseins
hervorgeht, so sind in ihr die verschiedensten Ten-
denzen zu einer dialektischen Einheit verbunden.
Denn das philosophische Bewußtsein selber ist eine
dialektische Einheit in weitestem Ausmaße. Zwar
wird diesem Bewußtsein oft als Eigenart und als Vor-
zug nachgerühmt, die Haltung der reinen Betrachtung
und Erkenntnis einnehmen zu können. Oft wird von
ihm eine solche Haltung geradezu gefordert. Aber
diese Anerkennung oder diese Forderung entsprechen
nicht dem Sachverhalt, weder dem geschichtlichen
noch dem prinzipiellen. Denn alle wirklich schöpfe-
rischen philosophischen Systeme besitzen ihre Grund-
lage in einer über das formal-theoretische oder rein-
rationale Verhalten hinausgehenden Aktivität. In die-
ser philosophischen Aktivität und in dieser aktivisti-
schen Philosophie sind außer dem Triebe zur reinen
Erkenntnis immer und überall auch noch ethische und
ästhetische und religiöse Tendenzen wirksam. Und zu
ihnen gesellt sich von Anfang an eine universale An
200
des Erlebens. In diesem Erlebnis sind freieste liu-
endlichkeiteziige und Ordnungsfunktionen, höchste
Aufgeschlossenheit und sicherste Bindung in wunder-
barer und einzigartiger Weise miteinander verwoben.
Diese universale Synthese weisen alle jene Prinzi-
pien und Begriffe auf, mit deren Hilfe ein philosophi-
sches System aufgebaut ist. Den stärksten Ausdruck
und Beleg dieser ganz dialektischen Vereinheitlichung
stellt Plalos Begriff der Idee dar, die vielleicht größte
philosophische Gedankenschöpfung. Darum ist es
ebenso zutreffend wie zugleich einseitig, in Plato nur
den Vertreter einer Theorie der Erkenntnis oder nur
einer Ethik oder nur einer Ästhetik oder nur einer Re-
ligionslehre zu erblicken. Er ist das alles, aber alle?
zusammen und auf Grund einer schlechthin unver-
gleichlichen Synthese, einer Synthese von der höch-
sten Universalität. Durch sie hat er den philosophischen
Idealismus geschaffen u. z. sofort in einer Gestalt und
in einer inneren und äußeren Weite, in die alle fol-
genden Systeme bereits einbegriffen sind, und die die
Voraussetzungen für die ganze folgende philosophi-
sche Entwicklung darstellen. Diesen mehr-als-theore-
tischen Charakter und Gehalt zeigen die Grundbe-
griffe der Philosophie des Aristoteles, die Begriffe
Form, Stoff. Bewegung, Zweck, ihn weist der Begriff
der Substanz frei Descartes und bei Spinoza, ihn weist
mit besonderer Deutlichkeit die Hauptidee der gan-
zen sogen, spekulativen Philosophie Fiehtes, Schel-
lings, Hegels, nämlich die Idee des Absoluten, ihn
weist Schopenhauers Idee des Willens und Nietzsches
201
Gedanke des Willens zur Macht und Eduard von Hart-
manns Idee des Unbewußten auf usw.
Dieses Hinausgreifen über den Umkreis einer nur
theoretischen, einer nur „wissenschaftlichen“ Bedeu-
tung zur geistigen Universalität ist ein Grundzug aller
philosophischen Systeme. Mit ihm gehorchen sie einer
unabweisbaren Verpflichtung, nämlich der zur Meta-
physik und zur Entwicklung einer Weltanschauung.
Sie gehorchen ihr selbst um den Preis einer Über-
schreitung der Grenzen der eigentlichen wissenschaft-
lichen Objektivität und der objektiven Wissenschaft-
lichkeit. Immer wieder hat jedes philosophische Sy
stem darnach gestrebt, das Gepräge dieser Objektivi-
tät und Wissenschaftlichkeit zu gewinnen bzw. hat es
von sich behauptet, diesen Charakter zu besitzen.
Ganz gleich welche Gründe für jenes Streben oder für
jene Behauptung maßgebend waren, ganz gleich auch,
in welchem Sinne sie verwirklicht wurden — tatsäch-
lich hat kein System jene Grenzen genau innegehalten
und seine eigene Forderung beachtet. Den Ruhm rei-
ner Wissenschaftlichkeit hat es um seines Ausbaus
zur Metaphysik und Weltanschauung willen geopfert.
Und mit Recht.
Deshalb ist der bisweilen geäußerte Einspruch ge-
gen diese Wendung zur Weltanschauung gegenstands-
los. Wenn die Philosophie nur. wie verlangt worden
ist, Weltanschauungslehre, jedoch nicht selber Welt-
anschauung zu sein habe und sein könne, um ihren
Wissenschaftscharakter nicht zu verlieren, so ist ge-
gen diese Entscheidung ein mehrfacher Einwand zu
202
erheben. Erstens bedeutet die Philosophie als Wis-
senschaft etwas anderes als das, was wir unter dem Be-
griff einer Einzelwissenschaft verstehen. Die Wissen-
schaft der Philosophie bezieht sich auf kein einzelnes
und abgeschlossenes Gebiet des Seins wie jede Einzel-
wissenschaft, sondern auf das Sein überhaupt. Ferner
bearbeitet sie dieses universale Problem mit keiner
speziellen, sondern mit der universalen Methode der
Dialektik. Endlich tragen alle philosophischen Be-
griffe, zumal die philosophischen Grundbegriffe, ei-
nen universalen Charakter insofern, als sie nicht bloß
rationale, nicht bloß intellektuelle Elemente, sondern
Elemente aus sämtlichen Zonen des Geisteslebens in
sich enthalten. Wenn der Philosoph z. B, vom Sein
spricht, dann denkt er auch an das sittliche, an das
künstlerische, an das religiöse und an alle Arten des
gefühlsmäßigen Seins, aber er denkt daran, wenn er
ein wirklicher Philosoph ist, nicht nur mit seinem
Kopfe, sondern mit seinem ganzen Herzen, er denkt
an das Sein in jener universalen Haltung, in der der
Logos mit dem Eros, in der der Verstand mit dem
Willen zur Wertgebung und diese wieder mit dem
Gefühl und mit dem Erleben in dialektischer Einheit
verbunden sind.
Auf den gewaltigen ideellen Schwung in dieser
universellen und universalistischen Grundhaltung
sei nur kurz aufmerksam gemacht. Ebenso erübrigt
sich ein Eingehen auf ihre innere Verbindung mit dem
Geiste des Idealismus. Durch ihre Natur und Kraft
dringt ein machtvoller Strom des Idealismus auch in
solche philosophischen Systeme ein, die mehr dem
203
Realismus und sogar dem Naturalismus zuneigen. Da
aber diese Grundhaltung für die Philosophie und für
den Philosophen eine Bedingung schlechthin bedeu-
tet, überführt sie jeden Realismus und Naturalismus,
wenn diese von wirklich philosophischem Wert sein
wollen, in die Zone und Freiheit des Idealismus. Ja.
ihr Vorhandensein und ihre Wirksamkeit stellen ei-
nem System geradezu das Zeugnis seiner Zugehörig-
keit zu dem Geiste der Philosophie aus. Fehlt sie.
dann sind das Reich und die Freiheit dieses Geiste?
noch nicht gewonnen.
Welche anlockende und fruchtbare Aufgabe wäre
es, einmal die klassischen Systeme der Philosophie
auf diesen — immer idealistischen — Zug zum Uni-
versalismus hin zu untersuchen. Als aufklärendes
Beispiel sei hier die Philosophie Spinozas herange-
zogen u. z. mit umso größerem Rechte, als Spinoza
oft und gern zu den Realisten gezählt wird. Sein
„Idealismus“ offenbart sich aber deutlich genug in
jenem metaphysischen IJrerlebnie und in jener meta-
physischen Grundhaltung, die die persönliche und
sachliche Bedingung seines „Realismus“ abgeben, in
der intellektuellen Gottesliebe. Sie stellt den höch-
sten und reichsten Gemütszustand des Menschen dar:
sie ist, wie es in der Sprache der Renaissance (z. B.
bei Giordano Bruno) heißt, ein „heroischer Affekt“.
Kraft dieser Leidenschaft wdrd die Fülle der Erschei-
nungen nicht bloß in einer gewaltigen Schau enthu-
siastisch zusammengefaßt, sie wird zugleich — und
darin bekundet sich ihr tiefer idealistischer Zug —
als eine ewige Harmonie erlebt. Aber in dieses Er-
204
lebnis sind der Verstand und seine Denktormen mit
aufgenommen, dabei allerdings zur höchsten Vergei-
stigung gesteigert, ihrer rationalen Bindung entklei-
det und zu einem unendlichen Verstehen alles Seien-
den erhoben. Die unendliche Liebe und die unend-
liche Vernunft Gottes dringen in das Innere des Men-
schen ein und machen ihn zu einem Philosophen,
zu einem Weisen. Und indem sie in seiner Seele und
in seinem Wesen Gestalt gewinnen, erreicht der Phi-
losoph jenen Universalismus und jenen Humanismus,
jene Freiheit und jene alles bejahende Weltgesinnung,
die seinen Adelsbrief darstellen. Diese Grund- und
Werthaltung befähigt ihn zu vorurteilsloser Erkennt-
nis alles Seins in seiner unendlichen Einheit. Er ist
durch sie ein Bürger und ein Bürge der ganzen Welt.
Durch sie überwindet er alle räumlichen und zeitli-
chen Besonderungen. Durch sie spiegelt er in sich die
Ewigkeit des Seins. Aber er ist keineswegs nur ein
ruhiger Spiegel, der das Geschaute in reiner Betrach-
tung zurückstrahlt. Sondern weil er das Universum
in seiner Einheit und Vollendung erfaßt, befiehlt er
mit klaren und starken Worten, wie sich das Einzelne
zu verhalten habe, um in das Große hineinzupassen
und um die Harmonie des Ewigen und die Ewigkeit
der Harmonie nicht zu stören. Niemals begnügt sich
der Philosoph mit der reinen Universalität der theo-
retischen Betrachtung. In jedem Philosophen ruft die-
se Universalität zugleich mit wertender Mahnung auf
zu einem universalen Sollen. Der realistische Dogma-
tismus des Seins sinkt, und es erhebt sich der sittliche,
d. h. idealistische Dogmatismus des Sollen».
205
d) Der idealistische Zug zur Deutung und Wertung.
Die verbindende und vereinheitlichende Arbeit
der Vernunft ist eine der höchsten und wichtigsten
Tätigkeiten und Leistungen des erkennenden Bewußt-
seins. Aber mit nichtcn die höchste und wichtigste
Leistung überhaupt. Denn sie besitzt nur einen for-
malen Charakter. Dadurch wird der aufgenommene
Stoff wohl seiner Vereinzelung entkleidet und zur
Höhe und Bedeutung einer Ganzheit erhoben. Aber
die Gewinnung dieser Ganzheit hat noch keine wur-
zelhafte Umänderung des Gegebenen im Gefolge. Den-
noch vollzieht sich auch eine derartige Umwandlung.
Und gerade siefordert und vertritt der Idealismus min-
destens ebenso stark, wie er die Systematisierungs-
und Konstruktionsarbeit der Vernunft, von der so-
eben die Rede war, fordert und vertritt.
Es ist unzutreffend, sich das Wesen und die Tätig-
keit der Vernunft als einen einfachen Vorgang und
Vollzug vorzustellen. Und ebenso wenig einfach sind
die Ergebnisse dieser Tätigkeit. Durch die aus viel-
fältigen Kraftströmen synthetisch verwobene, also dia-
lektische Einheit der Vernunft wird der Erfahrungs-
stoff nicht bloß zur Erkenntnis gebracht, er wird nicht
bloß seiner nichtssagenden dumpfen Tatsächlichkeit
enthoben und hineingegossen in die Formen des Be-
griffs, des Urteils usw., er bekommt auch durch die
vernünftige Bearbeitung erst einen wirklichen Sinn.
Die Verleihung eines Sinnes an das Gegebene, die
Durchdringung des Gegebenen mit einem Sinn ist
die tiefste Umwandlung der Wirklichkeit durch den
206
Logos. Und es siud nun eine Haupteigentümlichkeit
und ein Hauptvorzug der idealistischen Philosophie,
den Grundzügen dieses gewaltigen Umgestaltungspro-
zesses nachzugehen und uns auf diese Weise ein ein-
gehendes Bild der unvergleichlichen Wirksamkeit des
Geistes zu schaffen. Und da der Vollzug eben dieser
Wirksamkeit der eigentlich wichtigste Vorgang im
Leben des Menschen und der Geschichte ist, so ist es
der Idealismus, der uns über dieses für uns und unser
Schicksal entscheidende Geschehen aufklärt. Aus
diesem Grunde verkörpert und vertritt er und keine
andere philosophische Richtung und Gesinnungs-
weise die höchste Stufe in der Erkenntnis der Wirk-
lichkeit.
ln welchen Momenten und nach welchen Zügen
verwirklicht sich nun jene unendlich tiefgreifende
Sinnverleihung und Sinndurchdringung? Wir vermö-
gen dieser Momente und Züge durch einen Einblick
in die polare Einheitlichkeit des Logos habhaft zu
werden. Und wir entdecken dann vier in sich und
wechselseitig verschlungene, wertende Vernunfttätig-
keiten. Keine von ihnen ist für die Erreichung des
Gesamtergebnisses entbehrlich. Keine ist der ande-
ren überlegen. So erlaubt die Reihenfolge, in der wir
sie hier anführen, keinen Rückschluß auf die Wich-
tigkeit der einzelnen schöpferischen Vernunftarbeit
und Vernunftleistung.
1) Die erste Vernunfttätigkeit untersteht der Grund-
idee der Wahrheit, und sie bestimmt dadurch die
von ihr geformte Erscheinung als wahr und das heißt;
als wirklich. Der Begriff der Wahrheit hat keinem
207
wegs eine nur oder hauptsächlich formale Bedeutung.
Außer dem. was seiner Form nach, also als erkannte
Erscheinung als wahr behauptet wird, gilt auch der
Inhalt als wahr oder als wirklich. Was der Logos als
wahr erkennt, das ist niemals eine bloß formale Be-
stimmung, sondern das ist als Gegenstand dann und
damit auch wirklich, und besäße dieses erkannte Et-
was auch nur den Charakter eines Scheins. Dann eben
ist es ein „wirklicher“, ein objektiver Schein, indem
der erkennende Geist ein Reich der Wahrheit errich-
tet, deutet und wertet er die Erscheinungen, die durch
dieses Reich umspannt werden und seinen Inhalt dar-
stellen, als wirklich. Die Wahrheit einer Aussage be-
gründet und bedingt die Wirklichkeit derjenigen Er-
scheinung oder Erscheinungsreihe, auf die die betref-
fende Aussage sich bezieht. Die bloße Tatsache an
und für sich verbleibt in ihrer Tatsächlichkeit noch
diesseits oder jenseits der Wahrheit und damit der
Wirklichkeit. Da kommt nun der erkennende Geist,
und indem er eine Tatsache erkennt und diese Er-
kenntnis als wahr unterstellt, kann nun erst von dem
Sein der Tatsache gesprochen werden. Der ideelle
Akt der Wahrheitsfindung und Wahrheitssetzung
stellt die Voraussetzung für die Wirklichkeitsfindung
und Wirklichkeitssetzung dar.
Diese entscheidende Erkenntnis bildet ein wich-
tiges Stück in der Erkenntnislehre de» Idealismus.
Der Idealismus vertritt auf theoretischem Gebiet den
Primat der Wahrheit über die Wirklichkeit. Aber
dadurch wird der Gedanke der Wirklichkeit nicht
geschwächt. Im Gegenteil: Die Wirklichkeit gewinnt
208
durch ihre Bindung an die Wahrheit eine höhere Gel-
tung, als wenn sie lediglich von einer sinnlichen Wahr-
nehmung abhängig gemacht würde. Sie wird nach
einem Worte Platos gestützt durch die „eisernen
Gründe“ und gehalten durch die „stählernen Klam-
mern“ der Vernunft.
2) Indem aber diese Stützungsaktion des Gegebe-
nen durch die Vernunft die Tatsächlichkeit ihrer Un-
beständigkeit und der Gefahr des Vergehens enthebt,
gewinnt sie eine Wirklichkeit noch in zwei weiteren
Beziehungen. Auch sie ergeben sich selbstverständ-
lich aus der Kraft der Vernunft und sind somit ide-
ellen Charakters. Die Steigerung der Wirklichkeit
in der Richtung auf eine höhere Stufe der Wahrheit
stellt diejenige ideelle Beziehung und denjenigen
Wert dar, den wir mit einer unzulänglichen Bezeich-
nung d a s G u t e nennen. Dabei ist nicht nur an eine
sittliche Wertgebung oder Leistung im engeren, im
sozusagen ausschließlich moralischen Sinne zu den-
ken. Es bedeutet vielmehr zunächst dasselbe wie
das Wahre. Denn das Wahre ist auf jeden Fall ein
Gutes, selbst dann wenn seine Gewinnung für uns
subjektiv aus diesem oder jenem Grunde schmerzlich
sein sollte. Es fördert nicht bloß die Einsicht in das
Wesen der Erscheinungen und stellt so einen
Schritt auf dem Wege unseres Erkenntnisstrebens
dar, es macht uns auch seelisch reicher und geistig
freier. Eine Schicht der Dunkelheit, der Unwissen-
heit ist beseitigt, der quälende Druck der intellektu-
ellen Düsterheit ist gemildert. Und wenn wir uns im
Anschluß an eine alte, tiefe Lehre Gott als den Allwis-
14 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
209
senden und Allweisen vorstellen, dann haben wir uns
durch die Erreichung dieser Wahrheitsstui’e auch der
ewigen Wirklichkeit wenigstens um einen Grad ge-
nähert.
Noch stärker bekundet sich die Qualität des Guten
an der Wahrheit durch die Erreichung einer festen
und freien seelischen Haltung. Nach allgemeiner
Auffassung ist die Wahrheit nur schwer zu ertragen.
Nun wohl: Da die Gewinnung der Wahrheit aber nicht
bloß ein intellektuelles, sondern zugleich ein morali-
sches Gebot ist, so erfordert sie auch einen ihrer Grö-
ße oder Schwere entsprechenden Charakter. Durch die
Arbeit im Dienst der Wahrheit wird nicht bloß die wis-
senschaftliche Vernunft gebildet, diese Arbeit fördert
nicht weniger die sittliche Vernunft, ja, sie ist im
höchsten Sinne eine Form der Wirksamkeit der Sitt-
lichkeit und eines ihrer Zeugnisse. Sie ist einer der
gewaltigsten Akte der Überwindung des Bloß-Gege-
benen durch die unwiderstehliche Formgewalt der
sittlichen Vernunft, des sittlichen Willens, des Willens
zum Guten. Wie in rationaler, wie in verstandesmä-
ßiger Hinsicht das Bloß-Reale wertneutral ist, so ist
es auch wertneutral in sittlicher Beziehung. Seiner
moralischen „Gleichgültigkeit“ wird es durch die
Kräfte der sittlichen Vernunft, durch die Kraft der
Gesinnung und durch die Kraft des sittlichen Willens
entzogen. Sie sind es, die die dumpfe Welt umgestal-
ten zu dem herrlichen Schauspiel unentwegten sitt-
lichen Ringens. Dabei ist es unerheblich, ob dieser
Kampf stets mit einem Siege endigt. Das Wesentliche
an ihm ist die in ihm sich immer erneuernde Pflicht
210
zur sittlichen Freiheit, die sich nicht niederzwingen
laßt, die ihren Ruhm nicht im Erfolg, sondern in ihrer
freudigen Unerschütterlicbkcit, also in sich selbst, in
ihrer Autonomie erblickt und findet.
Mit diesen Andeutungen haben wir ein Hauptka-
pitel der Ethik des Idealismus umschrieben.
3) Diese Vernunflfunktion des Wahren und des
Guten, ein ideenmäßiger Vorgang im reinsten Sinne,
offenbart seine schöpferische Kraft nun drittens in der
ästhetischen Tat der Geslaltgebung. Wir pflegen
diese Tat als die Schöpfung der künstlerischen Form
zu bezeichnen. Sie tritt nicht erst zu der Arbeit der
Wahrheit und des Guten als ein nachgeborenes Kind
hinzu, sondern sie ist in jener Arbeit unmittelbar
wirksam. Alles Lebendige und Wirksame bedarf die-
ser gestaltenden Form, und es ist eines der tiefsten
und reizvollsten Geheimnisse des Lebens, daß es seine
Urkraft an die Heiligkeit der Form angleichen muß,
will es zeigen und beweisen, was es vermag, ja, was es
bedeutet. Um seiner Wahrheit, um seiner Wirklich-
keit, um seines moralischen Wertes willen bedarf es
der künstlerischen Form, sucht es nach ihr. Und ein
Hauptteil der großen Kämpfe in der Geschichte des
Geistes hat seinen Inhalt und seinen Gehalt in dieser
dialektischen Wechselbeziehung von Leben und Form,
in dem unaufhörlichen Spiel zwischen ihnen. Jeder
dieser beiden Faktoren ist ebenso sehr auf die Auf-
rechterhaltung seiner Eigenart, auf die Wahrung seines
Wesens als zugleich auf seinen Anschluß an seinen
Gegner und auf einen Vertrag mit ihm bedacht. Die-
ses Verhältnis ist in seiner Polarität für jeden der
14*
211
beiden Teilnehmer so förderlich, so notwendig, daß
man nicht weiß, ob die Entwicklung der Kultur ihre
Beweggründe und Antriebe mehr der Entfaltung der
Kraft des Lebens oder mehr der Entfaltung der Kraft
der Form verdankt.
Damit haben wir ein weiteres Stück aus der Philo-
sophie des Idealismus kurz gekennzeichnet, nämlich
die allgemeinsten Züge der idealistischen Ästhetik,
ihr Grundgedanke besteht nicht bloß in der Hervor-
hebung der Idealität der Form, die ihren Ursprung in
der unendlichen Schöpfungskraft des vernünftigen
Geistes hat. sondern zugleich in der energischen Beto-
nung der Universalität des Formgedankens und der
Universalität des Wertes der Form. Von der Form her
empfängt das Gegebene, so lehrt die idealistische
Ästhetik, den Wert des Schönen, der, da er dieselbe
Quelle wie der Wert der Wahrheit und des Guten hat.
nun auch mit dem Wahren und dem Guten in innig-
ster Gemeinschaft steht. Keine Wahrheit und kein
Gutes ohne die Wahrheit der Form und ohne das
Gute der Form.
4) Unter dem umschaffenden Einfluß der Ver-
nunft entschwindet die Dumpfheit des Gegebenen. De>-
Geist erfüllt es mit seinen Werten. Welches ist der tief-
ste Sinn und das höchste Ziel dieses schlechthin unver-
gleichlichen Umgestaltungsprozesses? Immer mehr
und mehr wird die bloße Erscheinung ihrer nichtigen
Tatsächlichkeit entkleidet. Sie gelangt kraft des Gei-
stes in eine immer höhere, reinere, erhabenere Wert-
schicht; sie wird immer mehr und mehr einer höhe-
ren Wertwelt eingeordnet. Das aber heißt nichts an-
212
deres, als daß sie dem Prozeß der Heiligung un-
terworfen wird. Wir stehen damit vor der vierten ideel-
len Tat des schöpferischen Geistes. In ihr gründet
sich der Umwandlungsprozeß des Gegebenen ebenso,
wie er in ihr gipfelt und mündet. Das Gegebene wird
von seiner Schwere, von seiner Erdgebundenheil „er-
löst“. Jetzt wird die Erscheinung vollends herausge-
nomraen aus dem Verbände des Seins.
Der Positivismus und Realismus erblickt und er-
faßt die Erscheinung nur als ein Glied, nur als einen
Teil einer Bindung, die sie an andere Erscheinungen
kettet. So geht nach dieser Auffassung der Strom des
Gesetzes von der Erscheinung aus — als Ursache, und
er heftet sie an ihresgleichen — als Wirkung. Der
Positivismus und Realismus hat kein Auge für das,
was jenseits der Erscheinung lebt und von diesem
Jenseits aus auf sie einstrahlt. Er hat kein Auge für
die Welt der ewigen Ideen und Werte. Oder; So weit
er sich mit ihr überhaupt beschäftigt, sucht er sie
in einen Zusammenhang zu bringen mit den Sphären
des Gegebenen, seien es die Sphären des Seelisch-Gege-
benen oder die des Wirtschaftlich-Gegebenen oder die
des Politisch-Gegebenen usw. Das heißt: Er bemüht
sich um einen psychologischen oder um einen ökono-
mischen oder um einen soziologischen Unterbau für
sie. Damit aber vollzieht er nichts anderes als die —
sinnwidrige — Relativierung und Verengung der ewi-
gen Werte, ihre Herabdrückung zu Gegebenheiten.
Genauer: Er versucht es, dazu getrieben, dazu verführt
von dem ihm innewohnenden endlichen Geist des Em-
pirismus und des Sensualismus. Aber ein Erfolg kann
213
ihm niemals beschieden sein. Seine Kraft reicht nicht
weit genug, sein Blick ist nicht scharf und klar genug,
um die Zone der Gegebenheiten zu durchdringen und
in die Höhe der ewigen Werte zu gelangen. Dazu be-
darf cs einer fundamentalen Wendung, einer meta-
physischen Wendung von Grund aus, nämlich der me-
taphysischen Erhebung zur Idee, der vielleicht ge-
waltigsten, kühnstem aufregendsten, entscheidendsten
Tat des Geistes. Daß ums Menschen diese Tat, diese
Wendung möglich ist, mögen wir sie nur denken, mö-
gen wir sie unter besonders begnadeten Umständen ein
Stück weit auszuführen vermögen, ist ein \\ under.
Dieses Wunder weist hin auf geheimnisvolle Tiefen un-
seres Wesens und auf Kräfte von unerhörter Gewalt
in diesen Tiefen. Mit tausend Banden sind wir Men-
schen an die Zeitlichkeit, an bestimmte Räumlichkei-
ten, an hundert menschlich allzu menschliche Ver-
hältnisse gefesselt. Und nun doch diese metaphy-
sische Wendung!
Sie ist der Mittelpunkt und das Herzstück der
Religionsphilosophie des Idealismus.
2. Idealismus und Leben.
a) Oie metaphysische Wendung zur Idee des
absoluten Wertes.
Der Freiheitsgedanke.
1. Der positivistische und realistische Zug in den
Wissenschaften verstärkt, soweit er sich auf den Men-
schen bezieht, in uns immer mehr das Gefühl unserer
214
Abhängigkeit von den naturhaften und geschieht*
liehen Verhältnissen und Lagen. Mit den Fortschrit-
ten der modernen Erkenntnis ist ein unaufhörlicher
Kampf gegen den alten Glauben an eine höhere Be-
stimmung des Menschen und gegen den Glauben an
seine Freiheit hzw. gegen sein Freiheilsbewußtsein ver-
bunden. Und sehr viel scheint von diesem Glauben
und von diesem Bewußtsein nicht übrig geblieben zu
sein. Eine merkwürdige und beunruhigende Entwick-
lung. Es ist beinahe erstaunlich und nicht zu verstehen,
daß eich nicht irgendwo und nicht irgendwie eine ent-
schiedene Auflehnung gegen diese Entwicklung ge-
äußert hat. Fast ohne Abwehr ließ man die Wissen-
schaft ihre einschneidende Arbeit einer ständigen Ver-
minderung jenes Glaubens und Bewußtseins ver-
richten.
Tn dieser geduldigen Hinnahme dessen, was die
Wissenschaften leisteten, zeigt sich die unzweideutige
Hochschätzung des Verstandes und des Rationalismus.
Schritt für Schritt nehmen die Nachweise der Bedingt-
heit des Menschen zu. Schritt für Schritt scheinen
wir durch die Belange und Gesetze des Lebens und
durch alle Folgen aus diesen Belangen und Gesetzen
der Erde näher zu kommen und immer mehr an sie
gebunden zu werden. Schritt für Schritt vollzog sich
auch in unserer Gesinnung und in unserem Wissen
der entsprechende riesige Umschwung. Das Tor, das
den Ausblick in eine andere, in eine ewige Welt un-
bedingter Werte und Ideen frei gegeben hatte, und das
uns durch den Idealismus geöffnet worden war, schloß
sich mehr und mehr.
215
Wieviele Momente unserer Gebundenheit an die
naturhafte oder an die geschichtliche Wirklichkeit
sind durch die Wissenschaften auf gedeckt worden.
Seit dem Beginn der Neuzeit wetteifern die Wissen-
schaften in der Übermittlung solcher Erkenntnisse.
Da waren es einmal die Verhältnisse der Bodenbe-
schaffenheit, die Küstenbildung, die Möglichkeit un-
gehinderter Zugänge zum Meer, da waren es Klima
und Luft, Blut und Rasse, da waren es die wirt-
schaftlichen Lagen, die Produktions- und Konsum-
tionsverhältnisse, die Bindung des Menschen an die
Maschine, da waren es seine Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Nation, zu einem bestimmten
Volk, zu einer bestimmten Zeit und in ihr wie-
der zu einer bestimmten geistigen oder politi-
schen oder wirtschaftlichen Strömung, da waren
es nicht zuletzt ganz elementare physiologische Ab-
sfammungsbedingungen im Sinne der biologischen
Entwicklungslehre, die die Abhängigkeit des Menschen
von naturhaften oder geschichtlichen Gegebenheiten
dartun sollten. Gewichtige Richtungen auch in der
Philosophie machten weniger das Problem der Frei-
heit als die Widerlegung des Freiheitsglaubens und
des Freiheitsbewußtseins und die Gewißheit der
menschlichen Unfreiheit zum Gegenstand und zum
Ziel ihrer Untersuchungen. Ihnen gesellten sich reli-
giöse und theologische Auffassungen hinzu, um, wie
die überaus einflußreiche Bewegung des Calvinismus
zeigt, uns immer mehr unserer Unfreiheit zu ver-
sichern. Eine letzte, aber schwache Rettung schien
der Freiheitsidee dadurch zu winken, daß man in ihr
216
eine aus sozialen Gründen zweckmäßige Fiktion er-
blicken zu können glaubte. Vaihingers Fiktionalismus
offenbart seinen Positivismus in der Entwicklung der
Ansicht des „Als Ob-Charakters“ der Freiheit. Der
Mensch brauche sich nicht um den doch niemals
zu erbringenden metaphysischen Nachweis zu küm-
mern, ob es wirklich Freiheit gäbe oder nicht. Die
Wissenschaften hätten in immer zunehmendem Um-
fange unsere Unfreiheit bewiesen. Es genüge vollauf,
so zu tun, als ob es eine Freiheit gäbe. Die Berech-
tigung dieser Annahme liege in der Notwendigkeit der
Selbsterhaltung der menschlichen Gesellschaft gegen-
über verbrecherischen Naturen, die dann auf Grund
jener Fiktion strafrechtlich zur Verantwortung gezo-
gen und bestraft werden könnten.
Das ist keine Rettung der Freiheitsidee, sondern
ersichtlicherweise nichts anderes als die Kapitulation
vor den Ergebnissen der wissenschaftlichen For-
schung. Ja, vielleicht noch mehr, nämlich ihre äußer-
ste Verleugnung, weil ihre äußerste Relativierung und
damit einfach ihre Preisgabe. Jene Idee wird ernie-
drigt zu einem je nach Bedarf anzuwendenden, rein
aus Nützlichkeitserwägungen heraus geschaffenen
Werkzeug im Dienst der sozialen Selbsterhaltung. Die
Idee der Freiheit wird zu einem Handlanger im Inter-
esse des Lebens. Die Rücksichten auf die Vorteile des
Lebens üben die entscheidende Herrschaft aus über
die Entstehung und über die Geltung der Idee. Der
äußerste Gegensatz zur idealistischen Auffassung des
Freiheitsgedankens ist damit erreicht.
217
2. Wie aber stellt sich der Idealismus zu diesem
Gedanken? Für seine Haltung ihm gegenüber und für
seine Bewertung dieses Gedankens sind zwei Züge
maßgebend. Zunächst: Er läßt von der Größe, von
der Würde der Freiheitsidee nicht einen Hauch ah-
dingen. Zum Wesen der Ideen gehört ihre Unbe-
dingtheit. Das wissen wir durch und seit Plato. Und
es tut dieser Unbedingtheit keinen Eintrag, wenn wir
die Ideen auf die konkrete Wirklichkeit des Lebens
anzuwenden suchen, und wenn sich daraus eine un-
versöhnliche Gegensätzlichkeit ergibt. Im Gegenteil.
Diese Gegensätzlichkeit ist nichts anderes als der logi-
sche Ausdruck der Unbedingtheit der Ideen, in die, als
bestes Zeugnis für ihre Größe, durch jene Gegensätz-
lichkeit ein tiefer und heiligender Zug der Tragik
einfließt. Der klassische Idealismus vertritt die Lehre
von der Unbedingtheit der Ideen. Und das mit Recht.
Damit kommen wir zu dem zweiten Zuge in der
idealistischen Auffassung und Wertung der Freiheits-
idee. Die Behandlung dieser Ideen sowie die der
Ideen überhaupt untersteht nicht der Zuständigkeit
der einzelwissenschaftlichen Forschung. Und zwar
aus einem mehrfachen Grunde. Der „theoretische“
Grund: Die positiven Einzelwissenschaften bedür-
fen selber der Ideen als der Voraussetzungen für ihre
ganze Arbeit und für die Geltung dieser Arbeit. Sie
bejahen sie im Prinzip unaufhörlich. Denn sie alle
sind an der Idee der Wahrheit ausgerichtet. Sie alle
dienen dieser Idee. Auch die Wahrscheinlichkeit,
auch die Relativität, die die Wissenschaften im allge-
meinen nur erreichen, ist eine Idee und keine Tat-
218
sache. Der „praktische” Grund: Ideen sind Forde-
rungen, und als solche haben sie ihre eigentliche
Quelle nicht in der reinen theoretischen, sondern in
der reinen sittlichen Vernunft. Und eine solche
„praktische“, sittliche, unbedingte Forderung ist auch
die Idee der Freiheit. Unser Gewissen, unser ganzes
Menschentum sagt, es soll sie geben; unser ganzes In-
neres in seiner unerschöpflichen Aktivität bejaht ihre
Geltung. Wo wir von dem Wert eines Menschen,
von dem Sinn einer Handlung sprechen und einen
solchen Wert oder Sinn erzeugen, gleichgültig ob hoch
oder niedrig, da haben wir die Tatsächlichkeit und
ihre Gesetze überwunden zugunsten einer ihnen über-
geordneten Idee, da haben wir den Durchbruch voll-
zogen zu einer „anderen“ Welt. Und wie unendlich
häufig wagen und erreichen wir Menschen, die angeb-
lich in tausend Fesseln geschlagen sind, diesen —
metaphysischen — Durchbruch! Jede Wortschöpfung
ist der Beleg unserer Freiheit1)*
3. Worin aber gründet sich jene metaphysische
Wendung? Und worin besitzen die Erhebung zur
Welt der W erte und Ideen und schließlich die Aner-
kennung eines höchsten und absoluten Wertes und ei-
ner höchsten und absoluten Idee ihre W urzel und ihr
Recht? Wir stehen damit vor der wichtigsten Frage,
die an den Idealismus gerichtet werden kann. Es ist
seine Schicksalsfrage. Die Antwort auf sie muß auch
5) Vgl. meine „Philosophie des Unterrichtes“, Berlin und
Zürich 1935, S. 27 ff., 30 ff. u. ö.
219
die entscheidende Quelle für seine Herkunft und
für sein Recht, für sein Wesen und für seine
Geltung aufdecken.
Jene soeben aufgeworfene Frage ist von einem
überaus großen Gewicht. Dasselbe gilt für die Ant-
wort u. z. nicht bloß inbezug auf die Geltung des Idea-
lismus als eines philosophischen Standpunktes und
als einer bestimmten philosophischen Richtung. Frage
und Antwort sind ferner von entscheidender Bedeu-
tung nicht nur für die Philosophie überhaupt, für ihr
Ansehen und Schicksal, sondern für das geschicht-
lich-menschliche Leben schlechthin. Deshalb wollen
wir uns ihnen erst nach der Beschäftigung mit einem
anderen Problem zuwenden. Es handelt sich hier um
das Problem des Verhältnisses von Philosophie und
Leben zueinander. Diese beide Mächte gehören eng
zusammen in vielseitiger und reichgegliederter Ver-
flechtung, und sie beide haben auch immer in unauf-
lösbarer Wechselbeziehung miteinander und fürein-
ander ihre Kraft betätigt. Nicht etwa deshalb, weil
die eine Macht aus der anderen ableitbar wäre, weil
etwa das Leben den Urgrund für die Philosophie ab-
gäbe, wie die sogenannte Lehensphilosophie, den Tat-
bestand in unzulässiger Weise vereinfachend, behaup-
tet, oder weil die Philosophie dem Leben als Voraus-
setzung diente, wie mit nicht geringerer Übertreibung
und Einseitigkeit die extrem spiritualistische Ver-
nunftphilosophie lehrt. Beide Mächte sind vielmehr
einander ebenbürtig, und sie haben sich innerhalb der
menschlich-geschichtlichen Welt auch oft in dieser
Weise bezeugt. Wenn wir aber sagten, sie gehörten
220
zusammen, so braucht diese Ansicht nicht als ein aus-
schließlicher Hinweis auf eine restlose Eintracht zwi-
schen ihnen zu gelten. Der Reichtum der Wirklich-
keit ist so groß, die äußere und die innere Verfassung
der Wirklichkeit sind so verwickelt, daß in ihnen und
für sie Kräfte wirken, die im Verhältnis einer ausge-
sprochenen Gegensätzlichkeit zueinander stehen und
gerade deshalb füreinander da sind, füreinander wir-
ken und eben wegen dieser polaren Einheit, wegen
dieser Dialektik für das Ganze nicht nur unentbehr-
lich, sondern auch von der höchsten Fruchtbarkeit
sind.
Und in dieser dialektischen und deshalb so forder-
lichen Beziehung stehen der Idealismus und das Leben
zueinander. Sie bedürfen einander, sie sind aufein-
ander angewiesen, und sie gehen doch nicht ineinan
der auf. Diese Entscheidung soll die Vorbereitung für
unsere Antwort auf jene Frage sein.
h) Idee und Geschichte.
1) Wir nannten die metaphysische Wendung, also
den Durchbruch zur Welt der Ideen und Werte, ein
W under. Für die Wirksamkeit von Wundern gibt es
natürlich keine wissenschaftliche Erklärung. Wun-
der sind ihrer auch nicht bedürftig. Und trotzdem
fehlt ihnen deshalb nicht das ¿Mindeste an ihrer Wirk-
lichkeit und Geltung. Eher würde ihnen eine solche
Erklärung eine Einbuße an ihrer Wahrheit und Fülle
zufügen. Denn sie würde das Wunder auf bestimmte
rationale Bedingungen zurückzuführen suchen, sie
221
würde es dadurch sinnwidrig verengen und schließlich
um seinen Sinn bringen. Jene metaphysische Wen-
dung ist nun aber insofern ein ganzes und volles Wun-
der, als sie im ganzen und vollen Widerspruch zu den
tausend Abhängigkeiten erfolgt, von denen wir oben
sprachen, und von deren undurchbreehbarer Festig-
keit uns, wie gesagt, die Wissenschaften immer mehr
zu überzeugen suchen. Sie ist der Ausdruck
und das Zeugnis einer von Grund aus
schöpferischen sittlichen Handlung.
Da diese Handlung zu den Urtaten des Menschen
gehört, gehört die metaphysische Wendung selber
gleichfalls zu diesen Urtaten, Wir dürfen uns das
Bewußtsein um diese absolute, unabhängige Selbsttä-
tigkeit, um mit Joh. Gottlieb Fichte zu reden, nicht
durch die Nachweise der Wissenschaften und durch
etwaige Einsprüche von der Seite der Wissenschaften
erschüttern lassen. Der Widerstand gegen diese Nach-
weise und Einsprüche gehört selber zu den sittlichen
Forderungen. Auch er ist ein Teil des Willens zur
Freiheit und damit ein Teil dessen, was unser sittli-
ches Gewissen von uns verlangt, ln dem Hervorbrechen
dieses Wdllens bekundet sich die Würde der mensch-
lichen Natur. Gewiß, da ist von Demut gegenüber dem
Sein, von Einordnung in den Zusammenhang des Ge-
gebenen nicht mehr viel zu spüren. Da wandelt sien
die positivistische und realistische Achtung vor den
Tatsachen mehr und mehr in den Mul zur Kritik und
in eine selbstverständliche, des Wagnisses nicht ent-
behrende Entschlossenheit, die nicht davor zurück-
schreckt, alle Erscheinungen und schließlich die Welt
222
überhaupt einer höchsten Wertidee zu unterstellen
und von ihr aus zu beurteilen. In dieser Kritik wird
die Welt in aller ihrer Größe und Macht abhängig
vom Menschen.
Und wie jene metaphysische Wendung, die eine
Schicksalstat für den Menschen bedeutet, und deren
Eintritt eine Grundforderung unserer sittlichen Ver-
nunft darstellt, mit unwiderstehlicher Gewalt aus un-
serem Gewissen als ihrer Wurzel hervorbricht, so ru-
hen auch das Recht und die Wahrheit jener höchsten
Werlidee auf der Freiheit des sittlichen Gewissens.
Das heißt zunächst negativ: Auf dem Wege rein wis-
senschaftlicher Erkenntnis gelangen wir niemals zu ei-
ner solchen Idee. Die reine Wissenschaft kann uns
nur Teilwerte schenken. Und der Gehalt solcher wis-
senschaftlich gewonnenen Teilwerte wird stets einen
relativistischen Charakter aufweisen. Mit dieser Be-
hauptung soll keineswegs irgendein Einwand, irgend-
ein einschränkender Vorbehalt gegen die Wissenschaf-
ten ausgedrückt werden. Die Wissenschaften holen
ihren Inhalt aus der Erfahrung. Und deshalb sind sie
schon in dieser Hinsicht an die Erfahrung gebunden.
Die Erfahrung ist jedoch nicht das Ganze der Wirk-
lichkeit. Und ebenso ist der an einen Teil der Wirk-
lichkeit sich bindende und gebundene Geist nicht der
ganze Geist, nicht der Geist in der vollen Kraft seiner
schöpferischen Freiheit.
2) Damit kommen wir zu der positiven Erläuterung
unserer Auffassung, daß die höchste Wertidee ihre
schöpferische Grundlage in der Freiheit des sittlichen
223
Gewissens besitze. Diese Freiheit ist, wie wir sahen,
eine Urtat des menschlichen Geistes. Oder besser, um
bei dem Begriff der Urtat nicht an irgendeine Tat in
der Reihe und für die Reihe der gewöhnlichen
menschlichen Taten und Handlungen zu denken, so
wollen wir hier von einer Urpflicht, von einer
metaphysischen Pflicht sprechen. Es han-
delt sich um ein tiefstes und höchste« Sol-
len. Das ist der tiefste und höchste Gegensatz zu
jedem Sein, es ist die höchste und tiefste Überlegen-
heit über jedes Sein.
Dieses Reich des Sollens, diese Überlegenheit ist
das Heimatland der Ideen. Der Aufschwung zu ihm
ist eine unerläßliche Pflicht für den Menschen u. 2.
um des Lebens selber willen. Er ist aber auch eine
unerläßliche Pflicht für denjenigen, der den Geist
des Idealismus vertritt und sich einen Idealisten nennt.
Diese Bezeichnung ist der Ausdruck einer absoluten
Verantwortlichkeit. In ihr ist ein unbedingter An-
ruf, ein unbedingter Gewissensruf enthalten. Die
Philosophie des Idealismus unterscheidet sich letztlich
von jedem Realismus durch ihren fordernden Cha-
rakter. Sie ist mehr, unendlich mehr als der Nieder-
schlag theoretischer Einsichten in das „Wesen“ der
Dinge. Sie ist unendlich mehr als eine theoretische
und wissenschaftliche Angelegenheit. Deshalb ist sie
frei von der den Realismus kennzeichnenden Abhän-
gigkeit von den positivenWissenschaften, und sie kann
von diesen aus nicht verstanden und nicht beurteilt
werden. Ebenso wenig lernen wir allein aus der Ge-
schichte der Philosophie das Wesen des Idealismus
224
im eigentlichen, d. h. in einem mehr als theoretischen
Sinne kennen.
Natürlich kann ich z. B. aus den Dialogen Platos
oder aus Kants Kritik der reinen Vernunft oder
aus den Schriften Fichtes herauslesen oder mir aus
einer „Geschichte der Philosophie“ oder aus einer
„Einführung in die Philosophie“ berichten lassen,
was „man“ unter Idealismus versteht. Ich kann dann
diese Begriffsbestimmung verstandesmäßig aufnehmen
und logisch verarbeiten. Und doch werde ich allein
auf diesem Wege niemals das Wesen und den inneren
Gehalt des Idealismus erfassen. Natürlich ist auch
der, der den Idealismus kathedermäßig schildert, und
täte er es noch so kundig und gelehrt, darum noch
kein Idealist. Auf diesen Adelstitel kann nur derje-
nige mit innerem Recht einen Anspruch erheben, und
nur derjenige darf mit diesem Titel ausgezeichnet wer-
den, dem diese Philosophie ein tiefstes Erlebnis, eine
höchste Gewissensmahnung, eine unaufhörliche Forde-
rung bedeutet. Ein Idealist ist nur der, der den Mut
besitzt, diese Forderungen der Wertverleihung und
der Kritik auch im Leben und für das Leben praktisch
und freiwillig und freudig und unter tapferem Ver-
zicht auf die empirischen Güter und Annehmlichkei-
ten und Bequemlichkeiten durchzusetzen.
Durch diese sittliche und metaphysische Verwur-
zelung des Idealismus wird, um noch einmal mit Fich-
te zu sprechen, „unsere Philosophie die Geschichte
des eigenen Herzens und Lebens, und wie wir uns
selbst finden, denken wir den Menschen überhaupt
und seine Bestimmung.“ Zum Idealismus gehört vor
15 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
225
allem eine unendliche Kraft des Gemütes und des sitt-
lichen Willens, und indem ich mich, von diesen Kräf-
ten getragen, zu dem Standpunkt des Idealismus er-
hebe, „bin ich ein neues Geschöpf, und mein ganze?
Verhältnis zur vorhandenen Welt ist verwandelt“. Der
Idealismus steigt empor aus dem schöpferischen und
heilig-geheimnisvollen Grunde eines typischen und
echt humanistischen Enthusiasmus. Und darum ist es
nicht nur möglich und erlaubt, sondern es ist ange-
messen und geboten, mit jener hinreißenden Begeiste-
rung von ihm zu künden, mit der Fichte seinen Idea-
lismus bekannte: „Die Fäden, durch welche bisher
mein Gemüt an diese Welt angeknüpft wrar, und durch
deren geheimen Zug es allen Bewegungen in ihr folgte,
sind auf ewig zerschnitten, und ich stehe frei, und
selbst meine eigene Welt, ruhig und unbewegt da.
Nicht mehr durch das Herz, nur durch das Auge er-
greife ich die Gegenstände und hänge zusammen mit
ihnen, und dieses Auge selbst verklärt sich in der Frei-
heit und blickt hindurch durch den Irrtum und die
Mißgestalt bis zum Wahren und Schönen, so wie auf
der unbewegten Wasserfläche die Formen rein und in
einem milderen Lichte sich abspiegeln.“
Jede Rede über den Idealismus wird zu einer Ver-
herrlichung seines Wesens. Und geben wir dieser Re-
de eine persönliche Note und eine persönliche Wen-
dung und Beziehung, so wird sie mit Notwendigkeit
zu jenem Preisgesang, wie ihn in heiligem Hingeris-
sensein Alkibiades seinem Lehrer Sokrates gegen den
Schluß des „Gastmahls“ Platos gewidmet hat. In der
226
Figur des Sokrates hat Plato die klassische Gestalt
des Idealisten geschaffen. Lind dieser platonische
Sokrates lebt das Schicksal der Idealisten in jener
herrlichen Menschlichkeit, die für alle folgenden Zei-
ten das tröstende und erhebende Vorbild geblieben
ist, wenn außer- oder ungeistige Mächte und Strömun-
gen die Freiheit und Selbstverantwortlichkeit der Ver-
nunft gefährdeten. Das Wesen des Idealismus und
das Wesen des Humanismus sind auf das engste mit-
einander verbunden. Und nicht zuletzt ist es die aus
dieser Gemeinschaft hervorgegangene Kraft, die die
Bedingung für die Fruchtbarkeit und für den weit
über das Sondergebiet der Philosophie hinausstrah-
lenden Reichtum bestimmter hervorragender Jahrhun-
derte geworden ist.
So ist der Idealismus des sogen, klassischen Zeit-
alters der deutschen Kultur, d. h. der Spanne etwa von
dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft Kants
(1781) bis zu dem Tode Hegels (1831), Goethes (1832),
oder Wilhelm von Humboldts (1835), also von nicht
mehr als knappen fünfzig Jahren, nicht bloß das
Kennzeichen und nicht bloß das Bild einer überwäl-
tigend fruchtbaren philosophischen Entwicklungsstu-
fe, er ist auch eine der Voraussetzungen und Bildungs-
grundlagen der ganzen Kultur und ein Stolz nicht nur
für sie, sondern für die ganze Menschheit, die durch
ihn geadelt ist. Und die wahrhaften Geistesführer
empfanden diesen Adel. Deshalb legten so viele die-
ser Führer ein erhebendes Bekenntnis der Dankbar-
keit zum Idealismus ab, ein Bekenntnis, das aber zu-
gleich die Züge eines ehrlichen Selbstbewußtseins
ir>*
227
trägt. So schreibt Wilhelm von Humboldt aus Rom
in seinem letzten Brief an Friedrich Schiller (1805):
„Sie sind der glücklichste Mensch! Sic haben das
Höchste ergriffen und besitzen Kraft, es festzuhalten.
Für Sie braucht man das Schicksal nur uni Leben zu
bitten, die Kraft und die Jugend sind Ihnen gewiß.“
lind Schiller, schon halb gebrochen von der unheil-
baren Krankheit, die ihn dann im Mai 1805 dahin-
raffte, antwortet dem wegen der Erledigung schwerer
und umfangreicher diplomatischer, politischer und
kulturpolitischer Aufgaben überbeschäftigten Freund,
der damals preußischer Gesandter beim Heiligen Stuh-
le war: „Ihr Wirkungskreis kann Sie nicht so sehr
zerstreuen und der meinige mich nicht so sehr be-
schränken, daß wir einander nicht immer in dem Wür-
digen und Echten begegnen sollten. Und am Ende
sind wir ja Beide Idealisten und würden uns schämen,
uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten
und nicht wir die Dinge. — Die tiefen Grundlagen
der Idealphilosophie bleiben ein ewiger Schatz, und
schon allein um ihretwillen muß man sich glücklich
preisen, in dieser Zeit gelebt zu haben.“
c) ff' as bleibt von der „Krise“ des Idealismus?
1) Jede sachliche Vertiefung in das Wesen des
Idealismus führt zu seiner Verteidigung. Allerdings
muß jene Vertiefung in einem mehr als rationalen und
intellektuellen Sinne vorgenommen werden. Sie muß
erfolgen aus der Innigkeit einfühlenden Nacherle-
bens seines Wertes; sie muß, will man dem Idealis-
228
mus gerecht werden und ihn so aufnehmen und dar-
stellen, wie es seinem Wesen entspricht, eine Tat so-
wohl der Vernunft als auch der Liebe, eine Tat des
Verstehens als auch der Bereitschaft zu seiner prak-
tischen Bewährung sein. Alsdann leuchtet seine phi-
losophische Überlegenheit über seine Gegner, ja seine
Unerschütterlichkeit ein.
Nach beiderlei Richtungen haben wir ihn auf die-
sen Blättern zu behandeln versucht. Besteht das Ergeb-
nis unserer Betrachtungen nun in der Einsicht in die
öngefährlichkeit aller gegen ihn gerichteten wissen-
schaftlichen Angriffe? Ja! Erweitert sich diese Ein-
sicht aber zu der Erkenntnis, daß dem Idealismus
überhaupt keine Krise droht? Müssen wir ihn als ge-
gen jede Krise gesichert und gefeit halten? Nein!
Was unsere Darlegungen nämlich gezeigt haben
dürften, ist folgendes: Kämpfe von außen her, von der
realistischen und positivistischen Front aus, können
dem Idealismus nichts anhaben. Völlig anders hinge-
gen steht es um die Auswirkung der Kräfte und Be-
wegungen in seinem eigenen Innern. Bei der Beach-
tung dieser Vorgänge wandelt sich das Bild jener Kri-
se durchaus. Die Krise ist in ihm immer vorhanden.
Wir hätten ihm keine Empfehlung nachgesagt und sei-
ne Verteidigung ungeschickt geführt, wenn uns der
Idealismus als frei von jeder Krise, als erhaben
über jede Krise erscheinen würde. Unsere Ausfüh
rungen dürften gezeigt haben, jedenfalls sollten sie
zeigen: Der Idealismus ist der philosophische und
menschliche Ausdruck einer Haltung unentwegten
229
Kampfes. Und deshalb befindet er sieb in einer un-
unterbrochenen Krise.
Diese Krise kommt über ihn nicht von einer drit-
ten Seite her, sondern aus der unermüdlichen Aktivi-
tät seines Wesens- Es ist die Krise, in die ihn die
Unendlichkeit seines Bestrebens und die Höhe seiner
Forderung bringt, ln theoretischer Hinsicht: Seinen
Bemühungen um eine volle Systematisierung und Ver-
einheitlichung des Gegebenen, seinen Bemühungen
um die Ableitung und um die Konstruktion der Ge-
gebenheiten aus einer Einheit, seinen Bemühungen
um die Ableitung und um die Konstruktion der Ge-
umfassenden und einheitlichen Wertung und Deutung
des Seienden, seinem Aufstieg zur Erreichung und
Anwendung einer höchsten absoluten metaphysischen
Wertidee — allen diesen heroischen Anstrengungen
muß gerade wegen ihrer Größe das volle Gelingen
versagt bleiben. Sie bedingen seine Krise und machen
diese Krise erklärlich.
Aber eben dieser Umstand bedingt und bedeutet
seine Großartigkeit. Er selber hat seine Forderun-
gen mit einer so uneingeschränkten Entschiedenheit,
so ohne ängstliche und beengende Rücksicht auf die
Tatsachen aufgestellt, und er mußte seine Forderun-
gen aus seinem ganzen Wesen heraus in diesem
Sinne aufstellen, daß ihre Erfüllung ausgeschlossen
ist. Die Härte und die Vielheit des Gegebenen lei-
sten einen zu starken Widerstand. Aber dieser Wi-
derstand ist teleologisch gerechtfertigt. Er ist um des
Idealismus selber willen notwendig und vernünftig.
Denn er entfacht und befeuert immer aufs neue die
230
Kräfte des Geistes; er reizt diese Kräfte zu stets wie-
derholten Versuchen. Sollte hier nicht eine List des
Geistes gegen sich, ein freies Spiel des Geistes mit
sich zum Austrag gelangen? Sollte der Geist im Ver-
trauen auf seine Unendlichkeit und aus Lust an ihr
die sich ihm in den Weg stellenden Widerstände nicht
mit geheimer und weiser Absicht so unbezwingbar
stark gemacht haben, um dadurch die niemals zu be-
seitigenden Gelegenheiten zu genießen, seine Kraft
immer aufs neue herausfordern und erproben zu las-
sen? Das Recht zur Bejahung dieser Vermutung er-
gibt sich aus der unverwüstlichen Begehrlichkeit, mit
der die Vernunft am Stoff des Gegebenen immer neue
Probleme aufstöhert und sich dadurch in eine immer
neue Arbeit, Unruhe und — Krise stürzt.
2) Und nun vor allem diejenige Krise, die sich für
den Idealismus aus seinem Verhältnis zum menschlich-
geschichtlichen Leben, also aus seiner sogenannten
praktischen Einstellung, aus seinem emotionalen und
aus seinem sittlichen Verhalten ergibt. Der Idealis-
mus ist als philosophische Haltung und Weltanschau-
ung in keiner Weise eine geschichtliche Berichterstat-
tung über das Geschehen in der Welt der Kultur. Er
zeigt nicht etwa den „Geist“ oder die „Vernunft“ in
der Geschichte auf. Das Recht und der Wert einer
-olchen „idealistischen“ Geschichtsschreibung sind
unbestreitbar. Ihre Bedeutung wird auch durch die
Angriffe gegen sie von der Seite der sogen, materiali-
stischen Geschichtsschreibung nicht verringert. Denn
erstens stehen diese beiden Formen der geschichtli-
231
eben Betrachtung in einer notwendigen Wechselbezie-
hung; sie ergänzen einander. Zweitens bleiben auch
die Wirtschaftsverhältnisse als der angebliche Unter-
bau des geistigen Lebens nicht ohne enge Beziehungen
zu diesem geistigen Leben, ja, sie sind im Grunde
nichts anderes als eine Sondergestalt und als eine spe-
zielle Funktion dieses Lebens. Die idealistische Ge-
schichtsschreibung jedenfalls ist auf die Aufdeckung
der sich in der Geschichte tatsächlich offenbarenden
geistigen Wirkungszusammenhänge und auf die Er-
kenntnis ihrer „geistigen“ Grundlagen in dem Vor-
stellungs-, Willens- und Gefühlsleben der \Ienschen
gerichtet.
Der Idealismus als Philosophie hingegen betrach-
tet die geschichtliche Wirklichkeit von dem Stand-
punkt einer unerschütterlichen Forderung aus. Er
fragt die Geschichte, oh sie den Geboten der ihr ge-
stellten sittlichen, künstlerischen, religiösen usw. Auf-
gaben gerecht geworden ist. Er verharrt nicht in der
Haltung der Reflexion und der Beschreibung. Er ist
vielmehr die unaufhörliche Kritik an der
Geschichte. Von diesem normativen Standpunkt
aus konnte und mußte Friedrich Schiller die an-
spruchsvolle Entscheidung aussprechen: Die Weltge-
schichte ist das Weltgericht. So wird die geschichtli-
che Entwicklung nicht als ein gegen die Momente des
Guten und Wahren bzw. Schlechten und Falschen
gleichgültiger Prozeß aufgefaßt, sondern als ein dem
menschlichen Leben und dessen sittlichen Kämpfen
verwandter Verlauf. Gewiß wird damit eine unge-
heure Anthropomorphisierung des allgemeinen Ge-
232
schehens vollzogen- Aber wir müssen auch den Grund
und die Notwendigkeit für diese kühne gedankliche
Umbildung einsehen. Das Lehen ließe sich ohne den
Willen zum Guten bzw. Schlechten nicht zur Verant-
wortung ziehen, und es hätte nicht den mindesten
Sinn, sich geistig und sittlich mit ihm auseinanderzu-
setzen. Es wäre nichts als ein gebundener und bedeu-
tungsloser Vorgang, mit dem wir uns einfach abzufin-
den hätten.
Der philosophische Idealist steht dem geschichtli-
chen Werden mit einer bis zum Äußersten gehenden
Zumutung, mit einem radikalen Anruf und Aufruf ge-
genüber, Er hält ihm wie ein von Gott gesandter Ge-
wissensmahner und Weltrichter die aus der Tiefe
schärfster Gewissensspannung stammenden Werttafeln
entgegen. Er mißt und bewertet es, nicht um es auf je-
den Fall zu verwerfen und zu verurteilen, wohl aber
um es auf jeden Fall der Kritik zu unterwerfen, und
um so die Freiheit des Geistes und die Überlegenheit
der Vernunft gegen die Macht der Geschichte zu be-
weisen und zu bewähren.
3) Doch die Macht der Geschichte, eine herrische,
rücksichtslose Macht sondergleichen, beugt sich nicht
den sittlichen Forderungen und den Geboten oder
Hoffnungen der praktischen Vernunft. Zu heftig wü-
ten in ihr diejenigen Kräfte, die der Gewalt dienen,
und die doch auch ein Recht in sich tragen, eben das
Recht ihrerKraft und ihrer Macht, ein naturales Recht,
ein realistisches Recht, aber doch auch ein Recht. Und
so kommt es zu einem ewigen Kampf zwischen die-
233
sen Mächten und diesen beiden Rechten. Und wie
wir einen Konflikt zwischen Neigung und Pflicht und
zwischen zwei Pflichten kennen und stündlich erle-
ben. so entrollt sich vor unseren Augen auch das fes-
selnde Schauspiel eines Konfliktes von zwei Rechts-
mächten, eines heroischen, eines tragischen Kampfes,
einer Gigantomachie im wahrsten Sinne. Aber auch
hier bedeutet für den Idealismus nicht der Sieg den
Sinn und das Ziel des Ringens. Sondern der Herois-
mus des Kampfes selber gilt als der Gehalt aller Mü-
hen. Mit unentwegter Entschlossenheit richtet der
Idealismus seine Forderungen, seine Kritik an das
Leben. Und eben deswegen begibt er sich auch un-
entwegt und entschlossen in die fruchtbare Gefahr der
Kri se. Würde er sie scheuen, dann wäre er kein Idea-
lismus.
in theoretischer wie in praktischer Hinsicht bleibt
ihm das Schicksal der Krise ewig treu. Denn seine
eigene Leidenschaftlichkeit bereitet ihm dieses
Schicksal. Sein Glaube an seine Notwendigkeit ist
unbedingt, sein Glaube an seine Berufung ist unbe-
dingt, sein gedanklicher und sein sittlicher Kampf ha-
ben das Gepräge der Unbedingtheit. Wie könnten,
wie dürften ihm da die Linbedingtheit der Krise und
die Krise der Unbedingtheit erspart bleiben? Er
greift hinaus über alle Endlichkeit, er nimmt sie auf
als seinen Gegner, und er ist es allein, der sie in eine
letzte und höchste Krise treibt. Das sichere Vertrau-
en auf die Macht des Geistes ist nicht das ausschließ-
liche Kennzeichen seines Wesens. Wohl hegt und ver-
tritt er diesen Absolutismus. Aber es bei diesem Ver-
234
trauen zu belassen, widerspräche dem unendlichen
Aktivismus der idealistischen Einstellung. Der Idea-
lismus beruht, um es noch einmal zu sagen, auf der
Absolutheit einer doppelten Forderung, auf der, die
er gegen die Realität erhebt, und auf der, die er ge-
gen sich erhebt. Diese Forderungen stellen keinen
theoretischen, keinen papiernen Einspruch dar. Denn
der Idealismus ist eine Macht von stärkstem Leben, so
stark, wie es überhaupt nur eine lebendige Macht
sein kann. Indem er seine Forderungen zur Tat wer-
den läßt, offenbart er den Willen zur Krise, bejaht
die Krise. Sie ist ihm die Form der Verwirklichung
des Geistes und damit das Gesetz, durch das der
Geist seine Kraft und seinen Reichtum und die Un-
endlichkeit seines Wesens bewährt.
Der Idealismus lehrt die schöpferische Unbedingl-
heit des Geistes. Aber damit lehrt er die Not-
wendigkeit und das Recht, die Wich-
tigkeit und die Fruchtbarkeit der Kri-
s e. Und weil er selber jenes Schöpfertum des Geistes
immerfort ins Spiel bringt, weil er von jenem Schöp-
fertum aus alles Gegebene betrachtet und bewertet,
prüft und bearbeitet, so ist er selber in seinem We-
sen und in seiner tatsächlichen geschichtlichen Wirk-
samkeit ein glänzender und überzeugen-
der Beleg für die schöpferische Macht
derKrise.
Von einer Krise des Idealismus sprechen, das
heißt also nicht, das Nahen seines Zusammenbruches
Voraussagen, das heißt nicht, seine bereits vor sich ge-
hende Tilgung oder sein bevorstehendes Ausscheiden
235
aus dem Geistesleben künden, das heißt ebenso wenig,
sein Versagen melden. Durch jene Behauptung wird
ihm vielmehr die höchste Rechtfertigung und Aner-
kennung zuteil. Denn in seiner Krise be-
zeugt und bejaht fl er Idealismus seine
Kraft und sein Recht u. z. seine Kraft
und sein Recht für sich und für die
Wirklichkeit.
236
%
INHALT.
Seite
Einteilung des Herausgebers.............................. 7
Vorwort.................................................. 9
Einleitung: Vom Wesen der Krise über-
haupt.
1. Die Hauptmotive für die geschichtliche» Krisen . 20
2. Die Krisen in der Philosophie und ihre Gründe . 28
3. Die Bedeutung der philosophischen Krise für die
Geschichte .....................................48
A. Die Krise des Idealismus.
1. Allgemeine Betrachtung dieser Krise...............53
2. Die philosophischen Züge dieser Krise
a. Der Einwand vom Sein aus;
Der ontologische Einwand .....................57
b. Der Einwand vom Wert aus:
Der ethisch-axiologische Einwand..............66
c. Der Einwand von der Form aus:
Der ästhetisch-morphologische Einwand ... 72
d. Der Einwand vom Erleben aus:
Der emotionale Einwand........................79
3. Die Einzelwissenschaften und der Idealismus
a. Die allgemeine Spannung zwischen ihnen
Die Tendenzen der Differenzierung und der
Spezialisierung...............................85
b. Antiidealistische Tendenzen in der modernen
Psychologie...................................96
237
Seite
c. Antiidealistißche Tendenzen in der modernen
Theologie......................................102
d. Antiidealistische Tendenzen in der modernen
Pädagogik......................................114
e. Antiidealislische Tendenzen in der modernen
Geschichtsschreibung...........................122
f. Antiidealislische Tendenzen in der modernen
Naturwissenschaft..............................133
B. Wesen und Schwäche des Realismus
1. Das Ernstnehmen der Erscheinungen.................146
2. Die Bindung an und durch die Erscheinungen 151
a. Die Bindung an das Leben........................152
b. Die Bindung an die Einzelwissenschaften . . 154
c. Die Bindung an den Positivismus ................159
3. Die Wendung zur Phänomenologie....................163
4. Der neue Dogmatismus .............................176
C. Wesen und Notwendigkeit des
Idealismus
1. Idealismus und Philosophie........................189
a. Der idealistische Zug zur Synthese und zur
Systematik ....................................190
b. Der idealistische Mul zur Konstruktion . . . 194
c. Der idealistische Zug zum Universalismus . . 200
d. Der idealistische Zug zur Deutung und Wertung 206
2. Idealismus und Leben
a. Die metaphysische Wendung zur Idee des abso-
luten Wertes: Der Freiheitsgedanke .... 214
b. Idee und Geschichte..........................221
c. Was bleibt von der .,Krise“ des Idealismus? . 228
238
BUCHANZEIGEN
IDEALISMUS
Bd. I: Jahrbach für die idealistische Philosophie. Heraus-
gegeben von Ernst Harms. Brosch. Fr. 12.50, RM. 10.—;
Leinen Fr. 16.—, RM. 12.80.
The Yearbook is a mark in the Philosophie of our time.
John Muirhead.
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des sonst so leicht abgegriffenen und nichtssagend wir-
kenden Redens von Idealismus. David Baumgardt.
BIBLIOTHEK FÜR IDEALISTISCHE PHILOSOPHIE
PROF. DR. HANS DRIESCH
DIE ÜBERWINDUNG DES
MATERIALISMUS
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Dieses Werk wendet sich an einen weiten Leserkreis. Es
behandelt ein Problem, das jeden denkenden Menschen
angehl und im tiefsten Sinne ein weltanschauliches
Problem heißen darf, nämlich die Frage, ob die Natur und
ihre Kräfte die einzigen Grundlagen des Weltgeschehens
sind oder nicht. Die Antwort lautet, daß sie es nicht sind,
und zwar wird diese Antwort durch Betrachtungen der
verschiedensten Art immer wieder in gleichem Sinne er-
reicht. Der Blick auf die großen Probleme „Freiheit“
und „Unsterblichkeit“ wird dadurch frei. Verfaßt ist das
Buch in wissenschaftlicher Strenge, aber in einer jedem
Gebildeten verständlichen Form.