2) Und wandert von der Grundlage der realisti¬
schen Auffassung aus der forschende Blick hin zum
geschichtlichen Leben, dann ist es selbstverständlich
vor allem der Mensch, der in einem anderen Lichte
als früher gesehen wird. Jetzt nämlich sind seine Auf¬
gabe und seine Leistung für die Geschichte und in der
Geschichte zweifelhaft und unfaßbar geworden, ja, er
selber, der eigentliche Schöpfer und Träger, aber auch
der eigentliche Gegenstand der Geschichte, so recht
ihr Schoßkind und ihr Sorgenkind, offenbart sich
in einer geradezu abgründigen Problematik. Und an¬
gesichts dieser Enthüllung scheint nun schließlich
auch die letzte Spur jener harmonistischen Geschichts¬
auffassung zu schwinden, die dem Idealismus eigen
ist.
Um die unvergleichbare Schwere dieser Erkennt¬
nis zu verstehen, ist es nur nötig, die gegenwärtige
Auffassung vom Wesen des Menschen mit derjenigen
früherer Zeiten zu vergleichen. Wie einfach lag ver¬
hältnismäßig damals noch alles. Die christlich-kirch¬
liche Deutung verstand und bestimmte das Dasein und
das Schicksal des Menschen durch einige wenige, dog¬
matisch festgelegte und damit weiteren Erörterungen
entzogene oder unbedürftige Entscheidungen: Schaf¬
fung des Menschen durch Gott, Ungehorsam und Sün¬
denfall, Vertreibung aus dem Paradies, irdische Lei¬
denswanderung, Mensch- und Fleischwerdung Gottes
in seinem Sohne, Stiftung der Heiligen Kirche, da¬
durch bedingte Möglichkeit der Erlösung, Nahen des
jüngsten Tages mit dem Gottesgericht. Für den Gläu¬
bigen war dadurch eigentlich alle geschichtliche Frag-
9 A. Liebert. Die Krise d. Idealismus.
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