Das Dasein der Kunst.
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9.
Kritik der Theorie der Unbewußtheit
der Kunst.
Doch kehren wir zur Kunst zurück. Wir haben uns nur schein¬
bar von ihr entfernt; denn wenn man den Traum schreiben könnte,
so wäre er Dichtung, und viele Dichter, angefangen mit Dante, wu߬
ten den idealen Charakter ihrer Dichtung nicht besser zu bezeich¬
nen, als indem sie sie Traum oder Vision nannten. Dieselbe Unwirk¬
lichkeit und Idealität wird lebendige und gegenwärtige Wirklich¬
keit, wenn man sie betrachtet, wie sie die Phantasie erleuchtet.
Dieselbe innere Unendlichkeit, ist einmal der Zauber gebrochen
und der Mensch zur Wirklichkeit zurückgekehrt, zeigt sich als
völlig in den kurzen Weg eines Traumes eingeschlossen, der eine
besondere und subjektive, aus dem System der Erfahrung, aus der
Geschichte, aus der realen Welt verdrängte Situation ist. Ebenso
unmöglich ist es, sich selbst zu bewerten; denn wie der Traum,
solange wir nicht erwachen, die Wirklichkeit ist, so ist die Wirk¬
lichkeit, in der die Phantasie des Künstlers schweift, die absolute
Wirklichkeit, nicht unterscheidbar von der, zu der man in dem
praktischen Leben zurückkehrt. Die Kunst ist für den Künstler, so¬
weit er Künstler ist, das Leben selbst, und daher nicht Kunst,
ebenso wie der Traum nicht Traum ist, solange man schläft. Kurz,
wie der Traum ohne eine höhere Erfahrungsform, die ihn in sich
enthält, und daher über ihn urteilt, indem sie ihn überwindet, nicht
denkbar ist, so kann man von Kunst nicht sprechen, wenn man sie
nicht zum Inhalt eines Urteils macht, das nicht mehr Kunst ist.
Dieses Bild, das Kunst ist, kann man nur sehen, wenn es auf seiner
Leinwand in einen Rahmen gespannt ist, und die Kunst ist auf der
Leinwand, nicht auf dem Rahmen. Vielmehr dieser Rahmen ist
etwas, das, behandelt man die Kunst als Kunst, nicht Kunst ist,
sich von ihr unterscheidet und ihr gegenübersteht. Man kann von
Kritik, von Kunstbetrachtung, von Philosophie, von Geschichte
sprechen; wir werden das sehen. All das aber, mittels dessen man
die Kunst dem Bewußtsein offenbart und sie in seinen Brennpunkt
stellt, ist nicht Kunst.
Und hiermit sind wir zu der zweiten der oben angekündigten
Schwierigkeiten zurückgekehrt (5), außer der des äußersten Sub¬
jektivismus, der das Dasein der Kunst, soweit sie erkannt werden
kann, ausgesetzt werden sollte. Nach der Besiegung jener Schwierig¬