202 Die Attribute der Kunst. Darstellung des ganzen Menschen gelangen, von dem jenes Stück ein Teil ist; denn so stellt sich die menschliche Gestalt in ihrer Geschlossenheit als ein Spiegel vor uns, aus dem unser Gefühl zurückstrahlt. So ist ein einzelner Teil der Natur nur ein losgelöster Körper¬ teil, eine bestimmte materielle Masse, die kein Leben besitzt und uns keine gefühlsmäßige Schwingung mitteilen kann. Aber man darf diese Besonderheit des Besonderen, des menschlichen Körpers oder des Körpers der Natur auch nicht materiell verstehen. Dann wäre kein Kunstwerk möglich; denn in kein Kunstwerk kann man alles legen. Aber das Besondere besitzt nicht in sich selbst seine Be¬ sonderheit; es empfängt sie von dem Geist, der es schafft. Wenn ich die Hand eines lebendigen und gesunden Menschen schüttle, der meinen Händedruck erwidert, so ist, was ich empfinde, etwas, was ich in dieser seiner Hand empfinde, dock nur insoweit, wie in seiner Hand seine ganze Persönlichkeit, seine Seele liegt. Wenn ich hingegen die Hand eines Paralytikers schüttle, so empfinde ich, was ich vorher empfunden habe, nicht mehr; denn es ist eine tote Hand, der die Seele fehlt: als wäre es eine von der Persönlichkeit, die sie an sich trägt, losgelöste Hand. Die Unendlichkeit oder Totalität liegt also nicht in dem materiell betrachteten Objekt, wohl aber in der Seele, die in ihm ist. Die Unendlichkeit gehört also dem Gefühl an. Die Hand kann auch abgeschnitten sein, und doch sehen wir sie wie die lebendige und warme Hand, die wir geliebt haben und immer lieben werden. Ein Bildchen kann uns ein Stilleben vorstellen: aber diese Früchte, obschon sie von dem Baum, an dem sie lebten, gelöst sind, geben uns in ihren Linien und Farben, was wir immer gewünscht und an den noch lebenden Früchten genossen haben. So kann im Sonett eines Dichters das All im Klang einer teuren Stimme, im Leuchten eines Blickes, der glücklich gemacht hat, im Strahlen gelöster und im Winde flattern¬ der blonder Haare verschwinden. Das aber ändert nichts daran, daß sich für den Dichter in diesem Blick, in diesem Haar das un¬ endliche All zusammenschließt, das ihm das Herz als eben sein Leben schlagen läßt, als das Leben des Kosmos. Es genügt, daß er im Objekt, in dem das Gefühl Gestalt annimmt, ganz sich selbst in der eigenen Unendlichkeit findet. Schön ist also die Natur nicht in ihren Teilen, die sich einer nach dem andern dem Naturalisten offenbaren, sondern in ihrer Totalität, die ihre Unendlichkeit ist; nicht also in ihrer mecha¬ nischen Äußerlichkeit, sondern in ihrer inneren Seele, die ihr