die Priesterschaften vergewaltigten das religiöse
Gefühl, indem sie Formen verewigten, die nur für
eine bestimmte Zeit gut waren. Jenes Gefühl lag mit
diesen mächtigen Körperschaften unaufhörlich im
Streit. Während es danach strebt, die Formen, die
es annimmt, weiterzubilden und sie in ein richtiges
und erspriessliches Verhältnis zum Denken einer
jeden Zeit zu bringen, betrachteten es die Körper¬
schaften nur als Grundlage ihrer Herrschaft und
versuchten festzuhalten, was vergänglich war. Der
Kampf, der zwischen der natürlichen Hinneigung
des Menschen und den Wünschen dieser Körper¬
schaften tobte, wandelte die Hoffnung zum Schrek-
ken, den Trost zum Zwang und die Wohltat zur Last.
Gibt es etwas Ungerechteres und Widersinnigeres,
als das religiöse Gefühl, das sich immer zu ent¬
wickeln strebt, mit den Anstrengungen von Kasten
zu verwechseln, deren unaufhörliche und unheil¬
volle Arbeit diese Entwicklung zu ersticken sucht?
Heisst es nicht jedes Unterscheidungsvermögen ab¬
schwören, wenn man mit dem gleichen Bannfluch
das Opfer und den Henker trifft?
Nein, das religiöse Gefühl ist in keiner Weise ver¬
antwortlich für das, was unfromme Männer in sei¬
nem Namen getan haben; denn der ist gewiss nicht
fromm, der die Religion als Machtmittel braucht. Die
Glieder der Priesterschaften, die in Ägypten die
Könige und die Völker beherrschten oder die in
Persien der politischen Unterdrückung Söldner zur
Verfügung stellten, betrachteten den von ihnen miss¬
brauchten Gottesdienst gar nicht als göttliche Sache:
129