Schlussbetrachtung
Ein zentrales Anliegen der vorliegenden Studie war es, im Sinne eines typologisierenden
Ansatzes die besonderen Merkmale der Eisen- und Stahlarbeiterschaft herauszuarbeiten.
Dabei ergab sich im Verlauf der empirischen Erarbeitung und der Analyse der Befunde
ein gewisses Paradoxon, war doch eines der wesentlichen Merkmale der Hüttenarbei¬
terschaft gerade ihre beachtliche Heterogenität und Ausdifferenzierung. Dies bedeutet,
anders formuliert, eines ihrer bestimmenden Charakteristika war der Umstand, dass sie
kaum auf einen Nenner zu bringen ist: Die Eisen- und Stahlarbeiterschaft war, so Bar¬
rington Moore, „eine mannigfaltige und in sich gespaltene Gruppe“.1 Der soziale Raum
der Eisen- und Stahlindustrie zeichnete sich durch eine Vielfalt verschiedenster Akteure
mit jeweils spezifischen Handlungsressourcen, Kapitalien und Machtmitteln aus, an¬
gefangen bei den einfachen Kolonnenarbeitern etwa im Vorfeld der Hochöfen, in den
Konverterwerken oder in der Düdelinger roulage, über die gelernten Fachkräfte wie die
Schlosser oder Schmiede, die besser angelernten Kräfte mit einer zentralen Stellung im
Produktionsprozess - zu nennen wären die Schmelzer oder Puddler - bis hin zu den
zahlreichen Führungskräften, den Meistern, Ingenieuren und Betriebsleitern.
Die Segmentierung der Hüttenarbeiterschaft, die einherging mit einer beträcht¬
lichen Hierarchisierung, wurde auf mehreren Ebenen nachgewiesen. Großen Raum
nahm die Analyse der Arbeitssituation und insbesondere der Belegschaftsstruktur ein,
da die Gruppenstrukturen im Betrieb die Verhältnisse in den anderen Handlungsfel¬
dern entscheidend präfigurierten. Die Belegschaften moderner, integrierter beziehungs¬
weise gemischter Hüttenwerke zerfielen in eine kaum zu überblickende Vielfalt an Ar¬
beiterkategorien und Tätigkeitsfeldern. Die modernsten Betriebsanlagen, vor allem das
Thomasstahlwerk und die Walzanlagen, wo aufgrund der weit vorangeschrittenen Tech¬
nologie die Arbeitsteilung am stärksten ausgeprägt war, ragten hinsichtlich der Ausdif-
ferenzierung ihres Personals am deutlichsten hervor. Die kleinteilige Tätigkeitsstruktur
entsprach bis zu einem gewissen Grad einer Aufteilung nach Kompetenzen und Wei¬
sungsbefugnissen. Prinzipiell gleichartig qualifizierte Arbeiter wurden eingeteilt in I.,
II., III. oder sogar IV. Leute, ein Aufstieg innerhalb der zum Teil technologisch beding¬
ten, zum Teil aber auch artifiziell hergestellten Hierarchie war prinzipiell möglich. Die
Tätigkeits- oder Berufsbezeichnungen wirkten dabei „im Sinne einer Unterscheidimgs-
marke [...], deren Wert sich nach der Stellung innerhalb eines hierarchisch gestaffelten
Systems von Titeln richtet und die auf diese Weise zur Festlegung der jeweiligen Positi¬
onen von Akteuren und Gruppen beiträgt“. Ein Charakteristikum der sozialen Welt der
Hüttenindustrie war, wie an beiden Untersuchungsorten nachgewiesen werden konnte,
dass die durch Titulaturen wie „I. Mann“ festgelegten hierarchischen Positionen nicht
unbedingt mit tatsächlichen Qualifikationen übereinstimmten. Dies hatte zur „Folge,
1 Moore 1982, S. 357.
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