sich gegen das nicht zuletzt in zahlreichen der DDR-Wissenschaft entstammenden Stu¬
dien schematisch angewandte Klassenbildungstheorem ins Felde führen.401 Die Tatsache,
dass sich die werdende Industriearbeiterschaft aus sehr heterogenen Quellen speiste und
die zuwandernden Industriearbeiter ihre kulturellen Prädispositionen auch im industriel¬
len Umfeld beibehielten, blockierte ganz wesentlich Formen der Gruppenzusammenge¬
hörigkeit auf sozioökonomischer Basis. Folgerichtig wurde die Frage der soziokulturellen
Provenienz und Prägung immer wieder in Verbindung gebracht mit der Frage nach der
politischen und gewerkschaftlichen Organisierbarkeit der Industriearbeiterschaft. So
glaubt Josef Mooser, dass die ländlich-agrarische Herkunft der Arbeiter „insbesondere
ihre gewerkschaftliche Organisierbarkeit hemmte“,402 und auch die konfessionelle und
insbesondere katholische Verwurzelung wirkte sich aut die Anstrengungen von Arbeiter¬
parteien und Gewerkschaften eher negativ aus, zumal im katholischen Milieu zahlreiche
konkurrierende Angebote entstanden.403 Mit Blick auf die nationale Diversifizierung im
401 Das Klassenbildungstheorem postuliert einen stufenweisen Prozess, in dem sich das Proletariat sei¬
ner gemeinsamen, sozioökonomisch begründeten Klassenlage bewusst wird und daraufhin, gleichsam
als naturwüchsiger Akt, eine gemeinsame (politische) Aktivität entwickelt. Unterschiede etwa der Her¬
kunft treten dabei nach und nach zurück. So fasst Hartmut Zwahr die Ergebnisse einer Studie über das
werdende Leipziger Proletariat dahingehend zusammen, dass sich „innerhalb der werktätigen Klassen
und Schichten [...] mit der Herausbildung der Arbeiterklasse allmählich eine auf die neue ausgebeutete
Grundklasse gerichtete soziale Annäherung“ vollzog. Der Klassencharakter habe sich immer umfassen¬
der ausgeprägt. Siehe Zwahr, Hartmut: Zur Strukturanalyse der sich konstituierenden deutschen Ar¬
beiterklasse, in: Zwahr, Hartmut (Hrsg.): Die Konstituierung der deutschen Arbeiterklasse von den
dreißiger bis zu den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts (Studienbibliothek DDR-Geschichtswissen-
schaff, Bd. 1), Berlin (Ost) 1981, S. 193-2.16, hier S. 113. Auch Historiker aus den Staaten des Warschauer
Paktes mussten aber die Schwierigkeiten anerkennen, auf die das Theorem der Klassenbildung in der
vielschichtigen Realität stieß. So gesteht der tschechoslowakische Wissenschaftler Otakar Kana ein,
dass „die sich formierende Arbeiterbewegung [...] eine Reihe Schwierigkeiten überwinden [musste],
die das Klassenbewußtsein hinderten und die Aneignung der revolutionären marxistischen Ideologie
hemmten“. Siehe Kana, Otakar: Besonderheiten der Formierung und des Bewusstseins der Arbeiter¬
klasse in neu entstehenden Industriegebieten, in: Konrad, Helmut (Hrsg.): Probleme der Heraus¬
bildung und politischen Formierung der Arbeiterklasse (Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 15),
Wien 1989, S. 69-74, hier S. 71. Kana setzt hier allerdings, auch dies ist geradezu ein Wesenszug der
realsozialistischen Geschichtswissenschaft, die Herausbildung revolutionären Klassenbewusstseins als
gewissermaßen teleologischen Normalfall voraus, andere Entwicklungen werden a priori als anormale
Abweichungen eingeordnet. Dieser Gedankengang ist zu hinterfragen und kritisch zu bewerten. Das
Klassenbildungstheorem wurde durchaus auch von westdeutschen Historikern angewandt, so etwa
bei Kocka, Jürgen: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland
1800-1875, Berlin 1983. Allerdings betont Kocka auch die Grenzen dieses Prozesses unter Betonung der
„Inhomogenität und Vielgestaltigkeit“ der früheren Arbeiterschaft. Siehe ebd., S. 128. Auf die Diskussi¬
on rund um den Klassenbegriff und weitere Konzepte zur Generalisierung der vielschichtigen Empirie
wird im Rahmen eines Exkurse in Kapitel IV der vorliegenden Studie noch näher eingegangen.
402 Mooser 1984, S. 109.
403 Zu nennen sind hier vor allem die zahlreichen katholischen Vereine, in denen sich auch unterbürgerli¬
che Schichten organisierten, sowie die christlichen Gewerkschaften. Aus der umfangreichen Forschungs¬
literatur seien stellvertretend genannt: Rauh-Kühne, Cornelia: Arbeiterschaft in der katholischen
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