Die allgemeine Bedeutung des Mythus 29
zahlreichen Fällen nachweisbar, dann pflegt das be¬
treffende Kulturgebiet seinen ursprünglichen Her-
kunfts- und Geltungskreis zu überschreiten, seinen
Charakter als Sonderfach abzustreifen, die Züge seines
Wesens zur Allgemeinherrschaft über den ganzen
Bereich einer Kultur zu bringen. Durch den Nach¬
weis seiner, auf ewigen Gründen beruhenden Gesetz¬
lichkeit wird seine Vorherrschaft in allgemein-ver¬
bindlicher Form legitimiert; denn in ihmfer-faßt das
Leben wieder seine Vernunft, die unter dem Am
wachsen der historischen Konventionen erstickt zu
sein schien.
So tritt z. B. zu bestimmten Zeiten die ganze Fülle
des geschichtlichen Lebens unter das Licht der Reib
gion, die dann das maßgebende Prinzip für alle Be¬
strebungen und Leistungen wird. Wir kennen auch
Zeiten, die der Philosophie oder außer ihr noch der
Wissenschaft diese überragende Stellung und Geltung
einräumten. Steht doch fast die ganze Weite des 17.
und 18. Jahrhunderts sowohl der Gesinnung als der
theoretischen und praktischen Tätigkeit nach unter
dem bestimmenden Einfluß des Rationalismus, der in
den mathematischen Naturwissenschaften und den
konstruktiven Systemen von Descartes und Leibniz
seinen höchsten Ausdruck fand und eine im nahezu
uneingeschränkten Sinne tyrannische Macht ausübte.
Was sich hier begab, war nichts weniger als eine zwar
großartige, aber doch auch wieder gewaltsame Ra¬
tionalisierung und Verwissenschaftlichung des ganzen
geschichtlichen Lebens in allen dessen Formen und
Zweigen. Ein Vorgang von ungeheurer Tragweite und
Folgewichtigkeit, der seine nachhaltige Auswirkung
bis in die Gegenwart erstreckt. Hier stieg der Ra¬
tionalismus zur Kraft eines Mythus empor, der Geist
der Wissenschaft gewann die Macht eines religiösen
Glaubens. —