2. Mantegna liest Petrarca Diese Bildreliefs halten sich eng an das ihnen zu Grunde liegende, 1352 begonnene und bis zu seinem Tod 1374 immer wieder veränderte und nie ganz abgeschlossene Werk, dem Petrarca ursprünglich den lateinischen Titel Triumphi gibt, wie er auch in den ,Kapi¬ telüberschriften4 der sechs allegorischen Triumphzüge das Lateinische beibehält, während er sich bei der Abfassung der Triumphzüge für Terzinen in italienischer Sprache entschei¬ det. Die Überlieferungsgeschichte der Trionfi ist komplex, das Werk war sehr beliebt und wurde vielfach mit dem Can^oniere zusammen gebunden; daneben existieren fast siebzig weitere vollständige Handschriften aus der Zeit vor der Inkunabel von 1470. ’ Nichtsde¬ stoweniger liegt in jedem Fall etwa ein Jahrhundert zwischen der Entstehung des Textes und seiner in den Elfenbeinreliefs der cassoni Gestalt gewordenen Rezeption. Diese setzen die sechs vor den Augen des Erzählers vorüberziehenden allegorischen Triumphzüge, in denen jeweils die nachfolgende die vorangehende Allegorie besiegt, plastisch ins Bild. Die sechs Triumphzüge sind exakt in der Reihenfolge des petrarkesken Texts in zwei Dreier¬ gruppen auf Paola Gonzagas cassoni abgebildet. Die Reihe wird angeführt von Amor im Triumphus Cupidinis, gefolgt von der Keuschheit im Triumphus Pudiätie und vom Tod im Triumphus Mortis. Ihn besiegt der Ruhm im Triumphus Fame, den Ruhm wiederum die Zeit im Triumphus Temporis und letztlich bleibt die Ewigkeit im Triumphus Etemitatis Herrscherin über sie alle. Petrarcas als imaginierte Seelenreise unter der Führung eines — anonymen - Mentors angelegtes Werk soll Dantes Divina Commedia und möglicherweise auch Boccac¬ cios Amorosa Visione im Sinne einer ,intertextuellen Aufhebung4 zugleich bewahren und übertreffen. Der erste Triumphwagen, den das dichterische Ich erblickt, ist der von zahlreichem Ge¬ folge begleitete und von Pferden als Symbol der Sinnlichkeit gezogene Wagen Amors (Abb. 15). Dieses dichterische Ich wird im Bildprogramm eindeutig als Petrarca identifi¬ ziert, der als einziger hinter dem Triumphwagen stehend zu Amor aufblickt, während das übrige Gefolge ganz mit sich selbst beschäftigt scheint. Die Gestalt Amors und die Aus¬ wahl von dessen auf dem Elfenbeinrelief dargestellter Begleitung wird abschließend Ge¬ genstand meiner exemplarischen Analyse sein (vgl. infra). 26 Über die Überlieferungslage vgl. z.B. Carl Appel in Petrarca 1901, S. XVIII: „In Narduccis Verzeichnis der Petrarcamanuskripte aus den Königlichen Bibliotheken Italiens finde ich Handschriften des Canzoniere und der Triumphe zusammen: 86 Handschriften des Canzoniere allein: 35 Handschriften der Triumphe allein: 67 Diese Statistik ist infolge der leider oft ungenügenden Angaben Narduccis nur eine sehr ungefähre; im¬ merhin erlaubt sie schon ein Urteil über die relativen Zahlenverhältnisse“. Zur ikonografischen Tradition der Trionfi-Illustrationen vgl. supra (wie Anm. 11). 70