Klaus Dietz
Sprachkontakt im Lichte der altenglischen Topo-
nymie: Das frühe lateinische Lehngut
I. Der Forschungsstand und seine Problematik
Von den schätzungsweise 600-700 lateinischen Lehnwörtern, welche die
Angelsachsen aus ihrer kontinentalen Heimat mitbrachten oder nach der Land¬
nahme vor allem im Zuge der Christianisierung rezipierten, fanden nicht we¬
nige Eingang in die altenglische Toponymie. Die Zahl der nur dort nachweis¬
baren Entlehnungen ist dagegen wesentlich kleiner. Während das appellati-
vische Lehngut bis hin zu den durch das Lateinische vermittelten Wörtern
griechischer Herkunft eingehend, wiewohl nicht immer hinreichend sach¬
kundig untersucht ist,1 steht die den Einzelfall übergreifende Analyse der mit
lateinischen Elementen gebildeten Toponyme noch am Anfang. Das geht schon
aus Kenneth Camerons maßgeblicher Darstellung English Place-Names (zu¬
letzt 1996) hervor, die auch in der revidierten Fassung nur das keltische, das
skandinavische und das französische, nicht aber das lateinische Namengut
eigens behandelt und damit die von Allen Mawer und Frank M. Stenton im Ein¬
führungsband der English Place-Name Society (1924) begründete Tradition
fortführt. Percy H. Reaneys Handbuch The Origin of English Place-Names
(zuletzt 1964) enthält zwar einen kurzen Abschnitt über den lateinischen
Einfluss,2 3 begnügt sich jedoch mit einigen wenigen frühaltenglischen Beispie¬
len und konzentriert sich im Übrigen auf die mittelenglischen Zusätze zu Na¬
men von Gemeinden oder Kirchspielen wie Cerne Abbas Do (a. 1086 Cernel, a.
1288 Cerne Abbatis) oder Lyme Regis Do (ae. LJm\ a. 1285 Lyme Regis)\ die
auf den ehemaligen geistlichen oder weltlichen Besitzer verweisen und der
Unterscheidung ursprünglich gleichnamiger Orte oder durch Aufteilung
größerer Besitzungen entstandener Güter dienen. Allein Margaret Gelling
widmet dem lateinischen Lehngut in ihrer primär historisch ausgerichteten Dar¬
stellung Signposts to the Past (zuletzt 1988) ein längeres Kapitel,4 doch
beschränkt auch sie sich auf ein knappes Dutzend angeblich oder tatsächlich
früh rezipierter Namenwörter.
Ein wichtiger, indes nicht ausschlaggebender Grund für die Zurückhaltung
der Handbuchautoren liegt im weitgehenden Fehlen von Vorarbeiten. Die
1 Vgl. Dietz 2003, S. 242-246, und die dort verzeichnete Literatur sowie Feulner 2000.
2 Reaney 1964, S. 203-206.
3 Mills 1986, S. 51, 102.
4 Gelling 1988, S. 63-86 mit Nachträgen S. 245-250. Die Darstellung basiert auf
Gelling 1977. Vgl. dazu die zurückhaltende Beurteilung Nielsens 1998, S. 159-163.
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