düngen, der Epoche der Industrie und des Weltverkehrs, der rasanten Entwick¬
lung von Gewerbefleiß und Wirtschaft, so sahen die anderen eher die Verluste
und viele neue Bedrohungen, mit denen der Fortschritt bezahlt werden musste.
Geradezu apokalyptische Visionen wurden der Fortschrittseuphorie entgegenge¬
setzt und zukünftige gewaltige Zerstörungen vorausgeahnt! So schrieb z.B.
1913 einer der damaligen Zeitgenossen: "Wo aber der Fortschrittsmensch die
Herrschaft antrat, deren er sich rühmt, hat er ringsum Mord gesät und Grauen des
Todes". Mancher, der 1913 dieses drastische Urteil des Naturwissenschaftlers,
Philosophen und Psychologen Ludwig Klages (1872-1956) gelesen hat, mag
es für arg übertrieben oder gar für Schwarzmalerei gehalten haben. Heute nach
dem Ende des 20. Jahrhunderts jedoch, eines Jahrhunderts der Weltkriege und
voll unerhörter Barbarei weltweit, das nicht zuletzt in mehreren geradezu indu¬
striell durchgeführten Massenvernichtungen ganzer Völker die grauenhaften
Kombinationsmöglichkeiten von technischem Fortschritt und krasser Inhumani¬
tät gezeigt hat, erscheint uns Klages fast wie ein Prophet. Er hatte offenbar
bereits jene Szenarien erahnt, für die einerseits manche Angehörige der älteren
Generation in unserer Gesellschaft noch Zeitzeugen sind und die andererseits
unsere Massenmedien in Form farbig-aktueller Anschaubarkeit - fiktiv in Film¬
erzeugnissen aller Art und real in Form von voyeuristischer Berichterstattung
über Kriegs- und Greueltaten - tagtäglich bis in die letzte Wohnstube trans¬
portieren. Zwar können auch wir die grundsätzliche Ambivalenz des Fortschritts
und dessen Janusgesicht, d.h. die "widersprüchlichen Potentiale der Moderne"
kaum klarer benennen, als es einige hellsichtige Zeitgenossen wie Klages schon
vor dem Ersten Weltkrieg - selbstverständlich im Sprachstil ihrer Zeit - getan
haben, aber wir können jetzt nach dem Auslaufen des 20. Jahrhunderts auf
inzwischen unendlich viel mehr einschlägige Beispiele einschließlich des
11. Septembers verweisen, die jene Ambivalenz belegen.
Wer Klages' Text heute liest und sich nicht vom Pathos jener Zeit irritieren lässt,
der findet Erstaunliches: Da ist von den "wetterfesten Phrasen" jener "Fortschritt¬
ler" die Rede, die jeder Kritik an ihrem ausgreifenden Handeln immer nur die
angeblichen Notwendigkeiten wirtschaftlicher Entwicklung, die "Erfordernisse
des 'Nutzens'" und die unvermeidlichen Kosten des technischen Fortschritts
entgegenhalten. Letztlich laufe aber - so Klages - der so genannte "Fortschritt"
auf Zerstörung hinaus, wobei "Methode im Wahnwitz der Zerstörung" stecke:
Unter dem Vorwand moderner Rationalität werde die Vielfalt des Lebens immer
mehr vernichtet, und dies müsse in letzter Konsequenz auch zu einer "Selbst¬
zersetzung des Menschentums" führen. Der "Fortschritt", klagt der Autor, "rodet
Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt
und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwür¬
digt, was er von Lebewesen noch überlässt, gleich dem 'Schlachtvieh' zur
bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt 'rationeller' Ausbeutung, ln seinem
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