auf die Frage nach der Rezeption unserer Texte zurückkommen22. Man kann davon aus¬
gehen, daß ihre Umfänge nicht allzu weit von denjenigen entfernt sind, die nach den
schlichten epischen Anfängen die Epenzyklen erreichen - und gewiß wäre niemand darauf
gekommen, sich alle Chansons der ,Geste de Charlemagne', der ,Geste de Doon de May¬
ence' oder der ,Geste de Guillaume d’Orange' auf einmal anzuhören. Andererseits dürfte
den Verfassern späterer Originalepen gerade das Beispiel der Epenzyklen bei der Abfas¬
sung ihrer eigenen Werke vor Augen gestanden haben. Sie haben nur das Problem der
Handlungs- und Episodenverknüpfung geschickter lösen können, da sie in einem Zug
durchformulierten. Dabei waren ihre Fassungen in gebundener Sprache gewiß ebenso wie
die Prosaversionen der alten Texte zum Teil auch für Leser bestimmt: „L’homme qui fait
silence, l’homme qui lit, arrive après la période où l’on chantait", schreibt Georges Doutre-
pont in seinen ,Mises en prose des épopées et des romans chevaleresques du XIVe au
XVIe siècle“23. Da andererseits die gereimten oder assonierenden Texte nicht jenen Wahr¬
heitsanspruch erfüllten, den man zumindest seit dem 13. Jahrhundert mit der Prosa einge¬
löst sah - daher bildeten sich im 15. Jahrhundert neben den ,Arts de seconde rhétorique'
wie Deschamps’, ,Art de dictier et de fere chansons' (1392) auch zunehmend Arts de
première rhétorique' aus -, muß man neben der Aufnahme der späten Chansons de geste
durch Lektüre wohl auch weiterhin an diejenige durch den mündlichen Vortrag oder
durch einfaches Vorlesen für ein kleineres oder größeres Publikum denken. Aus dem Jahr
1372 stammt ein Hinweis auf eine solche öffentliche Rezitationsform: Blinde würden sich
beim Vorsingen von Chansons de geste als Begleitinstrument der cymphonia bedienen24. Da
darüber hinaus manche Handschriften der späten Chansons de geste wie Mitschriften
wirken, sprechen auch sie für eine mündliche Weitergabe der Texte in den von Rychner
vermuteten Dosen: eine Erwägung, die die Mündlichkeitsforschung bis in die unmittelba¬
re Gegenwart bestätigt.
4. Elisabeths Vorlagen
Vier Texte hat Elisabeth von Nassau-Saarbrücken ins Deutsche übersetzt. Sie waren
wahrscheinlich in jener Handschrift zusammengefaßt, die ihre Mutter, Marguerite von
Vaudémont und Joinville, 1405 „in welsche Sprache“ schreiben ließ25. Daß es sich dabei
nicht um Pro sa-Vorlagen, sondern um solche in gebundener Sprache handelte, haben in
den letzten Jahrzehnten die Arbeiten von Hermann Tiemann und Ulrich Mölk noch ein¬
22 Zum folgenden Cook, Robert F.: „Unity and Esthetics of the late Chansons de geste“, in: Olifant 11
(1986), S. 103-114.
23 Brüssel 1939, S. 382.
24 Vgl. Gröber, Gustav: Geschichte der nnttelfranpisischen Uteratur, Bd. 1: Vers- und Prosadichtung des 14. Jahrhun¬
derts, Drama des 14. und 15. Jahrhunderts, zweite Auflage, bearbeitet von Stefan Hofer, Berlin/Leipzig
1933, S. 96; außerdem Cook (wie Anm. 22), S. 112. - Jean de Grouchy teilte diese Vorstellung im übrigen
nicht. In seiner Musiktheorie gehörte der cantus gestualis zur nicht von Instrumenten begleiteten Vokal¬
musik.
25 Vgl. Loher und Maller. Ritterroman, erneuert von Simrock, Karl, Stuttgart 1868, S. 290.
419