VERÖFFENTLICHUNGEN DER
KOMMISSION FÜR SAARLÄNDISCHE LANDESGESCHICHTE
UND VOLKSFORSCHUNG
„Grenzgänger"
herausgegeben von
Reinhard Schneider
KOMMISSIONSVERLAG:
SAARBRÜCKER DRUCKEREI UND VERLAG GMBH
SAARBRÜCKEN 1998
33
REINHARD SCHNEIDER (HG.)
„GRENZGÄNGER“
Veröffentlichungen
der Kommission für Saarländische Landesgeschichte
und Volksforschung
33
„Grenzgänger“
heraus gegeben von
Reinhard Schneider
Saarbrücken 1998
Kommissionsverlag:
SDV Saarbrücker Druckerei und Verlag GmbH, Saarbrücken
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
„Grenzgänger“ / hrsg. von Reinhard Schneider. - Saarbrücken: SDV, Saarbrücker
Dr. und Verl., 1998
(Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und
Volksforschung; 33)
ISBN 3-930843-39-0
© 1998 by Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung eV,
Saarbrücken.
Alle Rechte Vorbehalten.
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und Volksforschung eV ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer,
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gabe, des Vortrags, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbei-
tungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung.
Gesamtherstellung: Weihert-Druck, Darmstadt
Printed in Germany
ISBN 3-930843-39-0
ISSN 0454-2533
Vorwort
Bei den Beiträgen dieses Bandes handelt es sich um die teilweise überarbeiteten Re-
ferate einer Tagung, die vom 22. bis 24. Mai 1997 in der Universität des Saarlandes in
Saarbrücken stattfand. Veranstalter war abermals der Forschungsschwerpunkt
“Grenzregionen und Interferenzräume” der hiesigen Philosophischen Fakultät, un-
terstützt wurde das Symposium dankenswerterweise von der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft.
Die Tagungsthematik galt “Grenzgängern”, und bewußt wurden An- und Abfüh-
rungszeichen gesetzt, um die Offenheit des Themas, das auch von sehr unterschiedli-
chen Wissenschaftsdisziplinen behandelt wurde, zu demonstrieren. Wie schon für
Band 22 aus dem Jahre 1994 mit “Grenzen und Grenzregionen” und Band 29 von
1996 mit “Sprachenpolitik in Grenzregionen” zeigte sich die Kommission für Saar-
ländische Landesgeschichte und Volksforschung bereit, den Band über “Grenzgän-
ger” in ihre Veröffentlichungsreihe aufzunehmen, wofür die Mitglieder des For-
schungsschwerpunktes sehr dankbar sind.
Der Herausgeber hat die angenehme Pflicht, allen zu danken, die das Zustandekom-
men dieses Bandes gefördert haben. Der Dank gilt ganz besonders Frau Elke Bern-
hardt, die vielfältige Schreibarbeiten erledigte und Korrekturen las, dem Zeichner
des Historischen Instituts, Herrn Raimund Zimmermann, Frau Sabine Penth für ihre
Hilfe bei der Redaktion und den Korrekturen sowie Herrn Marcus Hahn, der in sehr
umsichtiger Weise die computistische Fertigstellung des Bandes übernahm.
Saarbrücken, Juni 1998
Reinhard Schneider
Inhaltsverzeichnis
Reinhard Schneider 9
Die Grenzgängerthematik in historischer Perspektive
Stephan Weth 21
Grenzgänger aus juristischer Sicht. Ausgewählte Probleme
Hans Leo Krämer 35
Grenzgänger aus soziologischer Sicht
Huw Pryce 45
A cross-border career:
Giraldus Cambrensis between Wales and England
Michael Oberweis 61
“Ketzerboten” als Grenzgänger. Katharische Missionare
auf der Flucht vor inquisitorischer Verfolgung
Wulf Müller 73
Mittelalterliche Grenzgänger aus Lothringen
(an Hand französischer Personennamen im Oberelsaß)
Helga Abret 87
Ein Verleger als Grenzgänger zwischen Deutschland
und Frankreich: der Fall Albert Langen
Hans-Jürgen Lüsebrink 111
Publizistische Grenzgänger im Zeitalter des Nationalismus
- der Fall des Jean-Jacques Waltz, patriote alsacien
Ludwig Elle 125
Grenzgängerprobleme aus sorbischer Sicht
Cordula Ratajczak 135
Zwischen “sorbischer Innen- und deutscher Außenperspektive”.
Grenz-Werte einer Mischkultur im Lausitzer Braunkohlentagebaugebiet
Stefan Kaluski 147
Grenzgänger an der deutsch-polnischen Grenze
- unter geographischem Blickwinkel
7
Christian Schulz
Grenzgänger “von Amts wegen” - die interkommunale
grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Saar-Lor-Lux-Raum
155
Andreas Schorr 181
Grenzgänger zwischen den Sprachen. Eine Umfrage zur
Sprachenwahl und zu Spracheinstellungen in der Saar-Lor-Lux-Region
Carole Schmit 197
30 Jahre Grenzgänger in Luxemburg (1965-1995)
Bernhard Mohr 207
Landwirte als Grenzgänger. Schweizerischer Auslandsanbau
im deutschen Hochrheingebiet
Reinhard Schneider 217
Schlußbetrachtung und Ausblick
Biographische Angaben 223
8
Reinhard Schneider
Die Grenzgängerthematik in historischer Perspektive
Das Thema der Saarbrücker Tagung vom Mai 1997 hieß: “Grenzgänger”. In betont
interdisziplinärer Weise, ggf. strittiger Diskussion, sollte dieses Phänomen unter-
sucht, sollten strukturelle Züge herausgestellt, Erfahrungen gefaßt und fixiert wer-
den.1
Alle Beteiligten wußten, wovon die Tagung handeln könnte, sollte und handeln wür-
de. Doch die systematische Frage, was Grenzgänger denn sind, wie dieser Gegen-
stand zu beschreiben, gar zu definieren ist, stand und steht vor größeren Schwierig-
keiten. In der Planung wurde beispielsweise unterstellt, daß der Gegenstandsbereich
recht alt sei, daß mindestens Vorstufen des hier interessierenden Phänomens zeitlich
weit zurückreichen, auch auf viele Lebens- und Überlieferungsbereiche ausgegriffen
haben, also der wissenschaftlichen Erkundung durch zahlreiche und höchst unter-
schiedliche Disziplinen zugänglich sind.
Aber die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Begrifflichkeit. Im Grimmschen
Wörterbuch, Band 9 von 1935 fehlt das Stichwort Grenzgänger. Die Belege beziehen
sich in diesem Band auf Grenzerhaltung, Grenzfälscher, Grenzfestung, Grenzfrevel,
springen dann aber sofort auf Grenzgamison, Grenzgebiet usw. Mit dem Erschei-
nungsjahr 1935 ist allerdings kein terminus post für uns gegeben, denn die 2. Liefe-
rung von Band 9 mit dem Abschnitt Grenzfort - Grille erschien bereits 1919.
Man wird das Stichwort Grenzgänger nicht simpel vergessen haben, denn auch Mey-
ers Großes Konversationslexikon kennt in 6. Auflage von 1909 kein entsprechendes
Lemma. So spricht viel für eine recht späte Entwicklung, deren Zögerlichkeit sich
selbst noch in der 17. Auflage der (Großen) Brockhaus Enzyklopädie von 1969 fin-
det, wenn in Band 7 vom Grenzgänger auf den Grenzarbeitnehmer verwiesen wird
und es dort erläuternd heißt: “Grenzarbeitnehmer, Grenzgänger, Arbeitnehmer, die
ihren Wohnsitz im Grenzgebiet (10-km-Zone) eines Landes haben und regelmäßig in
das eines anderen Landes zur Arbeit fahren. Ihre soziale und rechtliche Stellung re-
geln meist zweiseitige Abkommen.”
In ähnlicher Weise beschreiben seither Nachschlagewerke das Phänomen Grenzgän-
ger; das auf der Grundlage des Brockhaus erarbeitete und weit verbreitete dtv-Lexi-
kon übernimmt den Text fast durchgängig wörtlich: “Grenzgänger, Arbeitnehmer,
die ihren Wohnsitz im Grenzgebiet haben und regelmäßig in das Nachbarland zur Ar-
beit fahren. Die dabei entstehenden sozialrechtlichen Fragen sind meist durch zwei-
seitige Abkommen zwischen den Staaten geregelt.”* 2
Die zitierte Definition mag zunächst genügen, es sei denn, man zöge die rechtliche
Präzisierung ergänzend hinzu. So hat beispielsweise Ralph Scheidegger 1987 “Die
i
2
Für wesentliche Hilfe bei der Themenvorbereitung danke ich Herrn Andreas Wagner.
dtv-Lexikon. Ein Konversationslexikon in 20 Bänden (Deutscher Taschenbuch Verlag)
1972, hier s.v. Grenzgänger, Bd.8, S.63.
9
rechtliche Erfassung der ausländischen Grenzgänger” aus Schweizer Sicht und eid-
genössischem Material untersucht und definiert: “Unter einem Grenzgänger im
Rechtssinne ist eine natürliche Person zu verstehen, die sich aufgrund der regelmäßi-
gen Erwerbsmöglichkeit im einen Staat aufhält, dagegen in einem anderen Staat
Wohnsitz hat und die besonderen für ein bestimmtes Rechtsgebiet durch die anwend-
bare Rechtsordnung aufgestellten örtlichen, zeitlichen und persönlichen Vorausset-
zungen erfüllt.”3
Es liegt in der Eigenart der zumeist vertretenen nichtjuristischen Wissenschaftszwei-
ge, daß wir mit der juristischen Definitionsschärfe - so sehr sie fasziniert - nicht virtu-
os operieren können, sondern in hohem Maße auch von den (andersartigen) Quellen
unserer jeweiligen Gegenstandsbereiche bestimmt werden. Es ist aber durchwegs
empfehlenswert, diese Definitionen im Blick zu behalten, sich möglichst an ihnen zu
orientieren.
Festzuhalten wäre nach der knappen terminologischen Erörterung, daß der Begriff
Grenzgänger zwar erst im 20. Jahrhundert aufgekommen zu sein scheint, die Sache
hingegen erheblich älter sein dürfte. Im Vorgriff auf einige historische Zusammen-
hänge läßt sich sogar betonen, daß ein entsprechender Begriff benötigt und gesucht
wurde, sich aber erstaunliche Schwierigkeiten boten. Dabei waren das “Gehen über
die Grenze” und auch der “Grenzgang” - allerdings in anderer, grenzabschreitender
und kontrollierender Funktion - durchaus dem Sprachgebrauch geläufig, doch orien-
tierte man sich eher auf die Zielräume, wenn von Hollandgängem und Hollandsgän-
gerei oder von Sachsengängem gesprochen wurde. Aber auch die Angabe von polni-
schen Sachsengängem hatte durchaus ihren Sinn, weil die in Sachsen Arbeit Suchen-
den aus Polen kamen. Absurd jedoch - oder eher Indiz für das noch vorhandene
sprachliche Unvermögen, Sachverhalte adäquat zu bezeichnen - waren etwa Hinwei-
se auf “Die polnischen Sachsengänger in der badischen Landwirtschaft und Indu-
strie”, wie der Titel einer Karlsruher Dissertation von 1914 lautet.4 Deren Verfasser
Julius Ludwig verstand unter “Sachsengängem” eben saisonale Wanderarbeiter,
auch wenn Sachsen nicht der Zielraum war.
Bei den einleitenden Bemerkungen sollte ebenfalls ausdrücklich betont werden, daß
vornehmlich Grenzgänger beachtet werden sollen, die Grenzen auf der Suche nach
Arbeit überschritten, während illegale Grenzübertritte, sei es zum Schmuggeln oder
zum Zweck des Auskundschaftens, der heimlichen Informationsbeschaffung oder
ähnlicher Anliegen im wesentlichen außer Betracht bleiben sollen. Manche Lexika
treffen ihre Unterscheidungen durchaus im angedeuteten Sinne, was ein Blick in
Langenscheidts Handwörterbuch Englisch zu verdeutlichen vermag. In der erweiter-
ten Neuausgabe von 1977 wird nämlich unter dem Stichwort Grenzgänger differen-
ziert zwischen “illegal” - border crosser und dem “Arbeiter usw.” als frontier com-
muter. Das nahezu parallele Handwörterbuch Französisch von Langenscheidt (in 18.
Auflage von 1987) macht diese sublime Unterscheidung nicht, sondern gibt fronta-
lier an. Dies kann gewiß nicht bedeuten, daß Frankreich keine entsprechenden Nega-
3 Ralph Scheidegger, Die rechtliche Erfassung der ausländischen Grenzgänger (1987) S. 13.
4 Julius Ludwig, Die polnischen Sachsengänger in der badischen Landwirtschaft und Indu-
strie, Diss. Karlsruhe 1914.
10
tivphänomene kannte, denn sonst würde etwa das Thema “Spitzel am Oberrhein” um
einen interessanten Aspekt gewiß beraubt.5
Die modernen Definitionen legen die Vermutung nahe, daß dieses Grenzgänger-Phä-
nomen doch nicht sehr alt sein kann, daß sich keine nennenswerte historische Per-
spektive und mithin auch kaum Niederschlag auf den Feldern der Sprache, Literatur,
vielfältiger kultureller und sicher auch sozialer Bereiche ergebe. Dies wäre allerdings
sorgsam zu prüfen! Denn bereits die heutigen - nicht ganz unstrittigen - Definitionen
profitieren von der Ausgrenzung ähnlicher, vielleicht sogar zugehöriger Erschei-
nungsformen, sie sind abhängig von bewußten Akzentuierungen bei gleichzeitiger
Nichtberücksichtigung verwandter, möglicherweise wesentlicher Aspekte und Teil-
phänomene. So ergibt sich mindestens die Pflicht auch zu historischer Untersuchung,
zur Rückschau in vergangene Zeiten, denn strukturelle Vorgaben des heutigen
Grenzgänger-Phänomens könnten sich durchaus finden lassen. Dies berechtigt wohl
dazu, den thematischen Rahmen weiter zu fassen, die Gesamtthematik nicht aus-
schließlich unter eine ggf. recht starre Definition zu stellen, die andererseits bei einer
resümierenden Betrachtung sich als hilfreich, akzeptabel erweisen könnte, vielleicht
aber auch modifiziert werden müßte. Insofern mag der Blick auch Gastarbeitern,
wandernden Handwerkern und Arbeitern, Saisonarbeitern bzw. Saisonniers gelten,
wie man in der Schweiz sie nennen würde. Sicher müßte die Aufmerksamkeit auch
Einzelfragen bzw. Rahmenbedingungen gelten, beispielsweise der Durchlässigkeit
von Grenzen als notwendiger Voraussetzung, ferner dem Element der Freizügigkeit
und der Mobilität, die ja nicht nur technisch bedingt ist, sondern mindestens auch
mental, um von rechtlichen, sozialen und ökonomischen Schranken gar nicht zu re-
den. Letztlich spiegeln sich in der Thematik “Grenzgänger” auch Formen der Ge-
wöhnung an Fremde, ein relatives Vertrautsein mit Fremden und ein Vertrauen zu ih-
nen - also eine wahre Vielfalt von Bezügen und Bedingungen, die in interdisziplinä-
rer Betrachtung deutlicher werden als bei einer fachlich einseitigen Prüfung, und sei
sie noch so wichtig. Mit dieser Annahme ist sogar die Hoffnung auf plastische, le-
bensvolle Bilder verknüpft, die sich vielleicht im literarischen Niederschlag als ein-
drucksvollster Verdichtung finden lassen.
Die Konzentration auf historische Vor- und Frühformen der Grenzgängerei steht vor
Schwierigkeiten. Achtet man nämlich bei Grenzgängern vorzugsweise auf deren Su-
che nach Arbeit und Existenzsicherung, so ergibt sich in weit zurückliegenden Jahr-
hunderten kaum ein nennenswerter Niederschlag in den Quellen. Es wäre aber falsch
anzunehmen, daß Arbeitskräfte in großer Zahl für bestimmte Zeiträume und ggf.
Großprojekte nicht benötigt wurden. Eher ist an die uralte Form der Beschaffung von
Arbeitskräften zu denken, die Sklaverei. Wer keine Sklaven besaß, kaufte sie oder
verschaffte sie sich gewaltsam, indem er bislang freie, halb- oder minderfreie Men-
schen versklavte. Eine sehr übliche Form war die Versklavung von Kriegsgefange-
nen. Da diese Art der Arbeitskräftebeschaffung sehr effektiv ist, wurde sie seit jeher
praktiziert, auch das 20. Jahrhundert kennt den Einsatz von Kriegsgefangenen zur
Sklavenarbeit, es hat sogar die zahlenmäßigen Größenordnungen mitunter enorm zu
steigern gewußt. Doch sollen diese schandbaren Seiten auch europäischer Geschich-
5 Das Referat von Claudia Ulbrich “Spitzel am Oberrhein (Ende des 18. Jh.)” fehlt leider in
diesem Band.
11
te nicht weiter berührt werden. Unsere Aufmerksamkeit gilt den moderaten Formen
der Arbeitermigration.
Es mag zunächst offenbleiben, ob Mobilität, Flexibilität und ein Mindestmaß an Frei-
zügigkeit die Hauptantriebskräfte für ein temporäres Arbeiten jenseits der Grenze
mit regelmäßiger Rückkehr in den Heimatort seit jeher oder erst in der Moderne sind.
Hinzuzurechnen wären gewiß wirtschaftliche Motive oder auch Zwänge, die bis ans
Existenzielle reichen können und zur Arbeitssuche in der Fremde veranlassen. Öko-
nomische Anreize etwa in dem Sinne, daß man über ein gutes Auskommen hinaus
zusätzliche Verdienstmöglichkeiten sucht, könnten in unserem Zusammenhang wohl
eher vernachlässigt werden, weil die Verzichts- und Entbehrungsaspekte doch stets
recht gravierend und beim Abwägen von Vor- und Nachteilen ausschlaggebend sind.
Aber auch im Fall wirtschaftlicher Not ist ein gehöriges Maß an Mobilität und Flexi-
bilität ein Grunderfordemis für alle, die als Grenzgänger ihr Auskommen suchen.
Gab es solche Formen der Elastizität schon in vergangenen Jahrhunderten?
Die Frage zu stellen, ist weitaus einfacher als die Suche nach Antworten. Immerhin
lassen sich beispielsweise im Spätmittelalter beachtliche Zeichen von räumlicher
Mobilität erkennen. Diese äußerte sich vorzugsweise im Pilgerwesen, bei den Scho-
laren und Handwerksgesellen, also jenen Gruppen, die auch wieder in ihre Heimat
zurückkehrten, was natürlich nicht der Fall war bei den großen Migrationsströmen in
der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung,6 der durchaus Verbreitungsformen der
niederländischen Marschenkolonisation und Siedlungsvorgänge in Südwestfrank-
reich und Innerspanien sowie im alten Rußland als grundsätzliche Parallelen an die
Seite zu stellen sind.7 Diese Siedlungsbewegungen bleiben hier außer Betracht, auch
wenn sie höchst beachtliche Mobilitätsformen dokumentieren. Grundsätzlich läßt
sich aber von einem verbreiteten “Unterwegssein im Spätmittelalter” reden, das auch
bereits auf mediävistisches Forschungsinteresse stieß.8 Diese Formen der Mobilität
könnten als Grundvoraussetzungen auch für die Grenzgängerthematik gelten.
Gewisse Wanderungsformen, die ebenfalls ein Mindestmaß an Freizügigkeit voraus-
setzen oder aber sozusagen illegale Entfernung vom “angeborenen” Arbeitsplatz, die
meist als Flucht zu erkennen ist, hat es allerdings auch in früheren Jahrhunderten
schon gegeben.9 Demographische Fluktuation ermöglichte mitunter die billige Ver-
6 Vgl. den wichtigen Sammelband: Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem
der europäischen Geschichte, hrsg. von Walter Schlesinger (Vorträge und Forschungen 18)
Sigmaringen 1975.
7 Ebd.. Dietrich Claude, Die Anfänge der Wiederbesiedlung Innerspaniens (S.607-656);
Charles Higounet, Zur Siedlungsgeschichte Südwestfrankreichs vom 11. bis zum 14. Jahr-
hundert (S.657-694); Franz Petri, Entstehung und Verbreitung der niederländischen Mar-
schenkolonisation in Europa (mit Ausnahme der Ostsiedlung) S.695-754; Günther Stökl,
Siedlung und Siedlungsbewegungen im alten Rußland (13.-16. Jahrhundert) S.755-779.
8 Unterwegs im Spätmittelalter, hrsg. von Peter Moraw (Zeitschrift für Historische For-
schung, Beiheft 1) Berlin 1985 mit Beiträgen von Ludwig Schmugge, Die Pilger; Jürgen
Miethke, Die Studenten; Knut Schulz, Die Handwerksgesellen; Frantisek Graus, Die Rand-
ständigen.
9 Knappe Hinweise bei Reinhard Schneider, Das Frankenreich (Oldenbourg Grundriß der
Geschichte 5) München 31995, S.79 (“Phänomene allgemeiner Fluktuation”).
12
sorgung mit Arbeitskräften, doch sind derartige Zusammenhänge schwer zu erken-
nen und dann ggf. nur umständlich darstellbar. Ähnlich verhält es sich mit allen
Landbewohnern, die beispielsweise täglich oder doch recht regelmäßig in mittelal-
terliche und frühneuzeitliche Städte gingen, um dort zu arbeiten. Zu ihnen gehört ex-
emplarisch jener Landbäcker, der mit transportablem, auf einen Karren montierten
Ofen seine Waren backfrisch auf den städtischen Absatzmarkt brachte, wie es die il-
lustrierte Handschrift des Ulrich von Richenthal über das Konstanzer Konzil so
schön dokumentiert.10 11 Solche und ähnliche Einzelpersonen und auch Personengrup-
pen lassen sich in den Quellen im allgemeinen nur mühsam fassen, sie bleiben für die
etwas engere Grenzgänger-Thematik daher unberücksichtigt.
Weit besser lassen sich Personen fassen, die zu ihrer eigenen Ausbildung und vor al-
lem zur Vervollständigung der Berufsqualifikation in die Fremde gingen, über die
Grenzen ihrer Heimat möglichst ins Ausland. Zu denken ist vor allem an mittelalter-
liche und frühneuzeitliche Handwerkerwanderungen.11 Seit dem frühen 14. Jahrhun-
dert steigerten sie sich im deutschsprachigen Raum zur recht festen Gewohnheit,
“während der Gesellenzeit eine Phase der Wanderschaft einzuschieben”, die im
Handwerk auch als Wanderschaftspflicht empfunden werden konnte. Die Gründe da-
für sind vielfältig. Die ältere Forschung sah vornehmlich Ab- und Ausgrenzungsver-
suche der Zünfte als Ursache an, daß Gesellen in der Feme Arbeit suchten. Doch ist
diese Sehweise erheblich erweitert worden durch den Nachweis, daß man seit dem
Spätmittelalter “die Gesellenjahre als eigenen Lebensabschnitt selbständig zu gestal-
ten” suchte, daß neben zweifellos häufig guten Arbeitschancen jenseits der heimi-
schen Grenzen in der Fremde “Kenntnis- und Erfahrungserweiterung, Neugier und
Fernweh sowie der Lebensstil unverheirateter junger Männer”12 für die Durchset-
zung der Wanderschaftsgewohnheiten maßgeblich waren.
Auskommen und Erwerb zusätzlicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen sind
Elemente, die auch für spätere Jahrhunderte als wesentlich angesehen werden könn-
ten, für die spezielle Grenzgängerthematik mithin ebenfalls relevant wären. Ange-
bracht ist ein zusätzlicher Blick von den Handwerksgesellen zu den Lehrlingen, die
in die Fremde wanderten, um sich ausbilden zu lassen. Im spätmittelalterlichen Euro-
pa vornehmlich des 15. Jahrhunderts suchten Lehrlinge in der Fremde ergänzend zur
Fachausbildung die Zweisprachigkeit, und faszinierend ist es, wenn gar mancher
Meister sich als Lehrling in der Fremde verdingte, um neben dem Fremdsprachener-
10 Fahrbarer Backofen. Aus: Ulrich von Richental, Konstanzer Konzilschronik 1465, in:
Ders., Das Konzil zu Konstanz (Faksimileausgabe) Konstanz 1964, fol. 23r.
11 Knut Schulz, Art. Wanderschaft, -spflicht, in: Lex MA 8 (1997) Sp.2010f. (mit reichen Li-
teraturhinweisen); Ders., Mobilität im Handwerk - Wanderwege (Spätmittelalter), in: Eu-
ropäische Technik im Mittelalter. 800 bis 1400. Tradition und Innovation, hrsg. von Uta
Lindgren (Berlin 1997) S.503-508.
12 K. Schulz, in: Lex MA, Sp.2011; ausführlich Knut Schulz, Handwerksgesellen und Lohn-
arbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des
14.-17. Jahrhunderts (Sigmaringen 1985).
13
werb Neuerungen und Innovationen zu erlernen,13 damit er seine eigene heimatliche
Werkstatt mit dem Know-how der führenden Gewerberegionen bereichern konnte.
Ein derart hohes Maß an individueller Flexibilität und Mobilität ließe sich durchaus
auch für moderne Umbruchzeiten als wirksamstes Mittel postulieren, wenn man den
Anschluß an technische und künstlerische Neuerungen sucht.
Anders steht es mit Arbeitskräften, die mitunter von weit her kamen, um in der Frem-
de zu arbeiten, und die dann über Grenzen hinweg nach Hause zu ihren Familien zu-
rückkehrten mit dem Ertrag ihrer Arbeit. Zumeist handelt es sich um saisonale Wan-
derarbeiter, wie es anhand von vier Gruppen beispielhaft verdeutlicht werden kann.
Charakteristisch für sie alle ist zunächst die Wanderung vorzugsweise in benachbarte
Regionen, ferner die Tatsache, daß sie aus Gebieten mit geringem Arbeitsangebot
stammen und deshalb in der Fremde als billige Arbeitskräfte dienen. Wichtig ist zu-
sätzlich, daß die erarbeiteten Gelder im wesentlichen für die Zeit der Erwerbslosig-
keit aufgespart werden und dann in der Heimat zumeist einen bedeutsamen Wirt-
schaftsfaktor darstellen. Schließlich bilden sich über längere Zeiträume oft Traditio-
nen hinsichtlich der Herkunfts- und Zielorte, auch spezieller Tätigkeiten. Mancher-
orts lassen sich Ansätze solcher Traditionen bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen.
Über eine ggf. sogar relevante Dunkelziffer läßt sich allerdings nur spekulieren. Rolf
Sprandel gibt in seiner Studie über “Die Ausbreitung des deutschen Handwerks im
mittelalterlichen Frankreich” Hinweise auf Ausdrücke der französischen Bergmann-
sprache, die - wenngleich sie sich nicht voll durchgesetzt haben - am jeweiligen Ort
“als direktes Zeugnis der Tätigkeit deutscher Bergleute” verstanden werden dürf
ten.14 So stamme beispielsweise gousse oder gueuse als Bezeichnung für die im
Schmelzverfahren gewonnenen Roheisenklumpen von “gießen, Guß". Noch im
Spätmittelalter sei das Abstichloch eines Schmelzofens Gosse genannt worden. Das
Beispiel zeigt, daß kultureller Niederschlag im sprachlichen Bereich nachweisbar
sein kann und daß bei sorgfältiger Beobachtung durchaus die Chance besteht, trotz
des Mangels an einschlägigen Quellen Aufschlüsse zu erzielen.
Sieht man ferner von vereinzelten Belegen etwa für polnische Wanderarbeiter in thü-
ringischen Waidkulturen,15 von denen insbesondere die Färber in der Erfurter Metro-
pole offenbar seit dem 14. Jahrhundert schon profitierten, einmal ab und läßt man die
Wanderarbeiter in der fruchtbaren Wetterau ebenso unberücksichtigt, so konzentriert
sich unser Interesse auf vier große Gruppen von Grenzgängern. Seit dem Aufkom-
men von Eisenbahnen entwickelten sie sich zu relevanten Größenordnungen, erfuh-
13 Knut Schulz, Handwerk im spätmittelalterlichen Europa. Zur Wanderung und Ausbildung
von Lehrlingen in der Fremde, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, S,69-97. - Vf.
spricht sogar von “Zweit- und Drittlehre” (S.81 -83). Belegt sind u.a. das Erlernen der Kunst
des Scherenschleifens (S.81), das Erwerben von Spezialkenntnissen in der Färber-Kunst,
der Tapisserie, im Buchdruck usw. (S.84).
14 Rolf Sprandel, Die Ausbreitung des deutschen Handwerks im mittelalterlichen Frankreich,
in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 51 (1964) S.80.
15 Zur Waidproduktion s. Wieland Held, Das Landgebiet Erfurts und die Ökonomik der Stadt
in der frühen Neuzeit, in: Erfurt. Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ulman Weiß (Wei-
mar 1995) S.464f. und Rudolf Endres, Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Erfurt
und Nürnberg im Mittelalter, ebd. S.476-481.
14
ren dabei allerdings auch Prägungen, die bis in die Moderne reichen. Dies gilt etwa
für ghettoähnliche Unterkunftsformen im Arbeitsgebiet, für mancherlei Ressenti-
ments seitens der jeweiligen Bevölkerung, für ein überproportionalisiertes Angewie-
sensein auf die Arbeitsorganisatoren bzw. eine Kanalisierung der Arbeiterströme.
Hier wird ein staatlicher Organisationsdruck ebenso spürbar wie gelegentlich ein
neues Verhältnis im Beziehungsgeflecht von Vorgesetztem und Arbeiter. Dabei sei
außer acht gelassen, ob sich tatsächlich neue modellartige Formen herauskristalli-
sierten, mindestens aber ist es nötig darauf hinzuweisen, daß unter den Wanderarbei-
tern gleicher Herkunft sich durchaus soziale Absicherungssysteme entwickeln konn-
ten.
Zu erwähnen ist zunächst die sog. Holland(s)gängerei.16 Die relativ hoch entwickelte
Wirtschaft in Holland war auf billige Arbeitskräfte angewiesen, wenn sie größere
Projekte betreiben wollte und die eigene, an Wohlstand gewöhnte Arbeiterschaft
nicht für jede Tätigkeit zu gewinnen war: also vorrangig für den Deichbau, für Ernte-
hilfe, für die Produktion von Ziegeln und für Stukkaturen, auch zur Trockenlegung
von Mooren und Feuchtgebieten. Dabei griff man gern auf Arbeitskräfte von jenseits
der Grenze zurück, und sie kamen vorzugsweise aus Oldenburg, Lippe, Münster,
Hannover und Tecklenburg. Deren sog. Hollandgang scheint den nordwestdeutschen
Arbeitsmarkt schon seit dem 17. Jh. und seither zunehmend geprägt (und entlastet) zu
haben. Um 1811 arbeiten beispielsweise 12000 deutsche Wanderarbeiter als Gras-
mäher, was nur kurzfristig in der Zeit der Heuernte möglich ist. Die Mindener Regie-
rung berichtet dennoch 1829 von dem “tiefeingewurzelten alten Gebrauche” der Hol-
landgängerei. Aus der Perspektive der deutschen Grenzgänger war die Arbeit attrak-
tiv: Arbeitstage mit ca. 16 Stunden erbrachten in etwa einen doppelten Arbeitslohn,
das holländische Kanalsystem ermöglichte schnelle Anreise, erleichterte auch das
zwingend notwendige Mitbringen der Arbeitsgeräte.
Man nannte diese Arbeiter nach ihrer Herkunft, z. B. “Lippser”, nach ihrer Haupttä-
tigkeit, beispielsweise “Ziegler” oder nach ihrem Ziel, eben “Holland(s)gänger”.
Hier entwickelten sich auch professionelle Strukturen, gab es Makler für Arbeitskräf-
te und staatliche Agenten. Sogar Seelsorger stellte man ihnen, es sei denn, der heimi-
sche (deutsche) Ortsgeistliche kam im Sommer seine Pfarrkinder selbst besuchen,
zumal häufig die Männer einer ganzen Ortschaft gemeinsam zu einem bestimmten
Auftraggeber zogen.
Die Lippischen Ziegler verfügten über die spezialisierteste Organisation,17 die man-
cherorts eine Monopolstellung beanspruchte. Ihr Ziel war nicht nur Holland, sondern
diese Wanderarbeiter zogen auch nach Skandinavien, Süddeutschland und Rußland.
Manche Details ihrer Tätigkeit sind hochinteressant: Als Regelfall kann gelten, daß
ein Lippischer Zieglermeister mit dem ausländischen Auftraggeber einen Vertrag
16 Albin Gladen und Antje Kraus, Deutsche Wanderarbeiter in den Niederlanden im 19. Jahr-
hundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterwanderung, in: Bevölkerung, Wirtschaft,
Gesellschaft seit der Industrialisierung. Festschrift für Wolfgang Köllmann, hrsg. von Diet-
mar Petzina und Jürgen Reulecke (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technik-
geschichte 8) Dortmund 1990, S.321-341.
17 Oskar Asemissen, Die lippischen Ziegler und Hollandsgänger und die Organisation ihrer
Arbeit, in: Der Arbeiterfreund 23 (1885) S.l-13.
15
schloß. Dann warb bzw. heuerte er in seiner Heimat die nötigen Arbeiter an. Die Auf-
traggeber hatten üblicherweise Geräte und Material zu stellen, die Bezahlung erfolg-
te nach Stückzahl. Den Lohn verteilten die Lippser anteilsmäßig unter sich, so daß für
alle Arbeitenden ein großer Anreiz bestand, möglichst schnell zu produzieren. Auch
soziale Absicherung gegen Krankheit oder Todesfälle handelten die Arbeiter unter
sich aus. Erstaunlicherweise stellte die Lippische Regierung einen privilegierten
“Ziegelboten” bzw. “Ziegelagenten”, der zweimal jährlich seinen ausländischen Di-
strikt bereiste. Auch im Winter führte er Verhandlungen mit möglichen Auftragge-
bern durch, im Sommer brachte er die Post aus der Heimat mit, schlichtete Konflikte
zwischen den Arbeitern. Daraus ergibt sich, daß sie offenbar auch im Ausland noch
unter einem gewissen Rechtschutz, auch der Aufsichtspflicht ihres Heimatstaates
standen. Aufgabe der Ziegelagenten war auch das Inspizieren der Arbeits- und Le-
bensverhältnisse. Seit 1851 verfugten die Ziegler über die gesetzliche Zusicherung,
ihre Ziegelagenten selbst wählen zu dürfen. Die Lebensverhältnisse dieser Holland-
gänger waren sehr anspruchslos,18 Branntwein soll ihr einziger Luxus gewesen sein.
Auch war ihr Leben in der Fremde auf strenge Trennung von der einheimischen Be-
völkerung angelegt. Vielleicht gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang das übliche
Verfahren', daß die Deutschen selbst ihren Koch aus der Heimat mitbrachten.
Die Sachsengängerei ist ein Phänomen des 19. Jh.19 An seinem Anfang stehen ver-
mutlich jene Frauen und Mädchen aus dem Eichsfeld, die zur Erntezeit in die Rüben-
distrikte zogen. Da die Zuckerproduktion enorm expandierte, kamen bald auch
männliche Arbeitskräfte nach Sachsen, näherhin in die Provinz Sachsen und nach
Anhalt, Braunschweig und Hannover. Dabei ist die Sachsengängerei im Handwörter-
buch der Staatswissenschaften definiert als “die alljährliche Wanderung ostoderi-
scher Landarbeiterbeiderlei Geschlechts nach den westelbischen Rübendistrikten für
die Zeit vom Beginn der Frühjahrsarbeiten im April bis zur Beendigung der Rüben-
emte im Oktober - November”. Im ostelbischen Raum zählte man 1890 ca. 75.000
Wanderarbeiter, die aus Brandenburg (14.500), Pommern (3.000), Westpreußen
(16.500), Posen (15.000), Schlesien (26.000) kamen. Da bald zu den fünf genannten
Provinzen auch Ostpreußen trat und der Bedarf ohnehin stieg, rechnete man 1893 be-
reits mit “weit über 100.000" ostoderischen Abwanderem [Grenzgängern], Sprachen
diese Leute polnisch, so benötigte man zweisprachiges Aufsichts- und Vermittlungs-
personal, das sich allerdings meist einen üblen Ruf erwarb, vorwiegend wegen über-
höhter Werbegelder, Vertragsbrüche und Spekulation mit Kontingenten. Sittlichen
und hygienischen Mißständen suchte man mit nach Geschlechtern getrennten Kaser-
nenbauten beizukommen. Ein Zeitzeuge notierte überdies 1893 die Gründe der Sach-
sengängerei bzw. Wanderarbeit: Relative Übervölkerung der Ausgangsgebiete gehö-
re dazu, aber auch "der Wandertrieb, die Veränderungssucht, die Lust an einem un-
gebundeneren und geselligeren Leben, Abneigung gegen die Zurückgebliebenen und
Zuneigung zu den Hinausgezogenen, Differenzen mit den heimischen Gutsverwal-
tungen, Abneigung gegen gewisse in der Heimat verlangte Beschäftigungen (Haus-
arbeit, Melken), Freude an baren Ersparnissen ...", wurden diese Arbeiter doch
18 Ebd. S.5f.
19 Karl Kaerger, Artikel “Sachsengängerei”, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften,
Bd. 5 (1893) S.473.
16
durchweg bar, und nicht mit Naturallöhnen bezahlt. Als positive Auswirkungen der
Sachsengängerei sah der zeitgenössische deutsche Beobachter die Gewöhnung an
eine arbeitsreichere, diszipliniertere Lebensführung, saubere Kleidung und bessere
Ernährung an. Auch meinte er, der Umgang mit der deutschen Sprache und Kultur sei
für die polnischen Wanderarbeiter nutzbringend.20
Gegen Ende des 19. Jh. gibt es in der Zentral- und Nordschweiz einen großen Anteil
an italienischen Arbeitskräften,21 Sie wurden vor allem im Eisenbahnbau, insbeson-
dere bei den Tunnelbauten, im Baugewerbe, in Steinbrüchen und bei sonstigen Erd-
arbeiten benötigt, da sie billige Arbeitskräfte waren. Man kann diese italienischen
Wanderarbeiter auch als saisonale Arbeitskräfte ansprechen, weil die von ihnen ge-
forderten Arbeiten fast ausschließlich im Sommer zu verrichten sind. Seit es Eisen-
bahnen gab, kamen sie oft in Sonderzügen aus Norditalien und haben zu Beginn des
20. Jh. oft die Elunderttausendergrenze überschritten. So gab es Branchen, die zeit-
weilig 90 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit italienischen Wanderarbeitern besetzten.
Schweiz und Italien profitierten beide: Aufwendige Großprojekte in der Schweiz
konnten kostengünstig realisiert werden, während in Italien die Arbeitslosigkeit ent-
schärft werden konnte, die wegen gewisser Rückständigkeiten bei der Industrialisie-
rung des Landes sehr gravierend war. Insofern haben auch beide staatlichen Seiten in
der Organisation der Arbeitskräfte, bei Unterbringung und anderem zusammengear-
beitet. Gleichwohl ist aus der Perspektive des beginnenden 20, Jh. geurteilt worden,
daß die Einheimischen die Italiener mit großem Mißtrauen betrachtet hätten. Klagen
über verwahrloste Zustände und mangelnde Hygiene wechselten mit Achtung vor
dem hohen Arbeitspensum und der strengen Arbeitsmoral. Private Kontakte zwi-
schen den Angehörigen beider Volksgruppen scheinen nicht entstanden zu sein, wie-
derum vor allem, weil die Italiener in eigenen, zum Teil mobilen Siedlungen unterge-
bracht waren. Insofern entfällt auch die Frage nach kulturellen Impulsen, die beider-
seitig hätten eventuell registriert werden können. Nur im italienischsprachigen Tes-
sin waren die Verhältnisse günstiger, hier war sogar der Anteil der Italiener in akade-
mischen Berufen relativ hoch. In dieser Berufsschicht lassen sich dann auch recht
häufig Italiener ermitteln, die für längere Zeit blieben oder mit der einheimischen Be-
völkerung verschmolzen.
Als vierte Gruppe soll die der Wanderarbeiter im saarländisch-lothringischen Raum
angesprochen werden. Da es sich hier um Tätigkeiten in den großen Industriezentren
handelte, spielte sich der Wanderungsrhythmus jahreszeitlich anders ab. In diesen
Raum kamen die meist ländlichen Arbeiter aus der Umgebung vorzugsweise im
Herbst und Winter, wenn sie in der heimischen Landwirtschaft ihre eigenen Arbeiten
erledigt hatten. Man spricht daher von einem “saisonalen Mobilitätsmuster”, das
auch für das Saarland gilt, wie beispielsweise Stefan Leiner unlängst hier in
Saarbrücken herausarbeiten konnte.22 Mit dem Aufkommen eines forcierten Eisen-
20 Ebd. S.474.
21 Hektor Ammann, Die Italiener in der Schweiz, Ein Beitrag zur Fremdenfrage (Basel 1917).
22 Stefan Leiner, Migration und Urbanisierung. Binnenwanderungsbewegungen, räumlicher
und sozialer Wandel in den Industriestädten des Saar-Lor-Lux-Raumes 1856-1910 (Veröf-
fentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung
29) Saarbrücken 1994, hier S.73ff.
17
bahnwesens wurde der Einzugsbereich größer, obwohl nach wie vor die meisten aus-
wärtigen Arbeiter aus einer 80-km-Zone kamen23 und zumeist nicht länger als ein
halbes Jahr in ihrem Dienstverhältnis blieben.24 Die Frage nach einem täglichen
Pendlerwesen läßt sich vorerst nicht beantworten, weil die für die Wanderarbeit in er-
ster Linie herangezogenen Melderegister für diese Spezialfrage als Quelle nicht in
Frage kommen.
Offenbar recht unbedeutend war der Arbeitskräfteaustausch zu den benachbarten In-
dustrierevieren in Lothringen und Luxemburg, wo in größerem Umfang Italiener ar-
beiteten. Auch hier scheint es ein tägliches Pendeln über die Grenze zunächst noch
nicht gegeben zu haben. Nach dem Ersten Weltkrieg wandelten sich die Verhältnisse,
insofern die im Saarland typische Seßhaftigkeit der Arbeiter außerhalb der eigentli-
chen Reviere dazu führte, daß nunmehr regelmäßig eine größere Zahl von “Saargän-
gem” anreiste. Insofern manche Gruben gemeinsam mit französischen Gesellschaf-
ten bewirtschaftet wurden, sprach man auch von “Lothringengängem”.25 26
Eine sehr veränderte Situation ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg, weil die In-
tensivierung des öffentlichen Nahverkehrs und des Individualverkehrs hier das
Grenzgängertum im strengeren Sinne ungemein begünstigte. Um nur eine Zahl zu
nennen: 1950 lebten 6700 Arbeiter und Angestellte (= 2,4 % der Beschäftigten) au-
ßerhalb der Landesgrenzen, dagegen waren es 1952 bereits 11700 (= 3,8 %). Die
Zahl der saarländischen Lothringengänger lag 1950 übrigens bei 5900.2b
Im Vorstehenden war der Blick auf vier größere Gruppen von (zumeist) saisonalen
Wanderarbeitern gerichtet worden. Die Quellenlage und der Aufarbeitungsstand leg-
ten dies nahe. Aber damit dürfte nur em Teil des Gesamtphänomens angesprochen
sein, dessen Ausmaß und Intensität undeutlich bleiben. Es lassen sich jedoch zusätz-
liche Hinweise geben, die aber ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhe-
ben. Immerhin hat der bereits erwähnte Julius Ludwig mit seiner Dissertation von
1914 über “Die polnischen Sachsengänger in der badischen Landwirtschaft und In-
dustrie” ein für das Großherzogtum Baden seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun-
dert relevantes Phänomen recht umfassend untersuchen können und Statistiken über
Anzahl und Aufenthaltsdauer geboten, auch polizeiliche Verordnungen, Kostenrech-
nungen, Löhne, Vermittlungsagenturen und die Tätigkeit der Kammern berücksich-
tigt, ja selbst den Arbeitsalltag bereits mit Interesse erfaßt.
Fast schon “klassische” Grenzgängerregion sind die Gebiete am Hochrhein und am
Oberrhein. Für das “Grenzgängerwesen von Vorarlberg in die Schweiz” reichen die
Anfänge bis in das frühe 16. Jahrhundert zurück. Sie spielten sich im 19. Jahrhundert
hervorragend ein, bis der Ausbruch des Ersten Weltkriegs diese Wirtschaftsbezie-
hungen stark störte: “Zu dieser Zeit”, meinte Peter Mensburger, “wurden sich die Be-
23 Ebd. S.138, 155.
24 Ebd. S.246f.
25 Fritz Hellwig, Saar zwischen Ost und West. Die wirtschaftliche Verflechtung des Saarindu-
striebezirks mit seinen Nachbargebieten (Bonn 1954) bes. S.123f.
26 Hellwig S.123; vgl. Arthur Zeitler, Freizügigkeit und soziale Sicherheit der Grenzgänger
im saarländischen Abschnitt der deutsch-französischen Grenze und der wirtschaftlichen
Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland, Diss. Würzburg 1963,
S.4ff.
18
wohner des Rhemtales das erste Mal richtig bewußt, daß am Rhein eine Staatsgrenze
verläuft, die jederzeit abgeriegelt werden kann. Denn bis zu diesem Zeitpunkt konnte
die Grenze ohne jegliche Formalität überschritten werden”.25
Im weiteren Sinn zu den Pendelwanderem rechnete Marcel Banz 1964 “die deut-
schen und französischen Grenzgänger auf dem baselstädtischen Arbeitsmarkf Da-
bei wies er auf einen neuralgischen Punkt insofern, als die Grenzgänger “bis in die
30er Jahre ... überhaupt nirgends statistisch erfaßt worden” sind. Dies könnte über die
Schweiz hinaus gelten; “erst seit 1949 werden alljährlich Mitte Februar durch das
[Schweizer] Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) Erhebungen über
die kontrollpflichtigen Arbeitskräfte durchgefuhrt, die auch die Grenzgänger mitein-
schließen; seit 1955 finden diese Erhebungen ebenfalls im August statt, damit auch
die saisonalen Schwankungen erfaßt werden können”.26
Grenzgängerprobleme am Hochrhein von den Landkreisen Müllheim rheinaufwärts
bis Konstanz untersuchte 1957 Hans Weber in seiner Freiburger Dissertation,27 und
von Freiburg aus hat dann auch Bernhard Mohr 1982 den Grenzgängerverkehr zwi-
schen Elsaß und der Region Südlicher Oberrhein detailliert untersucht und dabei be-
tont die Interessen der Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein mit be-
rücksichtigt, ein Umstand, der überaus deutlich macht, daß Grenzgängerverkehr
nicht nur rechtliche Probleme aufwirft, sondern vor allem ökonomische und daß er
entsprechenden Handlungsbedarf zeitigt.28
Der sehr knappe kursorische Überblick sollte deutlich gemacht haben, daß ein
“Grenzgängertum” auch in historischer Perspektive faßbar ist, es sich in der Gegen-
wart also nicht um ein ganz neues Phänomen handelt. Dies läßt zugleich die Vermu-
tung zu, daß manche geisteswissenschaftlichen Disziplinen zur weiteren Analyse des
Phänomens, insbesondere seiner vielfältigen Ausprägungsmöglichkeiten, beitragen
können. Die nachfolgenden Beiträge werden es verdeutlichen. Nur knapp soll noch
einmal herausgestellt werden, was mit Grenzgängern gemeint ist und was nicht oder
kaum:
Dieser Begriff scheint in allgemeinerer Bedeutung in Mode zu kommen, wenn in lite-
rarischen Zusammenhängen von “Grenzgängern zwischen Illusion und Realität”,
zwischen “Fiktion und Wirklichkeit”, von “Grenzgängern der Moderne” gesprochen
oder aber Nikolaus von Kues unlängst als “ein Grenzgänger zwischen mittelalterli-
cher Glaubensreflexion und neuzeitlich-philosophischem Denken” behandelt wird. -
Uns geht es vor allem um das Überschreiten sozusagen konkreter Grenzen, also in
der Regel um Staats- und Ländergrenzen. Insofern spielen das sogenannte Pendler-
25 Peter Mensburger, Die Vorarlberger Grenzgänger (Alpenkundliche Studien III), Innsbruck
1969, S.36.
2b Marcel Banz, Die deutschen und französischen Grenzgänger auf dem baselstädtischen Ar-
beitsmarkt, Diss. Basel 1964, S.l.
27 Hans Weber, Probleme der Grenzgänger am Hochrhein. Eine Untersuchung des Grenzgän-
gerverkehrs zwischen Deutschland und der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung
der Landkreise Müllheim, Lörrach, Säckingen, Waldshut und Konstanz, Staatswissen-
schaftl. Diss. Freiburg/Br. 1957,
Bernhard Mohr, Elsässische Grenzgänger in der Region Südlicher Oberrhein (Industrie-
und Handelskammer Südlicher Oberrhein, Sitz Freiburg), 1982.
19
tum und erst recht das Berufspendlertum herein, das längst relevante Ausmaße ange-
nommen hat, wenn man beispielsweise daran denkt, daß Frankfurt am Main eine
Großstadt ist, die über weit mehr Arbeitsplätze als Schlafstätten verfügt und arbeits-
täglich Hunderttausende an Pendlern hat.
Berufspendler gehören in unsere Vorstellung von Grenzgängern schon eher, wenn
Staatsgrenzen bzw. innerhalb der EU deren - immer noch höchst beachtliche - Rudi-
mente regelmäßig passiert werden. Bei jenen 30000 Lothringern wäre dies der Fall,
von denen der Saarländische Rundfunk im 3. Programm etwa am 14.4.1997 berichte-
te, daß sie täglich ins Saarland zur Arbeit kämen und hier bei der AOK versichert
seien. Letzteres bringt sogar Probleme mit sich, doch lassen sie sich in der Regel lö-
sen, zumal die Erscheinungsformen nicht mehr sehr jung sind.
Bernhard Mohr bezeichnete 1982 den Grenzgängerverkehr zwischen dem Elsaß und
der Bundesrepublik Deutschland als “eine relativ junge Erscheinung”, deren Anfän-
ge in die 50er Jahre zurückreichten, als die Pendelwanderung zunächst aus Baden
nach Frankreich gerichtet war, was sich dann zumeist umkehrte. Nach Mohr wiesen
solche Pendler auf “Verflechtungen, die sich zwischen den Arbeitsmärkten diesseits
und jenseits des Rheins entwickelt haben. Immerhin überschreiten täglich mehr als
50000 Personen (Stand 6/1982) die verschiedenen Staatsgrenzen in den Hoch- und
Oberrheinlanden zwischen Konstanz, Basel und Karlsruhe, um einer Beschäftigung
im Ausland nachzugehen.”25 So ergaben sich schon vor 15-20 Jahren besondere Ver-
flechtungen auch zwischen Wohn- und Arbeitsorten, bildeten sich beiderseits des
Rheins Aus- und Einpendlerzentren.
Nach diesem Ausblick soll schließlich das Ziel des gemeinsamen Bemühens noch
einmal herausgestellt werden: Es soll mit dem Zugriff des Arbeitsrechtiers und des
Soziologen, mit solchen mittelalterlicher wie zeitgeschichtlicher Forschung, mit den
Perspektiven von Sprach- und Literaturwissenschaftlem, ganz wesentlich mit dem
geschulten Auge des Geographen und der ethnologisch orientierten Anthropologie
das Grenzgängerphänomen beschrieben und analysiert werden, es sollen
beabsichtigte, einkalkulierte und unerwartete Ausprägungen, sozusagen Nebenwir-
kungen, erfaßt werden, und nicht zuletzt gehört dazu das Bemühen, den
Gegenstandsbereich zu definieren. Einbezogen werden muß wohl auch die
Abgrenzung vom Typ des Gastarbeiters, des bloßen Berufspendlers und vielleicht
sogar vom Typ des Saisonarbeiters. Das alles ist Aufgabe der in diesem Band
vertretenen Disziplinen und Beiträge. 25
25 Ebd., S.l.
20
Stephan Weth
Grenzgänger aus juristischer Sicht1.
Ausgewählte Probleme
i.
1. Diese Tagung widmet sich den Grenzgängern und hat damit ein äußerst spannen-
des Thema. Das ließe sich vielfältig begründen. Ein Grund könnte darin hegen, daß
um den Grenzgänger, wie etwa um den bekannten Bergsteiger Reinhold Messner, ein
Hauch von Abenteuer weht. Dessen Buch „Nie zurück“, das über die Geschichte der
Expeditionen zum Süd-, Nordpol und zum Mount Everest berichtet, ist als Geschich-
te des Grenzgangs bezeichnet worden. Dort findet sich der Ausspruch Messners:
„Wir Grenzgänger leben unseren Tatendrang so hemmungslos aus, daß im Tun Zwei-
fel erst gar nicht groß werden können“. Reinhold Messner versteht es in besonderer
Weise, seine Sehnsucht nach Grenzgängen publikumswirksam an den Mann zu brin-
gen; er ist aber nicht allein mit dieser Sehnsucht. Er teilt sie mit vielen, wenn man ei-
ner Zeitungsmeldung mit der Überschrift „Büromensch auf der Suche nach Grenzen“
glauben darf2. Danach suchen die Menschen sich aus unterschiedlichen Gründen Ex-
tremsportarten aus. Sie wollen testen, wie weit sie gehen können. Das sei im realen
Leben oft nicht möglich.
2. Diese kurzen Überlegungen mögen als Beleg für die Tatsache genügen, daß es sich
bei dem Phänomen Grenzgänger um ein spannendes Thema handelt. Nun haben Sie
dieses spannende Thema u.a. einem Juristen anvertraut, ein - wie ich meine - waghal-
siges Experiment. Zum einen haben die Juristen im Urteil anderer Wissenschaftler ei-
nen durchaus zweifelhaften Ruf Die Materie, mit der sie sich befassen, gilt als trok-
ken, langweilig und für den normalen Menschen schwer verständlich. Zum andern
wird den Juristen - nicht so sehr von anderen Wissenschaftlern, sondern vielmehr aus
den eigenen Reihen - bestritten, daß sie Wissenschaft betreiben. Im Jahre 1848 hat
der Berliner Staatsanwalt Julius von Kirchmann vor der Juristischen Gesellschaft zu
Berlin einen Vortrag mit dem Titel „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissen-
schaft“ gehalten und in diesem Vortrag ausgefuhrt: „Aus einer Priesterin der Wahr-
heit wird sie (gemeint ist die Rechtswissenschaft) durch das positive Gesetz zu einer
Dienerin des Zufalls, des Irrtums, der Leidenschaft, des Unverstandes. Statt des Ewi-
gen, Absoluten, wird das Zufällige, Mangelhafte ihr Gegenstand. Aus dem Äther des
Himmels sinkt sie in den Morast der Erde“3. Julius von Kirchmann fährt sodann fort:
„Ist so in dem wahren Teil jedes positiven Gesetzes für die Wissenschaft nichts zu
1 Mit einigen wenigen Fußnoten versehene Fassung meines am 22.5.1997 gehaltenen Vor-
trags. Die Vortragsform wurde beibehalten,
Saarbrücker Zeitung v. 3.3.1997, S. 3.
Julius von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Darmstadt
1956, S. 23.
21
tun, so bleibt für sie nur das Unwahre, und mit Gier und Eifer ist sie zu allen Zeiten
darüber hergefallen4... Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern ge-
worden, die nur von dem faulen Holz leben; von dem gesunden sich abwendend, ist
es nur das kranke, in dem sie nisten und weben. Indem die Wissenschaft das Zufällige
zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Wor-
te des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“5
Nach alldem, hochverehrter Kollege Schneider, stellt sich die Frage, ob Sie nicht ei-
nen klassischen Doppelfehler begangen haben, als Sie einem Juristen die Möglich-
keit eingeräumt haben, auf dieser Tagung zu sprechen.
II.
Ausgangspunkt für eine juristische Auseinandersetzung mit den Problemen der und
um die Grenzgänger muß die Frage sein, was sich hinter dem Begriff des Grenzgän-
gers verbirgt. Grenze, so sagt ein verbreitetes juristisches Wörterbuch, ist allgemein
die Trennungslinie zwischen zwei Bereichen. Im Völkerrecht ist die Grenze die
Trennungslinie zwischen zwei Staaten6.
1. Würde man die zuerst gegebene Definition zugrunde legen und Grenzgänger als
Personen betrachten, die die Trennungslinie zwischen zwei Bereichen überschreiten,
würde sich für diesen Vortrag ein ungemein weites Feld eröffnen. Bei Anwendung
dieses Grenzbegriffs könnte - überspitzt formuliert - als Gegenstand der Rechtswis-
senschaft der Grenzgang oder der Grenzgänger bezeichnet werden. Die Trennungsli-
nie interessiert den Juristen ungemein. Ist das Urteil eines Gerichts gerecht oder un-
gerecht? Entspricht ein Vertrag den guten Sitten, oder ist die Trennungslinie zur Sit-
tenwidrigkeit überschritten? Ist das Fehlverhalten des Arbeitnehmers so schwerwie-
gend, daß es die Kündigung rechtfertigt oder nicht? Hat eine Person mit ihrem Ver-
halten die Grenze des Erlaubten überschritten und sich strafbar gemacht oder nicht?
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Würde man den Begriff Grenzgänger in dieser Weite verstehen, wäre er wenig aussa-
gekräftig, weil unter ihm eine Fülle völlig unterschiedlicher Phänomene verstanden
werden könnten. Nun wird aber dieser Begriff im juristischen Sprachgebrauch nicht
in dieser Weite gebraucht. Vielmehr sind Grenzgänger Arbeitnehmer und Selbstän-
dige, die ihren privaten Mittelpunkt in einem Staat haben und die ihre Berufstätigkeit
über die Grenze in einem anderen Staat ausüben und täglich oder mindestens einmal
wöchentlich zu ihrem privaten Lebensmittelpunkt zurückkehren.7
2. In den 15 Staaten der Europäischen Union gibt es 250.000 Grenzgänger8. In der
von Lothringen, Luxemburg, dem Saarland und Rheinland-Pfalz gebildeten Region
4 A.a.O., S. 24.
5 A.a.O., S. 25.
6 Köbler, Juristisches Wörterbuch, 7. Aufl. 1995, S. 171.
7 Vgl. etwa Art. 1 Buchstabe b der Verordnung (EWG) des Rates über die Anwendung des
Systems der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familien-
angehörige, die innerhalb der Gemeinschaften zu- und abwandem (Nr. 1408/71).
8 Saarbrücker Zeitung v. 17.9.1996, S. 5 „Mit Steuern gegen Grenzgänger“.
22
beginnt für 80.000 Berufstätige jeder Arbeitstag mit einem Grenzübertritt. Diese Re-
gion verzeichnet damit die umfangreichsten Mobilströme in Europa9. Die Saar-Lor-
Lux-Region ist, weil die freie Zirkulation der Arbeitskräfte ein zentrales Kriterium
für die Integration ist, als „die europäische Modellregion überhaupt“ bezeichnet wor-
den10 11. Ins Saarland kommen werktäglich etwa 18.000 Menschen aus Frankreich zur
Arbeit, darunter 4.300 Deutsche, die in Lothringen wohnen". Nach Luxemburg
kommen werktäglich 27.000 Menschen aus Lothringen, 9.000 Menschen aus
Deutschland und 16.000 Menschen aus Belgien zur Arbeit. Von 100 in Luxemburg
neu geschaffenen Arbeitsplätzen gehen 80 an Belgier, Deutsche und Lothringer und
nur 20 an Luxemburger. Die Arbeitslosigkeit in Lothringen würde von 10,8 % auf
16 % ansteigen, wenn nicht Luxemburg und das Saarland Ausweichmöglichkeiten
böten12.
Schon diese Zahlen belegen, daß es sich bei dem Problem Grenzgänger nicht um ein
völlig unbedeutendes handelt. Berücksichtigt man nun, daß der Wunsch der Bürger
der Europäischen Union nach Mobilität immer weiter zunimmt und daß es Ziel der
Europäischen Union ist, Mobilitätshmdemisse, die noch bestehen, zu beseitigen, so
ist damit zu rechnen, daß auch die Zahl der Grenzgänger sich erhöhen wird.
III.
Nachdem nun bestimmt ist, was hier unter Grenzgängern verstanden werden soll,
wende ich mich den rechtlichen Problemen um die Grenzgänger zu und werde mich
dabei auf einige arbeits- und sozialrechtliche Problemfelder beschränken.
1. Die arbeitsrechtlichen Probleme des Grenzgängers beginnen mit der Frage, unter
welchen Voraussetzungen der Bürger eines Staates überhaupt eine Beschäftigung im
Nachbarland aufnehmen darf. Steht ihm der Zugang zum fremden Arbeitsmarkt un-
begrenzt offen, oder kann ihm der benachbarte Staat Hindernisse in den Weg legen?
Zieht man exemplarisch das Recht der Bundesrepublik Deutschland heran, so stellt
man fest, daß Ausländer zur Arbeitsaufnahme grundsätzlich eine Aufenthaltsgeneh-
migung nach § 3 Ausländergesetz (AuslG) und darüber hinaus eine Arbeitserlaub-
nis nach § 19 des Arbeitsforderungsgesetzes (AFG) benötigen. Würde dieser Grund-
satz uneingeschränkt gelten, dann träfe er auch den französischen Arbeitnehmer aus
Forbach, der allmorgendlich die deutsche Grenze passieren will, um seinen Lebens-
unterhalt in einem Saarbrücker Betrieb zu verdienen. Daß dies nicht der Fall ist, liegt
daran, daß den Arbeitnehmern der Europäischen Union durch Art. 48 des EG-Vertra-
ges (EGV) das Recht auf Freizügigkeit in allen Mitgliedsstaaten gewährleistet ist13.
9 FAZ v. 15.4.1997, S. 5 „Euro-Berater helfen Grenzpendlem“; FAZ v. 7.12.1996, S. 16
„Zwischen Saar, Maas und Mosel pendeln 80.000 Arbeitnehmer“.
10 FAZ v. 7.12.1996, S. 16 „Zwischen Saar, Maas und Mosel pendeln 80.000 Arbeitnehmer“.
11 FAZ v. 15.4.1997, S. 5 „Euro-Berater helfen Grenzpendlem“.
12 Saarbrücker Zeitung vom 17.9.1996, S. 5 „Mit Steuern gegen Grenzgänger“.
13 Entsprechende Garantien enthalten Art. 69 des EGKS-Vertrages sowie die Art. 2 lit. g und
96 des Euratom-Vertrages. Ihr Anwendungsbereich ist jedoch auf die „anerkannten Kohle-
und Stahlfacharbeiter“ bzw. auf die Fachkräfte der Kernindustrie beschränkt.
23
Die Freizügigkeit fordert - so Abs. 2 des Art. 48 - die Abschaffung jeder auf der
Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer
der Mitgliedsstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeits-
bedingungen. Sie gibt - ausweislich Abs. 3 - u.a. den Arbeitnehmern das Recht, sich
um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsge-
biet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und sich in einem Mitgliedsstaat aufzuhal-
ten, um dort eine Beschäftigung auszuüben. Die Garantie, die Art. 48 den Bürgern
der Europäischen Union gibt, macht es notwendig, die Rechtsstellung ausländischer
Arbeitnehmer aus EU-Staaten von der Stellung sog. Drittstaatsangehöriger und da-
mit auch die Rechte der EU-Grenzgänger (also etwa des Franzosen, der in Deutsch-
land arbeitet) von denen anderer Grenzgänger (also etwa des Polen, der in Deutsch-
land arbeitet) zu trennen.
a) Nimmt man zunächst die Bürger der Europäischen Union in den Blick, so läßt
sich feststellen, daß das Freizügigkeitsrecht aus Art. 48 EGV ihnen die Möglichkeit
verschafft, im gesamten europäischen Binnenmarkt ihre Arbeitsleistung anzubieten,
eine Arbeit aufzunehmen und ihr nachzugehen14. Damit diese Gewährleistungen
auch praktisch wirksam werden können, werden sie begleitet von dem Recht, in die
anderen Mitgliedstaaten zum Zweck der Arbeitsaufnahme einzureisen und sich dort
aufzuhalten15.
aa) Im Hinblick auf dieses Aufenthaltsrecht aus Art. 48 EGV bedürfen Arbeitnehmer
aus den EU-Staaten nicht der für andere Ausländer erforderlichen Aufenthaltsge-
nehmigung. Dies hindert die Mitgliedstaaten allerdings nicht daran, die Arbeitneh-
mer aus dem EU-Ausland dazu anzuhalten, ihr Aufenthaltsrecht durch eine rein de-
klaratorisch wirkende Bescheinigung nachzuweisen16. In Übereinstimmung damit
müssen EU-Ausländer auch in der Bundesrepublik die sog. „Aufenthaltserlaubnis-
EG“ beantragen. Sie ist eine Bescheinigung, die anders als die Genehmigung nach
§ 3 AuslG das Aufenthaltsrecht nicht begründet, sondern lediglich nachweist; auf
ihre Erteilung haben EU-Ausländer einen Rechtsanspruch17. Diese Rechtslage, die
die Gemeinschaftsbürger gegenüber Drittstaatsangehörigen ohnehin schon privile-
giert, wird nun für Grenzarbeitnehmer aus der EU noch weiter verbessert. In Umset-
zung der einschlägigen EG-Richtlinie18 bestimmt das deutsche Recht, daß Arbeit-
nehmer, die in der Bundesrepublik beschäftigt sind, ihren Wohnort jedoch im Ho-
heitsgebiet eines anderen EU-Mitgliedstaates haben und in der Regel jeden Tag oder
mindestens einmal in der Woche dorthin zurückkehren, keiner Aufenthaltserlaubnis
bedürfen19. Für diese Personengruppe ist also keinerlei Bescheinigung erforderlich.
14 Krimphove, Europäisches Arbeitsrecht, 1996, S. 82
15 Zu den Modalitäten dieses Aufenthaltsrechts vgl die Richtlinie 68/360/EWG sowie das
Aufenthaltsgesetz/EWG.
10 Vgl. nur EuGH, Slg. 1977, 1504 (Sagulo); Geiger, EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, Art. 48 Rn.
19.
17 Vgl. nur Büchner, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 1992, § 35 Rdnr. 39.
18 Richtlinie 68/360/EWG.
19 § 8 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz/EWG.
24
bb) Was nun die Arbeitserlaubnis betrifft, so folgt aus der Freizügigkeitsgarantie
des Art. 48 EGV für alle Arbeitnehmer aus der Gemeinschaft und damit auch für die
EU-Grenzgänger weiterhin, daß es einer besonderen Arbeitserlaubnis zur Aufnahme
der Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat generell nicht bedarf. Dem trägt
insbesondere das deutsche Arbeitsforderungsgesetz dadurch Rechnung, daß es in sei-
nem § 1920 das Erfordernis einer Arbeitserlaubnis nur aufstellt, „soweit in zwischen-
staatlichen Vereinbarungen nichts anderes bestimmt ist“, sowie die Rechtsvorschrif-
ten der Europäischen Gemeinschaften ausdrücklich unberührt läßt (§ 19 Abs. 1 S. 1,
Abs. 3 AFG).
cc) Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß Grenzgänger aus den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union zur Aufnahme einer Beschäftigung in einem anderen Mit-
gliedstaat weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch eine Arbeitserlaubnis benöti-
gen. Ihr Zugang zum benachbarten Arbeitsmarkt besteht praktisch unbeschränkt,
dd) Soweit das Freizügigkeitsrecht europäischer Arbeitnehmer reicht, dürfen weder
Rechtsvorschriften noch Verwaltungspraktiken der Mitgliedstaaten dieses ein-
schränken oder behindern. Zur Konkretisierung des Art. 48 EGV hat der Rat der Eu-
ropäischen Gemeinschaften die sog. Freizügigkeits-Verordnung Nr. 1612/68 erlas-
sen. Sie ist in jedem Mitgliedstaat unmittelbar geltendes Recht und regelt im einzel-
nen, wie der freie Zugang von EU-Ausländern zum nationalen Arbeitsmarkt abgesi-
chert wird. Die Verordnung garantiert den EU-Wanderarbeitnehmem den gleichbe-
rechtigten Zugang zu den verfügbaren Stellen im Nachbarland (Art. 1), sie gewähr-
leistet die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Stellenausschreibung und Be-
werbung (Art. 2), sie verbietet den Mitgliedstaaten die Einführung quotenmäßiger
Beschränkungen für ausländische Arbeitnehmer (Art, 4), hält sie zu einer gleichbe-
rechtigten Arbeitsvermittlung an (Art. 5) und untersagt sowohl Mitgliedstaaten als
auch Arbeitgebern, bei der Einstellung und Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer
andere Maßstäbe anzulegen als bei einheimischen (Art. 6). Staatliche Maßnahmen,
die diese Gewährleistungen zu behindern oder zu umgehen suchen, finden keine An-
wendung (Art. 3).
b) Betrachtet man demgegenüber nun die Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten, die
in der Bundesrepublik eine Beschäftigung aufnehmen wollen, so stellt sich die
Rechtslage anders dar. Solche - als Drittstaatsangehörige bezeichneten - Arbeitneh-
mer werden durch die im EG-Vertrag niedergelegten Grundfreiheiten gmndsätzlich
nicht berechtigt und können staatlichen Maßnahmen, die den Zugang zum Arbeits-
markt von der Erfüllung besonderer Voraussetzungen abhängig machen, nicht das
Recht auf Freizügigkeit entgegenhalten.
aa) Nicht-EU-Ausländer bedürfen daher zur Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik
Deutschland regelmäßig einer Aufenthaltsgenehmigung, die im übrigen schon vor
der Einreise in Form eines Sichtvermerks eingeholt werden muß (§ 3 Abs. 1, 3
AuslG). Auf ihre Erteilung besteht grundsätzlich kein Anspruch (§§ 6 f. AuslG). So-
weit zwischenstaatlich nichts anderes vereinbart ist, gilt diese Rechtslage grundsätz-
20 Mit Wirkung ab 1.1.1998 wird das Recht der Arbeitsförderung reformiert und das Arbeits-
forderungsgesetz als Drittes Buch in das Sozialgesetzbuch integriert, Einschlägig ist dann
§ 284 SGB III.
25
lieh auch für Grenzgänger aus den der Bundesrepublik benachbarten Drittstaaten21.
Allerdings gibt es auch unabhängig von völkerrechtlichen Abkommen Vereinfa-
chungen für diese Grenzgänger. So sieht die Durchführungsverordnung zum deut-
schen Ausländergesetz in § 19 vor, daß Staatsangehörigen aus Polen, Tschechien und
der Schweiz eine sog. Grenzgängerkarte erteilt werden kann, wenn sie in der Grenz-
zone eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben. Voraussetzung ist neben der er-
forderlichen Arbeits- und Berufsausübungserlaubnis, daß sie jeden Tag in ihren Hei-
matstaat zurückkehren oder sich längstens zwei Tage wöchentlich zur Ausübung der
Erwerbstätigkeit in der Grenzzone aufhalten. Diese Umschreibung der Grenzgänger
weicht in mehrfacher Hinsicht von unserer anfangs zugrunde gelegten Definition ab.
Sie ist insbesondere insofern enger, als sie zum einen nur die unselbständige Tätig-
keit erfaßt und diese zum anderen geographisch auf die Grenzzone beschränkt, die
durch eine Anlage zur Verordnung minuziös festgelegt wird. So sind etwa Grenzzo-
nen zur Schweiz in Baden-Württemberg die Kreise Breisgau-Hochschwarzwald,
Schwarzwald-Baar-Kreis, Tuttlingen, Lörrach, Waldshut, Konstanz, Bodenseekreis,
Ravensburg, Freiburg (Stadtkreis), Biberach und Sigmaringen. Wer als Grenzgänger
die genannten Voraussetzungen erfüllt, kann die Grenzgängerkarte erhalten, die zu-
nächst nur bis zu einer Gültigkeitsdauer von zwei Jahren ausgestellt wird und läng-
stens bis zu einer Gesamtgültigkeitsdauer von fünf Jahren verlängert werden kann.
Die Grenzgängerkarte ist Paßersatz22; ihr Inhaber ist für den Aufenthalt im Geltungs-
bereich dieses Ausweises vom Erfordernis der Aufenthaltsgenehmigung befreit23,
bb) Neben der grundsätzlich erforderlichen Aufenthaltsgenehmigung bedarf der
Nicht-EU-Ausländer zur Arbeitsaufnahme in Deutschland ferner einer Arbeitser-
laubnis. Nach § 19 Abs. 1 S. 3 des Arbeitsförderungsgesetzes24 darf diese Auslän-
dem mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland allerdings grundsätz-
lich nur erteilt werden, wenn die Dauer der Beschäftigung drei Monate nicht über-
steigt. Durch diese Regelung soll praktisch eine generelle Einreise von Ausländem
zur längeren Arbeitsaufnahme blockiert und eine Anwerbung ausgeschlossen wer-
den25. Ausnahmen hiervon sieht jedoch die sog. Anwerbestopp-Ausnahmeverord-
nung vor. Sie bestimmt, für welche Erwerbstätigkeiten ausnahmsweise eine länger
als drei Monate dauernde Arbeitserlaubnis erteilt werden kann, und nennt in ihrem
§ 6 als Ausnahmefall insbesondere die Aufnahme einer Grenzgängerbeschäftigung.
Danach kann einem Ausländer, der in einem an die Bundesrepublik angrenzenden
Nicht-EU-Staat wohnt, Staatsangehöriger dieses Staates ist und dort keine Soziallei-
stungen bezieht, eine Arbeitserlaubnis erteilt werden, wenn er täglich in seinen Hei-
matstaat zurückkehrt oder sich längstens zwei Tage wöchentlich innerhalb der
Grenzzone aufhält. Aufgrund dieser Vorschrift, die mit derselben Begrifflichkeit wie
die soeben angesprochene Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz arbeitet,
21 Krause, Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, 3. Aufl. 1995, S. 20.
22 § 14 Abs. 1 Nr. 2 Durchführungsverordnung DV AuslG.
23 § 4 Abs. 1 Nr. 5 DV AuslG i.V.m. § 3 Abs. 1 S. 2 AuslG.
24 Ab 1.1.1998 gilt § 284 SGB III.
25 Krause (o. Fn. 21), S. 53.
26
wird insbesondere auch Grenzgängern aus Nicht-EU-Staaten der Zugang zum deut-
schen Arbeitsmarkt eröffnet.
c) Abschließend ist demnach festzuhalten, daß EU-Ausländer eine Grenzgängerbe-
schäftigung in Deutschland ohne weiteres aufnehmen können, während Drittstaats-
angehörige eine Aufenthaltsgenehmigung bzw. zumindest eine Grenzgängerkarte
und darüber hinaus eine Arbeitserlaubnis benötigen; der Erteilung dieser Papiere ste-
hen aber bei einer Grenzgängerbeschäftigung keine grundsätzlichen Hindernisse ent-
gegen.
2. Ist die Anbahnung des Arbeitsverhältnisses bis zum Vertragsschluß gediehen, so
stellt sich zunächst die weitere Frage, welches Recht auf einen Arbeitsvertrag an-
zuwenden ist, der mit einem Grenzgänger geschlossen wird. Da sein Wohnort in ei-
nem anderen Staat liegt als der Beschäftigungsort, gewinnt der Arbeitsvertrag einen
internationalen Bezug, und es stellt sich etwa bei dem Franzosen aus Forbach, der bei
Ford in Saarlouis arbeitet, die Frage, ob auf sein Arbeitsverhältnis deutsches oder
französisches Recht anwendbar ist.
a) Welchem Recht er unterliegt, regelt das Internationale Arbeitsrecht. Dieses sieht
jedenfalls für die Bundesrepublik vor, daß die Parteien des Arbeitsverhältnisses das
anwendbare Recht in freier Rechtswahl bestimmen können26. Der saarländische Un-
ternehmer und sein lothringischer Angestellter sind also nicht gehindert, für ihren
Vertrag die Geltung des französischen Rechts zu vereinbaren. Tun sie dies nicht, tref-
fen sie also keine Bestimmung über das anwendbare Recht, dann gilt i.d.R. das Recht
des Staates, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine
Arbeit verrichtet27. In meinem Beispiel des lothringischen Arbeitnehmers wäre dies
also das deutsche Arbeitsrecht. Das mangels einer Rechtswahl hilfsweise anzuwen-
dende Recht hat im übrigen auch dann Bedeutung, wenn die Parteien in der Tat davon
abweichen und die Geltung eines anderen Rechts vereinbaren. Denn die Rechtswahl
darf nicht dazu fuhren, daß dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm
durch die zwingenden Bestimmungen des hilfsweise anwendbaren Rechts gewährt
wird28. Es ist also insoweit ein Günstigkeitsvergleich zwischen dem gewählten Recht
und den Normen des R.echts anzustellen, das gelten würde, wenn keine Rechts wähl
erfolgt wäre.
Ist das anwendbare Recht ermittelt, so läßt sich dessen Vorschriften entnehmen, wel-
che Rechte und Pflichten die Arbeitsvertragsparteien treffen. Diesen für Laien, aber
auch für Juristen, schwierigen Vorgang, bei Sachverhalten über die Grenze das an-
wendbare Recht zu ermitteln, wollen wir an einem Beispiel etwas näher erläutern.
b) Ein Arbeitnehmer aus Forbach arbeitet bei Ford in Saarlouis. Die Parteien haben
im Arbeitsvertrag die Anwendung französischen Rechts vereinbart. Der Arbeitgeber
kündigt. Im Kündigungsschreiben sind keine Kündigungsgründe angegeben. Weder
der Arbeitnehmer noch der Betriebsrat werden vor der Kündigung angehört.
26 Art. 27, 30 Abs. 1 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB); Art. 3, 6
Abs. 1 Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht
(EVÜ).
27 Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB; Art. 6 Abs. 2 lit. a EVÜ.
28 Art. 30 Abs. 1 EGBGB; Art. 6 Abs. 1 EVÜ.
27
Die Kündigung des Arbeitgebers könnte gleich aus mehreren Gründen unwirksam
sein. Zunächst ist der Betriebsrat nicht angehört worden. Eine ohne Anhörung des
Betriebsrats erfolgte Kündigung ist aber nach deutschem Recht gern. § 102 Abs. 1
Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) unwirksam. Eine Anhörung des Arbeitnehmers
vor der Kündigung ist nach deutschem Recht nicht erforderlich29. Nach französi-
schem Recht muß hingegen die ordentliche Kündigung vorher mit dem Arbeitneh-
mer besprochen werden. Zur Besprechung der Kündigung muß der Arbeitnehmer un-
ter Angabe des Kündigungsgrundes schriftlich aufgefordert werden30. Bei Nichtein-
haltung dieses Verfahrens ist die Kündigung nicht unwirksam. Das Gericht ordnet
aber die Nachholung der Formalitäten an und billigt dem Arbeitnehmer eine Entschä-
digung in Höhe bis zu einer Monatsvergütung zu31. Was die Anhörung des Arbeit-
nehmers vor der Kündigung betrifft, sind französisches und deutsches Recht unter-
schiedlich gestaltet. Wie hier die Kollision zwischen den beiden Rechtsordnungen zu
lösen ist, entscheidet - wie bereits angedeutet - das internationale Arbeitsrecht, das
Teil des internationalen Privatrechts ist.
Nach Art. 3 Abs. 1 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) be-
stimmen bei Sachverhalten mit einer Verbindung zum Recht eines ausländischen
Staates die Art. 4 ff. EGBGB, welche Rechtsordnungen anzuwenden sind. Soweit al-
lerdings Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen bestehen, die unmittelbar
anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, gehen diese Regelungen den Re-
gelungen des EGBGB vor. Anders formuliert: Gibt es völkerrechtliche Vereinbarun-
gen, ist insoweit das EGBGB, also das internationale Arbeitsrecht, nicht anwendbar.
Solche völkerrechtlichen Regelungen sind etwa der EG-Vertrag. Für die Lösung un-
seres Beispielsfalles gibt es solche Regelungen in völkerrechtlichen Verträgen aller-
dings nicht.
Es gilt daher Art. 27 Abs. 1 EGBGB. Danach unterliegt der Vertrag dem von den Par-
teien gewählten Recht. Hier haben die Parteien französisches Recht gewählt. Also
unterliegt der Vertrag französischem Arbeitsrecht32. Allerdings darf nach Art. 30
Abs. 1 bei Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen die Rechtswahl der Parteien
nicht dazu fuhren, daß dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch
zwingende Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das mangels Rechtswahl anzu-
wenden wäre. Es muß also jetzt die Frage gestellt werden, welches Recht anwendbar
wäre, wenn in unserem Falle die Parteien nichts über das anzuwendende Recht ver-
einbart hätten. Darüber, welches Recht mangels Vereinbarung anzuwenden ist, gibt
Art. 30 Abs. 2 EGBGB Auskunft. Danach unterliegen Arbeitsverträge und Arbeits-
verhältnisse mangels einer Rechtswahl dem Recht des Staates, in dem der Arbeitneh-
mer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, selbst wenn er
vorübergehend in einen anderen Staat entsandt ist. Etwas anderes ergibt sich aller-
29 Vgl. BAG, Urt.v. 15.11.1995, EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 89.
30 Vgl. Hübner/Constantinesco, Einführung in das französische Recht, 3. Aufl. 1994, S. 209;
Langer/Fehrmann, Praxis des französischen Arbeitsrechts, 10. Aufl. 1995, S. 38 ff; Ranke,
Arbeitsrecht in Frankreich, 1995, Rn. 263.
31 Langer/Fehrmann, a.a.O., S. 52; Ranke, a.a.O., Rn. 266.
32 Wegen Art. 35 Abs. 1 ist das deutsche internationale und nicht das französische internatio-
nale Privatrecht anwendbar - vgl. auch Art. 4 EGBGB.
28
dings dann, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, daß der Arbeitsver-
trag oder das Arbeitsverhältnis engere Verbindungen zu einem Staat aufweist. In die-
sem Fall ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.
In unserem Beispiel ist der Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit
verrichtet, Saarlouis. Demnach ist auf das Arbeitsverhältnis deutsches Recht an-
wendbar. Es ergibt sich auch aus den Umständen keine engere Verbindung zu Frank-
reich, so daß die in Art. 30 Abs. 2 genannte Ausnahmeregelung nicht greift. Nach all-
dem ist festzustellen, daß dann, wenn vorliegend keine Rechtswahl getroffen wäre,
deutsches Recht anwendbar wäre. Wir kehren damit zu unserem Ausgangspunkt,
nämlich Art. 30 Abs. 1 zurück. Danach darf die Rechtswahl nicht dazu fuhren, daß
dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm nach zwingenden Vorschriften
des Rechts gewährt wird, das ohne Rechtswahl anzuwenden wäre; es darf dem Ar-
beitnehmer also nicht der Schutz entzogen werden, der ihm nach den zwingenden
Regelungen des deutschen Rechtes zustünde.
Es ist daher nun ein Günstigkeitsvergleich dahin anzustellen, welche Rechtsordnung
die für den Arbeitnehmer bessere Lösung zur Verfügung stellt, noch präziser formu-
liert: welche Regelung diejenige ist, die den Arbeitnehmer besser schützt. In unserem
Beispiel stellt sich die Frage, ob der Arbeitnehmer durch das französische oder das
deutsche Recht besser vor Kündigungen geschützt wird. Das Problem des Günstig-
keitsvergleichs stellt sich allerdings nur dann, wenn vorliegend nicht Art. 34 EGBGB
anwendbar ist. Nach dieser Vorschrift können nämlich über bestimmte Regelungen
des deutschen Rechts die Parteien überhaupt nicht disponieren. Sie können diese Re-
gelung nicht abbedingen, weil sie immer für einen Arbeitnehmer gelten, der in
Deutschland tätig wird. Dies gilt unabhängig davon, ob die Parteien die Anwendung
ausländischen Rechts gewählt haben oder nicht und unabhängig davon, ob das aus-
ländische oder das deutsche Recht den Arbeitnehmer besser schützt. Zu diesen Rege-
lungen des deutschen Rechts, die nicht abbedungen werden können (sogenannte Ein-
griffsnormen) gehören die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes und damit
auch dessen § 102. Diese Vorschrift ist in unserem Beispiel anwendbar. Weil der Ar-
beitgeber den Betriebsrat nicht angehört hat, ist die Kündigung unwirksam. Die Fra-
ge, ob die Kündigung auch deshalb zu beanstanden ist, weil der Arbeitgeber nicht -
wie es das französische Recht fordert - den Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündi-
gung angehört hat, kann daher hier dahinstehen - zu unserem Glück! Diese Frage
wäre nämlich nur außerordentlich schwer zu beantworten, weil wir nun auf das oben
bereits angesprochene Problem zurückkommen müßten, ob das deutsche oder das
französische Kündigungsschutzrecht den Arbeitnehmer besser schützt. Diese Frage
gehört aber zu jenen, die nach Auffassung von Birk31 für die konkrete, richterliche
Anwendung kaum überzeugend lösbar sind. Eine seriöse Beantwortung der Frage,
welche von zwei rechtlichen Lösungen die bessere sei, lasse sich im Grunde nur ge-
winnen, wenn hierfür ausreichend genaue Vorgaben vorliegen würden, die Ver-
gleichsmethode festgelegt würde und Kriterien für die Bewertung des Ergebnisses
zur Verfügung stünden. Von alldem enthalte Art. 30 Abs. 1 EGBGB, der den Gün-
stigkeitsvergleich fordert, nichts. In der Tat ist es besonders schwierig, einen geeig-
neten Vergleichsmaßstab zu finden. Wählt man den Vergleichsmaßstab zu eng, führt 33
33 Birk, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 1992, § 19 Rdnr. 19.
29
dies zur sogenannten Rosinentheorie. Wählt man ihn zu weit, ist ein Vergleich kaum
noch sinnvoll durchführbar34. Am Beispiel: Vergleicht man hier nur die Regelung der
beiden Rechte bezüglich der Anhörung des Arbeitnehmers, schützt das französische
Recht besser. Hier muß nämlich der Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung an-
gehört werden, im deutschen Recht hingegen nicht. Könnte der Arbeitnehmer sich
dergestalt sämtliche Rosinen aus dem deutschen und französischen Recht herauspik-
ken, müßte also in jedem Detail die für ihn günstigere Regelung beachtet werden,
hätten wir ein mit deutschen und französischen Elementen durchmischtes und in der
Praxis aufgrund der kumulierten Schutzvorschriften kaum noch anwendbares Kündi-
gungsschutzrecht. Vergleicht man das Kündigungsschutzrecht allerdings insgesamt,
läuft man Gefahr, daß sich nicht mehr bestimmen läßt, welches Recht günstiger ist.
c) Die vorstehenden Ausführungen haben die Schwierigkeiten gezeigt, die sich bei
Bestimmung des auf den Vertrag anwendbaren Rechts ergeben. Ist das auf den Ver-
trag anwendbare nationale Recht (also etwa das deutsche Recht) gefunden, so be-
stimmt sich der Inhalt des Arbeitsvertrages nach den Parteivereinbarungen und den
Vorgaben des nationalen Rechts. Darüber hinaus wirken europarechtliche Vorgaben
auf das Arbeitsverhältnis ausländischer Arbeitnehmer und damit auch der Grenzgän-
ger ein, wenn sie Bürger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union sind. Diese
Vorgaben gelten für Drittstaatsangehörige nicht, so daß im folgenden wieder zwi-
schen Grenzgängern aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Drittstaatsan-
gehörigen zu differenzieren ist.
aa) EU-Ausländer können sich auch im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhält-
nisses auf die Garantie der Freizügigkeit berufen. Aus dem Freizügigkeitsrecht folgt
nämlich nicht nur ein Anspruch gegen den aufnehmenden Staat, sondern auch ein
Recht gegenüber dem jeweiligen Arbeitgeber auf Gleichbehandlung mit den inländi-
schen Kollegen35. Wie dieses Recht im einzelnen ausgestaltet ist, verrät wiederum
die bereits erwähnte Freizügigkeits-Verordnung Nr. 1612/68. Sie verlangt eine
Gleichbehandlung hinsichtlich aller Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen und
verbietet insbesondere eine Diskriminierung hinsichtlich der Entlohnung. Ausländi-
sche Arbeitnehmer und mit ihnen auch die Grenzgänger haben daher etwa einen glei-
chen Anspruch auf Zulagen, Trennungsentschädigungen oder auf Abfindungszah-
lungen wie die einheimischen Arbeitnehmer. Wichtig ist neben der gleichen Entloh-
nung insbesondere noch die Gleichbehandlung bei der Zugehörigkeit zu einer Ge-
werkschaft und beim Zugang zu den Organen der Arbeitnehmermitbestimmung und
-Vertretung. Insgesamt läßt sich sagen, daß den Grenzgängern aus dem EU-Ausland
ein umfassendes Gleichbehandlungsrecht zu Gebote steht. Einschränken läßt es sich
lediglich beim Vorliegen sachlicher Gründe, wie sie etwa beim Fehlen der für das Ar-
beitsverhältnis erforderlichen Sprachkenntnisse vorliegen können36,
bb) Für Personen, die auf dem Weg zur Arbeit die Grenze zwischen der Bundesrepu-
blik und einem Nicht-EU-Staat passieren, lassen sich derartige allgemeingültige
Aussagen ungleich schwerer treffen. Denn anders als auf dem Gebiet der Europäi-
34 Birk, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 19 Rdnr. 24 ff.
35 Geiger, EG-Vertrag, Art. 48 Rdnr. 16; Krimphove (o. Fn. 14), S. 110.
36 Vgl. EuGH, Slg. 1989, 3967 - Groener.
30
sehen Union existiert hier kein einheitlich geltendes Recht, wie es hinsichtlich der
Gleichbehandlung in der soeben zitierten EG-Verordnung enthalten ist. Hier ent-
scheidet das jeweils geltende Recht, wie es mit dem ausländischen Arbeitnehmer um-
geht; hier kommt es also darauf an, ob es sich um einen ausländischen Grenzgänger
in der Bundesrepublik oder um einen deutschen Grenzgänger im Ausland handelt
und ob von den Parteien eine Rechtswahl getroffen worden ist. Für das deutsche Ar-
beitsrecht läßt sich jedenfalls feststellen, daß es den Gleichbehandlungsgrundsatz für
ausländische Arbeitnehmer unabhängig davon aufstellt, aus welchem Land der Ar-
beitnehmer kommt37. Ohne Rücksicht darauf, ob es sich um EU-Ausländer oder um
Drittstaatsangehörige handelt, nimmt die herrschende Meinung im deutschen Ar-
beitsrecht im übrigen an, daß den Arbeitgeber eine erhöhte Fürsorgepflicht gegen-
über ausländischen Arbeitnehmern trifft; dies hat insbesondere dann Bedeutung,
wenn es um die Überwindung von Sprachschwierigkeiten geht38.
3. Hinsichtlich der Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind Besonderheiten für
ausländische Arbeitnehmer im allgemeinen und damit auch für Grenzgänger die
Ausnahme. Für EU-Ausländer ergibt sich aus der Gewährleistung der Freizügigkeit
insoweit ein Diskriminierungsverbot hinsichtlich der Kündigung. Sie dürfen also
nicht nur deshalb gekündigt werden, weil sie Ausländer sind. Ist ein EU-Ausländer
durch die Kündigung arbeitslos geworden, so erstreckt sich das Gleichbehandlungs-
recht auch auf die berufliche Wiedereingliederung und Wiedereinstellung (Art. 7
Abs. 1 VO 1612/68 EWG).
4. Den letzten Teil meiner Betrachtungen möchte ich der sozialen Sicherheit des
Grenzgängers widmen, also seiner Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenver-
sicherung. Insofern steht für den betroffenen Arbeitnehmer die Frage im Vorder-
grund, welches nationale Sozialrecht auf ihn anzuwenden ist. Er muß wissen, ob er
der Sozialversicherung seines Wohnortstaates oder der des Beschäftigungsstaates
unterliegt, welcher Sozialversicherungsträger für ihn zuständig ist und in welchem
Staat er Leistungen in Anspruch nehmen kann. Die Beantwortung dieser Fragen
hängt erneut davon ab, ob der Grenzgänger sich innerhalb der Europäischen Union
bewegt oder ob er ihre Außengrenzen überschreitet.
a) Für das Gebiet der Europäischen Union sind die uns interessierenden Probleme
in der EG-Verordnung Nr. 1408/71 über die soziale Sicherheit von Wanderarbeitneh-
mem geregelt. Diese Verordnung hat es sich nicht zum Ziel gesetzt, das materielle
Sozialrecht der Mitgliedstaaten der EU zu harmonisieren. Vielmehr will sie die wei-
terhin unterschiedlichen Sozialsysteme lediglich koordinieren und damit insbeson-
dere sicherstellen, daß Leistungsansprüche, die der Arbeitnehmer in einem Mitglied-
staat erwirbt, bei der Berechnung der Leistungen des Versicherungsträgers eines an-
deren Staates berücksichtigt werden können; ferner will sie gewährleisten, daß auf
Fälle mit internationalem Bezug das jeweils anwendbare Recht nach einheitlichen
Regeln bestimmt wird39. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat beschäftigt sind,
aber in einem anderen Staat wohnen, stellt die Verordnung den Grundsatz auf, daß sie
37 Vgl. Krause (o. Fn. 21., S. 78 ) m.w.Nachw.
38 Krause (o. Fn. 21), S. 79.
39 Eichenhofer, Sozialrecht, 1995, Rdnr. 89.
31
dem Recht des Beschäftigungsortes unterliegen (Art. 13 Abs. 2 Buchstabe b VO
1408/71/EWG). Dies bedeutet für den lothringischen Arbeitnehmer im Saarbrücker
Betrieb also, daß für ihn die deutschen sozialrechtlichen Bestimmungen gelten; ent-
sprechend ist der deutsche Pendler in Frankreich der französischen Sozialgesetzge-
bung unterworfen. Zuständig ist damit der Sozialversicherungsträger im arbeitge-
benden Land; Leistungen können grundsätzlich nur von ihm bezogen werden. Diese
Regel gilt allerdings nicht uneingeschränkt. Will man sich ein zutreffendes Bild ver-
schaffen, so muß man nach den einzelnen Leistungsarten differenzieren. Dies kann
an dieser Stelle nicht umfassend geschehen. Herausgreifen möchte ich daher nur
zwei Fälle, die mir wegen ihrer Besonderheiten interessant erscheinen, die Leistun-
gen bei Krankheit und bei Arbeitslosigkeit.
aa) Bei Erkrankungen von Arbeitnehmern, die in einem anderen Staat als dem Be-
schäftigungsstaat wohnen, bleibt es zunächst bei dem Grundsatz, daß der Sozialver-
sicherungsträger des Beschäftigungsstaates für sie zuständig ist. Für den Lothringer,
der in Saarbrücken arbeitet, ist also die deutsche Krankenkasse zurständig. Während
jedoch die deutsche Krankenkasse grundsätzlich die bei Krankheit vorgesehenen
Geldleistungen (etwa Krankengeld) zu erbringen hat, erhält der Erkrankte die erfor-
derlichen Sachleistungen (etwa Krankenhausbehandlung; Behandlung durch den
Arzt) regelmäßig vom Träger seines Wohnortes, als ob er bei diesem versichert wäre
(Art. 19 Abs.l VO 1408/71/EWG). Der Arbeitnehmer aus Metz erhält also seine
Sachleistungen von der für Metz zuständigen Krankenkasse. Diese Krankenkasse
handelt allerdings für Rechnung des zuständigen Trägers; also der deutschen Kran-
kenkasse. Dies bedeutet, daß die französische Krankenkasse, die ihre Leistungen an
den lothringischen Arbeitnehmer erbringt, einen Erstattungsanspruch gegen den ei-
gentlich zuständigen deutschen Sozialversicherungsträger hat40. Diese Rechtslage
wird für den Anwendungsfall des Grenzgängers nun wiederum in Art. 20 VO
1408/71/EWG modifiziert. Ihm wird die Möglichkeit eingeräumt, sämtliche Leistun-
gen bei Krankheit in seinem Beschäftigungsstaat zu erhalten. Er hat damit im Ergeb-
nis ein Wahlrecht, ob er die Leistungen des Wohnortstaates oder des Beschäftigungs-
staates in Anspmch nehmen will41.
bb) Für die Leistungen an einen arbeitslosen Arbeitnehmer ist zu unterscheiden: Bei
Kurzarbeit oder bei sonstigem vorübergehenden Arbeitsausfall erhält der Grenzgän-
ger Leistungen nach den Vorschriften des Beschäftigungsstaates von dem zuständi-
gen Träger (Art. 71 Abs. 1 Buchstabe a Ziffer i VO 1408/71/EWG). In diesen Fällen
bleibt es bei der anfangs genannten Grundregel, also der Zuständigkeit des Sozialver-
sicherungsträgers des Beschäftigungsstaates. Wird der Grenzgänger dagegen in vol-
lem Umfang arbeitslos, so bestimmt die Verordnung, daß er Leistungen nur nach den
Vorschriften seines Wohnortstaats in Anspruch nehmen kann (Art. 71 Abs. 1 Buch-
stabe a Ziffer ii). Diese Regelung für Vollarbeitslosigkeit ist nach der Verordnung ei-
gentlich strikt und ohne Ausnahme angeordnet. Die Verordnung stellt durch diese
Anordnung, daß der Grenzgänger nur die Leistungen nach den Vorschriften des
Wohnortstaates in Anspruch nehmen kann (nicht aber nach den Vorschriften des Be-
schäftigungsstaates) die Grenzgänger schlechter als andere Arbeitnehmer, bei denen
40 Vgl. Art. 93 ff. VO 574/72/EWG.
41 Eichenhofer, Internationales Sozialrecht, 1994, Rdnr. 413.
32
Wohnort- und Beschäftigungsstaat ebenfalls auseinanderfallen, die aber nicht die
weiteren Voraussetzungen des Grenzgängers erfüllen, weil sie nicht täglich bzw. wö-
chentlich an ihren Wohnort zurückkehren. Diese im Ausland arbeitenden Arbeitneh-
mer, die nicht Grenzgänger sind, haben nämlich nach der genannten Verordnung ein
Wahlrecht, ob sie Leistungen nach den Vorschriften des Wohnort- oder des Beschäf-
tigungsstaates in Anspruch nehmen wollen, solange sie sich nur der jeweiligen Ar-
beitsvermittlung zur Verfügung stellen (Art. 71 Abs. 1 Buchstabe b). Sie können also
die Leistungen wählen, die für sie günstiger sind (etwa weil es in einem Staat höheres
Arbeitslosengeld gibt als in einem anderen). Diese Ungleichbehandlung hat den Eu-
ropäischen Gerichtshof dazu bewogen, die Rechtsstellung der Grenzgänger zu ver-
bessern. Um eine Benachteiligung gegenüber den anderen Arbeitnehmern zu vermei-
den, hat er den Status der Grenzgänger dem der Nicht-Grenzgänger insoweit angenä-
hert, als er auch den Grenzgängern Leistungen nach den Vorschriften des bisherigen
Beschäftigungsstaats in Anspruch zu nehmen ermöglicht42.
b) Für Grenzgänger aus Drittstaaten gelten die soeben gemachten Ausführungen
grundsätzlich nicht. Sie werden von der Verordnung Nr. 1408/71 ebensowenig erfaßt
wie deutsche Arbeitnehmer, die eine Grenzgängerbeschäftigung in Polen, Tschechi-
en oder der Schweiz aufnehmen. Für sie gelten die allgemeinen Vorschriften des In-
ternationalen Sozialrechts, wie sie sich aus dem jeweiligen nationalen Recht und aus
zwischenstaatlichen Abkommen ergeben. Die deutschen Vorschriften sehen inso-
weit für das Recht der sozialen Vorsorge, d.h. die Kranken-, Renten- und Unfallversi-
cherung, sowie für das Recht der Arbeitslosenversicherung als Regel ebenfalls das
Beschäftigungsortprinzip vor. Dieser Grundsatz, den in Deutschland §§ 3-5 Sozial-
gesetzbuch IV und § 173a Arbeitsforderungsgesetz anordnen, steht allerdings unter
dem Vorbehalt abweichender Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts.
Soweit demnach zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen existieren, ge-
hen diese den nationalen Rechtsvorschriften vor. Die Bundesrepublik Deutschland
hat zahlreiche derartige Abkommen mit anderen Staaten geschlossen. Auf ihre Ein-
zelheiten einzugehen würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen. So viel soll an
dieser Stelle genügen: Sämtliche Sozialversicherungsabkommen, an denen die Bun-
desrepublik beteiligt ist, insbesondere auch diejenigen mit den unmittelbar angren-
zenden Nachbarstaaten, wählen als Anknüpfungspunkt für das Versicherungsstatut
ebenfalls den Beschäftigungsort. Im Detail erfährt dieser Grundsatz jedoch Modifi-
kationen. So sieht etwa das deutsch-schweizerische Abkommen über die Arbeitslo-
senversicherung in seinem Artikel 8 vor, daß Grenzgänger Arbeitslosengeld nach
den Vorschriften des Wohnortstaates erhalten; nur in Ausnahmefällen können Lei-
stungen des Beschäftigungsstaates in Anspruch genommen werden. In der Sache
weicht diese Regelung nur wenig von den für das Gebiet der Europäischen Union
geltenden Vorschriften ab.
5. Abschließend: Im jüngst vorgelegten Grünbuch der Europäischen Kommission
über Bildung, Berufsbildung, Forschung und Hindernisse für die grenzüberschrei-
tende Mobilität findet sich der sicher zutreffende Hinweis, daß der Wunsch nach
EuGH, Slg. 1986, 1837 (Miethe).
33
Mobilität immer weiter zunimmt43. Dort wird aber auch festgestellt, daß die
Mobilität heute noch durch viele Hindernisse eingeschränkt ist und daß sich Kapital,
Waren und Dienstleistungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft leichter
bewegen als die Menschen. Darunter leide die Wertschätzung, die der Bürger dem
europäischen Emigungsprozeß entgegenbringe. Jeder Grenzgänger hat für seine
Person die Hindernisse für die grenzüberschreitende Mobilität überwunden, und
unsere kleine Reise um die Probleme der Grenzgänger hat gezeigt, daß es durchaus
gelungene Ansätze gibt, die Schwierigkeiten, die der Grenzgänger dadurch hat, daß
er sich in zwei unterschiedlichen Rechtsordnungen bewegt, zu mildem. Es wäre
schön, wenn die heute noch bestehenden rechtlichen und sonstigen Hindernisse für
die grenzüberschreitende Mobilität in nicht zu ferner Zukunft Gegenstand eines
historischen Symposiums sein könnten.
43 Grünbuch „Bildung, Berufsbildung, Forschung: Hindernisse für die grenzüberschreitende
Mobilität“, KOM (96) 462 endg. v. 2.10.1996, S. I
34
Hans Leo Krämer
Grenzgänger aus soziologischer Sicht
Die Soziologie hat sich bisher mit den Grenzgängem/innen nur beiläufig beschäftigt,
so daß der Gegenstand weder hinreichend definiert noch gar zum Zwecke analyti-
scher Aussagen konstruiert ist. Ich möchte in meinem Beitrag versuchen, einige Ele-
mente zu diskutieren, die für eine soziologische Typologie des Grenzgängers und der
Grenzgängerin verwendbar sind. In dem ersten Teil des Vortrages referiere ich kurz
den Stand der soziologischen Betrachtung des Themas. Im zweiten Teil entwickle ich
einen typologischen Zugang zu dem Phänomen Grenzgänger/in.
1. Die vorliegende Literatur behandelt den Gegenstand vornehmlich unter
drei Gesichtspunkten:
a) im Kontext allgemeinsoziologischer Ansätze, wobei die Problematik der
Grenzüberschreitenden häufig nur indirekt angesprochen wird, etwa bei G.
Simmel und seinen Ausführungen über wandernde Gruppen, oder bei P. Bour-
dieu, wenn er von den Grenzübergängen zwischen unterschiedlichen sozialen
Kategorien von Menschen spricht,
b) im Kontext ethnographischer und kultursoziologischer Studien über, wie vor
allem R. Girtler es formuliert, „waghalsige“ und „listenreiche“ Leute als
Grenzüberwinder, die kategonal dem abweichenden Verhalten zuzuordnen
sind, und
c) im Kontext eines durch nationale Grenzen festgelegten grenzregionalen Ar-
beitsmarktes, der juristisch-administrativ den Typus Grenzgänger/in als Ar-
beitnehmer/in geprägt hat.
Allgemeinsoziologische Theorieansätze (a) über konkrete geographische Grenzen
und Räume oder auch, wie die Durkheim-Schule es ausdrückt, die sozialmorphologi-
schen Grundlagen des Raum- und Grenzverhaltens liegen systematisiert nicht vor.1
G. Simmel hat in dem Bemühen, eine Soziologie als Wissenschaft von den Formen
der Vergesellschaftung zu begründen, die Elemente der sozialen Formung des Rau-
mes besonders beachtet. Ausgehend von der Prämisse, daß durch Wechselwirkung
Gesellschaft entsteht, wobei die „seelischen“ Prozesse wie Anziehung oder Repulsi-
on, Nähe oder Feme sich als Begrenzungsvorgänge erweisen, definiert Simmel die
Wechselwirkung zwischen sozialer Grenzziehung und Verräumlichung wie folgt:
„Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, son-
1 Vgl. Norbert Kuhn, Sozialwissenschaftliche Raumkonzeptionen, Diss. phil. Saarbrücken
1994; Heiko Riedel, Wahrnehmung von Grenzen und Grenzräumen. Eine kulturpsycholo-
gisch-geographische Untersuchung im saarländisch-lothringischen Raum, Saarbrücken
1994.
35
dem eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“.2 In dem „Exkurs über die
soziale Begrenzung“ wird das für unser Thema wichtige Element der Begrenzung in
der Teilhabe am kollektiven Geschehen angesprochen. Aufgrund der Interessen-Ab-
grenzungen in einem gegebenen Raum erfolgt wirknotwendig eine Grenzziehung
nach einem zu definierenden Merkmal des Dazugehörens oder Nicht-Dazugehörens.
Die Ausführungen von Simmel über die Folgen für die Wechselwirkungen von wan-
dernden Gmppen und ihren räumlichen und sozialen Bedingungen liefern eine weite-
re Überlegung hinsichtlich der Grenzgänger/innen: Handelt es sich um eine wan-
dernde Gruppe mit einer besonderen Struktur? Welche soziologischen Grundzüge -
Simmel zählt dazu Individualisierung, Isolierung, Suche nach neuen Integrations-
stützen - zeichnen die Grenzgänger/innen aus? Welche Auswirkungen hat das grenz-
überschreitende Wandern auf die „sedentäre Gruppe“?
Pierre Bourdieu reflektiert die Grenzfrage zunächst einmal im Sinne der soziologi-
schen Erkenntnistheorie, die unterstellt, daß der soziale Akteur von unbewußten
Kräften und sozialen Bedingungen in seinem Handeln begrenzt wird. Die Untersu-
chung dieses Begrenzungssystems gilt ihm daher als wichtigste Aufgabe der Sozio-
logie. Er benutzt als zentrales Erklärungsmodell den Habitus. Habitus wird verstan-
den als ein „System von Dispositionen“, was zur Folge hat, daß soziologisch von ei-
ner gesellschaftlichen Prädetermination des Akteurs ausgegangen werden muß.
Denn Habitusformen definiert Bourdieu als „Systeme dauerhafter Dispositionen,
strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken,
mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen
und Repräsentationen“.3 Der Habitus gibt damit die Grenzen vor, innerhalb derer
Gmppen, Schichten, Klassen und Individuen die Formen und Inhalte des Fühlens,
Wollens und Handelns gestalten können. Habitus ist demnach ein „System von Gren-
zen“ hinsichtlich der Handlungs-, Wahmehmungs- und Denkmatrix.4
Für eine generelle Soziologie des Grenzgängers/der Grenzgängerin müßte auf Bour-
dieu vertiefend eingegangen werden, denn er bietet eine Analyse für soziales Han-
deln und Spielraumnutzen trotz spezifischer Begrenzungen, eine Analyse für Grenz-
umgehungen bzw. Grenzüberschreitungen im sozialen Feld und Raum durch indivi-
duelle Handhabung des Lebensstils. Weiterhin: Im Gefolge der seit der Aufklärungs-
philosophie anwachsenden Diskussion um die Aufhebung von Grenzen und der mit
der anderen Moderne, der Postmodeme einsetzenden Entgrenzung von tradierten
Klassen- und lebensweltlichen Strukturen halte ich Bourdieu mit seiner Theorie des
Geschmacks als einer Theorie der Abgrenzung für bedeutsam.5 Geschmack ist ein
wichtiges, hinter der Phänomenebene der Wahrnehmung von Gesellschaft liegendes
Moment der Sozio-Logik. Er entpuppt sich als zentrale Dirigierungsstelle in und hin-
ter dem System der Klassifizierungen. Er ist grenzziehend und grenzbildend, inso-
2 Georg Simmel, Soziologie, Leipzig 1908, S. 623.
Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1976, S. 165.
4 Zu Bourdieu darf ich auf die Arbeiten meines Schülers Markus Schwingel verweisen: Mar-
kus Schwingel, Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus,
Hamburg 1993 und Markus Schwingel, Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995.
5 Vor allem Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteils-
kraft, Frankfurt a. M. 1982.
36
fern er Handlungen und Einstellungen auf der Basis homogener materieller Existenz-
bedingungen homogenisiert. Er entgrenzt damit das, was gemeinhin mit Subjektivi-
tät bezeichnet wird, zu einer Vielheit, die nun wiederum als Einheit umgrenzt ist, um
sich von anderen, als Einheiten umgrenzten Vielheiten abzugrenzen. Darüber hinaus
homogenisiert der Geschmack auch Handlungen und Einstellungen über unter-
schiedliche Praxisfelder zu einem einheitlichen Stil und sorgt so dafür, daß die Ein-
wie Ausgrenzungen den gesamten sozialen Raum erfassen. Geschmack „als Modus
der sozialen Grenzziehung“6 ist bei grenzüberschreitenden Gruppen überhaupt noch
nicht untersucht worden.7
Die ethnographisch orientierte Phänomenologie der Grenze und ihrer Überwinder
(b), wie sie spannend, materialreich, lebensnah R. Girtler in verschiedenen Studien
beschreibt, verfährt anders als der typologisierende oder klassifizierende Ansatz von
Bourdieu, der die alltägliche Soziowelt zum Entwurf nimmt; Girtler hebt auf die au-
ßergewöhnlichen Fälle ab, wo Menschen von den Grenzen angezogen, ihr Durchbre-
chen und listenreiches Überschreiten oder auch Negieren bewerkstelligen: Schmugg-
ler, Flüchtlinge, fahrendes Volk aller Art und Spione sind seine Forschungssubjekte.8
Er analysiert sie auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen subkulturellen Dispositionssy-
steme. Dadurch gelingt es ihm, diese „Außeralltäglichkeit“ primär nicht als Abwei-
chung zu thematisieren, obwohl er, freilich in einem eher positiv aufwertenden Ver-
ständnis, von „Randkulturen“ und den Formen ihrer „Unanständigkeit“ zu sprechen
gehalten ist.9
Für eine Soziologie des Grenzgängers/der Grenzgängerin liefert Girtler eine Fülle
von Grenzdefinitionen und ihrer Funktionen hauptsächlich unter Verwendung eines
dualistischen Konzeptes, wie anständig - unanständig, drinnen - draußen. Häufig
handelt es sich dabei um Grenzen von Werten, Normen, Meinungen, Lebensführun-
gen usw., die verletzt, nicht eingehalten, negiert werden. Es lassen sich aber schwer-
lich verallgemeinerbare Schlußfolgerungen aus Girtlers Beschreibung ziehen. Die
These von den Wandernden und Fahrenden als „Kulturträgern“ bedürfte genauso ei-
ner empirischen Überprüfung wie die, daß der Seßhafte einer solchen Innovation we-
gen seiner „oft kleinlichen Grenzen“ unfähig sei. Mir scheint, daß diese potentielle
und auch nachgewiesene Funktion des kulturellen Innovators10 in unzulässiger Wei-
se auf den „Fremden“ schlechthin übertragen wird. Girtler regt völlig zu Recht hinge-
gen an, die kulturellen Traditionen und Grundlagen des modernen Typus des Grenz-
gängers/der Grenzgängerin zu untersuchen, der ja zumindest teilweise als seßhaft be-
trachtet werden muß. Ebenso würde ich aus diesen ethnographischen Fallstudien die
6 Sigrun Anselm, Grenzen trennen, Grenzen verbinden, in: Richard Faber und Barbara Nau-
mann (Hg.), Literatur der Grenze, Würzburg 1995, S. 208.
7 Erste Ansätze finden sich bei B Bröskamp 1993, der die ethnischen Grenzen des Ge-
schmacks am Beispiel der türkischen Minderheit in der Bundesrepublik mit Hilfe des Bour-
dieuschen Theoriekonzepts untersucht: Bernd Bröskamp, Ethnische Grenzen des Ge-
schmacks, in: Gunter Gebauer und Christoph Wulf (Hg.), Praxis und Ästhetik. Neue Per-
spektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt a.M. 1993.
8 Vgl. Roland Girtler, Schmuggler: Von Grenzen und ihren Überwindern, Linz 1992.
9 Vgl. Roland Girtler, Randkulturen: Theorie der Unanständigkeit, Wien, Köln 1995.
10 Vgl. Thomas Bargatzky, Die Rolle des Fremden beim Kulturwandel, Hamburg 1978.
37
Idee mitnehmen, daß für die unterschiedlichsten Sozial-, Kultur- und Berufskontak-
te, in die Grenzgänger/innen eintreten, die Bewertungen und Einschätzungen der
Grenzgänger/innen unerläßlich sind - sowohl die Fremdeinschätzung als auch die
Selbsteinschätzung. Überhaupt stellt sich die Frage, ob bei längerfristiger Über-
schreitung zentraler Grenzen (nationalstaatlicher, kultureller - z. B. Sprachgrenzen)
die Grenzgänger/innen eine Verlagerung ihrer Beziehungen und Orientierungen
nach außen vornehmen. Und damit komme ich zu dem dritten Aspekt (c), dem Typus
des Grenzgängers/der Grenzgängerin, die im Ausland einer Beschäftigung nachge-
hen. In der Bundesrepublik spielt dieser Typus eine besondere Rolle, weil hier wegen
der geopolitischen Mittellage und der europäischen Integration Mitglieder der Anrai-
nerstaaten eine Beschäftigung stark nachfragen. Die EU-Verordnung 140/71 defi-
niert: Grenzgänger ist „jeder Arbeitnehmer oder Selbständige, der seine Berufstätig-
keit im Gebiet eines Mitgliedsstaates ausübt und im Gebiet eines anderen Mitglied-
staates wohnt, in das er in der Regel täglich - mindestens aber wöchentlich zurück-
kehrt“. Die in Deutschland arbeitenden Französinnen und Franzosen stellen die größ-
te Gruppe dar.11 Aufgrund der Richtlinien und Abkommen über die Besteuerung
wird das Grenzgebiet, in dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, regional be-
grenzt:
- für Grenzgänger mit Wohnsitz in Deutschland gilt ein Radius von 30 km (d.h. u.a.
das Saarland),
- auf französischer Seite gilt als Grenzraum u.a. das gesamte Departement Moselle.
Für eine soziologische Typologie sind die Kriterien des berufsbedingten Grenzüber-
tritts und vor allem der Beibehaltung des Wohnortes, damit der Seßhaftigkeit, inter-
essant. Grenzgänger/innen halten sich weiterhin nicht dauerhaft in der anderen Ge-
sellschaft auf, wodurch sie sich von den echten Migranten/mnen unterscheiden.
Gleichwohl haben wir es mit einer Form der Arbeitsmigration zu tun.
Bei den Untersuchungen über Grenzgänger/innen, die mir bekannt sind, handelt es
sich um statistisch-analytische Bestandsaufnahmen und/oder einfache Befragungen -
ohne ausdrücklichen Theoriebezug oder hypothesengenerierende Ansprüche. Die in
meinem Institut soeben fertiggestellte Teilstudie über 'Grenzgänger’ im Rahmen ei-
ner „Befragung zum grenzüberschreitenden Qualifizierungsbedarf in saarländischen
Betrieben und Arbeitsstätten“* 12 macht da auch keine Ausnahme. Um den Umfang
des Problems zu veranschaulichen, werde ich zunächst einige wenige Angaben zu
dieser Gruppe machen:
- Die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten als Grenzarbeitnehmer/innen
umfaßten 1991 in Deutschland rund 42000 Personen, darunter ca. 28000 aus
Frankreich.
- Deutsche Grenzarbeitemehmer/innen spielen nur in der Schweiz und in Luxem-
burg und in geringerem Maße in Dänemark eine Rolle.
" Vgl. Heinz Werner, Beschäftigung von Grenzarbeitnehmem in der Bundesrepublik, in:
Mitteilungen der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 1 (1993). - Die innerstaatliche Pend-
lerproblematik lasse ich hier unbeachtet.
12 Vgl. Marie-Luise Gries, Sabine Ohnesorg, Ronald Westheide, Frankreichbezüge und
grenzüberschreitender Qualifizierungsbedarf kleiner und mittlerer Betriebe im Saarland,
Institut für praxisorientierte Forschung und Bildung, Saarbrücken 1997.
38
- Seit dem Ende der 70er Jahre verzeichnet das Saarland eine ansteigende Wande-
rungsbewegung französischer Arbeitskräfte ins Saarland. 1995 hatten ca. 17500
Arbeitnehmer mit Wohnsitz in Lothringen ein sozialversicherungspflichtiges Ar-
beitsverhältnis im Saarland. Grenzgänger/innen stellen damit knapp fünf Prozent
der im Saarland beschäftigten Personen. Hinzu kommen zusätzlich ca. 4000 bis
5000 Personen, die als „geringfügig Beschäftigte“ in der Statistik der Arbeitsver-
waltung nicht erfaßt werden. Rund die Hälfte der französischen Arbeitskräfte sind
Frauen.
- Zum überwiegenden Teil (70%) arbeiten die Grenzgänger/innen in sektoralen und
qualifikationsspezifischen Teilarbeitsmärkten, die stark konjunkturanfällig sind
(Automobilindustrie, Stahlindustrie, feinkeramische Industrie, Baugewerbe). Nur
ein Viertel ist im Dienstleistungsbereich beschäftigt.
- An interkulturellen Kompetenzen bringen diese Grenzgänger/innen vor allem die
Zweisprachigkeit mit ein,
- Grenzgänger/innen werden häufig unter ihrem Qualifikationsniveau eingesetzt.
„Grenzgänger/innen in Vollbeschäftigung (sind) zum Teil überqualifiziert und
(üben) eine der Schulbildung entsprechende unterwertige Tätigkeit aus“.13
Zum Zwecke einer soziologischen Typologie lassen sich folgende Aspekte ausma-
chen:
1. Grenzgänger/innen bilden eine künstlich geschaffene soziale Kategorie, die nur
aufgrund von arbeits- und sozialversicherungspflichtigen Gründen homogen
wirkt.
2. Konstituierender Faktor dieser kategorialen Gruppe ist außerdem das Überschrei-
ten einer nationalen Grenze.
3. Soziologisch dürfte von Bedeutung sein, daß die Grenzgänger/innen einen Raum
verlassen, um in einen anderen geographischen und anderen sozialen Raum zu ge-
hen, daß sie aber in den Ausgangsraum regelmäßig zurückkehren.
2. In dem folgenden zweiten Teil möchte ich die Frage einer soziologischen
Typologie des Grenzgängers/der Grenzgängerin systematischer betrachten.
Umgangssprachlich und in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen wird unter
der Bezeichnung Grenzgänger/in kein einheitliches Phänomen erfaßt. Man kann fünf
Bedeutungsdimensionen ausmachen, denen ich jeweils ein Bild-Modell zuordne:
(1) Das „Storchen-Modell“: Es drückt die Bedeutung aus: „auf der Grenze stehen
oder auf der Grenze sein“. Grenzgänger/innen wären ihm zufolge Menschen, die sich
mehr oder weniger lange, jedoch vorübergehend, auf einer Grenze befinden, gleich-
sam in einem unentschiedenen Zustand. Die Situation ist unbequem. Sie ließe sich
positiv aufheben, indem man die Grenze überschreitet, einen Schritt nach vorwärts
hin zu dem angestrebten Ziel machte. Äußere, meist nicht im Willen der handelnden
Person liegende Gründe, z.B. staatliche Einreisebestimmungen, verhindern eine sol-
13 CDR / ISOPLAN, Grenzgängerinnen im Raum Saarland-Lothringen. Eine statistisch-ana-
lytische Bestandsaufnahme zur Arbeits- und Lebenssituation weiblicher Grenzgänger,
Metz und Saarbrücken 1996, II.
39
che Entscheidung. So sistiert die Grenzpolizei den Visumlosen auf der letzten Stufe
der Gangway, bevor er das ‘gelobte’ Land betreten hat.
Das Bild verfolgt mich, seit ich den Film des Griechen Theo Angelopoulos „Le pas
suspendu de la cigogne“ gesehen habe. Darin gibt es die berühmte Szene, in der ein
nackter Mann genau bis in die Mitte der alten Brücke geht und dort gebannt in Stor-
chenstellung stehen bleibt. Irgendwo auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses
liegt die Stadt - der Freiheit, der Erinnerung, der Zukunft? Den hochgezogenen Fuß
abzusetzen und die Grenze zu überschreiten, der nackte Mann und die Zuschauer
wissen es, bedeutet den Tod. Daher verharrt er in der Schwebestellung auf der Gren-
ze.
Grenze kann in diesem Modell die geographisch-räumliche, die politisch-nationale,
aber auch die kulturelle Grenze oder jede Art von Übergangsgrenze in der menschli-
chen Existenz beinhalten.
(2) Das „Voyeur-Modell“: Im Vordergrund steht hier der Gang an die Grenze, um ei-
nen Blick hinüber zu werfen, zu erspähen versuchen, was dort vor sich geht. Die an-
dere Seite mag fremd sein oder vertraut, aber durch Trennungslinien nicht mehr oder
nur schwer noch zu erreichen. Die Besucher/innen-Tribüne an der Berliner Mauer, in
Nicosia auf Zypern usw. sind solche Grenzgänger-Orte. Eine andere Form des
Voyeurs ist der ungestillt Neugierige. „Als Kind am Ende des elterlichen Gartens auf
einem Westwall-Führungsbunker zu stehen und über Saarlouis hinweg auf die Hü-
gelkette gegenüber zu schauen, schloß für mich immer die Frage mit ein: was ist da-
hinter?“ Alfred Gulden14 will Grenze hier nur als einen Übergang zu dem Dahinter-
liegenden verstanden wissen.
(3) Das „Streckenwärter-Modell“: Man bewegt sich entlang der verschiedenen sozia-
len oder politischen Grenzen, die man wie ein Streckenwärter nach Veränderungen
inspiziert. Überschreitungen finden nur gelegentlich statt. Das Bild von der anderen
Seite, dem jeweils anderen, ist relativ fest. Um noch einmal Alfred Gulden zu bemü-
hen, die ffanzösisch-Leidinger und die deutsch-Leidinger wissen übereinander Be-
scheid, auch wenn die politisch-nationale Grenze nicht mehr existiert. Grenzgän-
ger/innen nach diesem Modell halten sich in der Regel an die meist unsichtbaren
Grenzen, die die Menschen im sozialen Raum voneinander unterscheiden.
(4) Das „Wanderer-Modell“: Hier finden wir die eigentlichen Grenzüberschreiter/in-
nen, die sich auf ein relativ unbekanntes Terrain, ein fremdes Territorium, in eine an-
dere Gesellschaft und Kultur begeben. Dort bleiben sie kurze oder längere Zeit.
(5) Das „Zwei-Welten-Modell“: Es umfaßt alle, die lebensweltlich in oder zwischen
zwei Welten leben und sich bewegen - in der Kunst und der Wissenschaft, der Theo-
logie und der Philosophie, der Theorie und der Praxis, dem Geist und der Materie
usw.
Maurice Halbwachs15 hat der Arbeiterklasse eine Begrenzung auf das ‘Bearbeiten
der Materie’ zugesprochen, damit strukturell für diese ein Pendeln zwischen zwei
Welten als unmöglich angesehen.
14 Alfred Gulden, Nur auf der Grenze bin ich zu Haus, in: Richard Faber und Barbara Nau-
mann (Hg.), Literatur der Grenze, Würzburg 1995, S. 137-146.
15 Vgl. Maurice Halbwachs, La classe ouvrière et les niveaux de vie, Paris 1913.
40
Wahrscheinlich dürften in diesem Modell überwiegend die verschiedensten „Gei-
stesarbeiter/innen“ anzutreffen sein, deren ‘Internationalismus’ beispielsweise von
sehr viel weniger strukturellen Grenzrahmen begleitet ist als der utopische der Arbei-
terklassen.
Die allgemeine Soziologie beschäftigt sich in der Regel mit dem ‘Wanderer-Modell’
und in Teilen mit dem ‘Streckenwärter-Modell’. In beiden werden bestimmte Ver-
haltensweisen unter räumlichen Bezügen betrachtet. Simmel analysiert am eindeu-
tigsten solches Raumverhalten im Sinne eines Bewegungsvorganges von Kollektiva,
also sozialen Gruppen in und über Raumgrenzen hinweg. Die politisch-staatlichen
Grenzen stellen dabei nur einen Sonderfall dar. Obwohl Simmel den Begriff des
Grenzgängers/der Grenzgängerin, soweit ich sehe, nicht benutzt, spricht er implizit
diesen Typus bei seinen Migrationsgruppen, den fremdwandemden Händlern, dem
Nomadismus an.
P. Bourdieu kennt zwar ein kompliziertes Sozialraum-Modell, in welchem der Raum
der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile der jeweiligen sozialen Klas-
sen wechselwirkend eine dynamische Einheit bilden, doch obwohl er um den konkre-
ten Raum-Anspruch des sich körperlich in den sozialen Feldern bewegenden Men-
schen weiß, gilt sein Interesse wesentlich den, wie er sagt, „magischen Grenzen“,
etwa zwischen männlich und weiblich, „zwischen denen, die vom Bildungssystem
erwählt und denen, die ausgestoßen wurden“.16 Die fines einer Region, einer regio -
als Land, als bestimmtes Territorium, verweisen folglich immer darauf, nach wel-
chem Prinzip die legitime Gliederung der sozialen Welt durchgesetzt wurde. Im
Grunde handelt Bourdieu mehr von den Eingeschlossenen, den in den Raumgrenzen
Handelnden, als von den Grenzüberschreitenden. Seine Distinktionstheorie ist eine
Theorie der Grenzziehungen. Diejenigen, die mit Hilfe der ihnen zur Verfügung ste-
henden Kapitalsorten neue Positionen, neue Lebensstile eingenommen haben, de-
monstrieren Alltagsverhalten.
Die phänomenologische, kulturtheoretische und kultursoziologische Theorie präfe-
nert eigentlich keines der skizzierten Modelle. Wie schon gesagt, tendiert sie stark zu
den außergewöhnlichen, außeralltäglichen, randständigen Formen der Grenzüber-
schreitung. In den Blickpunkt gerät das nicht routinisierte Verhalten.
Meine Überlegungen im Hinblick auf eine soziologische Typologie von Grenzgän-
gem/innen, die empirisch verwendbar ist, fasse ich wie folgt zusammen:
In einer Welt, die wirtschaftlich zunehmend durch Globalisierung, politisch durch
supra-nationale Organisationen und soziokulturell durch Regionalisierung - im Sin-
ne von A. Giddens als raumzeitliche Differenzierung des Alltagsverhaltens - gekenn-
zeichnet ist, werden auch die Prozesse der Entgrenzung fortschreiten und damit zu
vielfältigen Formen neuer und alter Grenzüberschreitung führen: Flucht, Vertrei-
bung, Asyl, Massentourismus, Migration usw. Will man an einem besonderen Typus
des Grenzgängers/der Grenzgängerin festhalten, dann bietet sich zu seiner Konstruk-
tion die Kategorie des Grenzarbeitnehmers als Vorlage an.
16 Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien
1990, S. 89.
41
(1) Grenzgang - hier als soziologisches Kürzel und nicht im Sinne eines volkstümli-
chen Brauchtums (Umwanderung der Gemarkung) verwendet - soll verstanden wer-
den als
a) raumbezogenes,
b) grenzüberschreitendes,
c) soziales Handeln von einzelnen Individuen und sozialen Gruppen.
(2) Grenzgängerisches Handeln hat mindestens zwei konkrete geographische Räume
zur Voraussetzung, die durch Grenzen voneinander unterschieden sind. Diese Gren-
zen müssen dem Handelnden als objektive Gegebenheit bekannt sein - als Sprach-,
Kultur- oder politisch-nationale Grenzen, deren Überwindung an das Einhalten von
Rechtsbestimmungen, Rituale, Grenzformalitäten, Berechtigungen usw. geknüpft
ist.
(3) Die Räume besitzen unterschiedliche Valenzen. In der Regel verläuft grenzgän-
gensches Handeln von einem Herkunftsraum zu einem als fremd oder anders
(sprachlich, kulturell, politisch, wirtschaftlich) strukturierten und empfundenen Ziel-
raum, wo die Ziele, Zwecke, Wünsche des Handelns erfüllt werden sollen.
(4) Grenzgängerisches Handeln hat eine kreisförmige Struktur: Die Handelnden keh-
ren stets an den Ausgangsort zurück. Dieser - als angestammter von Geburt an oder
als gewählter Ort - erfüllt die Funktionen der „rückseitigen Region“ (Giddens), also
nach Habermas der als selbstverständlich angesehenen Lebenswelt, des Zusammen-
sein-Könnens mit Seinesgleichen.
(5) Grenzgängerisches Handeln ist ein regelmäßiges Handeln von unterschiedlicher
Dauer. Es intendiert nicht die Seßhaftigkeit im aufgesuchten Zielraum. Die Regelmä-
ßigkeit kann als routiniertes Alltagsverhalten - wie bei den Grenzarbeitnehmer/innen
- oder wie im Falle des wöchentlichen Einkaufs, Kino- oder Diskobesuchs als regel-
mäßige, jedoch die Alltagsroutine durchbrechende Tätigkeit bewertet werden.
(6) Grenzüberschreitendes Handeln soll als legales Handeln verstanden werden. Die-
ses Handeln wird im Zuge der europäischen Integration und der Durchlässigkeit der
Grenzen von wachsender Bedeutung.
(7) Grenzüberschreitendes Handeln ist risikohaftes Handeln. Den Erfolg können die
sprachlichen, kulturellen, qualifikatorischen Differenzen gefährden, genauso wie
Veränderungen in der Politik oder der wirtschaftlichen Lage den Umfang des Han-
delns positiv oder negativ beeinflussen können.
(8) Grenzgänger/innen sind einem mehrfachen Integrationsdruck ausgesetzt. In ihren
jeweiligen Handlungsräumen müssen sie sich nach verschiedenen Ordnungsregein
richten, was in kritischen Zeiten eine hohe Adaptationsleistung bedeutet.
Es stellt sich abschließend die Frage, wer denn diese Grenzgänger/innen eigentlich
sind. Die soziale Kategorie, über die wir einige Auskünfte haben, setzt sich haupt-
sächlich aus Berufsgruppen zusammen. Meine Typologie beschränkt sich aber nicht
nur auf diese. Ich rechne dazu auch beispielsweise Teile der in binationalen Ehe-Ge-
meinschaften lebenden Personen mit einem bikulturellen Identitätsprofil, Diese Per-
sonen befinden sich teilweise vom Herkunftsraum weit entfernt, stehen aber mit ihm
in regelmäßigem Kontakt. Die gewählte Seßhaftigkeit scheint aber nach - zugegebe-
nermaßen empirisch nicht überprüften - Informationen revidierbar. Nach den in die-
ser Gmppe offensichtlich erhöhten Trennungs- oder Scheidungsraten setzt häufig
eine Rückkehr in die „rückseitigen Regionen“ ein, vor allem von Frauen, die diesen
42
kulturellen Typus am stärksten - etwa zwischen Frankreich und Deutschland - ver-
körpern.
Streicht man alle ethnologischen Elemente einer Sonderkultur aus dem
soziologischen Typus des Grenzgängers weg und faßt ihn theoretisch unter der
Prämisse von Gesellschaften, die sich im Modemisierungsprozeß befinden, dann
darf man die Vermutung wagen, daß das so verstandene Grenzgängertum eine
spezifisch moderne Lebensform repräsentiert. Die Ortsbezogenheit, die in den
bisherigen Gesellschaften den Normalfall ausmacht, wird jetzt vom Grenzüber-
schreitenden zwar nicht aufgegeben, jedoch relativiert. Wieweit die Gemeinschaft
im Herkunftsraum für individuelle und soziale Identitätsbildung noch ausschlagge-
bende Einflüsse besitzt, oder ob die im Zuge der Grenzüberschreitung entstandenen
neuen sozialen Beziehungen für soziale Einstellungen und Verhalten bestimmend
werden, gälte es zu untersuchen. Ich bin der Meinung, daß Grenzgängertum eine
neue Existenzform darstellt. Diesbezüglich ist es interessant, daß nach den
vorliegenden empirischen Untersuchungen die lothringischen Grenzgänger und
Grenzgängerinnen zu einem Teil bereits aus Familien stammen, in denen
grenzgängerisches Handeln Tradition hat. Dieser Personenkreis erfüllt meines
Erachtens die für einen empirisch überprüfbaren Typus wichtigen Kriterien und stellt
einen Modellfall für Mentalitätsveränderungen in sich permanent modernisierenden
Gesellschaften dar.
43
Huw Pryce
A CROSS-BORDER CAREER: GlRALDUS CAMBRENSIS BETWEEN
Wales and England
Norman conquest and settlement in Britain perpetuated and intensified Anglo-Welsh
warfare, an aspect of Anglo-Welsh relations amply attested from the seventh century
onwards. But Norman ambition resulted in more than the continuation of cross-
border troop movements: it also led to the creation of new links between Wales and
England. This was true in two respects in particular. The first concerned secular land-
holding. Norman lords held estates both in Wales and in England (as well as, in some
cases, Normandy).' Thus, for example, it was on a journey from England, where he
held the substantial honour of Clare in Suffolk, to his lands in Ceredigion in west
Wales, granted him by King Henry I, that Richard fitz Gilbert was ambushed and
killed by the Welsh in the vicinity of Abergavenny in April 1136.1 2 3 Conversely, from
the late eleventh century some members of native Welsh princely dynasties were
granted estates by English lords or kings in the border counties of England, although
such cross-border landholding was insignificant by comparison with that of members
of the Scottish royal family and aristocracy.2 Second, the subordination of the Welsh
bishoprics to the authority of the archbishop of Canterbury and the establishment of
Benedictine priories and cells dependent on English monasteries forged closer eccle-
siastical ties than had existed before 1066.4 These connections, together with others
they brought in their wake—notably a quickening of trade—increased the opportuni-
1 See e.g. R. R. Davies, Conquest, Coexistence, and Change: Wales 1063-1415, Oxford
1987, pp. 84-5; I. W. Rowlands, The Making of the March: Aspects of the Norman Settle-
ment in Dyfed, in: R. Allen Brown (ed.), Proceedings of the Battle Conference on Anglo-
Norman Studies, III, 1980, Woodbridge 1981, pp. 144-5, 148-50. For land held by
Giraldus’s father in Devon, see below, p. 53.
2 J. S. Brewer, James F. Dimock and George F. Warner (eds.), Giraldi Cambrensis Opera, 8
vols. (Rolls Series), London 1861-91,6 pp. 47-8. Henceforth Giraldus, Opera.
3 For Welsh examples, see J. E. Lloyd, A History of Wales from the Earliest Times to the
Edwardian Conquest, 3rd edn, 2 vols., London 1939, 2 pp. 398, 496, 553, 616-17; below,
pp. 49-50. For Scotland, see K. J. Stringer, Earl David of Huntingdon 1152-1219, Edin-
burgh 1985, pp. 177-211. Cf. also Robin Frame, Aristocracies and the Political Configura-
tion of the British Isles, in: R. R. Davies (ed.), The British Isles 1100-1500, Edinburgh
1988, pp. 144-6, 150-2; R. R. Davies, Domination and Conquest: The Experience of
Ireland, Scotland and Wales 1100-1300, Cambridge 1990, pp, 54-5.
4 Davies, Conquest (as n. 1) pp. 179-94.
45
ties for individuals to travel between England and Wales, be they secular lords,
bishops, monks or merchants.5
At the same time the creation of Norman lordships in Wales accentuated the political
fragmentation of the country, injecting new ethnic and cultural divisions into what
has been aptly described as a country ‘of plural frontiers’.6 Of no region was this
truer than Dyfed in south-west Wales, the birth-place of the churchman, scholar and
author who is the subject of this paper: Giraldus Cambrensis or Gerald de Barri.7
Giraldus’s maternal grandmother, Nest, was the daughter of the Welsh king of
Dyfed, Rhys ap Tewdwr, killed by the Normans in 1093; Dyfed swiftly fell to the
Normans and was divided into a number of small lordships. Among the early Nor-
man conquerors in the region was Giraldus’s maternal grandfather, Gerald of Wind-
sor, castellan of Pembroke, who married Nest ‘with the object of giving himself and
his troops a firmer foothold in the country.’8 Giraldus’s father, William de Barri, was
a minor Norman lord whose castle lay at Manorbier. By ancestry, then, Giraldus was
three-quarters Norman and one quarter Welsh, the product of intermarriage which
was a fairly common characteristic in the Welsh March.9 This mixed ancestry was to
play an important part in his career, for he was related, not only to leading Norman
families in south-west Wales, but also to the native ruling house represented by the
successors of his great-grandfather, Rhys ap Tewdwr. When Giraldus was bom, c.
1146, this house was beginning to revive its power, notably at the expense of the
Clare lords of Ceredigion and the Cliffords of Llandovery. Just over twenty years
later, in 1169, many of Giraldus’s relatives, including two of his elder brothers,
seized the opportunity to seek new fortunes in Ireland by participating in the Anglo-
Norman intervention prompted by the request for military help from the exiled king
of Leinster, Diarmait Mac Murchada.10 Giraldus thus came from a region of shifting
borders and also, more importantly, from a family well used to negotiating the
frontiers between natives and incomers in south-west Wales.
5 See e.g. Ralph A. Griffiths, Medieval Severnside: The Welsh Connection, in: R. R. Davies
et al. (eds.), Welsh Society and Nationhood, Cardiff 1984, pp. 70-89; Huw Pryce, In
Search of a Medieval Society: Deheubarth in the Writings of Gerald of Wales, in: Welsh
History Review 13 (1986-7) pp. 274-5.
6 Davies, Conquest (as n. 1) pp. 3-15; R. R. Davies, Frontier Arrangements in Fragmented
Societies: Ireland and Wales, in: Robert Bartlett and Angus MacKay (eds.), Medieval
Frontier Societies, Oxford 1989, pp. 77-100 (quotation at p. 80).
' On Dyfed, see Rowlands (as n. 1) and Pryce, Deheubarth (as n. 5). Of the extensive
secondary literature on Gerald, see especially Michael Richter, Giraldus Cambrensis, 2nd
edn, Aberystwyth 1976; Robert Bartlett, Gerald of Wales 1146-1223, Oxford 1982.
8 Giraldus, Opera 6 p. 91.
9 A. J. Roderick, Marriage and Politics in Wales, 1066-1282, in: Welsh History Review 4
(1968-9) pp. 4-8, 11-12.
10 Marie Therese Flanagan, Irish Society, Anglo-Norman Settlers, Angevin Kingship: Inter-
actions in Ireland in the Late Twelfth Century, Oxford 1989, pp. 140-53.
46
Giraldus’s life can be summarized as follows." As the fourth and youngest son he
was destined for a clerical career from the beginning, receiving education initially
from his uncle, David fitz Gerald, bishop of St David’s (1148-76), before proceeding
to St Peter’s Abbey, Gloucester, and then Paris, where he remained between с. 1165
and с. 1172.11 12 After returning from the Parisian schools he obtained a legation from
the archbishop of Canterbury in 1174 to collect tithes in the diocese of St David’s;
shortly afterwards (с. 1175) he was appointed archdeacon of Brecon, having secured
the deposition of the previous archdeacon on the grounds of the latter’s marriage,
which contravened canon law. After a further period in Paris studying theology
(1176-9) Giraldus administered the diocese of St David’s for about three years on
behalf of Bishop Peter de Leia (c. 1179-82).13 The next major step in the arch-
deacon’s career was his employment as a royal clerk in the service of Henry II in
1184, a position he retained into the reign of Henry’s successor, Richard 1(1189-99).
His service as a clerk took Giraldus to Ireland in 1185-6 and on a journey with
Archbishop Baldwin of Canterbury to preach the Third Crusade in Wales in 1188, as
well as on missions in England and France. It was at this stage in his career that he
wrote the first of his important prose works, two on Ireland (the Topographia Hiber-
nica and the Expugnatio Hibernica) and two on Wales (the Itinerarium Kambriae
and the Descriptio Kambriae), thereby launching a hugely prolific literary career.
After leaving the court c. 1194 Giraldus spent further time in study, first at Hereford
and then, from с. 1196, at Lincoln, before his election as bishop of St David’s in
1199. The election was disputed, and the matter complicated by Giraldus’s reviving
the claim, first advanced by the Norman bishop of St David’s, Bernard (1115-48),
that that church should be recognized as a metropolitan see with authority over a
Welsh ecclesiastical province independent of Canterbury. Despite three journeys to
Rome to prosecute his case, by 1203 Giraldus had failed to secure either confirma-
tion of his election or the elevation of St David’s to the status of an archbishopric. He
resigned his archdeaconry in favour of his nephew and spent most of the remaining
years of his life at Lincoln, reliving his struggle for St David’s in a series of autobio-
graphical works and writing or completing a number of other books, including a
Furstenspiegel, De Principis Instructione, whose second and third books contained
a damning account of his former employer, King Henry II.14
Giraldus was not unique, of course, as an example of a cleric from Wales who
received an education in England (and in his case crucially also France) before
returning to hold ecclesiastical office in Wales. Welsh churches were poor and could
not provide a thorough grounding in the arts, let alone theology or law, available at
11 The fullest reconstruction of his life remains J. Conway Davies, Giraldus Cambrensis,
1146-1946, in: Archaeologia Cambrensis 99 (1946-7) pp. 85-108, 256-80.
12 Bartlett, Gerald (as n. 6) p. 29; Richter, Giraldus (as n. 6) p. 4 assigns Gerald’s first period
in Paris to c. 1162-74.
13 Ibid. pp. 6, 90.
14 On this last-named work, see Karl Schnith, Betrachtungen zum Spätwerk des Giraldus
Cambrensis ‘De Principis Instructione’, in: Festiva Lanx, Munich 1967, pp. 53-66; Bartlett,
Gerald (as n. 6) pp. 69-99.
47
some English centres such as Oxford, Northampton or Lincoln and, above all, Paris:
throughout the Middle Ages, Welsh students in search of advanced education had to
go to England or the Continent.1 s That they were numerous by 1169 is suggested by
Henry II’s punitive ordinance of that year expelling ‘all the Welsh in the schools in
England’.15 16 How many Welsh students subsequently returned to Wales in the twelfth
century is unknown, but to judge by the growing number of references from the
middle of the century to clerics in Wales bearing the title of magister, some certainly
did.17 In addition, a number of Welsh clerics had ecclesiastical careers in England
before returning to Wales. Thus Urban, bishop of Llandaff 1107-34, had spent time
at the church of Worcester before his consecration, while Alexander, archdeacon of
Bangor by 1188, had been a cleric in Thomas Becket’s household, acting as the
archbishop’s cross-bearer.18 Such mobility across borders in the ecclesiastical world
was of course common in medieval Europe: in the twelfth century, for example, John
of Salisbury had ended his career as bishop of Chartres, while Peter of Blois had
served as a curial clerk in Sicily earlier in his life before entering the service of
Henry II in England, where Peter held the archdeaconry of Bath.19
Giraldus is an important source for another aspect of cross-border movement by
churchmen. One of the principal complaints he made about two bishops of St
David’s, namely Peter de Leia (1176-98) and his successor Geoffrey of Henlow
(1203-14), was their habit of abandoning their church in Wales and travelling around
religious houses in England in search of hospitality.20 He claimed that they did this
for up to three or four months a year, allegedly provoking Walter Map to quip that
the bishop of St David’s had more suffragan bishops, abbots and priors than any
church in England!21 Indeed it was Peter’s preference for life in England which
provided Giraldus with the opportunity to administer his diocese in the early 1180s.
He likewise complained that Bishop Alan of Bangor in Gwynedd in north-west
Wales (1195-6) ‘fled to exile and banishment in England’ and that his successor,
15 Gwilym Usher, Welsh Students at Oxford in the Middle Ages, in: Bulletin of the Board of
Celtic Studies 16 (1954-6) pp. 193-8; Rhys Williams Hays, Welsh Students at Oxford and
Cambridge Universities in the Middle Ages, in: Welsh History Review 4 ( 1968-9) pp. 325-
61.
16 D. Whitelock, M. Brett and C. N. L. Brooke (eds.), Councils and Synods with Other
Documents Relating to the English Church. J. A.D. 871-1204, 2 vols., Oxford 1981, 2 p.
938 (c. 8).
17 Huw Pryce, Native Law and the Church in Medieval Wales, Oxford 1993, p. 76 and n. 21.
18 David Crouch, Urban: First Bishop of Llandaff, in: Journal of Welsh Ecclesiastical History
6 (1989) p. 3; Lloyd (as n. 3) 2 p. 562.
19 Cary J. Nederman (ed. and trans.), John of Salisbury: Policraticus, Cambridge 1990, pp.
xvi-xvii; Egbert Tiirk, Nugae Curialium: le règne d’Henri II Plantagenêt (1145-1189) et
l’éthique politique, Geneva 1977, Chapter 4.
20 Giraldus, Opera 1 pp. 43-4, 54, 322; 3 pp. 161,320-1, 351 ; Yves Lefèvre, R. B. C. Huy-
gens and Michael Richter (eds.), Giraldus Cambrensis: Speculum Duorum, or, A Mirror of
Two Men, trans. B. Dawson, Cardiff 1974, pp. 208-9, 212-15.
21 Giraldus, Opera 3 p. 15.
48
Robert of Shrewsbury (1197-1212/1213), was ‘a wandering exile . . . who runs to
and fro, begging at every abbey in England’.22 Admittedly exile from north Wales
might not be voluntary: following the collapse of Norman power in Gwynedd the
Breton Hervé had been driven from the see of Bangor towards the end of the elev-
enth century and was translated to the new see of Ely in 1109;23 Godfrey, bishop of
St Asaph, was forced to flee to England after the failure of Henry II’s last campaign
against the Welsh in 1165 and was made the administrator of St Albans Abbey by the
king;24 while, in the thirteenth century, Bishop Richard of Bangor (1237-67) spent
much of his episcopate at St Albans owing to conflicts with the native prince of
Gwynedd.25 Nevertheless, the fundamental reason why bishops in Wales sought
monastic hospitality in England was that the Welsh bishoprics were poorly endowed
and could only with difficulty support an episcopal household. Indeed Giraldus
claimed that his own benefices in England in the early thirteenth century were worth
100 marks a year, whereas if he had been appointed bishop of St David’s he would
have had to make do with an income of only 20 marks a year.26
It is also possible to find examples of other men of Welsh origin or background who
carried out diplomatic functions in Wales on behalf of the English crown. Thus both
the dean of Swansea and Bishop Reiner of St Asaph (1186-1224) were employed, in
addition to Giraldus, to try and keep the peace early in the reign of Richard I.27
Furthermore, some men living along the Anglo-Welsh border served English kings
by undertaking military and diplomatic duties in Wales. The earliest clear evidence
for the employment of such individuals appears in Domesday Book (1086), which
states that in the time of Edward the Confessor (1042-66) it was the duty of the
priests of the king’s three churches in Archenfield, the Welsh-speaking region of
western Herefordshire, to take royal messages into Wales. In addition, the men of the
district served as the vanguard on royal expeditions into Wales and the rearguard on
22 W. S. Davies (ed.), Giraldus Cambrensis: De Invectionibus, in: Y Cymmrodor 30 (1920)
pp. 95, 96; translation from H. E. Butler (ed. and trans.), The Autobiography of Giraldus
Cambrensis, London 1937, p. 213. Bishop Robert held land in Kingsland, Shropshire c.
1210-12: Hubert Hall (ed.), The Red Book of the Exchequer, 3 vols. (Rolls Series), Lon-
don 1896, 2 p. 511.
23 A. W. Haddan and W. Stubbs (eds.), Councils and Ecclesiastical Documents Relating to
Great Britain and Ireland, 3 vols., Oxford 1869-78, 1 pp. 299, 303-5; N. E. S. A. Hamilton
(ed.), Willelmi Malmesbiriensis Gesta Pontificum (Rolls Series), London 1870, pp. 325-6.
24 Lloyd (as n. 3)2pp. 520 n. 127, 558.
25 Henry Richards Luard (ed.), Matthaei Parisiensis, Monachi Sancti Albani, Chronica Majora
(Rolls Series), 7 vols., London 1872-84, 5 pp. 602, 608-9; cf. David Stephenson, The
Governance of Gwynedd, Cardiff 1984, pp. 169-73.
26 Giraldus, Opera 3 p. 131.
27 Doris M. Stenton (ed.), The Great Rolls of the Pipe for the Third and Fourth Years of King
Richard the First, Pipe Roll Society 40, n. s. 2 (1926), p. xx; Doris M. Stenton (ed.), The
Great Roll of the Pipe for the Fifth Year of King Richard the First, Pipe Roll Society 41, n.
s. 3 (1927), pp. xiii-xiv.
49
their return.28 29 Further north, along the Shropshire border, two families were promi-
nent as agents of royal business in Wales from the reign of Henry II onwards. By
1160 Iorwerth Goch, younger brother of Madog ap Maredudd, the king of Powys
who died in that year, held the fief of Sutton in Shropshire from Henry II ‘by the
service of being interpreter (latimarius) between the English and the Welsh’, a
serjeanty inherited by Iorwerth’s sons and grandsons. After the manor was alienated
to John Le Strange in the 1260s, however, the service changed to that of conducting
the king in Wales in time of war.2g Likewise the Welshman Roger of Powys held
Overton Castle in Flintshire and Whittington Castle, Shropshire, from Henry II by
the serjeanty of ‘bearing the king’s mandates throughout Wales’, a tenure inherited
by Roger’s son, Meurig—who was also required to lead the men of Powys to the
royal court—and then by Roger’s grandson, Goronwy; that this service included
acting as an interpreter is made explicit in a source of c. 1211,30
Giraldus, it is true, was no interpreter — a role ruled out by his very limited
knowledge of Welsh — nor did he owe diplomatic services to the English crown by
virtue of serjeanty tenure.31 What makes him unique, however, is the extent to which
his career depended on crossing borders between Wales and England as well as the
degree to which that career is illuminated by his own voluminous writings. Ad-
mittedly, as we have seen, he also spent time in France, Ireland and Italy, but these
visits all stemmed essentially from either family connections or career interests in
Wales or England. It is true, too, that the fact that almost all we know about Giraldus
stems from his own words poses serious problems of interpretation, compelling us to
read him critically, bearing in mind the rhetorical objectives of his autobiographical
writings in particular.32 Nevertheless, the prominence he gives to the tensions arising
from his mixed ancestry and connections is revealing and his writings take us closer
to the experience of negotiating the boundaries between Wales and England than any
other medieval source. For even when allowance is made for a heavy dose of self-
justification, there can be no doubt that in its ecclesiastical as well as its political
28 [Abraham Farley (ed.)], Domesday Book, 2 vols., London 1783, 1 fo. 179b.
29 R. W. Eyton, Antiquities of Shropshire, 12 vols., London 1854-60, 2 pp. 108-20; Con-
stance Bullock-Davies, Professional Interpreters and the Matter of Britain, Cardiff 1966,
pp. 15-17; Hall, Red Book (as n. 22) 2 pp. 454, 511.
30 Bullock-Davies (as n. 29) pp. 16-17; Eyton (as n. 29) 3 pp. 105-6; 11 pp. 31-5; Hall, Red
Book (as n. 22) 2 pp. 453, 454, 511. See also Frederick C. Suppe, Military Institutions on
the Welsh Marches: Shropshire 1066-1300, Woodbridge 1994, p. 96; Frederick C. Suppe,
Who was Rhys Sais? Some Comments on Anglo-Welsh Relations before 1066, in: Haskins
Society Journal 7 (1996) pp. 63-73.
31 Cf. n. 84 below. In the journey round Wales in 1188 Alexander, archdeacon of Bangor
interpreted the sermons preaching the Third Crusade into Welsh: Giraldus, Opera 6, pp. 55,
126.
32 Cf. Bartlett, Gerald (as n. 6), p. 1; David Walker, Gerald of Wales, in: Brycheiniog 24
(1978-9) pp. 62-3. The fullest discussion of Gerald’s autobiographical writings is Georg
Misch, Geschichte der Autobiographic, 2: 2, Frankfurt a.M. 1962, pp. 1297-1479.
50
aspects Giraldus’s career depended to a considerable degree on both his Welsh and
his English connections.
Thus it was as the legate of the archbishop of Canterbury that Giraldus began his
career in the diocese of St David’s, collecting tithes, and it was the archbishop who
ordered Bishop David of St David’s to appoint Giraldus as archdeacon of Brecon
after the deposition of his married predecessor, Jordan—although the bishop was
doubtless happy to advance his nephew’s career in this way.33 Indeed, Giraldus’s
family connections made the diocese of St David’s the obvious place to demonstrate
his credentials as an ecclesiastical reformer trying to put into practice the ideals he
had absorbed so enthusiastically in the Paris of Peter the Chanter.34 Politically, it was
those family connections which made Giraldus so potentially valuable to the Ange-
vin court: it can be no accident that he was employed at precisely the time, in 1184,
when Henry II was trying to repair the détente with the Lord Rhys established in
1171-2, a détente which had been threatened by a recent rebellion by Rhys’s nephew,
Morgan ap Caradog, lord of upland Glamorgan, with the active support of Rhys
himself.35 36 Yet those connections also made Giraldus vulnerable, as he discovered
when, after Henry’s death in July 1189, he failed in his missions to restore the peace
in Wales in the face of much more serious attacks on royal and Marcher lands and
castles by Rhys and his sons. A Cistercian abbot, William Wibert, who accompanied
Giraldus on three of these missions, allegedly accused his companion of betraying
the royal cause by siding with his Welsh kinsmen.3,1 Later, however, Giraldus was
blamed by the Welsh for having the Lord Rhys and his sons excommunicated by the
bishop of St David’s; and had one of his prebends plundered as a result.37
One question which arises from an examination of Giraldus’s career is how he saw
himself in relation to England and Wales: did he identify with one country more than
the other? This question can be approached from two directions. First, we can exam-
ine Giraldus’s statements regarding his identity. These have attracted considerable
scholarly attention. Very briefly, the tendency of much work over the last three
decades has been to minimize the significance of Giraldus’s Welsh ancestry and
associations, in an understandable reaction against interpretations of him as an early
Welsh nationalist, interpretations based excessively on the autobiographical writings
33 Giraldus, Opera 1 pp. 24, 27. For Jordan, see most recently Julia Barrow (ed.), St Davids
Episcopal Acta 1085-1280 (South Wales Record Society), Cardiff 1998.1 am very grateful
to Dr Barrow for providing me with a copy of this work in advance of publication.
34 Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 27-33.
35 Cf. Lloyd (as n. 3) 2 p. 561; J. Beverley Smith, The Kingdom of Morgannwg and the
Norman Conquest of Glamorgan, in: T. B. Pugh (ed.), Glamorgan County History, Vol. 3,
The Middle Ages, Cardiff 1971, pp. 37-9; John Gillingham, Henry II, Richard I and the
Lord Rhys, in: Peritia 10 (1996) pp. 229-31.
36 Giraldus, Opera 1 pp. 203-13. Cf. Gillingham, Henry II (as n. 35) pp. 234-5 and n. 57.
Giraldus also claimed later that he had been accused by Prince John of emptying Wales of
its defenders on account of his success in recruiting troops for the Third Crusade in 1 188,
thereby handing it over to his Welsh kinsmen: Giraldus, Opera 1 p. 76.
37 Ibid. pp. 321,332.
51
in which Giraldus identified closely with the Welsh in order to try and explain the
failure of his attempt to become bishop of St David’s and to raise that see to metro-
politan status. In the trenchant words of Michael Richter, ‘Giraldus only became a
fervent Welshman after his hopes for a more attractive career in England had been
destroyed.’38 Likewise John Gillingham has recently urged that ‘the fact that for a
while Gerald espoused a Welsh cause should not make us call him Giraldus Cam-
brensis, no matter whether we translate it “Gerald of Wales” or “Gerald the
Welshman”. Either way it tends to identify him too emphatically with just one stage
of a career which, roughly speaking, began as pro-English, went first pro-Welsh,
then pro-French.’39
Now, it is true that in the first preface to his De Principis Instructione, written c.
1195, Giraldus claimed that by upbringing and mores he was himself English, though
his ancestry included some Welsh blood, while in one late work, De Invectionibus (c.
1216), he implied that during his time as a court clerk his chief ambition was promo-
tion to a bishopric in England.40 Nevertheless, as David Walker has warned, too
much can be made of the latter statement, and there is plenty of other evidence to
show that Giraldus, while emphatically not identifying with the native Welsh, regar-
ded Wales as his home.41 Thus he claimed in the preface to the Descriptio Kambriae
that the book was a ‘description of our Wales’ (Kambriae nostrae descriptionem)\ he
referred in an account of his writings to a map he had made of Wales, now lost, ‘to
illustrate his native soil more fully’ (ad natale solum plenius illustrandum); and in a
letter defending his Irish and Welsh works he described these as dealing with the
histories of ‘our home grounds’ (finium nostrorum).42 This did not mean, of course,
that he saw himself as Welsh. Rather, as Robert Bartlett has convincingly argued,
Giraldus’s principal secular identity was as a member of the ethnically mixed Mar-
cher families of south-west Wales, that is, with a group which was neither fully
Norman or English nor fully Welsh, but combined the best of both worlds.43 This
brings us to the second—and in my view more fruitful—approach to the question of
Giraldus’s attitude towards England and Wales, namely a consideration of his family
background and his career.
38 Richter, Giraldus (as n. 6) p. 127; see also ibid. pp. 2, 10, 87, 94, 117-18; Bartlett, Gerald
(as n. 6), pp. 9-25, 46-8, 50-7.
39 John Gillingham, The English Invasion of Ireland, in: Brendan Bradshaw et al. (eds.),
Representing Ireland: Literature and the Origins of Conflict, 1534-1660, Cambridge 1993,
p. 33.
40 Giraldus, Opera 8 p. Iviii; Davies, De Invectionibus (as n. 22) p. 213, cited by Richter,
Giraldus (as n. 6) p. 87.
41 David Walker, Cultural Survival in an Age of Conquest, in: Davies et al. (eds.) (as n. 5) p.
48 n. 41. Cf. F. M. Powicke, Gerald of Wales, in: Bulletin of the John Rylands Library 12
(1928) p. 393: ‘The main preoccupation of his life was found in Wales, and especially in
the bishopric of St David’s, where his home and connexions were.’
42 Giraldus, Opera 6 p. 155; 1 pp. 414-15; Lefèvre et al., Speculum Duorum (as n. 20) pp.
172-3.
43 Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 20-5.
52
Even the most cursory examination of Giraldus’s family shows that it was firmly
based in south Wales, and Dyfed in particular, albeit with further footholds across the
Irish Sea after 1169. True, probably shortly before 1160 Giraldus’s father, William
de Barri, made a grant to the Hospitallers of land in Rackenford, a manor in Devon
belonging to the honour of Okehampton.44 It may well be significant that the lords of
Okehampton, William fitz Baldwin (d. 1096) and later his brother Richard (d. 1137),
sought to establish themselves in eastern Dyfed at the end of the eleventh and begin-
ning of the twelfth centuries: although these attempts were ultimately unsuccessful,
they may provide a context for the arrival in Dyfed of William de Barri’s father,
Odo.45 Whether the family held any land in Devon after William’s grant to the
Hospitallers is unknown, however.46 That it retained some links across the Bristol
Channel is suggested by the foundation by Giraldus’s eldest brother, Philip (d. c.
1199), of a guesthouse at Manorbier, which lay on the sea-route between Milford
Haven in Pembrokeshire and a port in Devon (possibly Barnstaple).47 Unfortunately,
we can only guess how far this act of piety was prompted by the family’s associa-
tions with Devon. Giraldus chose to say nothing about the English background of his
father’s family, emphasizing instead its power in south Wales and claiming that its
name derived from Barry Island, thereby implying a connection with the de Bams
44 F. W. Weaver (ed.), A Cartulary of Buckland Priory in the County of Somerset, Somerset
Record Society 25 (1909), pp. 159-61 (nos. 386-9); Barrow, St Davids Acta (as n. 33) no.
28 and n. On the honour of Okehampton, see William Page (ed.), The Victoria County
History of the County of Devon, Vol. 1, London 1906, pp. 554-5; I. J. Sanders, English
Baronies: A Study of their Origin and Descent 1086-1327, Oxford 1960, pp. 69-70.
45 Cf. Lloyd (as n. 3) 2 pp. 401,415, 427. The Devon background of a number of families
prominent in the Norman settlement in Dyfed is pointed up in Rowlands (as n. 1) pp. 149-
50. William de Barri owed a relief of £10 for his father’s estate in the 1130 Pipe Roll:
Joseph Hunter (ed.), Magnum Rotulum Scaccarii, vel Magnum Rotulum Pipae, de Anno
Tricesimo-Primo Henrici Primi, London 1833, p. 137.
46 None of the tenants of the honour of Okehampton in 1166 corresponds obviously to
William de Barri or to any other member of his family: Hall, Red Book (as n. 22) 1 pp.
251 -4. It is worth noting, though, that a Reiner de Barri was a tenant of Warm de la Haule,
lord of Bampton in Devon: ibid. p. 257; cf. Sanders (as n. 44) p. 5. Giraldus’s kinsman
(possibly uncle), William fitz Hay, lord of St Clears in Dyfed, may also have held land in
Devon, if he is the same as the man of that name listed as a tenant of William fitz Robert,
lord of Great Torrington, in 1166: Hall, Red Book (as n. 22) 1 p. 256; Giraldus, Opera 1
pp. 28, 59; cf. Lloyd (as n. 3) 2 p. 502 and n. 64; Sanders (as n. 44) p. 48. The identifica-
tion is arguably supported by the later connections between St Clears and Great Torrington
revealed by the grants of lands in the former lordship by William fitz Robert’s son, John,
lord of Great Torrington 1 185-1203, to the Cistercian abbey of Whitland: William Dugda-
le, Monasticon Anglicanum, revd. edn. by John Caley et al., 6 vols. in 8, London 1817-30,
5 p. 591; cf. Rowlands (as n. 1) pp. 149, 150. I would like to thank Professor Frank
Barlow, Dr Julia Barrow and Dr Robert Bearman for their helpful answers to my queries
regarding the de Barris’ connections with Devon.
47 Davies, De fnvectionibus (as n. 22) p. 229.
53
who held land in Glamorgan,48 and this disregard of the family’s landholding across
the Bnstol Channel is probably an accurate of reflection of its position by Giraldus’s
lifetime. In common with their Marcher kinsmen, to whom they were related through
Nest, the de Barris of Dyfed had planted deep roots in south-west Wales, where they
represented prime examples of ‘the local magnates, the men on the spot’.49
Giraldus therefore had a strong interest in the continuation of Marcher power in
Wales and did not sympathize with native Welsh political aspirations. He sharply
distinguished his Cambro-Norman kinsmen—the ‘Geraldines’ or ‘sons of
Nest’—from his Welsh relatives in the dynasty of Deheubarth, and also wrote that
Wales belonged to the kingdom of England.50 This did not mean, though, that he
needed to be ashamed of his Welsh blood: quite the contrary, this arguably gave him
greater nobility than did his paternal descent, for whereas his mother was a descen-
dant of a Welsh king his father belonged to a minor branch of the de Barris and
possessed only a modest estate, possibly only two knights’ fees, in Dyfed.51 Welsh
nobility could be appropriated by the conquerors just as easily as the sanctity of
Welsh saints, not least St David himself, whose name was invoked by Giraldus’s
kinsmen during the invasion of Ireland.52 Equally, Giraldus had a somewhat uneasy
relationship with the English crown, which, especially after the Anglo-Norman
intervention in Ireland, was highly suspicious of the Marchers and did not, in
Giraldus’s view, properly appreciate their role in subduing both the Welsh and the
Irish.53 His identification with Wales was thus essentially a colonialist one: it repre-
sented an assertion of control over a half-conquered country, a statement that a land
which had once belonged to the Welsh now belonged in part—and in due course,
Giraldus hoped, would belong in full—to families like his own.
Let us look next at where Giraldus’s career took him and try to assess what this
implies about his attitudes to England and Wales. To judge by his autobiographical
writings, his life-long ambition was to become bishop of St David’s and to elevate
that church to an archbishopric. As has often been pointed out, however, the events
of his life suggest otherwise.54 Another interpretation of his life would be that Giral-
dus sought to exploit his Welsh connections in order to win favour and promotion
from the Angevin regime in England. He made his debut as an ecclesiastical refor-
mer in the diocese of St David’s and clearly took his duties as archdeacon of Brecon
seriously. However, as we have seen, this depended on cultivating the archbishop of
Canterbury; furthermore, Giraldus seems to have deputed much of his work as
48 Giraldus, Opera 6 p. 66, Davies, Giraldus (as n. 11) p. 86.
49 Rowlands (as n. 1) p. 145. See also Flanagan (as n. 10) pp. 145-9.
50 Giraldus, Opera 1 pp. 58-60; 3 p. 166.
51 Bartlett, Gerald (as n. 6) p. 20 and n. 43. Cf. T. M. Charles-Edwards, Early Irish and
Welsh Kinship, Oxford 1993, p. 174, which argues that, in Welsh society, royal status
could be transmitted exclusively through females.
52 Rowlands (as n. 1) p. 156.
53 Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 21-5.
54 See e.g. Richter, Giraldus (as n. 6) p. 127, Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 46-8.
54
archdeacon to officials, and was himself absent from the archdeaconry for most of
the three decades he held the office.55 The preaching tour round Wales in 1188
resulted in the first book ever written about Wales, the Itinerarium Kambriae, an
invaluable portrait of the country which complements the more analytical and ethno-
graphical Descriptio Kambriae completed in 1 194.56 To judge by the number of
surviving manuscript copies, these, together with his Irish works, were the most
popular of Giraldus’s writings in the Middle Ages and those on Wales are the best
known today.57 However, it is important to remember that in 1188 Giraldus was not
only a royal clerk sent to accompany Archbishop Baldwin by the chief justiciar,
Rannulf de Glanvill, but also thereby an implicit supporter of Canterbury’s authority
over the Welsh Church, an authority unequivocally asserted during the journey by
Baldwin’s celebrating mass at each of the four Welsh cathedrals.58 * Furthermore, the
literary representation of the journey was probably in part intended as a memorial to
Baldwin, who died on crusade in 1190, and its first edition was dedicated to William
Longchamp, bishop of Ely and chief justiciar; the first edition of the Descriptio
Kambriae was dedicated to Hubert Walter, archbishop of Canterbury.54 Just as the
Irish works had been dedicated to Henry II and Richard,60 so those on Wales were
clearly intended by Giraldus to win the favour of the Angevin establishment. He
wrote for an audience in England, not Wales. What is unclear, however, is in which
of those two countries he sought his reward.61
If this evidence is ambiguous regarding Giraldus’s ultimate ambition, it does under-
line how’ far he sought to forge and benefit from connections with the authorities of
Angevin England. His writings suggest, in addition, that Giraldus felt at ease in
certain ecclesiastical circles in England, much more so, indeed, than with what he
considered to be the immoral and corrupt Church in Wales. It was in Oxford that he
chose to deliver a public reading, over three days, of his Topographia Hibernica in
1187 or early 1 188.62 He also knew Walter Map, archdeacon of Oxford—whom he
55 Walker, Gerald (as n. 32) pp. 67-8.
56 Both are printed in Giraldus, Opera vol. 6. For comment, see Thomas Jones, Gerald the
Welshman’s ‘Itinerary through Wales’ and ‘Description of Wales’: An Appreciation and
Analysis, in: National Library of Wales Journal 6 (1949-50), pp. 117-48, 197-222; Bartlett,
Gerald (as n. 6) pp. 178-210,
The manuscripts containing Giraldus’s writings are listed ibid. pp. 213-21.
58 Giraldus, Opera 6 p. 105.
>9 Huw Pryce, Gerald’s Journey through Wales, in: Journal of Welsh Ecclesiastical History
6 (1989) pp. 33-4; Giraldus, Opera 6 pp. xxxv, xxxix,
60 J. J. O’Meara, Giraldus Carnbrensis in Topographia Hibernica: Text of the First Recension,
in: Proceedings of the Royal Irish Academy 52 C (1948-50) p. 119; A. B. Scott and F. X.
Martin (eds.), Expugnatio Hibernica, The Conquest of Ireland, by Giraldus Carnbrensis,
Dublin 1978, pp. 20-1.
61 Cf. Walker, Gerald (as n. 32) pp. 63-4; above, pp. 52.
Giraldus, Opera 1 pp. 72-3; cf. R. W. Southern, From Schools to University, in: J. I, Catto
(ed.), The History of the University of Oxford, Vol. 1: The Early Oxford Schools, Oxford
1984, pp. 13-14.
55
was willing to consider as an alternative candidate for the see of St David’s in 1199
because ‘he has often visited Wales and dwells upon her borders’-—as well as Peter
de Leche, archdeacon of Worcester.63
However, Giraldus’s closest English connections were with two cathedral churches:
Hereford and Lincoln. He appears to have spent about two years at Hereford follow-
ing his retirement from the court in 1194 and praised it in a poem as a place of peace
and learning:64 he held a canonry there, benefiting from the patronage of Bishop
William de Vere, who sought to attract scholars to his episcopal see and who proba-
bly commissioned Giraldus to write a revised Life of the church’s patron saint,
Ethelbert.65 Giraldus donated copies of his two books on Ireland and a version of his
Speculum Ecclesie to the cathedral library and was on friendly terms with a number
of the canons, especially the scholar and poet Simon de Freine, who wrote two
poems to him.66 But it was to Lincoln that Giraldus went c. 1196 to continue his
theological studies when he was unable to travel to Pans again on account of the
renewal of hostilities between Philip Augustus and Richard I, and it was to Lincoln
that he retired c. 1208.67 With its extensive library—to which Giraldus donated
several volumes—and the company of other scholars, notably William de Montibus,
Lincoln provided a congenial environment for Giraldus and it was there that he wrote
many of his later works, including a Life of the see’s first Norman bishop, Remigius
(1067-92), in support of an unsuccessful attempt to secure his canonization, as well
as of Bishop Hugh (1186-1200), canonized in 1220.68
63 Giraldus, Opera 1 pp. 306-7; translations from Butler (as n. 22) pp. 145-6. Giraldus had
other links with Worcester through Baldwin, who had been bishop of the see (1180-4)
before his translation to Canterbury: cf. Lloyd (as n. 3) 2 p. 561 and n. 132. Note also that
Giraldus’s Vita S. Remigii included an account of Roger, bishop of Worcester: Giraldus,
Opera 7 pp. 62-7.
64 Ibid. 1 pp. 378-80.
65 Dorothy Humphreys, Some Types of Social Life as Shown in the Works of Gerald of
Wales, unpublished Oxford University B.Litt. thesis, Oxford 1936, pp. 139-96; Julia
Barrow, A Twelfth-Century Bishop and Literary Patron: William de Vere, in: Viator 18
(1987) pp. 184-6. Another canon of St David’s, Reginald Foliot, was also a member of
Bishop William’s household: ibid. p. 1 84.
66 Giraldus, Opera 1 pp. 382-4, 409. See also ibid. pp. 249, 268-71, 334-5; Lefèvre et al.,
Speculum Duorum (as n. 20) pp. 157-67; and cf. R. W. Hunt, English Learning in the Late
Twelfth Century, in: R. W. Southern (ed.), Essays in Medieval History, London 1968, pp.
121-2.
6' Giraldus, Opera 1 p. 93; Richard M. Loomis (ed.), Gerald of Wales (Giraldus Cambrensis):
The Life of St. Hugh of Avalon, Bishop of Lincoln 1186-1200, New York/London 1985,
pp. xv-xviii.
68 Humphreys (as n. 65) pp. 197-232; H. Mackinnon, William de Montibus: A Medieval
Teacher, in: T. A. Sandquist and M. R. Powicke (eds.), Essays in Medieval History Presen-
ted to Bertie Wilkinson, Toronto 1969, pp. 32-45; Loomis, Life of St. Hugh (as n. 67);
David M. Smith (ed.), English Episcopal Acta I: Lincoln 1067-1185, London 1980, p
xxxi. Giraldus also held the living of Chesterton in the diocese from c. 1190: Davies,
Giraldus (as n. 11 ) p. 89 n. 12.
56
Giraldus was also drawn into political affairs in England. As a curial clerk this was
arguably inevitable, but it can be argued that he was imprudent in the degree to
which he advertised his political allegiances.69 In his autobiography, De Rebus a Se
Gestis, Giraldus is reticent about his reasons for leaving the court, maintaining that
his departure was due to his realizing the incompatibility between the courtier’s and
the scholar’s life.70 As we have seen, he had fallen victim to malicious rumours of
disloyalty spread by William Wibert, who asserted that Giraldus conspired with his
Welsh kinsmen in Deheubarth against the crown. Giraldus attributed his difficulties
at court to Wibert, but the crucial reason for his departure may well have been that he
was caught on the wrong side of the constitutional crisis which blew up during
Richard I’s absence on crusade and subsequent imprisonment in Germany.71 During
that absence Giraldus appears to have become associated with Richard’s younger
brother, Prince John, whom he had accompanied to Ireland in 1185; John apparently
offered Giraldus the bishopric of Llandaff, which lay within the lordship of Glam-
organ (held by John at that time), an offer which was refused.72 By October 1191
John had succeeded in engineering the expulsion of his brother’s chief justiciar,
William Longchamp, and had taken over as regent in his place.73 In c. 1193 Giraldus
wrote a life of Geoffrey, archbishop of York, an illegitimate son of Henry II, which
was extremely hostile to Longchamp (to whom, two years earlier, Giraldus had
dedicated his Itinerarium Kambriae) as well as to Hubert Walter, thereby revealing
his allegiance to John’s party.74 The following year, however, Richard was released
from his German captivity, Longchamp was restored, and John was compelled to
submit to his brother’s authority. Despite the further volte-face represented by the
dedication of the Descriptio Kambriae to Hubert Waiter, it is very likely that Ri-
chard’s return ended Giraldus’s curial career.75 There then developed a growing
disenchantment with the Angevin dynasty, which reached its apogee in 1216-17,
when Giraldus wrote a poem welcoming Prince Louis of France on the latter’s
invasion of England at the request of a baronial faction hostile to John.76 Giraldus’s
connections and preoccupation with Wales did not prevent him, then, from engaging
with political events in England,
What attracted Giraldus to Hereford and Lincoln were their libraries and the presence
of other scholars. For Giraldus the scholar, England possessed intellectual as well as
69 Richter, Giraldus (as n. 6) p. 86.
70 Giraldus, Opera 1 p. 89. This dichotomy had previously been emphasized by John of
Salisbury in his Policraticus of 1159: Nederman, Pohcraticus (as n. 19) p. 4.
71 Richter, Giraldus (as n. 6) pp. 84-7; Michael Richter, Gerald of Wales, in: Traditio 29
(1973) pp. 383-4; Gillingham, Henry II (as n. 35) p. 235 n. 57.
72 Giraldus, Opera 1 pp. 61,87.
11 J. T. Appleby, England without Richard 1189-1199, London 1965, Chap. 3.
74 Giraldus, Opera 4 pp. 355-431.
75 Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 64-5. Dimock dated the completion of the Descriptio, and
hence its dedication to Hubert, to the beginning of 1194: Giraldus, Opera 6 p. xxxiv.
76 Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 91-9.
57
material resources which Wales lacked.77 The situation had been different in the early
Middle Ages; in the late ninth century the Welshman Asser was employed by King
Alfred as part of the king’s attempt to revive learning in Wessex, returning to his
native church of St David’s for six months of each year, and Welsh books were
imported into Anglo-Saxon libraries in the following century.78 However, by the
twelfth century Wales was far more peripheral than England to the new intellectual
culture centred on the schools of northern France,79 Thus it was that the works in
which Giraldus most self-consciously identified himself with Wales, the autobiogra-
phical De Rebus a Se Gestis, the De Jure et Statu Menevensis Ecclesie, and the De
Invectionibus, were written in the English cathedral town of Lincoln.
Yet during his years in Lincoln Giraldus’s connections with Wales were not re-
stricted to writing about the past. He remained in touch with the diocese of St
David’s, primarily as a result of the (somewhat irregular) arrangement made in 1203
with the approval of Pope Innocent III, whereby Giraldus had resigned his arch-
deaconry of Brecon to his nephew, Gerald, younger son of his brother Philip de
Barri.80 The nephew, aided and abetted by William de Capella, a tutor provided by
Giraldus, was accused by his uncle of betrayal and in particular of depriving Giraldus
of various revenues to which, according to the agreement, he was entitled.81 The
result was that Giraldus not only wrote to condemn the nephew and his tutor, to-
gether with Bishop Geoffrey of St David’s, but sent messengers and even agricultural
labourers and gardeners to Brecon to try to protect his interests there.82 * Giraldus
remained concerned to improve standards in the Welsh Church, and urged Arch-
bishop Stephen Langton to visit, or send deputies, to Wales every two or three years
to eliminate its barbarous mores Even if most of his time was spent in England,
Giraldus could not forget about Wales and, above all, sought in his writings to justify
his actions as bishop-elect of St David’s.
How, in conclusion, should we assess the significance of Giraldus as Grenzgänger?
In important respects his career illustrates the kinds of cross-border connections
which resulted from Norman settlement and domination in Wales. As a Marcher he
was a subject of the English king and identified with English and French culture,
even if his family appears to have held no substantial lands in England. In addition
77 Cf. Richter, Giraldus (as n. 6) p. 94.
8 W. H. Stevenson (ed.), Asser’s Life of King Alfred, new impression, Oxford 1959, pp. 64-
5 (c. 79); David N. Dumville, English Square Minuscule Script: The Background and
Earliest Phases, in: Anglo-Saxon England 16 (1987) pp. 159-61.
79 Cf. Denis Bethell, English Monks and Irish Reform in the Eleventh and Twelfth Centuries,
in: T. D. Williams (ed.), Historical Studies 8 (1971) pp. 111-35; Davies, Domination (as n.
3) pp. 18-20.
80 Giraldus, Opera 3 p. 325; Lefèvre et al., Speculum Duorum (as n. 20) pp. 256-7.
81 Ibid, passim.
82 Ibid. pp. 2-5.
81 Giraldus, Opera 3 pp. 113-14.
58
to Latin he spoke French and probably English, but little Welsh.84 85 At one point in his
career he was employed as a royal servant whose task it was to promote the policies
of the English crown in Wales and in other dominions of the Angevin kings. As an
ecclesiastic he benefited initially from the control established by Canterbury over the
Welsh dioceses, acting as the archbishop’s legate in the diocese of St David’s, even
if for a brief period later, from 1199 to 1203, he sought to gain papal recognition of
the status of St David’s as the metropolitan see of an independent Welsh province.
As his failure in the St David’s case showed, his ecclesiastical ambitions in Wales
could only be fulfilled with the consent of the crown and of Canterbury, such was
their authority over the Welsh bishoprics, especially in south Wales.
Yet if Giraldus offers an example of a cross-border career in a colonialist context, he
also reveals, uniquely perhaps, the tensions which could arise as a result of trying to
pursue such a career. As he himself complained shortly after his departure from the
court, he was too Welsh for the English, too English for the Welsh: ‘both peoples
regard me as a stranger and one not of their own . . . one nation suspects me, the
other hates me’,8i Giraldus belonged to an ethnically hybrid group which in its
marriages and social links had effectively broken down some of the barriers separa-
ting native and settler societies in south-west Wales, at least at the aristocratic level.
However, his position was further complicated by his excellent education and his
commitment both to scholarship and to ecclesiastical reform. It was these elements
which drew him closer to England than was the case with his lay kinsmen, or even
his uncle, David fitz Gerald, bishop of St David’s, who lacked Giraldus’s scholarly
bent and, far from promoting ecclesiastical reform, alienated church lands as dowries
for his daughters.86 This suggests in turn that to talk in terms of a career that tra-
versed a geographical border is an oversimplification: it would be more accurate to
regard Giraldus as a man who crossed cultural frontiers which corresponded, in part,
to those dividing England and Wales. Above all else, Giraldus was a scholar and
writer, most at home in the company of highly educated clerics like himself.87 Thus
what he most liked about England were the opportunities it provided to rub shoulders
with men whose intellectual formation, like his, was deeply indebted to the learning
of France. One of the things that was unusual about him, however, was that he chose
to capitalize upon his own distinctive background and experience in works which
sought to make Wales (and Ireland) familiar to an English audience.
Nevertheless, while Giraldus’s most original writings were his books on Ireland and
Wales, he also wrote about bishops, saints and political events in England. His
84 Bartlett, Gerald (as n. 6) pp. 14-15; Michael Richter, Studies in Medieval Language and
Culture, Blackrock, Co. Dublin 1995, pp. 137-8.
85 Cited by Bartlett, Gerald (as n. 6) p. 17 from Giraldus, Opera 8 p. lviii. Cf. the comment
on this passage in Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters
(Schriften der MGH 2), Leipzig 1938, p. 144: ‘Der Waliser Girald, der als Engländer
aufgewachsen ist, findet nirgends mehr eine heimatliche Aufnahme.’
86 Michael Richter, A New Edition of the So-called Vita Dauidis Secundi, in: Bulletin of the
Board of Celtic Studies 22 (1966-8) p. 248; cf. Pryce, Deheubarth (as n. 5) pp. 275-6.
87 Thus, for example, Türk (as n. 19), p. 95; Walker, Cultural Survival (as n. 41) p. 48.
59
interests as an author were by no means exclusively Celtic. Indeed, even when
composmg the ltinerarium Kambriae he had already begun writing a major political
work, the De Principis Instructione, focused primarily on the reign of King Henry II,
as well as the Speculum Ecclesiae, a wide-ranging critique of the Church and es-
pecially the religious orders, both of which were finally completed only in retirement
in Lincoln (in c. 1217 and c. 1220 respectively).88 The diversity of his literary output
reflects his ability to encompass the two worlds represented by Wales and England.
Indeed, his adoption of the role of author and scholar can be seen, to a significant
degree, as a creative response to the difficulties he encountered in crossing the
boundaries between those worlds. Sensitive to the conflicts inherent in Anglo-Welsh
relationships, Giraldus’s own life is a remarkable testimony to one individual’s
attempt to transcend ethnic and cultural borders in medieval Europe.
88 Giraldus, Opera 6 pp. 47, 53; Bartlett (as n. 6) pp. 219-20.
60
Michael Obenveis
“KETZERBOTEN” ALS GRENZGÄNGER. KATHARISCHE MISSIONARE
auf der Flucht vor inquisitorischer Verfolgung
1. Die Wahrnehmung von Grenzgängern in mittelalterlichen Quellen
Im Jahre 1022 wurde in der französischen Bischofsstadt Orléans eine Häresie ent-
deckt, zu deren Anhängern vornehme Laien und hochrangige Domkleriker zählten.
Mit einer dem Mittelalter bis dahin unbekannten Radikalität leugneten die Sektierer
fundamentale Glaubensinhalte wie Jungfrauengeburt, sakramentale Sündenverge-
bung und eucharistische Gegenwart Christi.1 Daß sich sogar Mitglieder der königli-
chen Hofkapelle1 2 zu den ketzerischen Lehren bekannten, wurde als besonders skan-
dalös empfunden, und entsprechend mühevoll suchten die Geschichtsschreiber des
11. Jahrhunderts nach plausiblen Erklärungen. Der Cluniazenser Radulf Glaber kol-
portiert in seinen Historiae das Gerücht, eine vom Teufel besessene Italienerin habe
jene “wahnsinnige Häresie” nach Frankreich gebracht und gerade in Orléans, wo sie
sich eine Zeitlang aufhielt, viele mit dem “Gift ihrer Bosheit” infiziert.3 Davon ab-
weichend, aber nicht minder unglaubwürdig behauptet die Chronik Ademars von
Chabannes, die inkriminierten Kanoniker seien von einem Bauern (a quodam rusti-
co), der sich als Wundertäter ausgab, getäuscht und zu “Manichäern” gemacht wor-
den.4 Eine variierende Lesart, wohl von Ademar selbst herrührend, fugt die Her-
kunftsangabe Petragoricensi hinzu,5 läßt den Bauern also aus dem Périgord stam-
1 Über die Vorgänge in Orléans informiert ausführlich Renate Gorre, Die Ketzer im 11. Jahr-
hundert: Religiöse Eiferer - Soziale Rebellen? Zum Wandel der Bedeutung religiöser Welt-
bilder (Konstanzer Dissertationen 4), Konstanz 1982, S. 56-119. Vgl. daneben Heinrich
Fichtenau, Die Ketzer von Orléans (1022), in: Ex ipsisrerum documentis. Beiträge zur Me-
diävistik (Festschrift für Harald Zimmermann), hg. v. Klaus Herbers, Hans Henning Kor-
tüm u. Carlo Servatius, Sigmaringen 1991, S. 417-427.
2 Einer der zum Feuertod verurteilten Geistlichen hatte zeitweilig als Beichtvater Konstan-
zes, der Gemahlin König Roberts des Frommen (996-1031), fungiert.
3 Fertur namque a muliere quadam ex Italia procedente hec insanissima heresis in Galliis
habuisse exordium ... Que scilicet veniens civitatem Aurelianensem dum moraretur ibiper
aliquod spacium temporis, veneno sue nequitie plures infecit. Rodulfi Glabri Historiarum
libri quinque, edited and translated by John France (Oxford Médiéval Texts), Oxford 1989,
S. 138 (111,8.26).
4 Adémar de Chabannes, Chronique, ed. Jules Chavanon (Collection de textes pour servir à
l’étude et à l’enseignement de l’histoire 20), Paris 1897, S. 184 (111,58).
5 Chavanon verweist den Zusatz in den textkritischen Apparat (ebd., Fußn. b) und kennzeich-
net ihn damit als Interpolation von fremder Hand. Nach neueren Forschungen handelt es
sich jedoch bei der betreffenden Rezension des Chronicon um eine von Ademar selbst über-
arbeitete Neufassung; s. dazu Richard Allen Landes, Relies, Apocalypse, and the Deceits of
History. Ademar of Chabannes, 989-1034, Cambridge (Mass.)/London 1995, S. 217-221.
61
men. So sehr die Angaben beider Chronisten inhaltlich differieren, so unverkennbar
liegt ihnen der gleiche, psychologisch einleuchtende Abwehrreflex zugrunde: In den
Augen der Rechtgläubigen erschien das ketzerische Gedankengut als wesensfremd,
und diese beunruhigende Fremdheitserfahrung wurde gleichsam apotropäisch in den
geographischen Raum projiziert. Daß ausgerechnet im königlichen Residenzort
Orléans eine so gefährliche Irrlehre entstanden sein sollte, war für Radulf wie für
Ademar ein unerträglicher Gedanke; beschönigend - fast entschuldigend - wirkt da-
her die Feststellung, die Saat des Bösen sei von Auswärtigen in die Stadt emge-
schleppt worden. Schon in der frühen Christenheit waren ähnliche Argumente ver-
breitet: Der “wahre” Glaube galt denen, die sich auf apostolische Tradition beriefen,
als das Bodenständige und Ursprüngliche, die Häresie dagegen als etwas von außen
in die Gemeinschaft Hineingetragenes.6
Obwohl es sich bei der umherziehenden Italienerin ersichtlich um eine historiogra-
phische Fiktion handelt, wäre es voreilig, Radulfs Erklärungsversuch als völlig wert-
los abzutun. Denn schwerlich hätte er zu solcher Legendenbildung seine Zuflucht ge-
nommen, wenn der geschilderte Hergang nicht zumindest theoretisch im Bereich des
Möglichen gelegen hätte. Radulfs Ketzerpolemik verweist somit indirekt auf Formen
räumlicher Mobilität, deren Vorhandensein aus anderen zeitgenössischen Quellen
nicht zu erschließen ist: Immerhin sind italienische Händler, wie Heinrich Fichtenau
hervorhebt, im nördlichen Frankreich nicht vor 1076 bezeugt.7
Für die Erforschung mittelalterlichen Grenzgängertums sind diese Beobachtungen
nicht ohne Belang. Denn den Typus des Grenzgängers wird man im Sinne moderner
Definitionen vorwiegend der Lebenssphäre der “kleinen Leute” zuzuordnen haben,
und deren Existenzbedingungen lagen üblicherweise außerhalb des Wahmehmungs-
bereichs der mittelalterlichen Schriftquellen. Anders aber verhielt es sich, sobald der
Verdacht der Häresie ins Spiel kam. Aufgrund des tradierten Postulats der “Wach-
samkeit”8 (und im wohlverstandenen Eigeninteresse) waren die kirchlichen Behör-
den in derartigen Fällen zu gründlicher Recherche und Dokumentation verpflichtet.
Zwar mag es sich bei Ademars rusticus um eine bloße Mystifikation handeln, um ei-
nen Topos publizistischer Ketzerbekämpfung. Wenn es jedoch galt, eine im Volk
verwurzelte Häresie zielgerichtet auszumerzen, konnte man sich nicht mit der Repro-
duktion überkommener Stereotypen begnügen. So entwickelte die Inquisition des
13./14. Jahrhunderts im Languedoc Befragungsmethoden, die in ihrem Ergebnis ein
bemerkenswert detailreiches Bild der ländlichen Lebensverhältnisse vermitteln. Wie
minutiös sich anhand einschlägiger Vemehmungsprotokolle der bäuerliche Alltag
6 Daß diese ideologisch gefärbte Sichtweise nicht immer mit den historischen Fakten in Ein-
klang zu bringen ist, zeigte erstmals der Neutestamentler Walter Bauer, Rechtgläubigkeit
und Ketzerei im ältesten Christentum (Beiträge zur historischen Theologie 10), Tübingen
21964.
7 Heinrich Fichtenau, Ketzer und Professoren. Häresie und Vemunftglaube im Hochmittelal-
ter, München 1992, S. 25.
8 Schon der Apostel Paulus betrachtet die Häresie als eine Herausforderung, der gegenüber
sich der Rechtgläubige zu bewähren habe: Nam oportet et haereses esse, ut et qui probati
sunt, manifesti fiant in vobis (1. Kor 11,19 in der Fassung der Vulgata).
62
um 1300 rekonstruieren läßt, hat Emmanuel Le Roy Ladurie in seiner Monographie
über das Pyrenäendorf Montaillou9 gezeigt.
Die Heranziehung inquisitorischen Aktenmaterials provoziert freilich zugleich einen
naheliegenden Einwand: Darf man als Historiker vorbehaltlos auf Niederschriften
vertrauen, die von entschiedenen Ketzergegnem veranlaßt wurden? Ist überhaupt
denkbar, daß die Aussagen der Verfolgten ohne tendenziöse Entstellungen festgehal-
ten wurden? Das gelegentlich vorgebrachte Argument, der für Montaillou zuständige
Inquisitor, Jacques Foumier, sei ohne das Instrument der Folter ausgekommen,10 11
reicht jedenfalls nicht aus, um die Glaubwürdigkeit der Protokolle zu erweisen. Es ist
zur Genüge bekannt, daß die befragten Zeugen und Angeklagten unter erheblichem
psychischem Druck standen, der das jeweilige Aussageverhalten nicht weniger stark
beeinflußt haben dürfte als direkte Gewaltanwendung. Was andererseits entschei-
dend für die Akkuratheit der inquisitorischen Ermittlungen spricht, ist das erklärte
Ziel einer möglichst effizienten Ketzerbekämpfung. Beispielhaft dafür ist die Vorge-
hensweise des schon erwähnten Jacques Foumier, des seinerzeitigen Bischofs von
Pamiers (1317-1326) und späteren Papstes Benedikt XII. (1334-1342).11 Wie die
meisten Avignoneser Päpste war er ein ausgewiesener Verwaltungsexperte; sein spe-
zielles Interesse galt demgemäß den Organisationsformen der verfolgten Katharer,
ihren Kommunikationsstrukturen, ihren Flucht- und Reisewegen, kurz: ihrer gesam-
ten Logistik. Um derartige Erkenntnisse zu gewinnen, bedurfte es einer differenzier-
ten und einfühlsamen Befragung; an der Aufzeichnung erpreßter Falschaussagen
konnte dem Inquisitor wenig gelegen sein. Bei aller ideologischen Voreingenom-
menheit dürfen folglich die überlieferten Vemehmungsprotokolle, soweit sie das
Phänomen katharischen Grenzgängertums erfassen, als aufschlußreiche und im we-
sentlichen zuverlässige Quellen herangezogen werden.
Nicht nur wegen der günstigen Quellenlage erweist sich im Rahmen der skizzierten
Fragestellung der südfranzösische Katharismus als ein besonders geeignetes Unter-
suchungsobjekt. Denn abgesehen von den böhmischen Hussiten hat sich wohl kaum
eine mittelalterliche Häresie in Selbstdarstellung und Fremdwahmehmung so betont
mit einer bestimmten Region identifiziert, wie es die sogenannten Albigenser im
Languedoc taten. Zur Veranschaulichung dieses ausgeprägten Eigenbewußtseins
mag eine anekdotische Begebenheit dienen, die der Zisterzienser Petrus von Vaux-
Cemay in seiner Historia Albigensium mitteilt: Als sich der spanische Bischof Diego
von Osma 1206 in der Nähe von Montpellier aufhielt, kam es zwischen ihm und zwei
führenden Katharern zu einem achttägigen, letztlich ergebnislosen Streitgespräch.
Einer seiner beiden Kontrahenten war ein gewisser Theodoricus, der aus Frankreich
stammte (de Gallia oriundus) und in Nevers ein Kanonikat innegehabt hatte, bevor er
wegen seiner häretischen Neigungen in den Süden (adpartes ... Narbonenses) flie-
9 Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 ä 1324, Paris 1975.
10 Auf diesen Umstand beruft sich Matthias Benad, Domus und Religion in Montaillou. Ka-
tholische Kirche und Katharismus im Überlebenskampf der Familie des Pfarrers Petrus
Clerici am Anfang des 14. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 1),
Tübingen 1990, S. 1 u. 9-14.
11 Zu seiner Biographie s. Bernhard Schimmelpfennig, Art. B(enedikt) XII., in: Lexikon des
Mittelalters I (1980), Sp. 1861 f.
63
hen mußte.12 Die Katharer empfanden es, wie Petrus mißfällig kommentiert, als be-
sonderen Ruhmestitel, einen Überläufer aus der Francia in ihren Reihen zu wissen,
denn dort liege bekanntlich “der Quell der Wissenschaft und der christlichen Religi-
on”.13 Gerade weil sich diese emphatischen Worte offensichtlich dem Eigendünkel
eines “französischen” Autors verdanken, bezeugen sie die tiefe Kluft, die damals den
Norden und den Süden des heutigen Frankreich voneinander trennte - eine Kluft, die
durch die Albigenserkriege (1209-1229) gewaltsam überwunden wurde. Als letzte
Bastion der Häretiker konnte sich der schwer zugängliche Montségur bis 1244 gegen
eine feindliche Übermacht behaupten; nach der Kapitulation starben am 16. März
rund 200 katharische Bekenner auf dem Scheiterhaufen. Nicht von ungefähr zählt
eine populäre Buchreihe dieses Datum zu den “Trente journées qui ont fait la Fran-
ce”.14
Was der Fall des Montségur fur die verbliebenen Albigenser bedeutete, läßt sich nur
vor dem Hintergrund des katharischen Heilsverständnisses begreifen. Ihm lag näm-
lich eine strikte Unterscheidung von perfecti und credentes, von “Vollkommenen”
und “Gläubigen”, zugrunde.15 Nur wer das consolamentum, die katharische Geisttau-
fe, empfangen hatte, durfte sich zur Elite der perfecti zählen und konnte darauf hof-
fen, daß seine Seele nach dem Tod Erlösung finden werde. Um dieses Ziel zu errei-
chen, mußte man sich einer rigoristischen Ethik unterwerfen, die absoluten Gewalt-
verzicht, sexuelle Enthaltsamkeit und unbedingte Verpflichtung zur Wahrheit ein-
schloß. Nicht nur der Fleischgenuß war untersagt, sondern auch der Verzehr anderer
tierischer Produkte wie Milch oder Eier. Die credentes hatten demgegenüber den Sta-
tus bloßer Sympathisanten. Sie durften nach Gutdünken ihre Glaubensüberzeugun-
gen verleugnen, sogar katholische Gottesdienste besuchen und ihre Kinder taufen
lassen. Ihre einzige Heilsperspektive bestand darin, sich auf dem Totenbett durch
Handauflegung eines perfectus das consolamentum spenden zu lassen und so im Zu-
stand der Vollkommenheit zu sterben.
Nach dem 16, März 1244 verließen fast alle überlebenden perfecti das Languedoc
und gründeten Exilgemeinden in benachbarten Regionen. Ein Großteil der Verfolg-
ten floh in die Lombardei, andere suchten jenseits der Pyrenäen, in Katalonien, eine
neue Heimat. Die credentes, die sich dem Zugriff der Inquisitoren leichter entziehen
konnten, blieben mehrheitlich im Lande zurück. Auf Dauer freilich war der Fortbe-
stand katharischer Organisationsstrukturen nicht ohne den Zuspruch der perfecti zu
gewährleisten. In dieser existenzgefährdenden Situation taten sich Boten hervor, die
in riskantem Einsatz den Kontakt zwischen Exilierten und Daheimgebliebenen si-
12 Petri Vallium Samaii monachi Hystoria Albigensis, ed. Pascal Guébin/Emest Lyon, Bd. 1,
Paris 1926, S. 24-26 (c. 22); zur mutmaßlichen Identität jenes Theodoricus s. ebd., S. 25,
Fußn. 2.
13 Ebd., S. 25 f.:... quia gloriabantur se habuisse de Francia (ubi esse dinoscitur fons seiende
et religionis Christiane) sue credulitatis socium, sue nequitie defensorem.
14 Zoé Oldenbourg, Le Bûcher de Montségur. 16 Mars 1244 (Trente journées qui ont fait la
France), Paris 1959.
15 Es ist nicht klar erkennbar, ob diese Begrifflichkeit von den Katharern selbst geprägt wurde
oder eher auf den Erfassungskriterien der Inquisition basiert. In jedem Fall aber entspricht
die Unterscheidung sachlich dem katharischen Selbstverständnis.
64
cherstellten. Sie überbrachten Nachrichten und materielle Hilfeleistungen, erkunde-
ten sichere Fluchtwege und geleiteten Besucher über die Grenzen. Trotz aller Verfol-
gungsmaßnahmen sorgten sie so für die Aufrechterhaltung eines rudimentären Ge-
rne mdelebens.
Der Inquisition blieben diese Aktivitäten nicht verborgen; sie wurden unter Begriffen
wie nunciatio erfaßt und als schwerwiegendes Delikt geahndet. Nicht selten ist in den
Vemehmungsprotokollen ausdrücklich von “Ketzerboten” (nuntii haereticorum) die
Rede, Urteilssprüche heben die strafverschärfende Wirkung der Botengänge hervor.
In der Katharismus-Forschung werden jene nuntii zwar bisweilen als Grenzgänger
apostrophiert,16 eine eingehendere Würdigung ihrer Tätigkeit fehlt jedoch. Die Fülle
des zu sichtenden Materials zwingt auch den vorliegenden Beitrag zu einer exempla-
rischen Auswahl, die gleichwohl Verbreitung und Bedeutung des Gesamtphänomens
erahnen läßt.
2. Katharische perfecti im lombardischen Exil
Ein ähnlich tolerantes Milieu wie im Languedoc fanden die Katharer des 12. Jahr-
hunderts in der lombardischen Städtelandschaft vor. Schon um 1190 klagte der Mai-
länder Bonaccorsi, Städte, Vororte, Dörfer und Flecken seien “angefüllt mit Pseudo-
propheten”.17 Die polemisch zugespitzte Redeweise18 darf nicht darüber hinwegtäu-
schen, daß Bonaccorsi recht genau wußte, wovon er sprach; Er selbst war jahrelang
Anhänger der katharischen Lehre gewesen, ehe er reumütig in den Schoß der katholi-
schen Kirche zurückkehrte.
Zwischen den Katharern des Languedoc und der Lombardei bestand seit jeher ein re-
ger Austausch, der nicht zuletzt durch die traditionell engen Handelsbeziehungen
beider Regionen begünstigt wurde. Selbst während des Albigenserkreuzzugs rissen
die Kontakte nicht ab.19 Noch 1243 gelang es einem Boten aus Cremona, zum bela-
gerten Montsegur vorzudrmgen und dem dort eingeschlossenen Katharerbischof
von Toulouse ein Schreiben von dessen Cremoneser Amtskollegen auszuhändigen.
Darin hieß es einladend, die “Kirche” von Cremona erfreue sich ungestörten Friedens
16 Einen “Grenzgänger zwischen Okzitanien und der Lombardei” erwähnt Lothar Baier, Die
große Ketzerei. Verfolgung und Ausrottung der Katharer durch Kirche und Wissenschaft
(Wagenbachs Taschenbuch 191), Berlin 1991, S. 178. Von “passeurs” spricht in ähnlichem
Zusammenhang Jean Duvemoy, Le catharisme: l’histoire des cathares, Toulouse 1979, S.
306.
17 Bonaccorsi, Libellus contra Catharos, in: Jean-Paul Migne (Hg.), Patrologiae cursus com-
pletus. Series latina 204, Sp. 775-792, hier 778 B: Nonne iam civitates, suburbia, villas et
castella huiusmodi pseudoprophetis plena esse videmus? Zur Datierung des Traktats s.
Arno Borst, Die Katharer (Schriften der MGH 12), Stuttgart 1953, S. 7 f.; zum Zitat ebd., S.
104.
18 Zur neutestamentlich geprägten Aneinanderreihung von civitates, villae und castella s. Mi-
chael Oberweis, Die Interpolationen im Chronicon Urspergense. Quellenkundliche Studien
zur Geschichte der Reform-Orden in der Stauferzeit (Münchener Beiträge zur Mediävistik
und Renaissance-Forschung 40), München 1990, S. 65-67.
19 Ein Beispiel bei Duvemoy, Le catharisme (wie Anm. 16) S. 304.
65
(erat in tranquillitate et pace), und der Bischof von Toulouse möge zwei Mitbrüder
entsenden, die über sein Befinden Auskunft geben könnten.20 Unter dem zunehmen-
den Druck der inquisitorischen Verfolgung blieb den Katharern des Languedoc,
wenn sie dem Scheiterhaufen entgehen wollten, nur der Weg ins lombardische Exil.
Die religiös motivierte Abwanderung erreichte zeitweilig solche Ausmaße, daß
Sprachwissenschaftler sogar gewisse Gemeinsamkeiten zwischen dem okzitani-
schen und dem friaulischen Dialekt darauf zurückführen wollen.21
Die Reise in die Lombardei war alles andere als ungefährlich. Zur Warnung erzählte
man sich in katharischen Kreisen die Geschichte zweier Glaubensgenossinnen, deren
unüberlegter Fluchtversuch bereits in Toulouse scheiterte. Die beiden waren in einer
Herberge abgestiegen und hatten durch ihr Verhalten den Verdacht der Wirtin erregt.
Diese gab vor, sie habe noch etwas in der Stadt zu erledigen, und bat ihre Gäste, in der
Zwischenzeit ein paar Hähnchen für das Mittagessen vorzubereiten. Als überzeugte
Katharerinnen lehnten die beiden Frauen es ab, die Tiere zu töten. Damit waren sie
überfuhrt; sie wurden der Inquisition übergeben und zum Feuertod verurteilt.22
Aus tragischen Vorfällen dieser Art zogen die Katharer ihre Lehren. Häufig taten sie
sich zu größeren Gruppen zusammen, um verräterische Verhaltensweisen in der Öf-
fentlichkeit leichter kaschieren zu können. Nach Möglichkeit wurde der Antritt län-
gerer Reisen bis zur Fastenzeit aufgeschoben,23 24 weil dann auch katholischen Christen
der Fleischgenuß untersagt war. Vor allem aber griff man auf die Dienste ortskundi-
ger Führer zurück, die als regelmäßige Grenzgänger mit den Fluchtwegen bestens
vertraut waren. Immer wieder wird in den Quellen die piemontesische Stadt Coni als
wichtige Durchgangsstation genannt. Ein Zeuge der Inquisition kennzeichnet ihre
Lage mit den Worten in principio Lombardier betont also ihre unmittelbare Grenz-
nähe. Mit dem Erreichen dieses Ortes konnte sich, wie die Formulierung anzudeuten
scheint, der Flüchtling erstmals in Sicherheit fühlen. Viele Katharer zogen nach kur-
zem Aufenthalt von Coni aus weiter, aber auch in der Stadt selbst entstand eine an-
sehnliche Exilgemeinde. Die Nähe zur früheren Heimat mag dabei eine Rolle ge-
spielt haben: Für Verwandte und Bekannte war man in principio Lombardie leichter
erreichbar, und nicht wenige Exulanten blieben mangels einer einträglichen Arbeit
20 Ignaz von Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters. 2. Teil: Dokumente
vornehmlich zur Geschichte der Valdesier und Katharer, München 1890, S. 34 f. Zur Datie-
rung s. Oldenbourg (wie Anm. 14) S. 317.
21 Auf derartige Erwägungen verweist Borst (wie Anm. 17) S. 123, Fußn. 123.
22 Le registre d’inquisition de Jacques Fournier, évêque de Pamiers (1318-1325), ed. Jean Du-
vemoy, 3 Bde. (Bibliothèque méridionale, 2e série, 41/1-3), Toulouse 1965; hier Bd. 1, S.
220 f. Vgl. Hans Christoph Stoodt, Katharismus im Untergrund. Die Reorganisation durch
Petrus Auterii 1300-1310 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 5), Tübingen
1996, S. 99.
23 Le registre (wie Anm. 22) Bd. 2, S. 71 : ...quod non iretis nisi in quadragesima, in qua sint
cibi communes vobis et aliis, ne si alio tempore iretis, quia carnes non comeditis, possetis
cognosci ab aliquo. Nicht zufällig trat also Petrus Auterii seine Rückreise aus der Lombar-
dei während der Fastenzeit an; vgl. Stoodt (wie Anm. 22) S. 109 f.
24 Le registre (wie Anm. 22) Bd. 2, S. 216. Zur Lage des Ortes und seiner Bedeutung für die
Fliehenden s. auch Stoodt (wie Anm. 22) S. 94-100.
66
dauerhaft auf familiäre Unterstützung angewiesen. Daneben dürften genuin religiöse
Erwägungen manchen veranlaßt haben, sich nicht allzu weit von der früheren Wir-
kungsstätte zu entfernen. Denn nur ein Teil der katharischen credentes war bereit,
den beschwerlichen Fluchtweg anzutreten, aber auch die Daheimgebliebenen hatten
ihre spirituellen Bedürfnisse, die von Fall zu Fall Kontaktaufnahmen mit den exilier-
ten perfecti erforderlich machten. Eine nachweislich rege Botentätigkeit trug dazu
bei, die räumliche Distanz zwischen Languedoc und Lombardei zu überbrücken;
durch die Übermittlung von Briefen und Segenswünschen wurde ein Mindestmaß an
seelsorglicher Betreuung garantiert. Ein typischer Notbehelf war das “geweihte
Brot”, das die physische Präsenz der perfecti ersetzen sollte und von den credentes
fast wie eine Reliquie behandelt wurde.25 Eigentlich widersprach der Besitz solcher
Devotionalien der katharischen Lehre, die alles Materielle als Teufelswerk abtat. In
ihrem pseudo-sakramentalen Charakter erweist sich die Verehrung des geweihten
Brotes somit als ein Fremdkörper innerhalb des Katharismus: Unter dem Eindruck
der anhaltenden Verfolgung und in Abwesenheit ihrer geistlichen Führer waren die
credentes offenbar nicht imstande, ihren Glauben von katholisierenden Tendenzen
freizuhalten.
Trotz der unübersehbaren Verfallssymptome fühlte sich kaum einer der geflohenen
perfecti verpflichtet, das sichere Exil zu verlassen und im Languedoc die ursprüngli-
che Reinheit der Lehre wiederherzustellen. Eine seltene Ausnahme war der Notar
Petrus Auterii,26 der 1296 von Tarascon aus in die Lombardei reiste, wo er das conso-
lamentum empfing. Im Jahre 1300 kehrte er in die Grafschaft Foix zurück und ver-
suchte dort in unermüdlichem Einsatz, die katharischen Gemeindestrukturen wieder-
zubeleben. 1309 fiel er den Häschern der Inquisition in die Hände, vermutlich 1310
wurde er hingerichtet. In einem knappen Jahrzehnt war es ihm gelungen, mehr als
100 Ortschaften zu missionieren: unter den gegebenen Verhältnissen eine schier un-
glaubliche Energieleistung.
Der bemerkenswerte Missionserfolg zeigt, wie tief noch immer die Neigung zum Ka-
tharismus in der Bevölkerung verwurzelt war. Da aber die meisten perfecti das Lan-
guedoc mieden, konnte die Inquisition sich weitgehend auf die Ausschaltung der
nuntii konzentrieren. Welche Aufmerksamkeit man ihren Aktivitäten widmete, ver-
raten die insistierenden Fragen in den Verhörprotokollen. So mußte in Carcassonne
eine Zeugin darüber Auskunft geben, ob sie gewisse Lombardi peregrini für Ketzer
oder Ketzerboten gehalten habe.27 Und ein Petrus Maurelli wurde aktenkundig, weil
er “häufig” im Auftrag lombardischer Gesinnungsgenossen die credentes in der Ge-
25 In Carcassonne gesteht ein Angeklagter den Inquisitoren, quod quidam de Lombardia ap-
portavit sibi panem benedictum ab haereticis: von Döllinger (wie Anm. 20) S. 35. Zur Ver-
wendung des geweihten Brotes s. auch Stoodt (wie Anm. 22) S. 242-249.
■6 Zu seiner Biographie und seinem Wirken als “Reorganisator des Katharismus” s. vor allem
Stoodt (wie Anm. 22) S. 53-210; vgl. daneben die - durch Stoodt z. T. überholte - Studie von
Jean Duvemoy, Pierre Autier, in: Cahiers d’études cathares 21 (automne 1970), S. 9-49.
~7 Interrogata, num credebat, dictos Lombardos peregrinos fore haereticos, vel nuncios hae-
reticorum ...; von Döllinger (wie Anm. 20) S. 36.
67
gend von Toulouse besucht hatte.28 Fast scheint es, als habe bereits die Herkunft aus
der Lombardei ausgereicht, einen entsprechenden Anfangsverdacht zu begründen.
In zwei spektakulären Fällen ist sogar das Strafmaß bekannt, das die Inquisition über
notorische Ketzerboten verhängte: In Toulouse wurde 1309 Guilielmus Falqueti aus
Verdunet beschuldigt, insgesamt viermal zu den Häretikern in die Lombardei gereist
zu sein. Bei diesen Gelegenheiten habe er Anfragen, Briefe, Grüße (salutationes) und
weitere Nachrichten (rumores) übermittelt.29 Mehrfach ist auch von anderen Perso-
nen die Rede, die er als Führer über die Grenze geleitete (duxit illuc dúos heréticos).
Die abschließende Urteilsbegründung hebt noch einmal die Botengänge hervor, die
Guilielmus erwiesenermaßen unternommen habe: Convincitur... deviis, quasfecit in
Lombardiam pro hereticis ...30 Ganz ähnlich lauten die Vorwürfe, die bei derselben
Verhandlung gegen Raimundus Moneta aus Verdun erhoben wurden: Auch er soll
viermal als nuncius die heretici in der Lombardei aufgesucht und dabei Briefe und
Mitteilungen hin und her befördert haben; außerdem habe er einen Ketzer in die
Lombardei begleitet und von dort wieder zurückgeführt.31 Bei der Verkündung des
Strafmaßes wendet sich der Inquisitor in direkter Anrede an die beiden Verurteilten,
um ihnen ihre - im Vergleich zu anderen Delinquenten - besonders gravierende
Schuld vorzuhalten: “Und weil ihr, Guilielmus Falqueti und Raimundus von Verdun,
euch schwerer vergangen habt und daher schwerer zu bestrafen seid, bestimmen wir,
daß ihr lebenslänglich unter verschärften Bedingungen im Kerker eingeschlossen
werden sollt, in Fesseln und in Ketten.”32
Unnachsichtig verfolgte die Inquisition jeden, der die Strenge ihrer Maßnahmen zu
kritisieren wagte. 1321 äußerte Petrus de Fonte aus Vaychis (Ariége) gegenüber an-
deren Dorfbewohnern die Meinung, es sei sündhaft, Ketzern, Juden oder Sarazenen
etwas Böses zuzufügen, wenn sie auf untadlige Weise ihren Lebensunterhalt erwirt-
schafteten. Auch habe er gehört, daß in der Lombardei den Ketzern, Juden und Sara-
"8 Ebd.: Petrus Maurelli veniebat frequenter ad amicos et credentes de partibus Tolosae ex
parte credentium et proborum hominum de Lombardia.
29 Philippi a Limborch Historia Inquisitionis. Cui subjungitur Liber sententiarum inquisitionis
Tholosanae ab anno Christi MCCCVII ad annum MCCCXXIII, Amsterdam 1692, lib. sent.
S. 13: Item cum quibusdam aliis personis ivit in Lombardiam apud Comum ad querendum
heréticos, et invenit et vidit et audivit predicationem eorum, inde reportavit literam pro ali-
is hereticis istius patrie et salutationes hereticorum. Item secunda vice rediit in Lombar-
diam apud Comum et portavit eis salutationes et rumores aliorum hereticorum et credend-
um ipsorum. Item tertia vice ivit missus per heréticos in Lombardiam apud Comum et Quer-
cum ad heréticos, et portavit eis literas hereticorum, et reportavit inde literas responsales
et salutationes mutuas. Item quarta vice ivit in Lombardiam ...
30 Ebd., S. 14.
31 Ebd.: Item ivit in Lombardiam quatuor vicibus missus per heréticos ad heréticos, tanquam
nuncius eorundem portans et reportans rumores et nunciationes mutuas et literas eorun-
dem, et in quadam vice duxit et associavit de terra ista usque in Lombardiam Amelium de
Perlis hereticum ad alios heréticos, et inde reduxit eundem.
32 Ebd., S. 32: Et quia tu, Guilielme Falqueti, et tu, Raimunde de Verduno, amplius et gravius
deliquistis et ideo estis gravius puniendi, vos in muro stricto et in loco arctiori in vinculis et
cathenis perpetuo decernimus includendos.
68
zenen nichts Böses geschehe.33 Dieser Ausspruch wurde dem Bischof von Pamiers
hinterbracht, der sogleich eine Untersuchung wegen Häresieverdachts (super crimi-
ne heresis, de quo suspectus vehementer erat) anordnete. Gerade der Hinweis auf die
Toleranz der Lombarden scheint den Inquisitor hellhörig gemacht zu haben. In der
Vernehmung stellte sich heraus, daß Petrus seine brisanten Informationen einem
Hausierer (mercerius) verdankte, der sechs oder sieben Jahre zuvor nach Vaychis ge-
kommen war und Nadeln, Spinnwirtel und dergleichen feilbot (qui portabat acus et
vertellos et talia). Man kam miteinander ins Gespräch, und weil der Hausierer Na-
deln aus der Lombardei mit sich führte, wurde er gefragt, ob er selbst von dort stam-
me. Er bejahte dies und rühmte seine Heimat: Sie sei ein gutes Land, und dort tue kein
Mensch den Juden, Ketzern oder Sarazenen etwas Böses, solange diese das Lebens-
notwendige redlich erarbeiteten.34
Nicht nur wegen des zeitlichen Abstands der protokollierten Aussage erscheint die
Gestalt des mercerius in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Zweifellos handelte es
sich um einen Grenzgänger, der Produkte seiner Heimat in einer Nachbarregion zum
Kauf anbot. Offen bleibt jedoch, wie die ostentative Sympathie für Ketzer und An-
dersgläubige zu bewerten ist. Fielen die zitierten Worte, wie Petrus de Fonte es glau-
ben machen will, tatsächlich in einem eher beiläufigen Gespräch, oder versuchte der
Hausierer ganz bewußt, etwaige Anhänger des Katharismus zur Abwanderung in die
Lombardei zu bewegen? Die Frage ist nicht zu beantworten, aber gewiß hätte die un-
stete Lebensweise eines Hausierers jedem “Ketzerboten” vorzügliche Möglichkeiten
der Tarnung eröffnet. Insofern war es vielleicht mehr als ein Ausdruck paranoischen
Denkens, wenn die Inquisition in jedem Reisenden aus der Lombardei sofort einen
nuntius haereticorum vermutete.
3. Bespitzelung und Festnahme des Guillelmus Belibasta
Neben der Lombardei bot auch Katalonien den verfolgten Albigensern eine einiger-
maßen sichere Zuflucht, wenngleich die Exilierten dort weniger offen agieren konn-
ten.35 Andererseits war die Flucht über die Pyrenäen für den Ortskundigen weniger
gefährlich als die lange Reise in die Lombardei. Denn das Gebirge war der Lebens-
33 Le registre (wie Anm. 22) Bd. 2, S. 157: Et ipse loquens respondit, quod ipse audiverat dici
quod in Lombardia non fit malum hereticis, iudeis et sarracenis, nec alicui qui bono modo
laborat, et addidit quod peccatum erat male facere hereticis, iudeis et sarracenis, si bono
modo laborant, et acquirunt unde vivant. - Zur grundsätzlichen Einstellung der Katharer
gegenüber Gewaltanwendung und Verfolgung s. Gerhard Rottenwöhrer, Zeichen der Sa-
tansherrschaft: Die Katharer zu Verfolgung, Mord und Strafgewalt (Beiträge zur Friedens-
ethik 22), Stuttgart/Berlin/Köln 1996.
34 Le registre (wie Anm. 22) Bd. 2, S. 158:... quesivit ab eo, qualis terra erat Lombardia, qui
mercerius respondit quod bona, et addidit quod in Lombardia nullus homo facit malum iu-
deis, sarracenis vel hereticis, solummodo quod velint bene laborare pro suis necessariis
habendis.
Zur allgemeinen Situation des kataionischen Katharismus s. Annie Cazenave, Les cathares
en Catalogne et Sabarthès d’après les registres d’inquisition. La hiérarchie cathare en
Sabarthès après Montségur, in: Bulletin philologique et historique (jusqu’à 1610) du comité
des travaux historiques et scientifiques. Année 1969, Vol. I, S. 387-436.
69
raum der Schäfer, die sich dem Wandertrieb ihrer Herden anpaßten und im regelmä-
ßigen Weide Wechsel36 gezwungen waren, die Pässe häufig in beiderlei Richtung zu
überqueren. Ihnen waren alle Schleichwege bekannt, und dieses Wissen machte sich
der perfectus Guillelmus Belibasta zunutze, als er sich nach der Hinrichtung des
Petrus Auterii zur Flucht in den Süden entschloß. Belibasta, nach Arno Borsts griffi-
ger Formulierung “der letzte, nicht der würdigste ‘Vollendete’”,37 hatte im Streit ei-
nen Schäfer erschlagen. Um der drohenden Strafverfolgung zu entgehen, schloß er
sich Katharern an, die auf dem Weg nach Katalonien waren. Im Unterschied zu den
meisten seiner Glaubensbrüder war er also nicht Flüchtling aufgrund häretischer
Überzeugungen, sondern er wurde zum Häretiker, weil er fliehen mußte.
Trotz seines eher fragwürdigen Charakters gelang es Belibasta, im Exil eine kleine
Schar von Anhängern um sich zu sammeln und über Jahre hinweg seelsorglich zu be-
treuen. Aber schließlich erreichte auch ihn der lange Arm der Inquisition. Amaldus
Cicredi aus Ax(-les-Thermes) hatte sich als Spitzel und Lockvogel zur Verfügung
gestellt, der katharische Neigungen vortäuschte, um die Festnahme Belibastas zu er-
möglichen. Über das trickreiche Vorgehen des Amaldus sind wir dank seiner aus-
führlichen Aussage38 genauestens unterrichtet. Mit erstaunlichem Freimut bekennt
er, aus rein materiellen Motiven zum Ketzerjäger geworden zu sein. Seine Mutter
nämlich, Sibilia den Balle, war eine engagierte Sympathisantin der Häresie gewesen,
und der Graf von Foix hatte deshalb ihr Haus konfisziert. Als Amaldus sich erkun-
digte, wie er das mütterliche Erbteil zurückerlangen könne, erhielt er von seinem
Bruder Petrus den Rat, er solle irgendeinen Ketzer fangen und in den Machtbereich
des zuständigen Herrn überfuhren:3'3 Immerhin sei für die Ergreifung etlicher Ge-
suchter eine Belohnung von 50 Pfund Tumosen ausgesetzt.
Der finanzielle Anreiz war für Amaldus Grund genug, sich nach Süden aufzumachen
und - etwas ziellos - diversa loca regni Aragonie zu durchstreifen. Schließlich ver-
dingte er sich in San Mateo bei einem Schuster. Als er eines Tages in der Werkstatt
saß, hörte er auf der Straße eine Frau rufen: “Gibt es Getreide zu mahlen?” Als er sie
an ihrer Redeweise als eine Landsmännin erkannte, stellte er sich als Sohn der Sibilia
den Balle vor und gewann so ihr Vertrauen: Sibilia nämlich sei eine “sehr anständige
Frau” gewesen (dicta mulier respondit, quod dicta Sibilia fuerat beneproba mulier).
Mit dieser Empfehlung gelang es Amaldus, Zugang zum Kreis um Guillelmus Beli-
basta zu finden. Dieser selbst lehnte es aus Vorsicht ab, in San Mateo zu wohnen: Der
Ort liege an der vielfrequentierten Straße nach Valencia, und die Gefahr sei daher zu
groß, daß er von irgendjemandem erkannt werde.40
36 Die bevorzugten Sommer- und Winterweiden sind kartographisch erfaßt bei Le Roy Ladu-
rie (wie Anm. 9) S. 198; zu den “mentalités pastorales” s. ebd., S. 174-196.
17 Borst (wie Anm. 17) S. 136.
38 Protokolliert in Le registre (wie Anm. 22) Bd. 2, S. 20-81.
34 Ebd., S. 21 :... qui Petrus respondit ei, quod non videbat viam qualiter dictam domum recu-
perare posset, nisi aliquem hereticum caperet et ad potestatem alicuius domini duceret.
40 Ebd., S. 42:... pro eo, quia villa Sancti Mathei est in itinere civitatis Valende ad quam multi
vadunt, et timendum erat, ne ab aliquo ibi cognoscemur.
70
Schon bald hatte Amaldus - als vermeintlich treuer Sohn seiner Mutter - das anfängli-
che Mißtrauen Belibastas überwunden. Bevor er aber versuchte, den perfectus unter
einem Vorwand aus seinem Schlupfwinkel herauszulocken, begab er sich klugerwei-
se zum Bischof von Pamiers, um im vorhinein Indulgenz für seine Teilnahme an ka-
tharischen Ritualen zu erhalten.41 Um jeglichen Verdacht der Exilierten zu zerstreu-
en, hatte Amaldus die Reise mit einem unaufschiebbaren Verwandtenbesuch begrün-
det. Nach seiner Rückkehr beteuerte er dramatisierend, ihm hätten sich vor Furcht
alle Haare gesträubt, als er jenen Pyrenäenpaß überquerte, der die Grenze zum reg-
num Francie markierte.42
Nachdem er sich den vollen Rückhalt des Bischofs von Pamiers gesichert hatte, führ-
te Amaldus den arglosen Belibasta auf das Territorium des Grafen von Foix und ließ
ihn dort festnehmen.43 Zu spät erkannte der perfectus, daß er von einem “Judas” in
die Falle gelockt worden war. Den Vorwurf, nicht der Sohn der Sibilia zu sein,44 wird
Amaldus mit Gleichmut hingenommen haben.
Belibastas Tod auf dem Scheiterhaufen (1321) symbolisiert den endgültigen
Triumph der Inquisition, der es in jahrzehntelanger Anstrengung gelungen war, auch
die letzten Überreste des Katharismus zu liquidieren. Selbst eine charismatische
Persönlichkeit wie Petrus Auterii hatte trotz beachtlicher Erfolge den Niedergang
nicht längerfristig aufzuhalten vermocht, zumal sich nach seiner Hinrichtung kein
adäquater Nachfolger fand. Mit gleicher Ernüchterung wird man das Wirken der
katharischen Ketzerboten beurteilen müssen. Von Anfang an waren jene
Grenzgänger, die den Kontakt mit den Exilierten aufrechterhielten, nur eine
Verlegenheitslösung; auf Dauer konnten sie die physische Präsenz der perfecti nicht
ersetzen. Doch immerhin beweisen die rigorosen Gegenmaßnahmen der Inquisition,
daß die Ketzerboten mehr waren als eine bloße Randerscheinung.
41 Ebd., S. 67 f.: Et habuit licendam a dicto domino episcopo, quod se faceret credentem dicti
heretici et faceret omnia, que dictus hereticus vellet, excepto quod non crederet erroribus
eius.
4“ Ebd., S. 71: ... quando ipse transibat portus intrando regnum Francie, omnes pili sui pre ti-
more erigebantur.
43 Ebd., S. 80: ... qui Arnaldus tali pia fraude Guillelmum Belibasta perfectum hereticum de-
ludens ... perduxit usque ad territorium vice comitatus Castri Boni sub dominio comitis Fu-
xensis, ubi dictum hereticum fecit capi et detineri, ut in potestatem ecclesie reduceretur
44 Ebd., S. 78: Et ex tunc, quo capi eum fecit, semper vocavit eum ludam proditorem ... Dice-
bat etiam, quod non fuerat filius Sibilie den Balle.
71
Wulf Müller
Mittelalterliche Grenzgänger aus Lothringen
(an Hand französischer Personennamen im Oberelsass)
Das Elsaß war das ganze Mittelalter hindurch eine der Kemprovinzen des alten deut-
schen Reiches, so daß man sich dort nur bedingt über die Randlage zur Frankophome
Rechenschaft ablegte. So etwa geruhte man in Straßburg erst in den dreißiger Jahren
des 18. Jahrhunderts, die romanischsprachige Bevölkerung des Breuschtals (vallée
de la Bruche) zur Kenntnis zu nehmen1. Erst der große Schöpflin interessierte sich
dann 1751 und 1761 in allen Einzelheiten für die Sprachgrenze in seinem zweibändi-
gen Werk Alsatia illustrata.
Während des Mittelalters und der Humanistenzeit galt ganz einfach das Vogesenge-
birge als sprachliche Grenzscheide, ohne daß man es für nötig hielt, sich um Einzel-
heiten zu bemühen. Immerhin waren sich die Colmarer Dominikaner in ihren Chroni-
ken seit dem 13. Jahrhundert darüber klar, daß in der Burgundischen Pforte Mömpel-
gard/Montbéliard oder Pruntrut/Porrentruy auf französischsprachigem Gebiet la-
gen1 2.
Auf der praktischen Ebene, wo es z.B. um die Einziehung der Steuern und Abgaben
ging, mußte man natürlich den Gegebenheiten Rechnung tragen, indem man für eine
wenigstens rudimentäre romanische Verwaltung etwa in der habsburgischen Bur-
gundischen Pforte oder in dem seit rund 1300 mehrheitlich patoissprachigen rappolt-
steinischen Urbeistal/Val d’Orbey sorgte. Das gleiche gilt für das wohl sehr früh ge-
mischtsprachige Lebertal/Val de Lièpvre, an dessen Herrschaft der Herzog von Loth-
ringen unmittelbar beteiligt war.
Zwar liegt die Vermutung auf der Hand, daß der Lothringer Herzog vielfach in seinen
Ausdehnungsbestrebungen in Richtung Elsaß auf lothringische Siedler zurückgriff,
doch läßt sich dies nicht direkt aus den Quellen belegen.
*
Quellen liegen glücklicherweise in genügender Anzahl und Dichte vor. Eines der
Grundlagenwerke für die Bevölkerungsgeschichte des Oberelsaß im Mittelalter bil-
det das fünfbändige Rappoltsteinische Urkundenbuch von Karl Albrecht vom Ende
1 Paul Lévy, La langue allemande en France. 1. Des origines à 1830, Paris 1950, S. 196. Vgl.
Wulf Müller, Le concept de frontière linguistique au XIXe siècle (Avec référence à l’Alsa-
ce), in: Le français en Alsace. Actes du colloque de Mulhouse (17-19 novembre 1983), Pa-
ris-Genève 1985, S. 143-155, hier S. 145.
2 Müller, Concept (wie Anm.l), S. 143-144.
73
des 19. Jahrhunderts3. Es läßt uns vor allem in die rappoltsteinischen Territorien -
aber nicht nur in diese - einen intimen Blick werfen. Was die Personennamen betrifft,
so hat die Auswertung dieses Monumentalwerks noch nicht wirklich begonnen,
wenn man von einigen bei Socin erscheinenden Auszügen absieht4.
Dazu kann man nun die ältesten, von Luden Sittler veröffentlichten Bürgerlisten der
Stadt Colmar vergleichen5. Auch sie sind sprachwissenschaftlich nicht ausgewertet.
Für das für unsere Belange so wichtige Münstertal fehlen dann allerdings alte Bür-
gerlisten, so daß man auf solche des 16. Jahrhunderts und auf Zufallsfunde zurück-
greifen muß.
Die Forschungslage läßt sich in wenigen Worten skizzieren, denn die sprachwissen-
schaftliche Aufarbeitung der alten französischen Personennamen im Oberelsaß hat
noch gar nicht angefangen. Man beschränkte sich jahrzehntelang darauf, eifrig die
ethnische Zugehörigkeit fremdländisch klingender Personennamen des Mittelalters
und der frühen Neuzeit zu erörtern, wobei die Formen auf -ey des Münstertals den
Diskussionsmittelpunkt bildeten. Julius Rathgeber glaubte nämlich 1874, im Mün-
stertal irische Reste, welche auf das frühe Mittelalter deuteten, gefunden zu haben6.
Doch allmählich grenzte man sich auf das Näherliegende ein, nämlich die Einwande-
rung aus den benachbarten frankophonen Gebieten. Abgeschlossen wurde die Dis-
kussion schließlich 1937 durch den auch heute noch lesenswerten Aufsatz von Jean
Matter, der vor allem die Bedeutung der Heiraten von Münstertälerinnen mit Lothrin-
gern und Urbeistälem hervorhob7. Trotz aller Diskussionsfreude interessierte man
sich aber in keiner Weise für die Etymologie der behandelten Familiennamen. Auch
das wertvolle, in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Material, welches Hans
Witte veröffentlichte, trägt in dieser Beziehung wegen seiner ethnischen Fragestel-
lung kaum Neues bei8.
Während also eigentlich nur die Materialien für unser Problem aus der lokalen For-
schung zu verwerten sind, hat sich die schwedische Schule von Michaelsson intensiv
mit den altlothringischen Personennamen beschäftigt, Die Metzer Bannrollen wur-
3 Karl Albrecht, Rappoltsteinisches Urkundenbuch 759-1500. Quellen zur Geschichte der
ehemaligen Herrschaft Rappoltstein im Elsaß, 5 Bde., Colmar 1891-1898 (im folgenden zi-
tiert als RUB).
4 Adolf Socin, Mittelhochdeutsches Namenbuch nach oberrheinischen Quellen des 12. und
13. Jahrhunderts, Darmstadt 1966 (Basel 1903).
5 Lucien Sittler, Les listes d’admission à la bourgeoisie de Colmar 1361-1494, Colmar 1958.
0 Julius Rathgeber, Münster im Gregorienthai, Straßburg 1874, S. 27.
7 Jean Matter, Bürgerverzeichnis der 10 Orte von Stadt und Tal Münster 1544, in: Jahrbuch
des Geschichtsvereins für Stadt und Tal Münster 11 (1937), S. 11-32. Instruktiv auch Ga-
briele Chavoen, Das elsässische Münstertal, eine Landeskunde, Freiburg i. Br. 1940
(Diss.), S. 59-62.
8 Vgl. vor allem Hans Witte, Zur Geschichte des Deutschtums im Elsaß und im Vogesenge-
biet, Stuttgart 1897. Noch heute ist die elsässische Forschung kaum über diese Fragestel-
lung hinausgelangt: Denis Leypold, Peuplement et langue au Ban de la Roche (XVe-
XVHle siècles), Problèmes et recherches, in: Revue d’Alsace 117 (1990/91), S. 23-34.
74
den großenteils von Jacobsson9 aufgearbeitet, aber beinahe ebenso wichtig ist das
demselben Gegenstand gewidmete schmale Heft von Olof Brattö10 11. Trotzdem blei-
ben, wie wir gleich sehen werden, noch genug Rätsel übrig.
*
Im einzelnen sah die hoch- und spätmittelalterliche Lage an der Sprachgrenze des
Oberelsasses folgendermaßen aus. Im Sundgau beließ sie einen nicht unwichtigen
Teil der Burgundischen Pforte mit Beifort beim Romanischen und verlief dann an-
schließend auf dem Vogesenkamm bis hin zum Münstertal.
Dort, im Fecht- oder Münstertal, waren die frühmittelalterlichen Romanenreste um
Walbach und um Confluentes (romanisch 768 Conßents), dem antiken Münster,
recht früh verschwunden. Doch geht der nichtgermanische Ortsname Metzeral (ma-
ceriolum “Mäuerchen”) wohl auf eine merowingische Siedlung ebendieser Romanen
zurück11. Es gab aber auch eine sekundäre frankophone Einwanderung in Mittelalter
und Neuzeit, hauptsächlich wohl aus dem Urbeistal, welche zwar schnell assimiliert
wurde, doch eine ganze Reihe von Familiennamen im Münstertal hinterließ.
Im Urbeistal/Val d’Orbey selber war der Ansatzpunkt lothringischer Einwanderung
der hochgelegene Hof von Zell/Labaroche der Abtei von St-Die, welcher dieser be-
reits 1114 von Kaiser Heinrich V. in einer nur als Transsumpt erhaltenen Urkunde
bestätigt wurde12 13. Darin erscheint ein Örtlichkeitsname Festum, die lateinisch-roma-
nische Form der deutschen Gebirgsbezeichnung First, heute der Weiler Faite in
Zell/Labaroche. Der terminus ante quem 1114 für den Beginn der Einwanderung
wird sehr schön vom ersten Beleg eines romanischen Hofnamens im Hauptort Ur-
beis/Orbey bestätigt, nämlich 1175 Rumimunt für das im Besitz der Abtei Päris be-
findliche Remeymontn.
9 Harry Jacobsson, Etudes d’anthroponymie lorraine. Les bans de tréfonds de Metz
(1267-1298), Göteborg 1955.
10 Olof Brattö, Notes d’anthroponymie messine, Göteborg 1956.
11 Wulf Müller, Limite des langues et toponymie en Alsace moyenne, in: Les pays de l’entre-
deux au moyen âge. Actes du 113e congrès national des sociétés savantes (Strasbourg
1988), Paris 1990, S. 313-320, hier S. 313-315. Vgl. Wolfgang Haubrichs, Die Sprachge-
stalt der germanischen Ortsnamenüberlieferung des siebten und achten Jahrhunderts im
Saar-Mosel-Raum. Zum Ortsnamenformular der frühen Urkunden der Klöster Weißen-
burg, Echternach und Prüm, in: Philologie der ältesten Ortsnamenüberlieferung. Kieler
Symposion 1. bis 3. Oktober 1991, Heidelberg 1992, S. 182-263, hier S. 234 und Peter
Rück, Die Urkunde des Basler Bischofs Rudolf für das Chorherrenstift Saint-Dié vom 27.
Februar 1122, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 74 (1974), S.
81-98, hier S. 94.
12 Müller, Limite (wie Anm. 11 ), S. 318. Christian Wilsdorf, Depuis combien de temps parle-
t-on un patois roman dans le Val de Lièpvre et dans celui d’Orbey? in: Cahiers de la Société
d’histoire du Val de Lièpvre 10(1985), S. 23-30, hier S. 28.
13 Wulf Müller, Die Siedlungs- und Flurnamen von Urbeis (Orbey) im Oberelsaß, Bem-
Frankfurt/M. 1973, S. 206.
75
Das Lebertal/Val de Liepvre war - wie eben erwähnt - wohl schon früh gemischtspra-
chig. So erscheint der Name Leberau französisch als Liepvre, im Patois lycev, mit ei-
nem ins Frühmittelalter weisenden Diphthong. Der Name des oberhalb von Mar-
kirch/Ste-Marie-aux-Mines gelegenen Dorfes Echery/Eckirch (alt Eckerich) stellt
noch kompliziertere Probleme. Es handelt sich wohl um einen Personenamen, näm-
lich Achiricus, in toponomastischer Verwendung, welcher ebenfalls auf das Frühmit-
telalter deutet14. Es muß aber deutlich betont werden, daß die Ortsnamen dieses letz-
teren Gebiets dringend weiterer Forschung bedürfen.
*
Nach den klassischen Ausführungen des Schweizer Wirtschaftshistorikers Hektor
Ammann, zuletzt Professor an der Universität Saarbrücken, kann kein Zweifel dar-
über bestehen, daß der noch heute nachwirkenden kulturellen Blüte des Elsaß im
Mittelalter ein bedeutender wirtschaftlich-finanzieller Erfolg zu Grunde lag15. Ent-
sprechend hoch dürfte die Anziehungskraft des Landes für Einwanderer gewesen
sein.
Dabei sollte man im Idealfall zwischen primärer Einwanderung direkt aus Lothrin-
gen und sekundärer Einwanderung aus einem der elsässischen Romanengebiete, in
der Regel aus dem Urbeistal, unterscheiden können. Die Quellen lassen dies dann zu,
wenn der Herkunftsort des Grenzgängers angegeben ist.
So finden wir in einer Bürgeraufnahme des Urbeistals von 1372 neben einem an-
scheinend germanophonen Matheus Anderwart die beiden wahrscheinlich aus dem
gleichen Ort stammenden Thiriat Pittit und Menschin Guttey de Port. Die Herkunfts-
angabe dürfte sich auf St-Nicolas-de-Port16 bei Nancy beziehen, allenfalls auf Port-
sur-Seille, jeweils im Departement Meurthe-et-Moselle. Daß sich mehrere Einwoh-
ner bei der Auswandemng zu einer Gruppe zusammenschlossen, läßt sich übrigens
auch sehr schön in den Bürger- und Einwohnerbüchem der Stadt Genf des 15.-17.
Jahrhunderts verfolgen.
Zurück zu den Namen. Thiriat ist die lothringische Verkleinerungsform (auf -ittu)
von Thierry “Dietrich”17. Pittit entspricht dem französischen Petit, hat aber ein ty-
pisch östliches -i- in der Vortonsilbe, wie es im Frankoprovenzalischen weit verbrei-
tet ist18. Menschin stellt eine Ableitung von Dominicus dar. Diese letztere entspricht
14 Müller, Limite (wie Anm. 11), S. 319-320.
1 5 Hektor Ammann, Von der Wirtschaftsgeltung des Elsaß im Mittelalter, in: Alemannisches
Jahrbuch 1955, S. 95-202.
16 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 71. Die Identifizierung im Index von Port mit Port-sur-Saöne
(Hte-Saône) ist zweifellos falsch (ebd,, S 651).
17 Vgl. Jacobsson, Bans de tréfonds (wie Anm.9), S. 75, wo sich Formen wie Thieriat, Theiri-
at finden. Ein Thiriat This ist 1551 in Thicourt (Diedersdorf) bezeugt: Hans Witte, Das
deutsche Sprachgebiet Lothringens und seine Wandelungen, Stuttgart 1894, S, 39.
18 Dazu gehören die in der Westschweiz gut bezeugten Familiennamen Pittei und Pittier.
Letzterer findet sich auch in Lothringen 1357 in der Schreibung Pithier; Witte, Das deut-
sche Sprachgebiet Lothringens (wie Anm. 17), S. 22.
76
dem im Mittelalter tatsächlich belegten lothringischen Mangin. Die deutsche Gra-
phie -sch- steht also für den stimmhaften Zischlaut -j-.
Die lothringische Vollform von Dominicus ist Domange und somit ein Homophon
von domange “Sonntag”. Daraus erklären sich solche uns heute gewaltsam erschei-
nenden Übersetzungen wie 1467 Sunnentag der Walch von Sant Diedolt, 1471 Sy-
mondt Sonndag von Stiffe, 1490 Sontag uf der brücken, ein Einwohner von Urbeis19.
Diese Art der Registrierung von Domange hat sich im übrigen im Elsaß bis in die er-
ste Hälfte des 17. Jahrhunderts gehalten20.
Dagegen ist die Form Damene (in 1526 Wanson Damene aus Urbach/Fréland) nicht
als Synonym erkannt worden, und zwar mit gutem Grund, liegt hier doch aller Wahr-
scheinlichkeit nach eine für Lothringen ungewohnte Form für “Sonntag” aus der
Franche-Comté vor, d. h. der Träger des Namens ist von dort eingewandert21.
Im Jahr 1373 wird neben fünf allem Anschein nach Deutschsprachigen ein Johans
Munschin von Basemont im Urbeistal aufgenommen. Es handelt sich bei der Ortsan-
gabe um Saint-Baslemont bei Damey im Vogesen-Departement22, mit typisch loth-
ringischer Behandlung des Proparoxytonon: der Heiligenname Bàsolus entwickelte
sich zu Base und nicht zu Bâle (Basle) wie im Französischen. Munschin ist eine An-
näherungs Schreibung für das eben besprochene Mangin, für welches sich sogar Mu-
schin findet (1367)23.
1526 schließlich ist ein Jorg von Geratsee als Grundbesitzer in Urbeis (Remomont)
bezeugt24. Der Ortsname wurde hier wie anderswo aus Gérardmer teilübersetzt, wo-
bei der zweite Teil als -mer “See” und nicht als -meix “Siedlung” aufgefaßt wurde.
Bei den eben erwähnten Einwandemngen stellt sich die Frage, warum sich Personen
aus manchmal weit entfernten Gegenden in einer klimatisch ungünstigen Bergregion
niederließen. Man kann daraus doch wohl nur auf systematische Anwerbung unter
Versprechung fiskalischer oder anderer Vorteile schließen.
*
Die Einwanderung machte aber nicht an den Grenzen des welschen Bannes, d.h. des
Urbeistales, halt. Bemerkenswert wegen seines frühen Datums 1317 und wegen des
Wohnortes, nämlich Ammerschweier am Fuß der Straße über den Col du Bonhomme
nach Lothringen gelegen, ist Bisentzun, Rokkenbrotes tohterman. Bisentzun ent-
spricht dem französischen Besançon, einem Familiennamen, welcher in weiten Tei-
RUB, 4 (wie Anm.3), S. 514, 515; RUB, 5 (wie Anm.3), S. 408.
20 Witte, Deutschtum (wie Anm,8), S. 51 (zwei Beispiele), 58, 61.
21 Archives départementales du Haut-Rhin à Colmar (=ADC), E 2630, fol 7 v (ohne Interpre-
tation zitiert bei Witte, Deutschtum (wie Anm.8), S. 68); im Doppelregister, fol 8 v als
Wanson Dammene verzeichnet. - FEW, 3, 129 b. GPSR, 5, 713 b. Colette Dondaine, Les
parlers comtois d’oïl, Paris 1972, S. 408-409,
22 RUB, 2 (wie Anm.3), S, 97. Die im Index zweifelnd vorgetragene Identifizierung mit Bas-
semberg/Kreis Schlettstadt hat wenig Wahrscheinlichkeit (ebd., S.602).
23 Mangolt Muschin; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 30.
24 ADC (wie Anm.21 ), E 2630, fol 3. Zwei vergleichbare Personennamen von Gerardsee aus
der gleichen Quelle in Fréland/Urbach publizierte Witte, Deutschtum (wie Anm.8), S. 68.
77
len Ostfrankreichs - aber nicht nur hier - verbreitet ist. Zwar könnte man vermuten,
daß der Name des Schwiegervaters Rokkenbrot aus dem Französischen übersetzt ist,
doch scheint Roggenbrot ein durchaus deutscher Personenübemame gewesen zu
sein25.
Aus dem Westvogesischen kam 1473 Sarme von Stiffe2b, d.h. Etival. Denselben Orts-
namen dürfte auch der 1368 in Colmar eingebürgerte Johans Stifal21 tragen, wobei
die Endung -al direkt aus dem Französischen entlehnt wurde. Sarme gehört vielleicht
zur Anselme-Sippe; vgl. die Westschweizer Familiennamen Ansermet und Sermier.
Der Name der Abtei und des Ortes Etival erscheint aber normalerweise als Stifey in
Colmar, so 1371 der von Stifey hof oder 1387 der appt von Stifey2& 27 28 29.
1376 Johans Rubeschz deutet auf den Weiler Robache bei St-Die. Dazu bildete man
ein deutsches Femininum in 1450 daz Ennelin Rubetzschin, Clawin Bemplins seligen
. 29
wittwe .
Mit Johanns von Gors genant Serressin, seit 1396 herrschaftlicher Vogt des Urbeis-
tals auf Burg Hohenack30, nähern wir uns der gesellschaftlichen Oberschicht. Er kam
als Fachkraft aus dem bekannten Gorze bei Metz, wohl im Gefolge der Grafen von
Saarwerden, welche die Herrschaft Hohenack als Mitgift der Herzlaude von Rappolt-
stein innehatten. Sein Spitzname Sarrasin “Sarazene”, mit lothringischer Palatalisie-
rung Serressin, ist nicht unbedingt schmeichelhaft gemeint. Sein Name erscheint üb-
rigens auch stärker eingedeutscht als Sersey (1396)31.
Der Ostbewegung ins Elsaß schlossen sich auch Adelsfamilien an. Die bekannteste
von ihnen sind die Awelin/Owelin, welche aus Ban-de-Laveline bei St-Die stammen
und seit ca. 1300 während langer Jahrzehnte eine nicht unwichtige Rolle im Elsaß
spielten. Als Gefolgsleute und Partner der Rappoltsteiner waren sie in Hunaweier
(1344) und Kaysersberg (1345) begütert. Vor allem aber fungierten sie seit 1329 als
Inhaber der Judenburg über Diedolshausen/Le Bonhomme im Urbeistal32.
Reich vertreten in Rappoltsweiler, dem Hauptort der Grafschaft Rappoltstein, findet
sich seit 1303 eine anscheinend adelige, wohlhabende Familie von Spinal (Spynal),
also aus Epinal, der Hauptstadt des Vogesen-Departements. Zu der gleichen Schicht
25 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 243. Ein Hennin Rockenbrot wird 1364 als Bürger von Rappolts-
weiler erwähnt; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 3. Vgl. auch Edmund Nied, Südwestdeutsche Fa-
miliennamen, Freiburg i. Br. 1938, S. 84. - Für die Aufschlüsselung des Familiennamens
Besançon nach Departementen bin ich Carole Champy (Epinal) zu großem Dank verpflich-
tet.
26 RUB, 5 (wie Anm.3), S. 3.
27 Sittler, Listes (wie Anm.5), S, 39.
28 Sittler, Listes (wie Anm.5), S. 48, 95.
29 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 125; RUB, 4 (wie Anm.3), S. 101.
30 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 357.
31 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 395. Die Identität mit Serressin wurde von Albrecht nicht erkannt
(Index, S. 669).
32 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 292-294, 346, 377-378, 430, 440; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 5,
74-75.
78
von Privilegierten gehörte wohl aus dieser Familie in Kienzheim auch ein Johannes
von Spynal ein priester (1336)33,
In der freien Reichsstadt Colmar ist seit 1348 eine wohl adelige Familie aus St-Dié
reich belegt, so etwa 1348 Hanman von Sant Deodat, 1358 Burkelin von Sante Thye-
dat, ein burger von Kolmer, 1364 vro Angnes, Burkart seligen frawe von Sant Diedat.
Der hervorragendste Vertreter der Sippe - falls es sich um eine solche handelt - ist Pe-
ter von Sante Deodat, ritter, schultheisse zu Colmer (13 94)34, Ethnische Vorurteile
gab es anscheinend nicht, jedenfalls nicht in der uns gewohnten modernen Form.
Die Herren von Parroy (Meurthe-et-Moselle) waren zwar nicht eingewandert, aber
als Verwandte der Rappoltsteiner 1350 in Sigolsheim begütert35 36. Wenn es Einkünfte
einzutreiben oder zu holen galt, wurden auch sie sicher zeitweise zu Grenzgängern.
Gelegentlich helfen auch ethnische Bezeichnungen weiter wie 1283 Godefrit der
Walch und 1402 Oswalt Walch in Rappolts weder. 1407 ist ganz einfach ein Walch
als Zinsbesitzer in Hunaweier genannt. 1464 in Ammerschweier präzisiert man im-
merhin noch der Walch von Zell, gibt also wenigstens den Herkunftsort Labaroche
*
Die Herkunftsangaben sind aber Glücksfälle. Sehr viel öfter finden wir reine Perso-
nennamen, bei denen wir nicht viel anderes als sprachliche Kriterien besitzen, um sie
einzuordnen. Wie sehr man sich dabei irren kann, zeigt die Publikation des Freibur-
ger Zinsverzeichnisses von 1379 im Jahre 1895 durch Jakob Zimmerli, welcher bei
jedem einzelnen Namen die ethnische Kategorie anzugeben bestrebt war37. In einer
großen Anzahl von Fällen sind seine so erfolgten Angaben bei Lichte besehen falsch.
Das einzige, was der Wissenschaftler günstigstenfalls bei solchen Listen sprachhisto-
nsch erreichen kann, ist die Feststellung, ob ein Name aus der einen oder der anderen
Sprache zu erklären ist. Über die Muttersprache des Benannten läßt sich naturgemäß
keine Aussage machen, zumal man mit vielen Übersetzungen transparenter Perso-
nennamen rechnen muß.
Versuchen wir, einige ganz offensichtlich romanische Familiennamen sprachlich-
etymologisch zu deuten.
Schar(r)ion etwa erscheint nicht nur in Rappoltsweiler (z.B. 1398), sondern schon
seit 1298 (Scharriun) im rappoltsteinischen Dorf Gemar. Socin hat diesen letzteren
Beleg mit Recht unter ‘Fremde Geschlechtsnamen’ eingereiht. In der Stadt Rappolts-
weiler erfahren wir 1375 von Claus Zscharrions des metzigers hof, mit deutlicher
33 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 178, usw. Für den Priester Johann: RUB, 1 (wie Anm.3), S. 348.
34 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 458,556; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 324. Sittler, Listes (wie Anm.5),
S. 24.
35 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 477.
36 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 121; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 518, 565 (eyme Walhen, Dativ);
RUB, 4 (wie Anm.3), S. 340.
37 Jakob Zimmerli, Die deutsch-französische Sprachgrenze in der Schweiz. 2. Die Sprach-
grenze im Mittelland, in den Freiburger-, Waadtländer- und Berner-Alpen, Basel-Genf
1895, S. 88-102.
79
Angabe der stimmlosen Affhkata tsch-. Schar(r)ion stellt wohl eine Ableitung von
char “Wagen” dar38.
Die gleiche Affrikata tsch- haben wir auch in 1365 Henman Zschepelin, einer deut-
schen Ableitung von patois tchepei “Hut”, das dem französischen chapeau ent-
spricht39 40. Ferner in 1379 nebent Jeckelin Betzschatten erben, wozu man ungeniert ein
deutsches Femininum 1364 Betzschettin mit Umlaut bildete. Das zugrundeliegende
Appellativ ist wohl betch s.f. “Brunnentrog”, genauer eine Verkleinerungsform auf
-itta (lothr. -at)*°.
Phonetisch und morphologisch unverändert bleibt 1387 Urien der Treger aus Urbeis.
Urten hat lothringische Parallelen, scheint daher romanischen Ursprungs und auch
romanisch verschriftet zu sein41. Im rappoltsteimschen Urbar von 1441 wird dieser
Name dann als Urrian korrekt ins Deutsche eingepaßt42. Man könnte eventuell an die
Sippe von deutsch Ulrich denken, welche aber meist Ory im Lothringischen lautet.
Das lothringische Abri(t) taucht ohne Veränderung als 1441 Abry vogtze Hohennack
im Urbeistal auf (auch Abrey), der rappoltsteinische Nachfolger des eben besproche-
nen Serressin, dann 1544 im benachbarten Münstertal (ebenfalls Abry). Abri(t)
gehört zu germanisch Albirich43.
*
Relativ einfach zu deuten sind Ableitungen von Heiligennamen oder Vornamen wie
1383 Henselin Symeney (Gemar) oder 1364 Jekelin Zschekeme mit seinem Femini-
num 1361 Zschekemeyn. Hier gibt die Graphie zsch- die im Deutschen unbekannte
stimmhafte Affrikata dj- wieder. Scheckmey erscheint übrigens auch 1544 im Mün-
stertal44. 1321 Wilhelm dem man sprichet Willermey wird zweisprachig bezeichnet,
RUB, 1 (wie Anm.3), S. 165; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 117, usw. Socin, Mittelhochdeut-
sches Namenbuch (wie Anm.4), 560. - Vgl. unten eine weitere char-Ableitung.
39 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 17. Maurice Hermann, Glossaire du patois d’Orbey, Orbey 1983,
S. 12. - Nicht zu verwechseln mit dem mhd. Familiennamen Scheppellin ohne die Affrikata.
40 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 1 (nebent der Betzschettin), S. 157. Adolf Homing, Glossare der ro-
manischen Mundarten von Zell (La Baroche) und Schönenberg im Breuschtal (Beimont) in
den Vogesen, Halle a. S. 1916, S. 11. Vgl. Wulf Müller, Une ancienne zone de contact: le
Val d’Orbey (Haute Alsace), in: Zwischen den Sprachen. Siedlungs- und Flurnamen in ger-
manisch-romanischen Grenzgebieten. Beiträge des Saarbrücker Kolloquiums vom 9.-11.
Oktober 1980, Saarbrücken 1983, S. 313-341, hier S. 318.
41 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 237 (dort Vrien gedruckt). Albrecht Greule und Wulf Müller, Béhi-
ne, ein germanisch-romanischer Bachname, in: Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge
9(1974), S. 83-101, hier S. 86.
42 Hans Witte, Romanische Bevölkerungsrückstände in deutschen Vogesentälem, in: Deut-
sche Erde 6 (1905), S. 8-14, 49-54, 87-91, hier S. 50 (Lorentz von Urbach, Urrians sun).
43 RUB, 3 (wie Anm.3), S. 541. Matter, Bürgerverzeichnis (wie Anm.7), S.26. Jacobsson,
Bans de tréfonds (wie Anm.9), S. 140.
44 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 563 (nebent der Zschekemeyn)-, RUB, 2 (wie Anm.3), S. 1 und 192;
Matter, Bürgerverzeichnis (wie Anm.7), S. 26.
80
denn *Willermel ist eine Ableitung von Guillaume “Wilhelm” mit typisch ostfranzö-
sischem w- Anlaut45.
Das viel gebrauchte Familiennamensuffix -ey, das seine hohe Frequenz sicher auch
der Analogie verdankt, entspricht meist dem dialektalen -¿¿'des Urbeiser Patois, wel-
ches auf lat. -ellu (fr. -eau) zurückgeht. Als Ausgangsformen für Symeney, Zscheke-
me und Willermey ergäben sich demnach *Simonel, *Jaiquemel und *Willermel. Die
Graphien Symonel und Jaikemel finden sich auch tatsächlich im Altlothringischen46.
Mit diesem Suffix wurden auch Rossey (z.B. Clewelinus dictus Rossey 1362) zu roux
“rothaarig”, Morey (1544 im Münstertal) zu maurus “dunkelhäutig” sowie Roley
(z.B. Nicolaus Roley 1343) zum Vornamen Roul “Raoul” versehen. Clewelin Rossey
der metziger (1382) ist allem Anschein nach identisch mit Rosselin der metziger
(1408), dem man nach dem ersten Suffix -el ein weiteres Suffix -in angehängt hat47.
Ein schwieriger, aber um so interessanterer Fall ist 1408 Atrey in Rappoltsweiler. Es
handelt sich um eine Ableitung von lothringisch Atre, lat. Auctor, fr. Auteur, dem 13.
Bischof von Metz. Die Ableitung geht vom lateinischen Nominativ aus. Der Name
gehörte also ursprünglich in den Kulturbereich von Metz. Man kann an ihm auch sein-
schön die ostfranzösische Entsprechung -a- zu zentralfranzösisch -au- beobachten48.
Im Urbeistal selber, nämlich in Urbach/Freland, finden wir 1421 Ancey für heute weit
verbreitetes Ancet9. Es muß aber betont werden, daß zwischen Mittelalter und Mo-
derne ein ziemlich radikaler Kontinuitätsbruch der Familiennamen stattfand, der
wohl dem Dreißigjährigen Krieg zu verdanken ist.
Die Münstertäler Gladey (1580/83) und Madei (1441) bzw. Made (1452), zwei Vari-
anten von Weier im Tal, entsprechen den französischen Claudel bzw. Madel. Letzte-
res ist noch als madei in Urbeis bekannt, wenn auch nur in einem Flurnamen. Bei
Gladey stellen wir erneut die Monophthongierung von au > a fest. Der stimmhafte
Anlaut G- von Claude ist das im Ostfranzösischen Übliche. Madel hängt laut Morlet
mit der Sippe von germ. madal zusammen, was allerdings wenig wahrscheinlich
klingt, ebensowenig wie die Einordnung eines isolierten elsässischen Made-Belegs
in die Taufnamen bei Socin50.
RUB, 1 (wie Anm.3), S. 265.
4h Jacobsson, Bans de tréfonds (wie Anm.9), S. 70, 73.
47 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 413 (ager Nicolai dich Roley de Keyserspergk), 577; RUB, 2 (wie
Anm.3), S. 184, 570 (nebent Rosselin dem metziger). Matter, Bürgerverzeichnis (wie
Anm.7), S. 26.
48 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 570 (Hennin Atreys guot). Brattö, Anthroponymie messine (wie
Anm.10), S.49. Louis Remacle, La différenciation dialectale en Belgique romane avant
1600, Genève 1992, S. 38-42.
49 Die heutigen Familiennamen der Gegend stehen u.a. bei Charles Schillingen Fréland/Haute
Alsace. Recueil historique et généalogique des origines à la Révolution, Fréland 1991, S.
220-246.
50 Hans Witte, Romanische Bevölkerungsrückstände (wie Anm.42), S. 87. Matter, Bürgerver-
zeichnis (wie Anm.7), S. 28. Müller, Siedlungs- und Flurnamen (wie Anm. 13), S. 228. Ma-
rie-Thérèse Morlet, Dictionnaire étymologique des noms de famille, Paris 1991, S. 646.
Socin, Mittelhochdeutsches Namenbuch (wie Anm.4), S. 152.
81
Einen anderen Ursprung dagegen hat -ey in der ursprünglichen Baumbezeichnung
Boscheney, häufiger Familienname in Rappoltsweiler ab 1362, das eigentlich “junge
Buche“ bedeutet: bochnei. Im Patois des Urbeistals kann -ei nämlich auch auf lat.
-ariu bemhen, welches in unserem Zusammenhang allerdings quantitativ unerheb-
lich ist. Der Vokal -o- der ersten Silbe hat sich zu -e- abgeschwächt in 1408 Besche-
ney, sicher wegen der im Deutschen bewahrten romanischen Endbetonung51.
Wieder anders gelagert ist der Fall 1311 Sazsey, 1338 Cuenzelin Sausex, wo die En-
dung wahrscheinlich lat. -etum repräsentiert, also salicetum “Weidengebüsch”, im
heutigen Patois sösi, eine auf das Französische ausgerichtete Form. Es kann sich bei
diesem ursprünglichen Ortsnamen sehr wohl um das westvogesische Saul-
cy-sur-Meurthe handeln, 1188 Salzeis, 1300 Sacei52. Wir hätten es dann eigentlich
mit einem Herkunftsnamen zu tun.
In 1347 Cuontze Goffrey haben wir eine hybride Form vor uns53, indem Joffroi im
Anlaut an das entsprechende deutsche Gottfried angelehnt wurde. Die Endung -ey re-
präsentiert hier einen älteren Aussprache stand von französisch -oi.
Nicht in diesen Zusammenhang gehört Marley (seit 1330). Es repräsentiert nämlich
den Ortsnamen Marlenheim im Unterelsaß, im Mittelalter meist Marley und somit
ein deutschsprachiger Familienname. Man weiß allerdings nicht, ob das häufige Mal-
rey/Malrei mit Metathese ebenfalls von hier stammt54.
*
1383 Clauus Schahan (in Gemar) entspricht ganz klar dem französischen Jean (Je-
han). Seit 1387 ist Schahan auch im Urbeistal bezeugt und als Schan am Ausgang des
Lebertals (1346). Dazu bildete man im Deutschen die einen Umlaut bewirkende Ver-
kleinerungsform Zschenlin (1477)55. Jaquemin wurde 1441 in Ammerschweier als
Schogkmen wiedergegeben, mit Verdumpfung von französisch a > elsässisch o56.
Der Name des Reichenweierer Einwohners Grantschann dagegen wurde nicht nen-
nenswert eingedeutscht (1482). Das gleiche gilt für den Münstertäler Lentz Groschan
(1551). Auch 1387 Schoenal (Urbeistal) könnte zu dieser Namensippe gehören, mit
graphischer Rundung -oe- zu nur scheinbar entrundetem -e-. Es wäre also eine hyper-
korrekte Schreibung, denn elsässisches -ö- wurde zu dieser Zeit zu -e- entrundet57. In
51 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 577; RUB, 2 (wie Anm.3), S. 570. Homing, Glossare (wie
Anm.40), S. 14. Müller, Siedlungs- und Flurnamen (wie Anm. 13), S. 39.
52 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 203, 374. Paul Marichal, Dictionnaire topographique du départe-
ment des Vosges, Paris 1941, S. 399. Gérard Taverdet, Les noms de lieux des Vosges, Dijon
1988, S. 55.
53 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 454. Vgl. Jacobsson, Bans de tréfonds (wie Anm.9), S. 116.
54 RUB, 1 (wie Anm.3), S. 178, 560, usw. Fritz Langenbeck, Vom Weiterleben der vorgerma-
nischen Toponymie im deutschsprachigen Elsaß, Bühl/Baden 1967, 1, S. 49.
55 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 192, 237; RUB, 5 (wie Anm.3), S. 115. Witte, Elsaß (wie Anm.8),
S.57.
56 Witte, in: Deutsche Erde 6 (1907) (wie Anm.42), S. 89.
5/ RUB, 2 (wie Anm.3), S. 237; RUB, 5 (wie Anm.3), S. 294. Witte, in: Deutsche Erde 6
(1907) (wie Anm.42), S. 90.
82
der Tat findet sich 1526 in Urbach/Freland das zweifellos identische Munschi Schen-
na58, dessen Endung wohl französisch -al entspricht.
In 1392 Clewelin Moriat(t)e liegt ein Matronym auf -atte (lat. -itta) vor. Es wird sich
wohl um den altlothringischen Typ Mariate (zu Marie) handeln, welcher später dann
lautgerecht 1408, 1409 und 1431 als Meriat erscheint59.
■k
Bei weitem nicht alle deutsch verschnfteten romanischen Familiennamen sind ety-
mologisch durchsichtig. So ist es im allgemeinen einfacher, einem deutsch verbräm-
ten romanischen Flurnamen auf die Spur zu kommen, als die aus den verschiedensten
semantischen Bereichen stammenden Personennamen zu durchschauen.
1526 etwa wird eine Flur im Glettschat in Urbeis-Unterhütten erwähnt. Es unterliegt
kaum einem Zweifel, daß sie das Französische clochette “Glöckchen, Schelle” reprä-
sentiert, genauer eine Patois-Form *kycetchat, welche wohl die Form der Flur an-
gibt60.
Aber was soll man mit (meist Rappoltsweiler) Personennamen wie Wunsche-
bang/Wuischenbank anfangen? Was mit Wamekei/Waniggei? Ist Malre(y) mit Mal-
rog identisch? oder mit Meroley/Mirlle? Wenn ja, wo liegt dann der Ausgangs-
punkt61?
Selbst so einfach strukturierte Namen wie Scherdey/Schirde(y)/Zschirde werfen im
ersten Augenblick Rätsel auf. Man könnte an französisches charretier denken, das
im Patois *tchertei ergeben müßte, heute tcharto in einer auf das Französische ausge-
richteten Form. Bei dem häufigen Goley (ab 1435 vor allem in Colmar), später mit
Umlaut Gölley (ab 1580/83 im Münstertal) kann man eine Ableitung von gula “gueu-
le” vermuten62.
*
ADC (wie Anm.21), E 2630, fol 7 v.
59 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 280, 567, usw. Jacobsson, Bans de tréfonds (wie Anm.9), S. 214.
60 Müller, Siedlungs- und Flurnamen (wie Anm. 13), S. 96-97. Vgl. kyoetchoei “clocher,
Kirchturm” bei Homing, Glossare (wie Anm.40), S. 41.
61 RUB, 2 (wie Anm.3), S. 38 (Johans Wuischenbank der alte, ein burger von Rapoltzwilre),
570 (nebent dem alten Hennin Wünschebang seligen)-, RUB, 1 (wie Anm.3), S. 374 (Wern-
lin Wamekei Langwernhers sune), 460 ( Werlin Langwernher genant Waniggei ein burger
von der nidern stütze Rapoltzwilr)\ RUB, 1 (wie Anm.3), S. 342 (gegen Johanneses Mero-
leyes hof) und RUB, 4 (wie Anm.3), S. 529. Die Belege von 1338 ( Wernlin Wamekei Lang-
wernhers sune), 1348 (Werlin Langwernher genant Wanniggei ein burger von der nidern
stütze Rapeltzwilr) und 1408 (nebent dem alten Hennin Wünschebang seligen) haben wir
im Departementsarchiv Colmar nachgeprüft (Extraditions de Munich 1888, carton 1, no 2;
18 H Augustins de Ribeauvillé 30/16; 31 H Ordre de Malte, Commanderie de Colmar, car-
ton 52).
62 RUB, 4 (wie Anm.3), S. 253, 340, 390. Lexique de patois welche, Labaroche 1987, S. 225. -
Sittler, Listes (wie Anm.5), S. 167.
83
Die Frage der welschen Einwanderung ins Oberelsaß im Mittelalter müßte auf einer
wesentlich breiteren Dokumentationsbasis wieder aufgenommen werden. Aber auch
so läßt sich historisch-geographisch schon einiges sagen. Es fällt zunächst auf, daß
die Stadt Rappoltsweiler im Mittelpunkt der Einwanderungsbewegung steht.
Man kann nicht umhin, hier einen Zusammenhang mit dem regierenden Adelsge-
schlecht der Rappoltsteiner zu vermuten, und da wiederum mit dessen matrimonialer
und lehensrechtlicher Politik nach Westen, d. h. nach Lothringen.
Übrigens müßte man auch die Nachbarorte Gemar, Hunaweier, Bergheim, Reichen-
weier, Bennweier, Kienzheim usw. in die Betrachtung einbeziehen. Demgegenüber
hat es den Anschein, daß sich Kaysersberg, Ammerschweier und Colmar sehr viel
deutlicher zurückhielten. In der Herrschaft Rappoltstein fanden die Grenzgänger mit
Sicherheit günstigere Bedingungen für Einbürgerung und Assimilation als anderswo,
vielleicht abgesehen vom Gregoriental der Abtei Münster. Aber nur im rauhen Berg-
land des Urbeistals und den Weilern des Lebertals gelang es ihnen dank zäher land-
wirtschaftlicher Arbeit, auch sprachlich die Oberhand zu gewinnen.
*
Schließlich wäre noch ein freundliches Wort gegenüber den mittelalterlichen Schrei-
bern der Herren von Rappoltstein fällig. Wenn wir verschiedene dialektale Phonetis-
men schon früh fassen können, dann dank ihrem guten Gehör. Man wird ihnen keinen
Vorwurf daraus machen, daß sie französische Namen in ihrem gewohnten mittel-
hochdeutschen System verschrifteten.
Es gibt hingegen deutliche Anzeichen dafür, daß einige von ihnen bis zu einem ge-
wissen Grad des Französischen mächtig waren. Anders läßt sich z. B. die Schreibung
-at(t)e mit stummem -e am Ende kaum erklären. Auch nicht Basemont, Pittit, Port
und Thiriat, jeweils mit stummem -t am Wortende. Eine französische Graphie
scheint auch in Urien vorzuliegen, ganz zu schweigen von dem sehr subtilen Sausex.
Während der Schreiber 1311 noch durchaus dialektal Saszey notierte mit Mono-
phthong -a- und Endung -ey, wählte der Schreiber von 1338 den entsprechenden Di-
graphen -au- des Französischen und griff beim Suffix -ex auf eine eher seltene
Schreibung zurück, die übrigens auch in der Westschweiz existiert.
★
Das mittelalterliche Grenzgängertum Lothringen - Elsaß zeigt sich nicht nur in kom-
promißloser Auswanderung mit anscheinend spontaner Aufgabe der sprachlichen
Identität, sondern auch in mehr abstrakter Art in der Rezeption dialektaler Züge und
französischer Graphien des romanischen Westens durch die germanophonen Elsäs-
ser.
Daß die Anpassung aber auch auf andere, unerwartete Weise vor sich gehen konnte,
zeigt in eindrücklicher Weise der deutsche Einfluß, welcher ein romanisches Wort im
Kern seines Wesens veränderte. Das aus lateinisch gallina “Huhn” entstandene ro-
manische Wort geline ist natürlich ein Femininum.
Es lautet heute erwartungsgemäß lejli. n (=/a geline). Überraschenderweise erscheint
es im Zinsregister von Urbach/Freland von 1421 regelmäßig als Maskulinum z. B.:
84
item doient les heritiers la femme Conneman vj ymaulx d 'avoinne et vj deniers de
eens et ung gellinnesb3.
Die Erklärung ist einfach. Die lothringischen Grenzgänger trafen im Urbeistal auf ein
überaus starkes elsässisches Substrat, von dem sie das Huhn als Neutrum kennen
lernten. Das wegen seiner Funktion als Steuerabgabe wichtige Wort wurde dann
unter deutschem Einfluß als Maskulinum in das eigene System übernommen.
ADC (wie Anm.21), E 885. Hier transkribiert nach der Photokopie bei Schillinger, Freland
(wie Anm.49), S. 32. Auf der gleichen Seite finden sich noch drei weitere Beispiele für das
Maskulinum.
85
Helga Abret
Ein Verleger als Grenzgänger zwischen Deutschland und
FRANKREICH: DER FALL ALBERT LANGEN
Albert Langen (1869-1909) war einer der bekanntesten Buch- und Zeitschriftenver-
leger der Wilhelminischen Zeit. Er gehörte wie Samuel Fischer, Eugen Diederichs,
Arthur Kippenberg, Reinhard Piper u.a. zu den bürgerlich-liberalen Individualverle-
gem, die Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Plan traten und
ihre unternehmerischen Interessen mit einem sehr persönlichen Engagement verban-
den. Langen war aber auch ein ‘Grenzgänger’1, der fast ein Jahrzehnt seines kurzen
Lebens im Ausland verbrachte, in Italien, in Norwegen, vor allem aber in Frankreich,
Diesem Mann waren die nationalen Grenzen stets zu eng, er glaubte nicht an unüber-
windliche Gegensätze zwischen den Völkern und praktizierte eine ohne Überfrem-
dungsangst für Anregungen jeglicher Art offene Haltung nicht nur im privaten, son-
dern auch im beruflichen Bereich. Als Verleger vermittelte Langen vorrangig zwi-
schen drei Kulturkreisen: dem deutschen, dem französischen und dem skandinavi-
schen. Im Rahmen dieses Beitrags beschränke ich mich weitgehend auf seinen Lite-
ratur- und Ideentransfer zwischen Frankreich und Deutschland.1 2
Zum Grenzgänger prädestiniert?
Man mag über Biographismus denken, wie man will, doch wenn man sich mit Grenz-
gängern beschäftigt, bei denen private Sphäre und öffentliches Wirken meist eng ver-
flochten sind, ist die Frage nach Herkunft und Lebensweg fast immer angebracht.
Über die Familie des kurz vor der Reichsgründung 1869 geborenen Albert Langen
sind wir durch ein ungewöhnliches Dokument informiert, nämlich durch eine vom
Urgroßvater des Verlegers begonnene Chronik, in der dieser die Familiengeschichte
bis ins 17. Jahrhundert verfolgt und die von seinen Nachfahren weitergeschrieben
wurde. Langen entstammt einer alteingesessenen protestantischen Familie aus dem
Rheinland, die seit dem 19. Jahrhundert in Köln ansässig war und sich aus bescheide-
nen Verhältnissen zu Reichtum und Ansehen emporgearbeitet hatte. In der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts besaßen die Langens Eisenhütten und Zuckerfabriken,
investierten in die Dampfkesselindustrie und waren Mitbesitzer des Schaafhausen-
schen Bankvereins. Albert Langens Onkel Eugen, der Bruder seines Vaters, war an
zahlreichen Erfindungen beteiligt - die Schwebebahn Barmen-Elberfeld ist beispiels-
1 Ich verstehe im Rahmen meines Beitrags den Begriff im weitesten Sinn: Grenzgänger als
Frauen und Männer, die von Berufs wegen, einfach aus Neugier oder gezwungenermaßen
(Exil) Landesgrenzen, und damit Sprach- und Kulturgrenzen, überschreiten und auf diesen
‘Grenzgängen’ Waren jeglicher Art und Ideen vehikulieren.
2 Eine ausführliche Darstellung der verlegerischen Tätigkeit A. Langens findet sich bei Hel-
ga Abret, Albert Langen. Ein europäischer Verleger, München 1993.
87
weise sein Werk. Er harte sogar die Reise über den Ozean nicht gescheut, um in den
Vereinigten Staaten für dieses Projekt zu werben. Zusammen mit Nikolaus August
Otto gründete Eugen Langen die erste Motorenfabrik der Welt.
Was die politische Tendenz dieser Familie angeht, so hatte Langens Großvater als
Abgeordneter in der Paulskirche gesessen, sein Vater und dessen Brüder hatten sich
eindeutig für die Reichsgründung engagiert, wobei ökonomische Gründe eine Rolle
gespielt haben mögen. Wirtschaftliche Erwägungen sind auch bei dem aufgeschlos-
senen Verhältnis der Langens dem Nachbarland gegenüber ausschlaggebend, denn
die Franzosen galten den rheinländischen Industriellen potentiell als wichtigste Han-
delspartner. Es war in dieser Familie selbstverständlich, daß man in jungen Jahren
französisch lernte, ja Albert Langens Großvater hatte sogar sein Tagebuch teilweise
in französischer Sprache abgefaßt. Durch ihre zahlreichen Geschäftsreisen hatten die
Langens ein realistisches Verhältnis zu Frankreich gewonnen, das sich nicht immer
mit der Staatsräson deckte. Was man in der Familie beispielsweise über den
Deutsch-Französischen Krieg dachte, geht aus einem Brief hervor, den Henriette
Langen, eine geborene Baslerin, 1870 an ihren Mann Eugen (Albert Langens Onkel)
richtete:
Es tut mir leid, wenn ich höre, daß junge Leute sich freiwillig stellen und so ihr Leben
für den Ehrgeiz ihrer Herrscher aufs Spiel setzen. Es ist unnütz sich für diesen Krieg
zu erhitzen, Frankreich hat ihn diesmal sicher vom Zaune gerissen, wie Preußen es
vor vier Jahren Österreich gegenüber getan hat. Daß die beiden Nationen noch ein-
mal aneinander geraten würden, lag außer Zweifel, nur im jetzigen Augenblick war
es überraschend. Begeisterung fühle ich keine, ich bedaure nur, mit Mann und Kin-
dern Untertan zu sein.3
Daß man trotz Anerkennung der grenzsetzenden Rolle des Staates die Möglichkeiten
privater Initiativen zu nutzen verstand, bewies Albert Langens Vater, als er sich 1889
über die Empfehlungen der deutschen Regierung hinwegsetzte und im Interesse sei-
ner Firma auf die Pariser Weltausstellung reiste. Sein zwanzigjähriger Sohn Albert,
der gerade eine kaufmännische Lehre absolviert hatte, begleitete ihn, und der junge
Mann erlag, wie vor und nach ihm so viele andere, der Faszination der “Lichterstadt”
Paris. So hängte er ein Jahr später, gerade mündig geworden, seinen Kaufmannsberuf
an den Nagel und ging mit dem mütterlichen Erbteil in der Tasche nach Paris. Angeb-
lich um sich dort zum Maler ausbilden zu lassen, doch war das nur ein Vorwand. Im
Gmnde genommen war er einer der zahlreichen ‘Aussteiger’, denen das Wilhelmini-
sche Deutschland zu eng wurde und die in der Welthauptstadt eine freiere Luft atmen
wollten.
Der Ruf, über ein nicht unbeträchtliches Privatvermögen zu verfügen, öffnete Lan-
gen die Türen der Pariser Salons, wo er mit Vertretern der literarischen Moderne zu-
sammentraf und sich mit Künstlern wie Théophile Alexandre Steinlen und Jules Ché-
ret befreundete. Langen knüpfte in Paris Verbindungen zu französischen Journali-
sten, am engsten wurde später die Zusammenarbeit mit dem für den Figaro schrei-
benden Jules Huret, und zu den Korrespondenten der deutschen, österreichischen
3
88
Johann Jakob Langen (1794-1869) und seine Sippe. Herausgegeben vom Langenschen Fa-
milienverband e.V., Leipzig o.J., S. 199.
und russischen Presse.4 Langen lernte in Paris nicht nur französische und skandinavi-
sche Schriftsteller kennen, unter letzteren sei Knut Hamsun genannt, auch seine er-
sten deutschen Autoren, Arthur Holitscher und Frank Wedekind, gehörten zu seinem
Pariser Bekanntenkreis.
Seinen Literatur- und Kunstverlag gründete Langen im Dezember 1893 in Paris, und
zwar aus einem spontanen Entschluß heraus, um Hamsuns Roman Mysterien, der ihn
begeisterte und den Samuel Fischer abgelehnt hatte, zu verlegen. Bei Gründung des
Verlags war seine originelle, allerdings etwas komplizierte Idee folgende: Er wollte
in Paris moderne deutsche Literatur und zeitgenössische französische und skandina-
vische Literatur in deutscher Übersetzung herausbringen, gleichzeitig sollte in einem
assoziierten französischen Verlag skandinavische, evtl, auch deutsche Literatur in
französischer Übersetzung erscheinen. Der Verlag war also als eine Art Drehscheibe
zwischen drei Kulturen gedacht, doch mußte Langen, mit der Realität des Buchmark-
tes und des Theaterbetriebs konfrontiert, die meisten seiner ehrgeizigen, in mehreren
Richtungen grenzüberschreitenden Pläne wieder fallenlassen. Vor allem erwies sich
die Führung eines Verlags, der vorwiegend Bücher in deutscher Sprache bringen
wollte, von Paris aus als zu kompliziert. Ein fester Verlagsort in Deutschland war
nicht zu umgehen. Nach einem kurzen Intermezzo in Leipzig ließ sich Langen 1895
in München nieder, wo er am 4. April 1896 auch die erste Nummer der satirischen
Zeitschrift Simplicissimus herausbrachte.
Im April 1896 heirateten Langen und Dagny Bjömson, die jüngste Tochter des nor-
wegischen Schriftstellers Bjömstjeme Bjömson, der damals nicht nur ein berühmter
Schriftsteller war, sondern als homo politicus auf europäischer Ebene seine Stimme
hören ließ. Langens Verbindungen zur skandinavischen Welt wurden auf diese Wei-
se konsolidiert, denn auf Bjömsons Gut in Aulestad, wohin er wiederholt während
der Sommermonate reiste, gab sich alles, was in den skandinavischen Ländern Rang
und Namen hatte, ein Stelldichein.
Langens erster Frankreichaufenthalt hatte über drei Jahre gewährt (1890-1894). Seit
Ende Oktober 1898 wird der Verleger noch einmal außerhalb der deutschen Grenzen
leben. Dieser unfreiwillige Auslandsaufenthalt, eine Art exil doré, hat mit der soge-
nannten “Palästinanummer” des Simplicissimus zu tun (Nr.31 vom 23. Oktober
1898), in der die Orientreise des Kaisers unbarmherzig aufs Korn genommen wurde.
Nach Erscheinen dieser Spezialnummer erhoben die sächsischen Behörden - die
Zeitschrift wurde in Leipzig gedruckt - gegen den verantwortlichen Redakteur Albert
Langen, den Zeichner des Titelblatts Thomas Theodor Heine und den Autor des Ge-
dichts Im heiligen Land, einen anonymen Hieronymos, hinter dem sich Frank Wede-
kind verbarg, Anklage wegen Majestätsbeleidigung.5 Um einer drohenden Verhaf-
tung zu entgehen, floh Langen bei Nacht und Nebel über Wien nach Zürich und ließ
4 Zu den Ausländskorrespondenten, die Langen in Paris kennenlemte, gehörten Paul Gold-
mann (Neue Freie Presse, Wien), Josef Siklosy (Neues Pester Journal), J. Pavlovsky (No-
voje Vremja, St. Petersburg) und Theodor Wolff (Berliner Tageblatt).
5 Vgl. zur “Palästinanummer” und der MajestätsbeleidigungsafFäre: H. Abret/A. Keel, Die
Majestätsbeleidigungsaffäre des Simplicissimus-Verlegers Albert Langen. Briefe und Do-
kumente zu Exil und Begnadigung, Frankfurt a.M., Bern, New York 1985 (Texte und Un-
tersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 12).
89
sich im Januar 1899 in Paris nieder, wo er alte Freunde wiederfand, neue Beziehun-
gen knüpfte und seinen Verlag fast viereinhalb Jahre ‘femsteuerte’.
Albert Langen, dessen Verlag und Simplicissimus in einer Art Symbiose arbeiteten,
besaß einen kleinen, über seinen frühen Tod hinaus stabilen Stab von Mitarbeitern,
die alle einer Generation angehörten. Sie waren 1896 zwischen 22 und 30 Jahre alt
bzw. jung, keiner von ihnen hatte den Krieg von 1870/71 bewußt miterlebt. Einige
der Mitarbeiter kannten Frankreich bereits, bevor sie mit Langen zusammenarbeite-
ten (so die Künstler Eduard Thöny und Ferdinand von Reznicek), andere lernten das
Land erst durch Langen kennen, der sie während seines Exils nach Paris kommen
ließ, so wie er 1895, nach seiner Niederlassung in München, seine Pariser Freunde in
die Isarmetropole eingeladen und sie mit den bayrischen Sitten bekanntgemacht hat-
te. Ludwig Thoma, den ‘bodenständigsten’ seiner Mitarbeiter, lockte Langen im
Frühjahr 1902 für mehrere Monate nach Paris. Thoma lernte Künstler wie Albert
Besnard und Eugène Carrière kennen, besuchte Auguste Rodins Atelier, traf mit dem
Ingenieur Paul Clemenceau, einem Bruder von George Clemenceau, und dem Haupt-
mann Picquart, einem der wichtigsten Protagonisten in der Dreyfus-Affare, zusam-
men. Wie Thoma in einem Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Paul Geheeb
schrieb, bemühte sich Langen dämm, ihn “zum Europäer heranzuziehen, der für das
Pariser Pflaster tauglich ist.”6 Zu diesen individuellen Frankreicherlebnissen gesell-
ten sich kollektive. Mehrmals unternahmen Langen und seine Mitarbeiter Radtouren
durch Südffankreich. Im Buch- und Zeitschriftenverlag, in dem der deutsch-französi-
sche Kulturtransfer einen wichtigen Platz einnahm, arbeiteten also Männer, die das
Land und meist auch dessen Sprache kannten. Auch nach seiner Begnadigung durch
den sächsischen König und der Rückkehr aus dem Exil im Frühjahr 1903 reiste Lan-
gen immer wieder über den Rhein, vor allem als er 1907 mit der Herausgabe einer
zweiten Zeitschrift mit dem Titel März begann und wegen der zahlreichen französi-
schen Mitarbeiter in Paris ein März-Büro einrichtete, das ein Luxemburger, Paul
Bruck, leitete.
Aus dem bis jetzt Gesagten ergibt sich, daß die Herkunft aus einer dem Nachbarland
Frankreich gegenüber aufgeschlossenen, dynamischen rheinländischen Industriel-
lenfamilie, für welche die westliche Grenze nicht Begrenzung, sondern Öffnung be-
deutete, Langens Grenzgängertum ohne Zweifel begünstigt hat. Überschreiten des
Rheins, Interesse für das, was auf der anderen Seite vor sich ging, Unvoremgenom-
menheit im Umgang mit dem Nachbarn und Bereitschaft, von ihm zu lernen, hatten
in dieser liberalen Familie Tradition. Von seinen Vorfahren an Warenaustausch über
die Grenzen hinweg gewöhnt, wird Albert Langen versuchen, als Verleger ähnliche
Prinzipien beim Austausch kultureller Güter anzuwenden und damit bei seinen Zeit-
genossen nicht selten auf Mißverständnis oder Ablehnung stoßen.
Der weitere Lebensweg des Verlegers, die langen freiwilligen und unfreiwilligen
Auslandsaufenthalte, vor allem die beiden Frankreichaufenthalte 1890-1894 und
1899 bis April 1903, die Heirat mit einer Norwegerin, die selbst die Tochter des mit
seiner Familie durch Europa reisenden Europäers Bjömstjeme Bjömson war, der
6
90
Brief Thomas an Reinhold Geheeb vom 13.3.1902. Zitiert nach Andreas Pöllinger, Der
Briefwechsel zwischen Ludwig Thoma und Albert Langen 1899-1908, Frankfurt a.M.
1993,2. Teil, S.737.
deutsch-französisch-skandinavische Freundeskreis führten dazu, daß Langen, der
fundierte Kenntnisse der französischen und norwegischen Sprache besaß, wie wohl
kein anderer deutscher Verleger seiner Zeit in drei Kulturkreisen zu Hause war.
Durch seine Auslandsaufenthalte verfugte er über ein Verbindungsnetz, das einen
Teil Europas bedeckte und das er bei seiner verlegerischen Tätigkeit zu nutzen ver-
stand. Darüber hinaus regte er immer wieder auf privater Ebene kulturelle Begegnun-
gen an, aus denen nicht selten grenzüberschreitende Freundschaften wurden.
Langen war von enthusiastischem, kommunikativem Temperament und von konzili-
anter Natur. Seine Spontaneität und Begeisterungsfähigkeit, die zur Verlagsgrün-
dung geführt hatten, bewahrte er sich zeitlebens, wobei die Objekte seiner Begeiste-
rung nicht unbedingt Bücher oder Kunstwerke zu sein brauchten.7 Herkunft, Tempe-
rament und Lebensweg prädestinierten Langen zum Grenzgänger und Vermittler,
und so erwies sich der Beruf des Verlegers, der ja par excellence ein vermittelnder
Beruf ist, in seinem Fall wirklich als Berufung.
Langens Rolle im französisch-deutschen Literaturtransfer
Als Langen 1890 nach Paris kam, war die Hochblüte des französischen Naturalismus
bereits vorbei. Das bestätigt eine Umfrage, die der Journalist Jules Huret 1891 bei 64
renommierten Schriftstellern veranstaltet hatte.8 Zwar ging es in dieser Umfrage in
erster Linie um die Gruppenzugehörigkeit der Schriftsteller, doch stellte Huret stets
auch die Frage nach der gegenwärtigen Situation des Naturalismus und nach seiner
Zukunft. Wenn die Hypothesen, die Zukunft dieser Strömung betreffend, auseinan-
dergingen, waren sich fast alle Schriftsteller darin einig, daß der Höhepunkt des Na-
turalismus überschritten war, auch wenn fast niemand dessen Verdienste für die mo-
derne Literatur leugnete (Einführung neuer sprachlicher Mittel, Präzision der Beob-
achtung, Interesse für soziale Probleme und Konflikte). Die sich an diese Umfrage
anschließende Diskussion war an Langen und anderen dazumal in Paris lebenden
Schriftstellern und Kritikern, erinnert sei an Hermann Bahr, nicht spurlos vorüberge-
gangen. Da die Literatur in Frankreich die Wendung zum Psychologischen bereits
vollzogen hatte, war abzusehen, daß in Kürze im deutschen Sprachraum ebenfalls
eine Rehabilitierung des Seelischen gegenüber dem “Sachlichen” und Sozialkriti-
schen erfolgen werde. Außerdem war aus der französischen Debatte hervorgegan-
gen, daß sich nach dem “Tod des Naturalismus” bzw. nach dessen “Überwindung”
(H. Bahr), die moderne Literatur durch ein Nebeneinander verschiedenster Strömun-
gen auszeichnen werde. Denn die befragten Schriftsteller hatten ohne Komplexe zu-
gegeben, daß ihnen wettbewerbliches Denken nicht mehr fremd war und daß sie Um-
stellungsstrategien nicht scheuten, wenn sich ihre Erfolgsaussichten innerhalb einer
bestimmten Strömung verringerten. Da eine Aufsplitterung der modernen Literatur
vorauszusehen war, verzichtete Langen von vornherein auf den Ehrgeiz, Verleger ei-
7 So übernahm Langen, selbst ein begeisterter Autofahrer, 1908 die Generalvertretung der
Automobilfirma Züst und gründete im selben Jahr in München die erste “Bayerische
Chauffeurschule”.
8 Sie erschien zwischen dem 3. März und dem 5. Juli 1891 zunächst im Echo de Paris und ei-
nige Monate später als Buchausgabe unter dem Titel Enquête sur l’évolution littéraire.
91
ner bestimmten literarischen Richtung oder Gruppierung zu sein, sondern verstand
seinen Verlag als ein allen modernen Tendenzen offenstehendes Haus.
Nachdem der Verlag im ersten Jahr ausschließlich skandinavische Literatur gebracht
hatte, tauchten die ersten französischen Autoren 1895 auf. Es handelt sich um zeitge-
nössische Schriftsteller, die der junge Verleger persönlich kannte: Henry Becque,
Paul Bourget, Anatole France, Gustave Geffroy, Abel Hermant, Octave Mirbeau,
Emile Zola. Abgesehen von Zola waren sie noch nicht ms Deutsche übersetzt wor-
den, und Langen war der erste, der sie auf dem deutschen Markt einführte. Zu Beginn
seiner Verlagsgründung hatte er sogar einige Male selbst aus dem Französischen
übersetzt - so Henry Becques Stück La Parisienne (Die Pariserin) und einen Gesell-
schaftsroman von Paul Hervieux, Peint par eux-mêmes (Im eigenen Licht), und seine
Übersetzungen können sich durchaus sehen lassen. Er beherrschte die Sprache, kann-
te das dargestellte Pariser Milieu, und was er manchmal an Exaktheit fehlen ließ,
machte er durch sein Sprachgefühl, das Nuancen nachzuzeichnen verstand, wieder
wett.
Ehe merkantile Erwägungen den Verleger zu Umstellungsstrategien führten, gehörte
dessen Vorliebe dem “psychologischen Roman”, der in Frankreich die naturalisti-
sche Literatur abgelöst hatte. Zu den Psychologen rechnete man beispielsweise auch
Anatole France, der bereits internationale Anerkennung gefunden hatte, als Langen
seinen Verlag gründete, von dem aber noch keine einzige deutsche Übersetzung vor-
lag. Langen führte A. France in Deutschland mit einem modernen Gesellschaftsro-
man, der Roten Lilie ein. Das Buch war im Sommer 1894 zum literarischen Haupt-
ereignis der Pariser Sommersaison geworden, in Deutschland fand die Übersetzung
kaum Käufer. Bald mußte Langen feststellen, daß sich nicht nur Anatole France, son-
dern die gesamte französische psychologische Literatur in Deutschland, wo die natu-
ralistische Strömung gerade erst im Kommen war, schlecht verkauften.
Doch erlebte Langen nicht nur mit den “Psychologen” Enttäuschungen. Als beson-
ders bitter empfand er den Mißerfolg, den er 1896 mit Ein Golgatha, der Übersetzung
von Octave Mirbeaus Roman Le Calvaire ( 1886) erlebte. Hatte er doch geglaubt, da-
mit einen Beitrag zur deutsch-französischen Annäherung zu leisten. Dieses Buch ge-
hörte zu den ersten literarischen Versuchen der um 1850 geborenen Franzosen, die
Ereignisse des deutsch-französischen Krieges ohne Haß darzustellen. Bei seinem Er-
scheinen in Frankreich hatte vor allem eine Szene Aufsehen und Empörung erregt:
Nachdem der Held, ein junger französischer Soldat, einen ebenso jungen preußi-
schen ‘Feind’ auf Patrouille aus dem Hinterhalt erschossen hat, drückt er, entsetzt
und erschüttert über seine eigene Tat, dem Sterbenden einen Kuß auf die Lippen. Ge-
rade diese Szene ließ Langen von Hermann Schlittgen auf der Umschlagzeichnung
der deutschen Ausgabe darstellen. Doch das Buch, das in Frankreich zehn Jahre frü-
her von sich reden machte, blieb in Deutschland unbemerkt. Nach eigenen Aussagen
setzte Langen von dieser ersten Mirbeau-Übersetzung im deutschen Sprachraum
nicht einmal 300 Exemplare ab.
Für mißglückte Transfer-Versuche ließen sich weitere Beispiele anführen. So be-
mühte sich Langen vergeblich dämm, Henry Becque, einen Vorläufer des modernen
Theaters, der nicht nur in Frankreich, sondern auch in Belgien und Italien ein erfolg-
reicher Bühnenautor war, nach Deutschland einzuführen. Doch lehnte eine deutsche
Bühne nach der anderen Becques Stücke ab, in denen der Autor kühl und emotionslos
92
die Moral der neuen Zeit, eine Art ‘unschuldige’ Schlechtigkeit, demonstriert. Als
sich schließlich 1897 das Frankfurter Theater zu einer Aufführung entschloß, rea-
gierten die Zuschauer mit Unverständnis und Ablehnung.
Spätestens 1898 machte sich Langen keine Illusionen mehr, was seine Mittlerrolle
zwischen der modernen französischen Literatur und den deutschen Lesern betraf:
“Gute französische Romane in Übersetzung werden nämlich nicht gekauft” schrieb
er im Sommer 1898 an Paul Kühn.9 Und seinem Pariser Vertreter Paul Michaelis ge-
stand er im selben Jahr, er sei über den Mißerfolg seiner literarischen Vermittlertätig-
keit zwischen Frankreich und Deutschland verzweifelt, denn er zöge es vor, seriöse
Autoren zu verlegen: “J’en suis tout à fait désolé; car moi je préférais d’éditer des au-
teurs sérieux.”10 11
Wenn sich die “gute”, “seriöse” französische Literatur, mit der Langen seine Lands-
leute bekanntmachen wollte, schlecht verkaufte, so reüssierten hingegen auf Anhieb
Marcel Prévost und andere französische Unterhaltungsschriftsteller.11 Da es sich der
Verleger nicht leisten konnte, in allen Bereichen defizitär zu arbeiten, baute er die
Sparte der französischen Unterhaltungsliteratur aus, und so kamen die Waagschalen
des Verlages - die Waage war das Langensche Verlagssignet - wieder ins Gleichge-
wicht.
Unter den französischen Unterhaltungsschriftsteilem ist Marcel Prévost Spitzenrei-
ter.12 Die größten literarischen Erfolge dieses Schriftstellers, mit dem Langen 1897
einen Vertrag auf Lebenszeit schloß, lagen sowohl in Frankreich als auch in Deutsch-
land zwischen 1890 und 1910, doch verstand es Prévost, seine Themen geschickt den
sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen und den veränderten Lesererwar-
tungen anzupassen. So stieg er kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf vater-
ländische Romane um. Eine Zwischenstellung nimmt sein 1906 veröffentlichter Ro-
man Monsieur et Madame Moloch ein, in dem, wie auch in anderen französischen
Deutschlandromanen jener Jahre, die Theorie von den zwei Deutschland vertreten
wird. Allerdings ist der Vertreter des ‘guten’ Deutschland, der idealistische Natur-
wissenschaftler Professor Zimmermann, bei Prévost bereits eine lächerliche Figur,
und der Roman läßt keinen Zweifel daran, daß Gewalt und Machtdenken im Reich
bereits über den Geist gesiegt haben und das ‘böse’ Deutschland säbelklirrend auf ei-
nen europäischen Krieg zusteuert.
Langen brachte den Roman 1907, also nur ein Jahr nach seinem Erscheinen in Frank-
reich, in deutscher Übersetzung heraus, obgleich er wußte, daß dieser nichts mehr mit
der auf dem deutschen Markt beliebten Unterhaltungsliteratur von Prévost zu tun hat-
te und sich deshalb weniger gut verkaufen würde. Darüber hinaus hatte er wegen des
Inhalts Angriffe von seiten der nationalistischen deutschen Presse zu erwarten, in de-
9 Zitiert im Typoskript von Hanns Floerke. Der Albert Langen Verlag, Anhang Bl.21 (Deut-
sches Literaturarchiv, Marbach a. Neckar, Nachlaß Gustav Pezold).
10 Brief an Michaelis vom 25.3.1898 (wie Anm.9), Anhang Bl. 1.
11 Zum Beispiel Georges Ohnet, Jules Case, Daniel Lesueur d.i. Jeanne Loiseau, Jeanne Mar-
ni, François de Nion.
12 Die ersten drei Titel von Marcel Prévost verlegte Langen 1895, darunter den berühmt be-
rüchtigten Roman Demi-vierges (Halbe Unschuld). Insgesamt gab Langen 36 Titel dieses
Schriftstellers heraus.
93
Wie
ein Franzose
das heutige
Deutschland
sieht!
Soeben erschien:
Der neue Roman von
MARCEL PREVOST
Herr und Frau Moloch
Umschlagzeichnung von André Lambert
Preis geheftet 4 Mark, in Leinen gebunden 5 Mark
Dies«« neueste Werk des berühmten französischen Romancier« wird In Deutschland
zweifellos da* grösste Aufsehen erregen, enthilt es doch nicht* weniger alt die Kritik
eine« vorurteilsfreien. gebildeten Franxoten Uber da* gegenwärtige politische Regime in
Deutschland. Ein jnnger französischer Gelehrter kommt alt Erzieher de* Erbprinzen an
dea Hof eine* kleinen thüringischen Fürstentums. Die ReTSnchegedsnken einer ver-
gangenes Generation sind Ihm fremd. Er sieht in dem Deutschen keinen „Erbfeind *;
als harmloser Fremdling will er dem Lande, das ihm Gastfreundschaft gewährt, and
dessen Bewohnern mit der freundschaftlichen Gesinnung begegnen, die sich für einen
Gast dem Gastfreund gegenüber geziemt. Zu der Fürstin tritt er In nähere Beziehungen,
und dadurch erhält er Einblick la die intimsten Vorgänge an dieaem deutschen Fürsten*
hofe. Ult der Haupthandlung eng verknüpft ist das Schicksal, daa einem berühmten
deutschen Professor, dessen Urbild anschwer sa erkennen Ist, in diesem kleinen Staate
widerfährt.
Seine Erlebnisse lassen dan jungen Franzosen nach einem knappen Jahre dieaem Deutsch-
land gern und freudig den Rücken kehren. Er hat die Ueberzeugung gewonnen, dass das
offizielle Deutschland heute weiter denn je davon entfernt sei, eine aufrichtig freundliche
Gesinnung gegen Frankreich tu hegen, dass es noch Immer mit der gepanzerten Faust
renommiere. In den Augen des offiziellen Deutschlands sei Frankreich immer noch „der
Feind“; und seine Siegesfeste, die es immer noch mit grossem Pomp begehe, seien lm
Grunde die Feier der Niederlage des Feindes. Wohl gebe es neben diesem offiziellen
Deutschland noch einen Rest von jenem alten Deutschland der Dichter und Denker.
Aber der Anhänger dleees Deutschland dea Geistern würden immer weniger. Der Geist
de« offiziellen preußischen Deutschland« werde bald In Deutschland allmächtig «ein.
Daa Buch wird viel Anfeindung erfahren, und die Unentwegten, die daa Wort „Deutsch-
land44 kritiklos zum Inbegriff des Schönsten und Herrlichsten und Besten auf der Welt
machen, werden ea ln Grund uud Boden verdammen. Freiere Menschen aber, die bei aller
Liebe zum Vaterlande nicht blind sein wollen, die wissen, dass ein Fremder ihre Fehler
am besten «leht, werden aus diesem Buch eines Franzosen über Deutschland manches
zu leruea und zu beherzigen verstehen. Wie man sich aber auch su diesem Werk steilen
mag: „Herr und Frau Moloch“ Ist eiu Roman, den jeder gelesen haben muss.
Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen oder direkt vom Verlag
ALBERT LANGEN in MÜNCHEN-S
Abb. 1: Werbung im "Simplicissimus "fur M Prevosts Roman "Herr und Frau Moloch "
94
ren Kreuzfeuer er bereits aus anderen Gründen geraten war. Warum Langen Herr und
Frau Moloch trotzdem veröffentlichte, läßt sich aus dem Text einer großformatigen
Annonce im Simplicissimus herauslesen, mit der Langen für den Roman warb.
(Abb.l) Es heißt dort:
Das Buch wird viel Anfeindung erfahren, und die Unentwegten, die das Wort
“Deutschland” kritiklos zum Inbegriff des Schönsten und Herrlichsten und Besten
auf der Welt machen, werden es in Grund und Boden verdammen. Freiere Menschen
aber, die bei aller Liebe zum Vaterlande nicht blind sein wollen, die wissen, daß ein
Fremder ihre Fehler am besten sieht, werden aus diesem Buch eines Franzosen über
Deutschland manches lernen und zu beherzigen verstehen.
Versucht man, die Bilanz aus der Vermittlertätigkeit Langens im Literaturtransfer
von Frankreich nach Deutschland zu ziehen, so fällt diese eher enttäuschend aus.
Dazu sei folgendes bemerkt: Als Grenzgänger war Langen, wie wir feststellten, sei-
nen weniger mobilen Kollegen von der Zunft in der Kenntnis der zukünftigen Ent-
wicklung des Buchmarktes eine Länge voraus. Als er bei seinem ersten Parisaufent-
halt verstanden hatte, daß sich die moderne Literatur vom Naturalismus weg zu ei-
nem Stilpluralismus hin entwickeln würde, versuchte er, seinen Vorsprung auszunüt-
zen, indem er antizipierte. So leistete er in den ersten Jahren seiner Verlagsgründung
Pionierarbeit, indem er Schriftsteller wie Georges Ancey, Tristan Bemard, Henry
Becque, Alfred Capus, Anatole France, Paul Hervieu, Octave Mirbeau und andere in
Deutschland vorstellte. Das brachte ihm zwar einige Anerkennung bei der Literatur-
kritik, doch die Bücher verkauften sich schlecht, und er mußte die erheblichen finan-
ziellen Verluste durch den Ausbau des französischen Unterhaltungssektors ausglei-
chen. Was Langen nämlich bei der psychologischen Literatur außer acht gelassen
hatte, war die Tatsache, daß das gebildete deutsche Bürgertum “gute” französische
Literatur (beispielsweise Anatole France) immer noch in der Originalsprache las und
folglich auf seine Übersetzungen nicht angewiesen war.
Auch der Mißerfolg bei der Vermittlung von Henry Becques Theaterstücken, für die
sich Langen stark und hartnäckig engagierte, läßt sich im nachhinein erklären. Die
traditionellen Theater, die im Wilhelminischen Deutschland in zahlreichen Städten
mittlerer Größe entstanden waren, bevorzugten um die Jahrhundertwende noch im-
mer französische Boulevardstücke oder ihre deutschen Nachahmungen. Zwar hatte
Becque sowohl seine Raben (Les Corbeaux, 1882) als auch die von Langen 1895 ins
Deutsche übertragene Pariserin “Komödien” genannt, doch wollte er nicht amüsie-
ren bzw. unterhalten. Spätestens bei der Lektüre der Texte mußte den Theaterdirekto-
ren klarwerden, daß diese Art von “Komödien” (die eher Tragikomödien waren) das
Unterhaltungsbedürfnis ihres Publikums nicht befriedigen würden. Die “Freien Büh-
nen” wiedemm, die nach dem Berliner Vorbild in anderen deutschen Großstädten
entstanden waren, wußten mit Becque kaum mehr anzufangen. Das Publikum dieser
oppositionellen Theater erwartete kritische Thesenstücke oder Appell an Mitleid und
Aufruf zum Protest gegen soziale Mißstände. Die Art und Weise, wie Becque das
Schlechte als unabänderlichen Zustand der Welt hinstellte, hätte die Zuschauer dieser
sich progressiv gebenden Bühnen enttäuscht und schockiert.
Langens Probleme beim Transfer französischer Literatur nach Deutschland lassen
also deutlich werden, daß jede nationale Kultur eigene Wachstums- und Entwick-
lungsgesetze hat. Eine eigenständige Literatur kann im Kontakt oder in der Ausein-
95
andersetzung mit einer anderen befruchtet werden, sich vielleicht auch rascher ent-
falten, Etappen überspringen kann sie nicht. Sie muß letztlich ihren eigenen Weg fin-
den. Langens Enttäuschungen und Mißerfolge erscheinen mir deshalb in Hinblick
auf die Grenzgängerproblematik im allgemeinen signifikant zu sein. Die Tragik der
Grenzgänger besteht oft darin, daß sie in erster Linie Pioniere sind, die das Terrain er-
kunden und vorbereiten, die Anstöße und Anregungen vermitteln. Die Früchte ihrer
Pionierarbeit ernten fast immer andere.
Der Grenzgänger als ‘Importeur’ und ‘Exporteur’ von Ideen
Als Verleger vermittelte Langen vorrangig Manuskripte und Bücher, doch war er
mehr als ein ‘normaler’ Verleger an der Schaltstelle zwischen Autor, Werk und Pu-
blikum. Von seinen Grenzgängen brachte er eine Vielzahl von Anregungen und Ide-
en mit, die er mit mehr oder weniger Erfolg in seiner Heimat zu konkretisieren ver-
suchte.
Viele dieser Ideen haben mit dem Buch und dem Buchmarkt zu tun. Frankreich war
ein Land, in dem die Vermarktung der Literatur fortgeschrittener war als in Deutsch-
land. So hatte Langen während seines ersten Paris-Aufenthalts die enormen Werbe-
kampagnen erlebt, mit denen z.B. das Erscheinen eines neuen Zola-Romans auf Pla-
katen und Handzetteln angekündigt wurde, die bekannte Künstler wie Jules Cheret,
Toulouse-Lautrec oder Th. A. Steinlen entworfen hatten. Als er 1896 seinen Simpli-
cissimus gründete, versuchte er, die Zeitschrift durch ein solches von Th. Th. Heine
entworfenes Plakat zu lancieren, doch hatte dieses in Deutschland noch ungewöhnli-
che Werbemittel (das in Frankreich übrigens fast ausschließlich in der Hauptstadt
eingesetzt wurde), wie die katastrophalen Verkaufsergebnisse der ersten Nummern
zeigten, nicht den geringsten Erfolg. Erst Kurt Wolff gelang es nach dem Ersten
Weltkrieg mit seinen aufwendigen Plakatkampagnen an den Litfaßsäulen, die Aufla-
gen von Gustav Meyrinks Golem und Heinrich Manns Untertan in die Höhe schnel-
len zu lassen. Wieder einmal hatte Langen undankbare Pionierarbeit geleistet.
Mehr Glück hatte er mit einer anderen Idee. Ebenfalls in Frankreich hatte er als neue
und lukrative Vertriebsform den Bahnhofsbuchhandel kennengelemt, der sich all-
mählich auch in Deutschland entwickelte. Die Bahnhofsbuchhandlungen nahmen
den potentiellen Lesern die ‘Schwellenangsf und ermöglichten es, neue Lesergrup-
pen anzusprechen, die eine traditionelle Buchhandlung im allgemeinen nicht betra-
ten. So gründete Langen im Frühjahr 1897, bald nach seiner Niederlassung in Mün-
chen, die preiswerte “Kleine Bibliothek Langen”, die vor allem - darauf wurde in der
Werbung immer wieder hingewiesen - als “Reiselektüre” gedacht war. Bei der Kon-
zeption dieser Reihe nutzte Langen Erfahrungen, die französische Verleger im Bahn-
hofsbuchhandel bereits gemacht hatten; das mag erklären, warum gerade seine Reihe
langlebiger und erfolgreicher als die seiner Konkurrenten war.
Auch eine neue Form der Buchgestaltung führte Langen aus Frankreich nach
Deutschland ein, nämlich das broschierte Buch mit dem von Künstlerhand gestalte-
ten Umschlag, der mit dem broschierten Buchblock im Gegensatz zu dem sich später
herausbildenden Schutzumschlag eine Einheit bildet. Wie die für ein Produkt wer-
benden Plakate sollten diese Umschläge bei der Überproduktion auf dem Buchmarkt
einen werbenden Effekt haben, Kunden anlocken und den Kaufentschluß herbeifüh-
96
l'instruction dans
— y vai* te faire entrer dans la tête le manie-
ment du fusil, bougie d'idiot.*.
Vient de paraître
LE ROMAN
Romanesque
Numéro dé Décembre
—
SOMMAIRE
j Jean a Icard La Mo*H du petit Zan. — Bra-
da : La Pudeur anglaUe. — Marcel Prè-
Tost : Bon Cofur. — Paul Btlhaud MU-
j coire ponctuée. — Lazare WelUer : Let
I Trusts. — Michel ProTln* ; CendriUon. —
! Tony d*ülméi Dans les Ténèbres. — Mar-
l tial Moulin : Le Préfet au Village.— Judith
I Gautier : Théophile Gautier et la Campagne '
Ce numéro contient erx outre
UN ROMAN COMPLET
LE CALVAIRE
par
OCTAVE MIRBEAU
Le Numéro : 60 centimes
Chaque numéro contient un roman complet
et de nombreux articles
12 ROMANS PAR AN
pour
j 7 fr. France — 9 fr. Étranger
»' * '1 *1''1' 'I1 *' '1' 't'~t~ TI‘ IT"
ËTRENNES 1904
Les Premiers Contes
D’ANDERSEN
Édition illustré« de
150 gravures sur bois
Reliure de luxe. /0 fr.
Librairie F. JÜVEN, 123, rue Réaumor, Paris
l’armée allemands
— *¿1, après ça, tou corps n'est pas habitué à la
duré L*.
Bref, le sergent Kûlike fit tant que la jeune sol-
dat se pendu...
... et le sergent Kûlike "ut félicité par te Conseil
de guerre pour ferme te â l'exercice.
Simplicissimus, Munich.)
Abb.2: Zeichnung aus dem "Simplicissimus" über die Ausbildungsmethoden in der deutschen
Armee, veröffentlicht in "Le Rire" vom 12.12.1903.
97
LE RENTIER
— Et :oi, papa ? A quelle camere Le destines-lu 1
Dessin Je Ts Heime.
¡nr,tNSw^m?ar°\? êf1 -“,™ment ÎOUJ -la 'ilre ' SCENES OS La VJ* DE l'AMILLE FN ALLEMAGNE, un »Iblim üu dessin,Heur allemand T!
Î?dr,™« ZnLi ?' rr','OSl d‘M,‘ Jlna ^Lcl* ™sacré au SimpUeimmut de Berlin ; - Cesl un ires jtand arusls. -
Cl dessua, donnera a nos lecteurs une idee du talent au orlebrc humoriste, dont l’album en couleurs paraîtra a la iin de mois.
. Heine,
La paye
Abb.3: Werbung in "Le Rire" vom 15.6.1901 für die französische Übersetzung von Th. Th.
Heines "Bilder aus dem deutschen Familienleben ”
98
ren. Die Umschläge der ersten von Langen verlegten Bücher stammen noch von re-
nommierten französischen Künstlern, doch waren diese bereits im eigenen Land mit
Aufträgen überlastet. Bald übernahmen Langens Simplicissimus-Zeichner die Buch-
gestaltung. Die Werbewirkung ihrer Umschläge war im allgemeinen größer als bei
den französischen Vorbildern, die stark dem naturalistischen oder impressionisti-
schen Stil verhaftet blieben, während bei Langen ein nicht malerischer, sondern flä-
chiger oder linearer Stil die Oberhand gewann. Außerdem verfugte Langen, wie die
französischen Buchkünstler mit einem gewissen Neid Zugaben, über die moderneren
Reproduktionsverfahren. Die bei Langen veröffentlichten Bücher erhielten durch die
Umschläge ein unverwechselbares, “individuelles” Gewand, das auf dem deutschen
Buchmarkt der 90er Jahre Aufsehen erregte und den Verlag ins Gespräch brachte.
Seine von Künstlern geschaffenen Originalumschläge bedeuteten eine Revolution
auf dem deutschen Buchmarkt und machten bald Schule.
Die Idee zum Simplicissimus, diesem farbigen, großformatigen Wochenblatt, das mit
den Jahren zum bedeutendsten satirischen Oppositionsblatt der Kaiserzeit wurde,
hatte sich Langen ebenfalls auf der anderen Rheinseite geholt, wo die satirische Pres-
se eine lange Tradition hatte. Vorbild für Langen waren vor allem französische Neu-
gründungen der 90er Jahre, so der 1891 ins Leben gerufene Gil Blas illustré und die
seit 1894 erscheinende Zeitschrift Le Rire. In Deutschland wurde Langens Zeitschrift
von Anfang an als typisch französisch empfunden. Hermann Hesse schrieb beispiels-
weise in einem Artikel über den Simplicissimus:
Der Geist dieses Blattes war nicht eigentlich deutsch, er kam aus Paris und bestand
in jener typisch pariserisch wundervollen Mischung von Künstlertum und Politik, die
in Paris so viele junge Künstler und Literaten dazu trieb, auch das politische Leben
bewußt und kritisch mitzuerleben.13
Langens Simplicissimus kann als eklatantes Beispiel für einen gelungenen Transfer
bezeichnet werden, gelungen vielleicht auch deshalb, weil er sich bald von den fran-
zösischen Vorbildern emanzipierte. Ursprünglich als Unterhaltungsblatt konzipiert,
wurde er von Langen immer stärker ins Fahrwasser der gesellschaftlichen und politi-
schen Satire gesteuert. Der Verleger sah hier eine Möglichkeit, sich von der konkur-
rierenden Münchner Schwesterzeitschrift, der ebenfalls 1896 gegründeten Jugend,
abzusetzen. Außerdem war es ihm gelungen, einige ungewöhnlich begabte Zeichner
als feste Mitarbeiter zu gewinnen. Die Karikaturen eines Th. Th. Heine, Bruno Paul,
Eduard Thöny, Ferdinand von Reznicek, Wilhelm Schulz und später Olaf Gulbrans-
son wurden wegen ihrer künstlerischen Qualität und inhaltlichen Brisanz von auslän-
dischen satirischen Zeitschriften, vor allem in Frankreich, oft nachgedruckt. (Abb.2)
Durch Langens Vermittlung erschienen in Paris bei dem Verleger Félix Juven, mit
dem dieser befreundet war, erfolgreiche Serien aus dem Simplicissimus, so Th. Th.
Heines berühmt-berüchtigte Folge Bilder aus dem deutschen Familienleben (Scènes
de la vie de famille en Allemagne). (Abb.3) Langen sah in diesem Export von Erzeug-
nissen deutscher Satire optimistisch nur positive Aspekte. Er hoffte, die in Frankreich
nachgedruckten Karikaturen oder die französischen Ausgaben der Alben von Simpli-
cissimus-Zeichnern würden dem Nachbarland zeigen, daß die Deutschen sich durch-
13 Hermann Hesse, Erinnerungen an den Simplicissimus. In: Neue Zürcher Zeitung vom
28.3.1926.
99
aus ihrer Schwächen bewußt waren und vor den Mißständen im eigenen Land nicht
die Augen verschlossen. Es entging ihm, daß Satire eben doch ein explosiverer Ex-
portartikel als andere geistige Güter ist. Die in Frankreich verbreiteten sarkastischen
Eigenbilder des Simplicissimus haben ohne Zweifel Negativbilder verfestigt und zur
Verdüsterung des Bildes von Deutschland und den Deutschen beigetragen. Darauf
soll im letzten Teil meines Beitrags kurz eingegangen werden.
Mit Félix Juven, in dessen Verlag auch die satirische Zeitschrift Le Rire erschien, ar-
beitete Langen im August 1905, auf dem Höhepunkt der ersten Marokkokrise, zu-
sammen. Zu diesem Zeitpunkt gab er eine Spezialnummer des Simplicissimus mit
dem Titel Friede mit Frankreich heraus. Die Clichés überließ er Juven, dessen Zeit-
schrift eine französische Parallelausgabe unter dem Titel Paix à la France veranstal-
tete. Die Nummer, die von Anfang an für den ‘Export’ bestimmt war und in der man
ausnahmsweise auf kritische Eigenbilder verzichtete, ist von der ersten bis zur letzten
Seite ein Appell an das französische und das deutsche Volk, sich endlich die Hand zu
reichen.
In seinem Versuch, die Franzosen mit den Produkten der deutschen Satire vertraut zu
machen, ging Langen aber noch weiter. Eine von ihm 1900/1901 bei ausländischen
Persönlichkeiten durchgefuhrte Umfrage, den Simplicissimus betreffend, hatte erge-
ben, daß sich die meisten französischen Schriftsteller, Künstler oder Politiker die Ka-
rikaturen mit Vergnügen anschauten, daß ihnen aber die Bildunterschriften unver-
ständlich bleiben mußten, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren. So
wurde seit 1907 den ca.600 nach Frankreich gehenden Nummern ein schmalesyasa-
cule mit der Übersetzung der Bildunterschriften der vier Hauptseiten beigeheftet.
Gleichzeitig warb Langen in der im Oktober 1906 in Paris gegründeten Zeitschrift Le
Témoin für das, was er die édition française nannte - eine ungeschickte und letztlich
auch unzutreffende Bezeichnung des Unternehmens. (Abb.4) Diese Werbung nahm
wiederum die deutsche nationalistische Presse zum Anlaß, um den “französischen
Simplicissimus” aufs heftigste zu attackieren.14 Eingeleitet wurde diese Diffa-
mierungskampagne durch einen pamphletartigen Artikel in den Süddeutschen Mo-
natsheften aus der Feder von Rudolf Borchardt. Dieser bezeichnet Langen, das “edle
Blut vom Rhein”, als “Renegaten” und sah “typisches Rheinländertum im verrufenen
Sinne” am Werke, immer bereit, Deutschland an den “Erbfeind” zu verkaufen.15 Lan-
gen, von seinen Vorfahren an Warenaustausch gewöhnt, reagierte mit Unverständ-
nis. Warum sollte eine protektionistische Haltung im Bereich der Wirtschaft allmäh-
lich abgebaut, auf dem Gebiet der Satire aber beibehalten werden? In diesem Sinn äu-
ßerte er sich 1908 dem französischen Journalisten Jules Huret gegenüber, der ihn für
die Leser des Figaro interviewte:
14 Zum “französischen Simplicissimus” vgl. den Artikel von H. Abret, Satire als Exportarti-
kel. Die Kontroverse um die “édition française” des Simplicissimus 1908. In: Gertrud Ma-
ria Rösch (Hrsg.), Simplicissimus. Glanz und Elend der Satire in Deutschland (Schriften-
reihe der Universität Regensburg 23), Regensburg 1996, S.34-48.
15 Rudolf Borchardt, Renegatenstreiche. In: Süddeutsche Monatshefte, 5. Jahrg., Heft 6,
S.759-768.
100
U«EE .L'
Édition Française du
le grand satirique allemand
Abb.4: Anzeige in der französischen Zeitschrift "Le Témoin "für die französische Edition des
Simplicissimus
101
Comprenez-vous cela? Nous échangeons avec la France, comme du reste avec les
autres pays civilisés, tous les produits de notre industrie, de notre commerce, de nos
arts: Et il n y aurait que l’échange de la satire qui nous serait défendueZ16
Auf Anraten seiner Mitarbeiter - der Simplicissimus war seit 1906 eine GmbH - stell-
te Langen die Übersetzung der Bildunterschriften noch 1908 ein, ein untrügliches
Zeichen dafür, daß die Zeiten Vermittlern seiner Art nicht mehr günstig gesinnt wa-
ren.
Der deutschen nationalistischen Presse, die diese eher harmlose Initiative zu einem
Generalangriff gegen den Verleger und dessen Zeitschriften genutzt hatte, war nicht
bekannt, daß dieser in der Tat mit dem Gedanken gespielt hatte, eine ganz und gar
französische Ausgabe seiner erfolgreichen Zeitschrift für den französischen Markt
herzustellen. Im Juni 1908 hatte Langen mit dem französischen Verleger Rueff ver-
handelt, der an einer solchen Ausgabe interessiert war, von der er glaubte, in Frank-
reich ca. 60.000 Exemplare absetzen zu können. Doch die feindliche Reaktion der
deutschen Presse auf die édition française hatte ihn eines Besseren belehrt. Am 31.
Juli 1908 schrieb er seinem Pariser Vertreter Paul Bruck, der Zeitpunkt für eine fran-
zösische Ausgabe sei noch nicht gekommen:
Wenn die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich anders ge-
worden sind, und vor allem, wenn die Nervosität bei uns in Deutschland gewichen ist,
wird man vielleicht anders darüber sprechen. Und am Tage der deutsch-französi-
schen Allianz können wir die französische Ausgabe erscheinen lassen. Aber bis dahin
muß sich bei uns in Deutschland noch einiges ändern.
Langens erster Paris-Aufenthalt war in erster Linie ein Bildungserlebnis, doch wurde
der Keim zu seiner Politisierung bereits 1894 gelegt, als der junge Verleger zu Be-
ginn der Dreyfüs-Affäre feststellen mußte, daß die so bewunderte französische parla-
mentarische Demokratie ein ohnmächtiges Gebilde war, hilflos gegenüber den An-
griffen von seiten des katholischen Klerus, der Armee und Antisemiten. Während
seines zweiten Paris-Aufenthalts erlebte nun Langen mit, wie die Dritte Republik,
deren Schwäche die Affäre enthüllt hatte, aus dieser Krise gestärkt hervorging. Das
war dem Eingreifen neuer Kräfte zu verdanken, zu denen vorrangig Vertreter akade-
mischer Berufe, Künstler, Schriftsteller und Publizisten gehörten, les intellectuels
nannte man sie. Diese Intellektuellen hatten erprobt, daß sie, wenn sie sich über par-
teipolitische Differenzen hinwegsetzten, in der Demokratie eine Macht darstellten.
Gleichzeitig hatten die Ereignisse der französischen Innenpolitik Langen gezeigt,
daß sich Fortschritte in der Parlamentarisierung nur durch ein gemeinsames Vorge-
hen von Liberalen und Sozialdemokraten durchsetzen können. So verließ der Verle-
ger Paris in der Hoffnung, daß es möglich sein müßte, auch im eigenen Land die fort-
schrittlichen Kräfte der Nation zu sammeln, um die Parlamentarisierung voranzutrei-
ben. Eine aufbauende kulturpolitische Zeitschrift sollte diese aus Frankreich mitge-
brachten Ideen propagieren und gleichzeitig ein Forum der deutsch-französischen
Annäherung sein. Nach sorgfältigen Vorbereitungen erschien am 1. Januar 1907,
herausgegeben von Albert Langen, Kurt Aram, Hermann Hesse und Ludwig Thoma,
die kulturpolitische Halbmonatsschrift März. Von Anfang an unterstrich man in ih-
ren Spalten die Rolle der süddeutschen Länder, denen wegen ihres offeneren Verhält-
16 Jules Huret, En Allemagne. La Bavière et la Saxe, Paris 1911, S. 100.
102
nisses zum Nachbarland eine brückenschlagende Funktion zukommen sollte. Die el-
saß-lothringische Frage, die immer noch trennend zwischen Deutschland und Frank-
reich stand, war für die Mitarbeiter der Zeitschrift nicht tabu. Man behandelte sie zum
einen als Kulturfrage und setzte sich dafür ein, den Elsässern ihre kulturelle Eigen-
ständigkeit zu lassen, wie man sie den benachbarten Badenern und Württembergem
und allen anderen deutschen Bundesländern ließ. Im politischen Bereich plädierte
man für eine völlige Autonomie Elsaß-Lothringens mit allen Rechten eines Bundes-
landes. Sowohl die französischen als auch die deutschen März-Mitarbeiter sahen dar-
in die einzige Möglichkeit, den Verlust der annektierten Provinzen für Frankreich ak-
zeptabel zu machen.
Im Zusammenhang mit der Idee von der notwendigen Bildung eines linken Blocks,
die die Zeitschrift vertrat, stand diejenige von der notwendigen Trennung von Staat
und Kirche. Langen hatte in Frankreich den Kampf der Demokraten gegen die Kleri-
kalen miterlebt, der 1905 zu dieser Trennung geführt hatte. Der Kampf gegen das
bayrische Zentrum, den er direkt nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Simpli-
cissimus begann und der semen Höhepunkt mit der “Simplicissimusdebatte” im bay-
rischen Landtag (Dezember 1903/Januar 1904) und der am 5. Januar 1904 konfiszier-
ten sehr scharfen “Zentrumsnummer” des Simplicissimus (no. 42) erreichte, sind er-
ste Versuche, diesen in Frankreich erfolgreich beendeten Kampf auf Deutschland zu
übertragen. Dabei leisteten ihm die französischen Mitarbeiter des März an der Spitze
Jean Jaurès und Anatole France, Schützenhilfe. Greifbare Erfolge bei seinem Einsatz
für die Trennung von Staat und Kirche und die Bildung eines linken Blocks konnte
Langen zu Lebzeiten nicht verbuchen. Ein bescheidener Teilerfolg war die 1910 nach
seinem Tod erfolgte Gründung der “Fortschrittlichen Volkspartei”, die aus dem Zu-
sammenschluß dreier linksliberaler Parteien hervorgmg und der mehrere Mitarbeiter
des März angehörten.
Grenzgänger, die Ideen vehikulieren, gelten oft als verdächtig, wenn nicht gar ge-
fährlich. So wurde auch Langens Tdeeneinfuhr’ von der nationalistischen deutschen
Presse mit wachsendem Mißtrauen, ja mit Haß vermerkt und als internationaler Libe-
ralismus in Verruf gebracht, davon zeugt die bereits erwähnte Diffamationskampa-
gne gegen ihn, seinen Verlag und seine beiden Zeitschriften, Im Jahr 1908, auf dem
Höhepunkt dieser Kampagne, wies Ludwig Thoma noch einmal auf die süddeutsche
Perspektive der Gruppe um Langen hin. Südlich des Mains wisse man sich von der
Roheit frei, in Frankreich den Erbfeind zu sehen, schrieb er in einem offenen, am 12,
November 1908 im Berliner Tageblatt veröffentlichten Brief. Doch nicht nur Langen
wurde in Deutschland angegriffen, auch den französischen Mitarbeitern des März
nahm man es im eigenen Land übel, daß sie für eine liberale deutsche Zeitschrift
schrieben. Schaut man sich die nationalistische französische Presse der Vorkriegszeit
an, so werden die Franzosen, die für den März schrieben und die man fast ausschließ-
lich der pazifistischen Linken zurechnen kann, immer wieder namentlich getadelt ( A.
France, J. Jaurès, P. Baudin, G. Hervé), bloßgestellt, manchmal auch beschimpft.
Als Langen 1909 starb, gewannen die nationalistischen und chauvinistischen Strö-
mungen diesseits und jenseits des Rheins rasch Auftrieb. Kurz nach Langens Tod
stellten die Franzosen ihre Mitarbeit am März ein. Die ‘hohe Zeit’ der Vermittler war
bereits 1909 vorbei.
103
Das schwierige Erbe des Grenzgängers Langen
Langen führte seinen Verlag auf sehr autonome Weise, so daß zu seinen Lebzeiten
viel von seinem Grenzgängertum im Buchverlag und in den Zeitschriften Nieder-
schlag fand. Dieser persönliche Führungsstil war nur möglich, weil Langen, was
schon um die Jahrhundertwende bei den sogenannten ‘IndividualVerlegern’ selten
war, ohne fremdes Kapital arbeitete. Neben seinen Einkünften aus dem Verlag ver-
fügte er über Einkommensquellen aus dem Familienbesitz und setzte ähnlich wie die
Mitglieder seiner Industriellenfamilie nicht auf ein Pferd, sondern investierte in ver-
schiedene Unternehmungen. Die finanzielle Unabhängigkeit erlaubte es ihm, Auto-
ren zu fördern, die sich nicht gleich durchsetzten, Zeitschriften wie den Simplicissi-
mus und später den März, die beide zunächst defizitär arbeiteten, über Durststrecken
hinweg zu halten. Sie garantierte ihm als Zeitschriftenherausgeber darüber hinaus
weitgehend politische Freiheit, sieht man von den Einschränkungen ab, die der An-
zeigenteil ihm auferlegte. Auf alle Fälle besaß Langen als Buch- und Zeitschriften-
verleger erheblich mehr Spielraum als die stark von politischen und wirtschaftlichen
Mächtegmppen abhängige Massenpresse des Wilhelminischen Deutschland. Das än-
derte sich nach seinem Tod.
Als Albert Langen völlig unerwartet kurz vor Vollendung seines 40. Lebensjahres
starb, waren seine beiden Söhne noch Kinder, die nach der Trennung Langens von
Dagny Bjömson in Paris geblieben waren. In seinem Testament setzte der Verleger
ein Kuratorium von vier langjährigen Mitarbeitern ein, das den Verlag treuhände-
risch verwalten sollte.17 Die Kuratoren sahen sich aber von Anfang an mit finanziel-
len Schwierigkeiten konfrontiert, die ihren Freiraum stark einschränkten. So verlor
der Verlag bald nach dem Tod des Gründers sein europäisches Profil. Während des
Ersten Weltkrieges machte er, wie die meisten bürgerlichen Verlage, den patrioti-
schen Kurswechsel mit und stieg ohne Zögern auf Kriegsliteratur um. Es wurde sogar
eine eigene Reihe mit dem Titel “Langens Kriegsbücher” lanciert. In der Weimarer
Republik erwies sich die von Langen gewünschte Offenheit des Verlages für ver-
schiedene parallel laufende Literaturströmungen als problematisch, denn sie führte
dazu, daß Werke kulturpolitisch extremer Positionen auf dem Programm standen, auf
der einen Seite beispielsweise Hans Grimms Volk ohne Raum, auf der anderen die
Reihe der avantgardistischen Bauhausbücher.18 Wegen wachsender finanzieller
Schwierigkeiten ging der Verlag 1931 mit dem Georg-Müller-Verlag, der seit 1928
vom “Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband”, einer rechtsnationalen An-
17 Dem Kuratorium gehörten Korfiz Holm, Dr. Reinhold Geheeb und die Prokuristen Otto
Friedrich und August Gommel an. Die Kuratoren beteiligten sich mit Eigenkapital am Ver-
lag und wurden zu stillen Teilhabern. Als Langens Söhne kein Interesse am Verlag zeigten,
wurde dieser nach langwierigen Verhandlungen mit der Erbengemeinschaft am 6. Juli 1918
an die Kuratoren verkauft.
18 Zu Recht bemerkt Andreas Meyer, daß sich kulturpolitisch extreme Positionen in der Wei-
marer Republik auch bei anderen Verlagen beobachten lassen und bis zu einem gewissen
Grad sogar als zeittypisch anzusehen sind. Andreas Meyer, Der Verleger des ‘Simplicis-
simus’ und seine Nachfolger. Zur Geschichte des Albert Langen Verlags von 1909-1931.
In: Buchhandelsgeschichte, 1988/3, S. 81.
104
gestelltengewerkschaft, abhängig war, eine Interessengemeinschaft ein. Die beiden
Verlage fusionierten im Mai 1932 zum Langen Müller Verlag, der 1933 dem
NSDAP-Zentralverlag Franz Eher angegliedert wurde. Auf diese traurige Weise en-
dete ein Stück deutscher Verlagsgeschichte, das so hoffnungsvoll Ende des 19. Jahr-
hunderts mit der Gründung eines europäisch orientierten Verlags in Paris begonnen
hatte.
Was den Simplicissimus betrifft, so blieb er insofern den Intentionen seines Schöp-
fers treu, als sich seine Darstellung des Nachbarlandes Frankreich bis zum Ersten
Weltkrieg weitgehend von Animositäten freihielt.19 Als der Krieg ausbrach, stellten
die Zeichner, selbst die Mitarbeiter der ersten Stunde wie Th. Th. Heine, ihre Feder
ohne zu zögern in den Dienst der Propaganda. Diese bedingungslose Indienstnahme
der satirischen Presse durch die Kriegspropaganda läßt sich auf ähnliche Weise jen-
seits des Rheins feststellen. Seit 1916 bemühten sich allerdings einige Simplicissi-
mus-Zeichner darum, zwischen dem leidenden französischen Volk und den Kriegs-
gewinnlern zu unterscheiden.
Der März, das konstruktive Pendant zum Simplicissimus, von Langen als Forum ei-
ner deutsch-französischen Annähemng gegründet, hat auch während des Krieges sei-
ne ursprünglichen Ideen nicht ganz verleugnet. Das ist in erster Linie dem schwäbi-
schen Liberalen Conrad Haußmann zu verdanken, der von der ersten bis zur letzten
Nummer an der Zeitschrift mitarbeitete und durch dessen Vermittlung Theodor Heuß
im Sommer 1913 Chefredakteur wurde. Durch ihre ‘unzeitgemäße’ Haltung verlor
die Zeitschrift allerdings immer mehr Abonnenten, während die auf der Welle des
Nationalismus und Chauvinismus mitschwimmenden Süddeutschen Monatshefte
steigende Abonnentenzahlen verbuchen konnten. Aus finanziellen Gründen mußte
der März 1917 sein Erscheinen einstellen. Der Simplicissimus existierte noch bis
1944, was ihm nicht unbedingt zur Ehre gereicht.
Während des Ersten Weltkriegs geschah etwas, was Langen, der sich so eifrig darum
bemüht hatte, den Simplicissimus auf der anderen Rheinseite bekanntzumachen, in
höchstes Erstaunen versetzt, aber sicher nicht gefreut hätte. Die Franzosen importier-
ten nun auf einmal freiwillig Simplicissimus-Zeichnungen aus Langenschen Zeiten.
Warum? Die Antwort fällt nicht schwer. In der französischen Propaganda-Abteilung
arbeiteten viele Elsässer, seit November 1915 beispielsweise auch der Zeichner und
Karikaturist Hansi (Jean Jacques Waltz). Die deutschen satirischen Blätter, allen vor-
an der Simplicissimus, waren diesen Männern wohlbekannt. Sie verstanden es, ihre
profunden Kenntnisse geschickt im Sinne der Kriegspropaganda zu nützen. Wie oft
hatten die deutschen Zeichner in den Spalten des Simplicissimus über ihre unkulti-
vierten Landsleute gespottet, deren ‘Unkultur’ vor allem in Konfrontation mit den
‘kultivierten’ Franzosen gezeigt wurde, wie oft hatten sie die preußischen Offiziere
und Leutnants dem Hohngelächter preisgegeben, von den Persiflagen des Kaisers
ganz zu schweigen. Kein Wunder also, daß der Simplicissimus in der französischen
Kriegspropaganda, sei es auf Postkarten (Abb.5, 6), Flugblättern oder in satirischen
19 Vgl. zu diesem Thema H. Abret, “Antifranzösische Zeichnungen machen wir nicht.” Der
‘Simplicissimus’ und Frankreich 1896-1914. In: H. Abret/M. Grunewald, Visions alleman-
des de la France (1871-1914), Frankreich aus deutscher Sicht ( 1 871 -1914), Bern etc. 1995
(Contacts: Sér. 2, Gallo-Germanica, vol. 15), S.233-262.
105
PEINTS PAR EUX-MÊMES
de terre. » (Texte et dessin de Th. Th. Heine, extraits da
Simplicissimus^).
Abb.5: Französische Kriegspostkarte mit einer Zeichnung aus dem “Simplicissimus" von Th.
Th. Heine.
106
PEINTS PAR EUX-MÊMES
Les fils du commandant jouent à la guerre. (Texte et dessin de
7 h. Th. Heine, parus dans le Simplicissimus en Août 1900).
Abb. 6: Französische Kriegspostkarte mit einer Zeichnung aus dem “Simplicissimus ’’ von Th.
Th. Heine.
107
Zeitschriften, allgegenwärtig war. Es genügte, Karikaturen mit besonders scharfen
Eigenbildem deutscher Künstler auszuwählen, Titel und Bildunterschriften ins Fran-
zösische zu übersetzen, und man konnte den französischen Soldaten an der Front, de-
nen vor allem eingehämmert werden sollte, daß sie als Vertreter eines Kulturvolkes
gegen ‘Barbaren’ kämpften, nachweisen, daß sich dieses Volk ja selbst als unkulti-
viert, brutal und grausam dargestellt und für seinen Herrscher und die Vertreter sei-
ner Armee nur Verachtung gezeigt hatte. Wider Willen hatte der Grenzgänger Lan-
gen der französischen Propagandaabteilung zugearbeitet!
*
Langen wirkte als Verleger innerhalb eines auf ungefähr fünfzehn Jahre begrenzten
Zeitabschnitts, der aber in vielerlei Beziehung für Vermittler aller Art günstig war.
Günstig in wirtschaftlicher Hinsicht, denn Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts
begann nach einer Reihe von Wachstumskrisen eine Epoche wirtschaftlichen Auf-
schwungs, die bis zum Ersten Weltkrieg fast ungebrochen anhielt und von der sein
Verlag und die Zeitschriften profitierten. Auch in Hinblick auf den deutsch-französi-
schen Kulturaustausch konnte der Zeitpunkt der Verlagsgründung nicht besser ge-
wählt sein. Der deutsch-französische Krieg war Ende des 19. Jahrhunderts zwar noch
nicht vergessen, aber bei den älteren Autoren - Anatole France wäre hier das beste
Beispiel - hatte die Idee der Revanche an Kraft verloren, und die junge Generation er-
innerte sich wieder an Victor Hugos Zukunftstraum von den Vereinigten Staaten Eu-
ropas, in denen Frankreich und Deutschland eine führende Rolle zukommen sollte.
Grenzgängern wie Langen wurde ihr Wirken in der Wilhelminischen Zeit nicht allzu
schwer gemacht. Menschen und Bücher konnten ungehindert die Grenze passieren,
an jedem Münchner oder Berliner Kiosk gab es ausländische Zeitungen und Zeit-
schriften zu kaufen, jedes deutsche Café, das auf sich hielt, besaß einige französische
Blätter, Langens Simplicissimus wiedemm hatte in Frankreich und in den skandina-
vischen Ländern, ja sogar in Rußland oder in Amerika, Leser. Freier Gedankenaus-
tausch zwischen Individuen war möglich, darüber hinaus fanden sich auf dem expan-
dierenden Zeitschriftenmarkt Organe, in denen man seine Gedanken öffentlich, auch
auf internationaler Ebene, diskutieren konnte. Langen konnte als finanziell unabhän-
giger Individualverleger auf lockere und doch effiziente Weise das praktizieren, was
man heute unter dem Schlagwort “Kulturaustausch” offiziell institutionalisiert hat.
Es soll hier keine Idylle heraufbeschworen werden: Die arrogante Kulturpolitik des
Kaisers führte oft zu Konflikten mit oppositionellen Künstlern, Schriftstellern,
Theaterdirektoren und Verlegern, das hatten Langen und seine Künstler immer
wieder am eigenen Leib zu spüren bekommen. Langen verbrachte mehrere Jahre im
Exil, um einer Gefängnisstrafe wegen Majestätsbeleidigung zu entgehen. Doch
konnte er vom Ausland ohne nennenswerte Schwierigkeiten Verlag und Zeitschrift
in seinem Sinne weiterführen, seine Mitarbeiter durften ungehindert zu ihm reisen. In
unserem Jahrhundert hat es bis in die jüngste Zeit hinein Staaten gegeben, deren
Menschen die Grenzen nicht überschreiten durften, in denen der Besitz einer
Zeitschrift Gefahr bedeuten, der Kontakt mit Menschen anderer Länder ms
Gefängnis fuhren konnte. Verglichen mit dem, was sich in den totalitären
Staatsgebilden des 20. Jahrhunderts abgespielt hat, erscheinen die Jahre, in denen
108
Langen seinen Verlag und seine Zeitschrift leitete, im Nachhinein als eine Zeit, in der
dem Einzelnen und der privaten Initiative noch ein bedeutender Freiraum gewährt
wurde. Albert Langen, ein bürgerlich-liberaler Verleger, Grenzgänger und
Vermittler zwischen drei Kulturkreisen, verstand es, diesen Freiraum zu nutzen.
Allerdings mußte auch Langen die bittere Erfahrung machen, daß sich bereits zehn
Jahre nach der Verlagsgründung die Chancen für Grenzgänger seiner Art, die ihre
Kenntnis vom anderen Land nützten, um es dem eigenen Land näherzubringen, auf
beiden Seiten des Rheins nicht mehr gefragt waren. Beliebter wurden allmählich in
Deutschland und in Frankreich jene Grenzgänger, die eher die Bezeichnung
“Grenzzieher”20 verdienen, und die ihre fundierten Kenntnisse vom Nachbarland
verwendeten, um es lächerlich zu machen oder zu verteufeln. Es klänge zynisch,
wollte man im Fall des Verlegers Albert Langen von der “Gnade des frühen Todes”
sprechen. Fest steht jedoch, daß ihn sein frühes Ende davor bewahrte zu erleben, wie
der Erste Weltkrieg die Brücken zu Frankreich, an deren Konstruktion er
mitgearbeitet hatte, wieder zerstörte.
20 Diese Bezeichnung wurde auf dem Kolloquium von einem Diskussionsteilnehmer für den
Zeichner Hansi (J. J. Waltz) verwendet.
109
Hans-Jürgen Lüsebrink
Publizistische Grenzgänger im Zeitalter des
Nationalismus - der Fall des Jean-jacques Waltz,
’’PATRIOTE ALSACIEN”
I Grenzgängertum und Annexionserfahrungen
“Als ein widerstrebend Annektierter” (“Annexé récalcitrant”) bezeichnete sich der
elsässische Schriftsteller, Publizist und Karikaturist Jean-Jacques Waltz 1950, ein
Jahr vor seinem Tode, in seiner in mehreren Lieferungen erschienenen Anekdoten-
sammlung Scènes de la vie à Colmar vers 1880, die den Haupttitel “Souvenirs d’un
annexé récalcitrant” trägt. Jean-Jacques Waltz’ Instrumente des Widerstrebens und
des mehr oder minder offen gezeigten Widerstandes gegen die Annexion Elsaß-
Lothringens durch das Deutsche Kaiserreich waren Feder und Zeichenstift, ihr Medi-
um in erster Linie die Publizistik und ihre wesentlichen Stilmittel untergründiger Hu-
mor, Parodie sowie eine Form beißender Satire, die auch die Anekdoten der Scènes
de la Vie à Colmar vers 1880 (deren Titel - gleichfalls mit ironischem Unterton - auf
Balzacs Scènes de la vie parisienne verweist) charakterisiert. So erzählt die erste An-
ekdote der Erzähl Sammlung einen Tag aus dem Leben der Colmarer Spezereien-
händlerin Bissinger während der Kaiserzeit, in deren Zentrum die alltäglichen Kon-
flikte zwischen der elsässischen Bevölkerung und der deutschen Verwaltung sowie
dem deutschem Militär, aber auch die von elsässischer Seite entwickelten, subtilen
Formen des Widerstandes stehen. Hierzu gehören das heimliche Absingen der Mar-
seillaise ebenso wie das Fluchen im Colmarer Dialekt, etwa über das Gebaren eines
aus Norddeutschland stammenden und ins Elsaß versetzten Wachtmeisters, oder
auch das Umgehen von Vorschriften, wie der Beschriftung der Ladenfassade mit
deutschen Namen und Bezeichnungen, die Bissinger dadurch zu vermeiden sucht, in-
dem er das deutsche Äquivalent seines Vornamens Jean und die Übersetzung der Be-
zeichnung “Epicerie fine” in wesentlich kleineren, kaum lesbaren Buchstaben als die
französischen Originale an seine Fassade anmalen läßt.1 Für Jean-Jacques Waltz, den
zweifellos breitenwirksamsten und populärsten elsässischen Publizisten1 2 der Jahr-
1 [Jean-Jacques Waltz], Hansi, Souvenirs d’un annexé récalcitrant, in: Madame Bissinger
prend un bain. Scènes de la vie à Colmar vers 1880 (Bd. 1), Mulhouse 1950, 36 S., hier S.
25.
2 Der Begriff “Publizist” zielt auf die in seinem Werk dominierende Mitwirkung an Zeitun-
gen und Zeitschriften und umgreift sowohl seine schriftstellerische Tätigkeit als auch seine
Aktivitäten als humoristischer und satirischer Zeichner. Vgl. Gaston Phelip, Voix d’Alsace
et de Lorraine. Préface de Maurice Barrés. Paris 1911, S. 64, der ihn sukzessive als “dessi-
nateur”, “écrivain” und “polémiste” bezeichnet: “Car Hansi n’est pas seulement dessina-
teur de talent, c’est un écrivain dont l’humour sent son terroir alsacien et Hansi le polémiste,
collaborant avec Hansi l’humoriste, font paraître les Westmarken (Marches de l’Ouest), pe-
tite feuille pleine d’esprit rosse dont la lecture déride jeunes et vieux enfants d’Alsace.”
111
zehnte vor dem Ersten Weltkrieg, bildeten die deutsche Annexion Elsaß-Lothringens
und das eigene Grenzgängertum zwischen Deutschland und Frankreich die beiden
prägenden biographischen und historischen Erfahrungshorizonte. 1873 in Colmar als
Sohn eines Bibliothekars und Museumskonservators geboren, besuchte er zunächst
das deutsche Gymnasium in Colmar und anschließend die Ecole des Beaux-Arts in
Lyon, mit einer Spezialisierung im Bereich des technischen Zeichnens. 1896 nach
dreijährigem Studium ins Elsaß zurückgekehrt, war er anfangs als technischer Zeich-
ner und Designer tätig, unter anderem in dem Textilbetrieb Hertzog in Logelbach im
Oberelsaß, schuf sich jedoch allmählich eine eigene, unabhängige Existenz, indem er
in Colmar eine Zeichen- und Malschule eröffnete, Postkarten und Werbeplakate ent-
warf und druckte, die Illustrationen für die Chronik eines Colmarer Kaufhauses
zeichnete und um die Jahrhundertwende auch seine ersten publizistischen Werke zu
veröffentlichen begann: Zeichnungen für die ersten Jahrgänge der Revue Alsacienne
Illustrée; sowie die noch ganz auf pittoreske Landschaftsmotive ausgerichteten Bild-
bände Vogesenbilder und Tours et Portes d’Alsace. Erst die aggressivere - oder als
aggressiver empfundene - Kulturpolitik des Deutschen Reiches im Elsaß Ende der
90er Jahre bildeten für Jean-Jacques Waltz den Auslöser, seiner Aktivität als Zeich-
ner und Publizist eine dezidiert politische Richtung zu geben. Hierzu zählte etwa die
in der elsässischen Öffentlichkeit sehr kontrovers - und überwiegend mit Ablehnung
- diskutierte historistische Restaurierung der Hochkönigsburg, deren feierliche Er-
öffnung im Jahre 1908 Waltz zum Anlaß für eine Serie ironischer Karikaturen nahm,
die er in der zweiten, deutlich politisch geprägten Serie seiner Vogesenbilder veröf-
fentlichte. Zwischen 1900 und 1914 folgte eine Serie weiterer, bebilderter, von Waltz
selbst illustrierter Bände, die sich vor allem zwei Themenbereichen zuordnen lassen:
zum einen dem Bereich politischer und sozialer Karikatur. Zu ihm gehören vor allem
die zunächst in deutscher und dann, ab 1912, in französischer Sprache publizierten
Bücher Die Westmarken, Alldeutsche Bilder und Blätter von Hansi, dem Alldeut-
schen (1912) und Professor Knatschke. Des großen deutschen Gelehrten und seiner
Tochter ausgewählte Schriften (1908). Das letztgenannte Werk stellt eine beißend-
satirische Auseinandersetzung mit der Person des Gymasiallehrers Karl Gneisse, sei-
nes ehemaligen Geschichtslehrers und Direktors am Gymnasium in Colmar dar, die
in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg rasch zu einem Bestseller avancierte und bereits
1910 eine Verkaufsauflage von über 10.000 Exemplaren erreichte3.
Der zweite Tätigkeitsbereich des Jean-Jacques Waltz betraf die Popularisierung ei-
ner spezifischen, patriotisch geprägten Form der elsässischen Geschichte, die sich in
seiner Histoire d’Alsace, racontée aux petits enfants von 1912 sowie in den gleich-
falls mit zahlreichen Zeichnungen aus der Feder von Waltz versehenen Bildbänden
Mon Village (Ceux qui n ’oublient pas) von 1913 und Le Paradis tricolore. Petites
villes et villages d'AIsace déjà délivrée von 1918 artikulierte. Nicht zuletzt seine Ver-
urteilung durch deutsche Gerichte, die ihn wegen staatsfeindlicher Äußerungen in
den drei letztgenannten Werken zwischen 1908 und 1914 mehrfach zu empfindli-
chen Geld- und Gefängnisstrafen verurteilten - dem letzten Gerichtsurteil durch ein
Leipziger Gericht im Jahre 1914 zu einem Jahr Gefängnis entzog er sich durch die
3 Frédéric Waltz, Bibliographie des œuvres, in: Saisons d’Alsace 1 (1952), Hommage à
Hansi, Jean-Jacques Waltz, 1873-1951, S. 85-87, hier S. 86.
112
Flucht ins Pariser Exil -, ließ ihn in den Augen des überwiegenden Teils der elsässi-
schen Bevölkerung zu einer patriotischen Identifikationsfigur werden, die sie, im
Anschluß an das von ihm verwendete Schriftsteller- und Künstlerpseudonym
“Hansi” (für Jean-Jacques Waltz), als “Hansi le libérateur” apostrophierten.4
Im Ersten Weltkrieg zunächst Frontsoldat auf französischer Seite, im Elsaß aufgrund
seiner Flucht steckbrieflich als “Landesverräter” gesucht5, war Waltz in den Jahren
1915-18 in der Progandaabteilung des französischen Kriegsministeriums, dem soge-
nannten “Deuxième Bureau”, tätig. Gemeinsam mit dem Offizier und Übersetzer
Tonnelat verfaßte und publizierte Waltz eine Fülle von Flugblättern und Zeitungen,
die durch Flugzeuge der französischen Luftwaffe im Elsaß abgeworfen wurden und
sich durch eine sehr präzise Nachahmung formaler, sprachlicher, gattungsstrukturel-
ler und stilistischer Register deutscher Vorbilder - wie beispielsweise der Straßbur-
ger Post, der Kriegsblätter oder der Feldpost - auszeichneten, diese jedoch zugleich
mit völlig anderen Inhalten verknüpften. So verwendeten Waltz und Tonnelat 1917
ein deutsches Propagandaflugblatt mit dem Titel Auf zum Endkampf, indem sie die
formale Disposition des Flugblatts, die Überschrift, einen Teil des Textes sowie das
verwendete Bildmotiv beibehielten. Letzteres zeigte in fast identischer Darstellung,
wie deutsche Soldaten einen schweren Stein einen Berg hinaufrollen, bis zu einem
fast erreichten Abgrund, in dem auf dem Original ein französischer Soldat und auf
der Nachbildung der Kaiser zu sehen ist, zu dessen Sturz - beziehungsweise physi-
scher Vernichtung - die französische Pastiche in drastischer Weise auffordert. Der ty-
pographisch durch Fettdruck hervorgehobene Slogan blieb in der Pastiche der glei-
che wie im Original, erhielt jedoch hier eine völlig andere Bedeutung; er lautete: “Es
ist ihnen blutiger Emst mit der Zerschmetterung Deutschlands und ihre Ziele gehen
jeden Einzelnen an.”6 Ein anderes, das gleiche stilistische Verfahren des Pastiche
nutzende Flugblatt verwendete die Bildmotivik eines deutschen Flugblattes, das blü-
hende Felder, Bauern und eine reiche Ernte zeigte und zur Unterzeichnung der
Kriegsanleihe aufforderte. Die französische Nachahmung duplizierte das Flugblatt,
behielt im oberen Teil die formale und ikonographische Disposition bis in Details
hinein bei, ebenso die Überschrift Zeichnet die Kriegsanleihe, die lediglich durch den
zusätzlichen Untertitel “Der deutsche Bauer vor dem Krieg” ergänzt wurde. Im unte-
ren Teil war das gleiche Grundmotiv, jedoch mit signifikanten Veränderungen, zu se-
hen: das Bauemehepaar sitzt hier statt vor blühenden Feldern vor einem Friedhof, der
Bauer hält einen Steuerzettel in der Hand, und die Bildunterschrift lautet nunmehr:
4 Jules Romains, Hommage à Jean-Jacques Waltz, in: Saisons d’Alsace 1 (1952), S. 7: “Peu
d’artistes, au cours des âges, ont joué à ce point un rôle historique. Et les Alsaciens qui
fêtent aujourd’hui sa mémoire exagéraient à peine s’ils l’appelaient Hansi le libérateur.”
5 Vgl. den Abdruck der amtlichen Suchmeldung in: Robert Perreau, Hansi ou l’Alsace
révélée, Meaux 1962, 261 S., S. 120: “Bekanntmachung. Der Maler Jean-Jacques Waltz,
genannt Hansi, der Rechtsanwalt Albert Helmer, der Zahnarzt Karl Huck, alle drei aus Col-
mar, welche sich bei den französischen Truppen befinden, werden für Landesverräter er-
klärt. Wer ihnen Aufenthalt gewährt oder ihren Aufenthalt verheimlicht, der wird nach
Kriegsgebrauch erschossen.”
6 Jean-Jacques Waltz] Hansi und E. Tonnelat, A travers les lignes ennemies. Trois années
d’offensive contre le moral allemand, Paris 1922, 192 S., S. 72-73.
113
“Der deutsche Bauer nach dem Krieg.”' Die propagandistische Pastiche deutscher
Publizistik während des Ersten Weltkrieges schloß an erste, tastende Versuche der
Pastiche - das heißt der parodierenden Imitation - alldeutscher und pangermanischer
Diskurse an, die Waltz 1908 in der Zeitung Die Westmarken und 1909 im Supplément
du Nouvelliste d'Alsace-Lorraine dargelegt hatte7 8. Das von Waltz verwendete rheto-
rische Verfahren bestand darin, durch hyperbolische Übertreibung deutschnationale
Diskurse zu entlarven. So veröffentlichte Waltz im Nouvelliste d’Alsace-Lorraine
1909 ein Plakat mit dem Porträt eines deutschen Lehrers, das folgende Überschrift
trug: “Gegen die Verwelschung” und den nachfolgenden Text enthielt:
“Drei Gründe zwingen uns, den Kampf aufzunehmen gegen den französischen Un-
terricht und die Verwelschung unseres allemanischen Volksstammes: Und zwar er-
stens: deutsch-nationale Bedenken. Zweitens: pädagogisch-technische Rücksichten.
Drittens: Weil wir selber kein Französisch können.”9
In der Zwischenkriegszeit und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu sei-
nem Tode im Jahre 1951 vor allem als Regionalhistoriker und Verfasser illustrierter
Bände zu elsässischen Landschaften und Sehenswürdigkeiten sowie zur Wappen-
kunde tätig, behielt Waltz seine bereits vor 1914 entwickelten Aktivitäten im Bereich
des kommerziellen Zeichnens und Industriedesigns, mit denen er einen wesentlichen
Teil seines Lebensunterhalts bestritt, bei: Er publizierte zahlreiche Postkarten, zum
Teil mit folkloristischer und teilweise, vor allem in den Jahren 1914-18, auch mit po-
litischer Motivik, wie zum Beispiel der parodistischen Darstellung nationaldeutscher
Tugenden wie “Treue” und “Selbstlosigkeit” (Abbildung n°l). Er entwarf Plakate,
Weinetiketten, Werbehandzettel und Gedenkkarten (etwa aus Anlaß des 300. Jahres-
tages der Angliederung Colmars an Frankreich im Jahre 1935) sowie Tür- und Ge-
schäftsschilder, zum Teil in enger Anlehnung an traditionelle Vorbilder, mit deren
Ästhetik ihn sein Vater als Konservator des Colmarer Unterlinden-Museums früh
vertraut gemacht hatte (Abbildung n°2). Er verfaßte und illustrierte außerdem Kalen-
der, wie beispielsweise den Calendrier de la Société des Potasses d’Alsace, und
schuf Motive für Teller, Ansichtskarten und Tischdecken, denen die Bildmotivik ei-
nes romantischen, vonndustriellen und idyllischen Elsaß gemeinsam war, “une Alsa-
ce de tous les temps”, wie sein Biograph Robert Perreau formulierte.10 11 Im Zweiten
Weltkrieg wurden seine Werke vom Militärbefehlshaber in Frankreich, Propaganda-
abteilung, Referat Schrifttum, in einer Order vom 22.10.1941, die an das Syndicat
des Libraires in Paris gerichtet war, mit folgendem Wortlaut verboten:
“Sie werden ersucht, dem französischen Buchhandel des besetzten Gebietes bekannt-
zugeben, dass der Verkauf aller Bücher des Verfassers Hansi ohne Rücksicht darauf,
wann und in welchem Umfang sie erschienen sind, verboten ist,”11
7 Vgl. Waltz und Tonnelat, Lignes ennemies, S. 72-73.
s [Jean-Jacques] Waltz, Die Westmarken. Alldeutsche Bilder und Blätter von Hansi, dem
Alldeutschen, Colmar 1912, 4 S.
9 Zitiert nach [Anon.], Les procès de Hansi et leurs suites, in: Saisons d’Alsace 1 (1952),
“Hommage à Hansi - Jean-Jacques Waltz”, S. 64-72, hier S. 67.
10 Perreau (wie Anm. 5), S. 243.
11 Wortlaut des Originaldokuments im Musée Hansi in Riquewihr, ohne Signatur.
114
Ceurfcf) fein,§2i(|t eine
-Sache um ifjm felbft
rotCfcn rfnmj
^Dcuî|<îk Treue, ôeutfdhe
(Treue, über fliles in àeûDelt !
Abb.l: Postkarten von Jean-Jacques Waltz aus dem Ersten Weltkrieg. Quelle: Paul Stein-
mann, René Candir: Hansi à travers ses cartes postales, 1895-1951. 2e édition revue et corri-
gée. Mulhouse, Edition du Rhin, 1996, S. 104
Abb.2: Bier- und Weinetiketten von Jean-Jacques Waltz. Quelle: Paul Steinmann, René Can-
dir: Hansi à travers ses cartes postales, 1895-1951. 2e édition revue et corrigée. Mulhouse,
Edition du Rhin, 1996, S. 176
115
Waltz entzog sich der Verhaftung durch die Flucht zunächst ins südwestfranzösische
Agen, wo er von Gestapo-Häschern aufgespürt und auf offener Straße fast zu Tode
geprügelt wurde, und dann durch die Flucht in die Schweiz, nach Lausanne, wo er die
Jahre 1941-44 im Exil verbrachte.
Jean-Jacques Waltz’ Grenzgängertum weist vor dem skizzierten Hintergrund seines
biographischen Profils mehrere, zum Teil auf den ersten Blick äußerst widersprüch-
lich erscheinende Facetten auf. Im Gegensatz zu allen anderen massenwirksamen,
nationalistisch und pro-französisch ausgerichteten Schriftstellern der Jahrzehnte vor
und nach dem Ersten Weltkrieg - wie Maurice Barrés, Erckmann-Chatrian, Alphonse
Daudet und René Bazin - schrieb und publizierte Jean-Jacques Waltz zunächst aus-
schließlich auf Deutsch und erst ab 1918 überwiegend - aber keinesfalls aus-
schließlich - auf Französisch. Auch seine ersten publizistischen Arbeiten, die in den
elsässischen Zeitschriften Hazweiss und Dur ’s Elsaß erschienen sind, wie das satiri-
sche Porträt Ein Deutscher erster Klasse. Professor Rein-Jena aus dem Jahre 1907,
waren in deutscher Sprache verfaßt. Einige seiner Werke, wie den satirischen Best-
seller Professor Knatschke. Des grossen teutschen Gelehrten und seiner Tochter aus-
gewählte Schriften hielt er für nicht beziehungsweise - wegen ihrer soziolektal ge-
färbten Sprache - nur für außerordentlich schwer übersetzbar. Seine Bücher wurden
in Colmar, aber auch in Paris und Mulhouse verlegt. Kunstausstellungen, die Waltz
gewidmet waren oder Teile seines (im engeren Sinn) künstlerischen Werkes zeigten,
fanden gleichfalls beiderseits der Grenze statt: So wurden seine Aquarelle und
Zeichnungen 1901 und 1905 bei der Straßburger Kunstausstellung, 1908 im Salon de
Paris und 1909 im Salon de la Palette in Mulhouse ausgestellt. 1910 fand in Paris in
der Salle des Fêtes Gil Blas unter dem Titel “L’Alsace contre l’Allemagne” eine Aus-
stellung politischer Karikaturen und Postkarten von Jean-Jacques Waltz statt, deren
pro-französische und nationalistische Ausrichtung unter anderem auf die heftige Kri-
tik René Schickeies stieß, des damaligen Korrespondenten der Straßburger Post in
Paris. Waltz’ Werbepostkarte für die Ausstellung stellte ein Selbstporträt dar und be-
nutzte seine Verurteilung durch deutsche Gerichte explizit als Werbemittel: “c’est
une exposition des œuvres du célèbre caricaturiste alsacien poursuivi et condamné
par les Tribunaux allemands” stand dort zu lesen.12 Noch als deutscher Staatsbürger
erhielt Waltz, der sich erst im Anschluß an seine Verurteilung zu einer einjährigen
Gefängnisstrafe im Sommer 1914 dazu durchrang, das Elsaß zu verlassen, 1913 ei-
nen Preis der Académie Française für seine Histoire de l’Alsace. 1932 wurde er zum
Mitglied des Institut de France ernannt - für einen Publizisten und Karikaturisten eine
eher ungewöhnliche Auszeichnung - und in die französische Ehrenlegion aufgenom-
men. Seine schulische Ausbildung erfolgte sukzessive in Frankreich und Deutsch-
land: zunächst auf der deutschsprachigen Grundschule und am Kaiserlichen Gymasi-
um in Colmar und dann, in den Jahren 1893-96, an der Ecole des Beaux-Arts in Lyon.
Politisch konsequent, aber zugleich paradoxal erscheint schließlich seine Einstellung
zum elsässischen Autonomiestatus, den er vor dem Ersten Weltkrieg, unter anderem
1912 als Gründungsmitglied des Parti National Alsacien Lorrain, nachhaltig unter-
stützte und dessen rechtliche Möglichkeiten er als Publizist bis an ihre Grenzen aus-
schöpfte. Nach 1918 zählte er hingegen zu den vehementesten Kritikern eines Son-
12 Zitat nach Perreau (wie Anm. 5), S. 91.
116
derstatus für Elsaß-Lothringen, den er in rechtlicher, politischer und administrativer,
aber vor allem auch in sprachpolitischer Hinsicht abgeschafft sehen wollte. Ähnlich
wie René Schickele ein kultureller Grenzgänger par excellence, der aufgrund seiner
familiären und schulischen Akkulturation die deutsche und französische Kultur bis in
die Feinheiten ihrer soziokulturellen und soziolektalen Register hinein beherrschte
und sich noch 1909 im Sprachenstreit für die Zweisprachigkeit der elsässischen
Grundschule engagiert hatte, avancierte Jean-Jacques Waltz nach der Rückgliede-
rung Elsaß-Lothringens an Frankreich zu einem entschiedenen und kompromißlosen
Gegner sowohl der bilingualen Schulerziehung als auch politischer Institutionen wie
des Hochkommissars in Straßburg. Diese betrachtete er als eine Fortführung rechtli-
cher Strukturen der Reichslandzeit, “susceptible de favoriser Fautonomisme et la
survivance d’idées germaniques, dont il voyait le pays infesté”, wie Joseph Fleurent
in seinem Nachruf auf Jean-Jacques Waltz 1951 formulierte.13 Waltz warf vor allem
dem elsässischen Klerus vor, durch die Förderung des Deutschunterrichts einer kul-
turellen und letztlich (aus seiner Sicht) auch politischen Re-Germanisierung des
Elsaß Vorschub zu leisten. Mit Rücksicht auf die vorherrschende politische Meinung
und mit zuvoreilendem Gehorsam gegenüber den neuen politischen Autoritäten
lehnte die Colmarer Zeitung in den zwanziger Jahren, anders als vor 1914, es mehr-
fach ab, kritisch-satirische Beiträge von Waltz abzudrucken, der sich enttäuscht und
desillusioniert auf seine Tätigkeit als Konservator des Museums Unterlinden in Col-
mar (er hatte 1924 die Nachfolge seines Vaters angetreten) zurückzog. Im publizi-
stisch-künstlerischen Bereich verlegte er sich in der Folge auf eher politikfemere Ge-
biete wie Wappenkunde, Landschaftsmalerei, Städteporträts sowie regional-histori-
sche Forschungen.
II “Le paradis tricolore”14 - von der “Grande Nation”
zur “Petite patrie” alsacienne
Im Zentrum des publizistischen und künstlerischen Werkes von Jean-Jacques Waltz
steht die Mythologisierung des Elsaß: das heißt die Konstruktion einer kulturellen
Identität und zugleich einer kulturellen Differenz, die eine gleichermaßen politische,
ethnographische, pädagogische und regionalhistorische Dimension aufweisen. Wer-
ke wie Mon Village aus dem Jahre 1913, die Histoire de l’Alsace racontée aux petits
enfants d’Alsace et de France gleichfalls von 1913 und Le Paradis tricolore von
1918, die zu den herausragenden Buchhandelserfolgen von Waltz zählen und bis in
die Gegenwart hinein neu aufgelegt worden sind, erscheinen symptomatisch für die
zeittypische Verknüpfung von nationalem Patriotismus und der Erfindung einer re-
gionalen Identität, deren Ursprünge Waltz in der französischen Annexion des Elsaß
Mitte des 17. Jahrhunderts sah. Die einleitenden Sätze des Kapitels “F Alsace françai-
se” seiner als Kinder-und Jugendbuch konzipierten Histoire de l’Alsace betrachteten
13 Joseph Fleurent, Hansi, sa vie, son œuvre, in: Saisons d’Alsace 1 (1952), S. 17-38, hier S.
30.
14 Vgl. das gleichnamige Buch von [Jean-Jacques Waltz] Hansi, Le Paradis tricolore, petites
villes et villages de l’Alsace déjà délivrée, un peu de texte et beaucoup d’images pour les
petits enfants alliés, par l’oncle Hansi. Préface de Louis Weizenacker, Paris 1918, 39 S,
117
die französische Annexion des Elsaß als eine Art neuzeitliche ‘Pax gallica’, die einer
langen Periode der Kriegswirren und religiösen Auseinandersetzungen ein Ende ge-
setzt hatte. “A quelque chose malheur est bon”, so lautete der hierauf bezogene, in ein
populäres Sprichwort gefaßte Erzählerkommentar, “puisqu’à la suite de cette longue
guerre l’Alsace devait devenir française.”15
Einen quantitativ und funktionell herausragenden Platz nehmen die Kapitel zur Ge-
schichte der Französischen Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs ein, sah
doch Waltz die Jahre 1789-1815 als die eigentliche kulturelle Entstehungsepoche des
Elsaß an. Das Bewußtsein einer kulturellen Regionalidentität, die zur nationalen
Identität Frankreichs in einem Verhältnis struktureller Homologie gesehen wird, arti-
kuliert sich hier in Begriffen wie “peuple alsacien”, “nation alsacienne” und “peuple
souverain”, die weder eine rechtliche noch eine (im engeren Sinn) politische Dimen-
sion aufweisen - dies stünde der französischen Nationalideologie radikal entgegen -,
sondern eine genuin kulturelle Dimension. “Grâce à la Révolution”, so steht zu Be-
ginn des Revolutionskapitels zu lesen, “les Alsaciens, comme tous les Français, ne
furent désormais qu’un seul peuple, un peuple souverain.”16 Die Geschichte des
Elsaß erscheint hier als Geschichte der allmählichen, organischen Volkwerdung der
elsässischen Bevölkerung, die - ganz in Analogie zur Totalität der französischen Ge-
schichte - ihren Abschluß in der Französischen Revolution und der Anerkennung der
Volkssouveränität gefunden habe. Solchermaßen in eine historische Langzeitper-
spektive gestellt, erscheint die deutsche Annexion des Elsaß im Jahre 1870 als ein
tragisches Zwischenspiel, das aus der Sicht des Verfassers der Histoire de l’Alsace
die Logik der geschichtlichen Entwicklung jedoch nicht auf Dauer außer Kraft setzen
könne.
Wie seine anderen lokalhistorisch und ethnographisch ausgerichteten Werke steht
Waltz’ Histoire de l’Alsace zudem in der Spannung zwischen politisch-pädagogi-
schem Impetus und pittoresker Folklorisierung der eigenen Lebenswelt. Das Vor-
wort betont deutlich die Funktion des Buches als militanter Gegendiskurs zur deut-
schen Darstellung und kulturellen Veremnahmung der elsässischen Geschichte, die
Waltz aus eigener Anschauung im Geschichtsunterricht Gneisses kennengelemt hat-
te. Diese als fremd und entstellend empfundene deutsche Sicht der eigenen Geschich-
te stellt gewissermaßen die negative, aber zugleich beständig implizit (und zuweilen
auch explizit) evozierte Gegenfolie zum eigenen Geschichtsdiskurs dar. “C’est là
surtout que l’on prétendait nous germaniser en nous abreuvant de sarcasmes”, so die
vehement polemische Einleitung des Buches, “d’insultes envers tout ce qui nous était
cher, tandis qu’on nous forçait d’apprendre l’histoire de Pmsse, l’histoire d’un peu-
ple qui nous est étranger.”17
Die Folklorisierung, das heißt die Konstruktion eines homogenen, mit pittoresken
Zügen ausgestatteten kollektiven Selbstbildes, findet sich bei Jean-Jacques Waltz vor
allem auf Postkarten und Werbeplakaten sowie in den Landschaftsbänden, aber auch
in der Histoire de l'Alsace in der spezifischen Motivik einer “Alsace patriotique du
15 [Jean-Jacques Waltz], L’Histoire de l’Alsace racontée aux petits enfants d’Alsace et de
France, par l’oncle Hansi, Paris 1916, II-104 S., ND Paris 1983, III-104 S., hier S. 59.
16 [Waltz] (wie Anm. 15), S. 71.
17 [Waltz] (wie Anm. 15), ohne Seitenangabe (“Pourquoi j’ai écrit ce livre”).
118
Abb.3: Empfang König Karls X. in einem elsässischen Dorf. Quelle: [Jean-Jacques Waltz]:
L'Histoire racontée aux Petits Enfants d’Alsace et de France, par l’Oncle Hansi. Avec beau-
coup de jolies images de Hansi et de Huen. Paris, Floury, ¡916, S. 87.
119
Dimanche”: Mythologeme des elsässischen Autostereotyps der “petite patrie alsaci-
enne” - wie Kirchturm, Fachwerkhäuser, Kopfhäubchen, Maibaum beziehungsweise
Freiheitsbaum und Girlandenschmuck -, zu deren publizistischer und bildlicher Ver-
breitung Jean-Jacques Waltz entscheidend beitrug, verbinden sich hier mit patrioti-
schen Loyalitätsbekundungen für die “Grande patrie” Frankreich. So wird beispiels-
weise auf einer Abbildung im Kapitel “L’Alsace Heureuse”, das die Zeit zwischen
1815 und 1870 schildert, die Darstellung des Empfangs König Karls X. (1825-30) in
einem Dorf des Niederelsaß gezeigt, eine visuelle Darstellung der Identifikation der
elsässischen Dorfgemeinschaft mit der politischen Zentralmacht (Abbildung n°3),
die im Begleittext in geradezu überschwenglicher Weise idealisiert und als symboli-
sche Verkörperung der ‘guten, alten Zeit’ gesehen wird18.
III Symbolische Grenzziehungen: Dichotomien und Stereotypisierungen
Der vor allem als Kinder- und Jugendbuch konzipierte, bebilderte Band Mon village.
Ceux qui n 'oublientpas aus dem Jahre 1913 stellt ein anderes charakteristisches Bei-
spiel für die Verbindung von pittoresker Folklore und politischem Diskurs bei Jean-
Jacques Waltz, insbesondere in seinen vor 1918 erschienenen Werken, dar. Die
Struktur des Buches, das 16 Einzelkapitel zu Themen wie “L’Ecole”, “Le 14 Juillet”,
“Fêtes Patronales”, “Fête de l’Empereur”, “Touristes” und “Arbre de la Liberté” ent-
hält, wird beherrscht von dem grundlegenden Gegensatz zwischen Eigenem und
Fremdem, zwischen einer als intakt und homogen beschriebenen elsässischen Dorf-
gemeinschaft und ihrer Infragestellung und Bedrohung durch die deutschen Ein-
dringlinge: Touristen, Verwaltungsbeamte, Gendarmen und Lehrer. Diese grundle-
gende dichotomische Struktur durchzieht alle dargestellten Wirklichkeitsbereiche:
so etwa den Gegensatz zwischen dem mit Enthusiasmus gefeierten Fest des 14. Juli
und den inszenierten, aufgezwungenen Feierlichkeiten zu Kaisers Geburtstag; die
Opposition zwischen dem in Pension geschickten alten französischen und dem neuen
deutschen Volksschullehrer, der mit stereotypen Darstellungsregistem als streng und
hochmütig beschrieben wird, “un monsieur hautain et dur, avec un faux-col en caout-
chouc et un veston de drap vert.”19; und schließlich der polarisierte Gegensatz zwi-
schen deutschen und französischen Touristen, die der Erzähler zum Anlaß nimmt,
nicht nur stereotype Werturteile über das Benehmen der Touristen von jenseits des
Rheins zu fällen20, sondern auch die instinktiv-emotionale Sympathie der Elsässer
für die über die Grenze gekommenen französischen Touristen zu betonen: ’’Les petits
Alsaciens aiment les Français d’instinct, presque sans les connaître", heißt es im
18 [Waltz] (wie Anm. 15), hier S. 86: “Ajoutez à cela un gouvernement qui nous laissait vivre
en paix, un temps favorable aux bonnes récoltes, des vendanges miraculeuses [...] et vous
ne serez pas surpris si les Alsaciens qui ont connu ce temps-là ne peuvent vous en parler
qu’avec des larmes dans les yeux.”
19 [Jacques Waltz], Mon village. Ceux qui n’oublient pas. Images et commentaires par l’oncle
Hansi. Pour les petits enfants de France, Paris, 1913, 35 S., ND Paris 1976, S. 6.
20 Vgl. [Waltz] (wie Anm. 15) S. 16: “Souvent on voit passer des touristes étrangers, de l’autre
rive du Rhin. [...]. Ils traversent le village avec ce pas arrogant, de cet air dédaigneux et hau-
tain que prennent les parvenus pour faire oublier d’où ils sortent. [...].
120
Schlußsatz des Kapitels “Les touristes”, eine Formulierung, die metonymisch auf die
Vorstellung einer natürlichen, sowohl politisch wie ethnisch begründeten Schick-
salsgemeinschaft zwischen dem Elsaß und anderen Provinzen Frankreichs verweist.
Jean-Jacques Waltz, der aufgrund seiner kompromißlosen - und vor dem Hintergmnd
seiner eigenen Biographie geradezu paradoxalen - Ablehnung des Bilinguismus be-
reits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg im intellektuellen und künstlerischen
Feld seiner Zeit eine eher marginale Position einzunehmen begann, stellt für die vom
Nationalismus geprägten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg eine zeittypische und
in gewisser Hinsicht symptomatische Figur dar. Die historische Situation zwang den
zwei Jahre nach der französischen Niederlage von 1870/71 geborenen Sohn einer
frankophilen Bürgerfamilie zu beständigen Grenzüberschreitungen über die damali-
ge deutsch-französische Grenze hinweg - zum Studium nach Lyon, für Vorträge und
Publikationen sowie seine journalistische Tätigkeit nach Paris -, Grenzgänge, die er
bis auf die Jahre des Ersten und Zweiten Weltkriegs dem von vielen Gleichgesinnten
gewählten Exil in Frankreich vorzog. Seine Sozialisation in beiden Sprachen und
Kulturen erleichterte dieses intellektuelle Grenzgängertum und ermöglichte Formen
des kreativen und zum Teil auch radikal satirischen Umgangs mit der anderen Kultur
- in diesem Fall der deutschen -, wie sie unter anderem die sich autobiographisch ge-
benden Erzählungen des Professors Knatschke und seiner Tochter repräsentieren, die
vielleicht bissigste und zugleich gelungenste Satire deutscher Gelehrtensprache und
deutscher Gelehrtenmentalität im französischen Sprachraum. Sie resultierte aus jener
Verbindung von äußerst enger, hautnaher Vertrautheit mit den kulturellen Codes der
anderen, in diesem Fall deutschen, Kultur, bis hinein in Register der Gebärdenspra-
che und der Stilistik, und prononcierter kritischer Distanz, eine Verbindung, die ein
wesentliches Charakteristikum intellektuellen Grenzgängertums darstellt.
Jean-Jacques Waltz, der auf dem an seinem Haus am Boulevard du Champ de Mars
in Colmar angebrachten Gedenkstein als “Caricaturiste, artiste-peintre, écrivain, pa-
triote et résistant [...], symbole de l’Alsace fidèle”21 bezeichnet wird, repräsentiert ei-
nen für die Epoche des Nationalismus dominierenden Typus des Grenzgängers: ei-
nen Grenzgänger, der zeitlebens beständig die deutsch-französische Grenze über-
schritten hat, am intensivsten in den beiden Epochen der deutschen Annexion
Elsaß-Lothringens, ein Grenzgänger aber zugleich, der kulturelle Gegensätze nicht
einebnet, sondern im Gegenteil akzentuiert; nicht zu vermitteln und zu versöhnen be-
absichtigt, sondern aus der intimen Kenntnis zweier Kulturen heraus ihre Gegensätz-
lichkeit zu unterstreichen sucht. Seine familiäre Sozialisation, aber auch Schlüsseler-
lebnisse der Schulzeit am Colmarer Gymnasium der 1880er Jahre, dessen Kollegium
von ins Elsaß versetzten preußischen Lehrern dominiert wurde und in dem einheimi-
sche Lehrer eine deutliche Minderheit bildeten22, führten dazu, daß diese Grenzzie-
hungen zwischen deutscher und französischer Kultur (zu der Waltz die elsässische
genuin hinzurechnete) nicht wertneutral blieben, sondern eine Idealisierung des re-
21 Die Gedenktafel ist abgebildet bei: Paul Steinmann und René Candir, Hansi à travers ses
cartes postales, 1895-1951. Deuxième édition revue et corrigée, Mulhouse 1996, S. 189.
22 Vgl. hierzu Bernard Vogler, Histoire culturelle de l’Alsace. Du Moyen Age à nos jours, les
très riches heures d’une région frontière, Strasbourg 1994, S. 317.
121
publikanischen Frankreich und zugleich eine Abwertung vor allem der preußisch ge-
prägten deutschen Kultur enthielten.
Die historische Singularität des ‘Falles Waltz’ liegt zum einen in der Verknüpfung
von pragmatischer Kreativität - beispielsweise in der Werbeästhetik - und zum Teil
äußerst polemischen literarischen und publizistischen Ausdrucksformen; und zum
anderen in einem kulturellen Grenzgängertum, das weder zu verbinden noch im ei-
gentlichen Sinn zu vermitteln, sondern das neue kulturelle Grenzziehungen gezielt in
den Köpfen und damit in den kollektiven Mentalitäten zu verankern suchte. Zugleich
läßt sich Waltz zeitgenössischen kulturellen Strömungen und Diskursformen zuord-
nen, die sein eigenes, spezifisches, individuelles Profil deutlich hervortreten lassen.
Sein Werk steht in enger Beziehung zur patriotischen Literatur und Publizistik der
Dritten Republik, etwa eines Maurice Barrés und Alphonse Daudet, in denen es je-
doch durch die Zweisprachigkeit des Autors und seine biographische Verankerung in
zwei Kulturen eine singuläre Außenseiterposition einnahm. Hinsichtlich der folklori-
stischen Darstellung des Elsaß, seiner ästhetischen Konstruktion und massenwirksa-
men Verbreitung einer gleichermaßen idyllischen und patriotischen Darstellung der
elsässischen regionalen Identität, unter anderem in Kinder- und Jugendbüchern, steht
er im Diskurskontext der neuen Schulbuchgeneration der Jahre 1880-1914, etwa des
Tour de la France par deux enfants von 1877, die in einer für Frankreich charakteri-
stischen Weise Nationalismus und regionalen Patriotismus verknüpfte. Die Zelebrie-
rung der “Grande Nation“ erfolgte hier, wie Anne-Marie Thiesse anhand der Unter-
suchung der regionalen Schulbuchproduktion der Dritten Republik nachgewiesen
hat, durch die ‘Erfindung’ der “Petites Patries”, das heißt die patriotische Idealisie-
rung und zugleich Folklorisierung der französischen Provinzen und ihrer Regional-
kulturen. “L’accent sur la connaissance du local comme préalable à la véritable con-
naissance”, so die These von Anne-Marie Thiesse, “est en effet en relation avec la
nouvelle définition de l’identité française élaborée dès les débuts de la Troisième
République et abondamment vulgarisée dans les décennies suivantes.”23 Auch wenn
Waltz in sprachlicher - durch den Gebrauch der deutschen Sprache - und in ästheti-
scher Hinsicht deutliche Akzente setzte, ordnet sich sein Werk somit in einen spezifi-
schen kulturellen Kontext ein: die kulturelle und schulische Emeuerungsbewegung
des Beginns der französischen Dritten Republik, die sich durch einen militanten Pa-
triotismus auszeichnet.
Mit der Zeitgebundenheit eines Großteils seines Werkes, das in dieser Hinsicht eng
mit dem nationalistischen Diskurs der Dritten Republik verknüpft erscheint,
kontrastiert in geradezu frappierender Weise seine breite massenkulturelle und vor
allem touristische Rezeption im Frankreich der Gegenwart. Motive und Texte von
Jean-Jacques Waltz sind auf Tellern und Postkarten zu sehen, auf
Schlüsselanhängem und Schmuckkästchen; mehrere seiner illustrierten Bildbände,
unter anderem Le Paradis tricolore, haben in den letzten Jahrzehnten beständige
Neuauflagen erlebt; und sein Schriftsteller- und Künstlerpsyeudonym “Hansi”
fungiert als geradezu emblematischer Name mehrerer, mit Motiven seiner Werke
dekorierter volkstümlicher Restaurants, unter anderem in Paris am Boulevard du
23 Anne-Marie Thiesse, Ils apprenaient la France. L’exaltation des régions dans le discours
patriotique, Paris 1997, 130 S., hier S. 3.
122
Montparnasse und in der Altstadt von Colmar. Diese touristische und
massenkulturelle Verwendungsweise seines Werkes in der Gegenwart beruht auf
einer äußerst selektiven, reduktionistischen Rezeptionsform, die den
folkloristisch-idyllischen Teil seines Werkes herausschält und von seinen
engagierten, teilweise sehr polemischen politischen Aussagen abtrennt. Weniger
Waltz selbst als die touristische Schwundstufe seines Werkes haben ihn zum
massenwirksamsten Schöpfer jenes pittoresken, exotischen Elsaß-Bildes werden
lassen, das Bernard Vogler in seiner Histoire culturelle de l'Alsace als “cliché
simpliste de carte postale” bezeichnet, als “stéréotype pour touristes en mal
d’exotisme.”24 Das Werk des elsässischen Patrioten und französischen Nationalisten
Jean-Jacques Waltz, das mehrere, äußerst bissige Satiren auf das Verhalten und
Auftreten deutscher Touristen im Reichsland Elsaß-Lothringen enthält25, avancierte
somit, paradoxalerweise und als Konsequenz eines selektiven Rezeptionsprozesses,
zu einer wichtigen kulturellen Referenz jenes modernen Grenzgängertums, das das
Phänomen des modernen Tourismus darstellt.
24 Vogler (wie Anm. 19), S. 462.
25 Vgl. u.a. [Waltz] (wie Anm. 19), S. 16-18. Kapitel “Les touristes”.
123
Ludwig Elle
Grenzgängerprobleme aus sorbischer Sicht
1. Sorbisch-slawische Wechselbeziehungen - historischer Hintergrund zur
Grenzgängerproblematik aus sorbischer Sicht
Ich möchte mich in meinem Beitrag einem Problemfeld zuwenden, welches in der
sorbischen Geschichtsschreibung und aus ethnologischer Sicht bisher kaum behan-
delt wurde. Es geht um die „Grenzgänge“ von Sorben in den ersten Jahren nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges. Zunächst sind jedoch einige Vorbemerkungen erfor-
derlich:
1. Die Sorben sind ein autochthones slawisches Volk in der Lausitz nahe den Gren-
zen zu Polen und Tschechien. Sie sind jedoch keine Grenzminderheit, wie z. B. die
Dänen in Deutschland oder die Deutschen in Dänemark. Weder sind Polen bzw.
Tschechien sogenannte „Muttervölker“ oder „Mutterstaaten“ für die Sorben, noch
leben jenseits der Grenzen autochthone sorbische Bevölkemngsgmppen. Das lau-
sitzisch-slawische Siedlungsgebiet der Sorben reicht nicht einmal bis zur tsche-
chischen und nur zu einem geringen Teil stößt es bis an die polnische Grenze. Dar-
über hinaus bestand auch durch die vormals überwiegend deutsche Besiedlung der
Gebiete jenseits der Grenze nie eine unmittelbare Verbindung zu den slawischen
Nachbarvölkern.
2. In der Geschichte der sorbischen Nationalbewegung spielten Verbindungen zu sla-
wischen Völkern immer eine wichtige Rolle. Ab den ersten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts kann von der Herausbildung einer spezifischen sorbisch-slawischen
Wechselseitigkeit gesprochen werden. Zwischen den geistigen Trägem der sorbi-
schen Nationalbewegung und vergleichbaren Bewegungen unter den Polen,
Tschechen, Slowaken, Serben und Slowenen entwickelten sich vielfältige Kon-
takte1, „Grenzgänger“ wurden im vergangenen Jahrhundert sorbische Studierende
auch deshalb, weil Breslau und Prag zu bevorzugten Studienorten junger Sorben
gehörten. In Prag bestand das Sorbische Seminar als Bildungsstätte sorbischer ka-
tholischer Geistlicher bis anfangs der 1920er Jahre. Diese „Grenzgänge“ forderten
Begegnungen und Kontakte mit Angehörigen anderer slawischer Völker und die
Herausbildung einer spezifischen slawischen Solidarität.
3. Diese hier nur grob umrissene Entwicklung im 19. Jahrhundert brachte es mit sich,
daß in Teilen der sorbischen Nationalbewegung vor allem nach dem Ende des Er-
sten Weltkrieges und der Entstehung des tschechoslowakischen Staates Erwartun-
gen genährt wurden, daß dieser neue Staat eine Patronatsfunktion über eine auto-
nome politische Struktur in der Lausitz ausüben würde oder die Lausitz ihm ange-
schlossen werden könnte. Der Historiker Friedrich Remes stellt die tschechische *
' Martin Völkel, Die Bedeutung der sorbisch-slawischen Beziehungen in der Geschichte der
Sorben, in: Domowina Information, Bautzen 1996, S. 17 - 26.
125
Sicht hierzu dar: „Zum Anwalt der Sorben sah sich dabei die selbst erst durch den
Sieg der Großmächte zur Selbständigkeit gelangte und soeben erst gegründete
Tschechoslowakische Republik berufen. Ihre besondere Legitimation hierzu sa-
hen die Tschechen aufgrund folgender Faktoren gegeben: zum einen dadurch, daß
sie sich innerhalb der slawischen Völkerfamilie als die nächsten Verwandten der
Lausitzer Sorben betrachteten, und zum anderen durch ein besonderes staatsrecht-
liches Verhältnis, demzufolge sie die Lausitz zum alten Territorium der böhmi-
schen Krone zählten. Bis zum Prager Frieden von 1635 waren beide Lausitzen ein
fester Bestandteil der böhmischen Krone gewesen.“2
In diesem Zusammenhang kam es - in Begleitung der tschechoslowakischen Dele-
gation - zur Teilnahme des Begründers der Domowina und sächsischen Landtagsab-
geordneten Amost Bart an den Nachkriegsberatungen in Versailles. Auch nachdem
die weitestgehenden Ansinnen der Sorben gescheitert waren, gab es in den zwanziger
Jahren spezifisch sorbisch-tschechische Beziehungen, die sich unter anderem in der
Tatsache niederschlugen, daß die 1919 gegründete Wendische Volksbank mit tsche-
chischem Kapital gestützt wurde. Noch in den ersten Jahren ihres Machtantritts sahen
sich selbst die Nationalsozialisten veranlaßt, wegen massiver Protestdemonstratio-
nen in der Grenzregion der Tschechoslowakei die Verfolgungen und Behinderungen
der Sorben einzuschränken.
2. Sorbische Grenzgänger nach dem Zweiten Weltkrieg
2.1. Die Ausgangslage
Das Ende des Zweiten Weltkrieges weckte bei vielen Sorben, nicht nur im engeren
Kreis der Aktivisten in der sorbischen nationalen Bewegung, die Erwartung, daß sich
nun bessere Bedingungen für die Verwirklichung der sprachlichen und kulturellen
Interessen des kleinen slawischen Volkes ergeben würden. Bereits am 10. Mai nahm
die wichtigste sorbische Organisation, die Domowina, ihre Tätigkeit wieder auf, und
am 17. Mai 1945 erhielt sie hierzu von der regionalen sowjetischen Besatzungsbe-
hörde für das Gebiet um Bautzen die offizielle Genehmigung. Zugleich gründeten
Sorben im Prager Exil den Sorbischen Nationalausschuß /Narodny wuberk, der in al-
len grundsätzlichen Fragen zunächst mit der Domowina und dem Sorbischen Natio-
nalrat/Serbska narodna rada in der Lausitz konform ging. Vor allem stimmte man
darin überein, eine Lösung der die Sorben betreffenden Fragen für die gesamte Lau-
sitz innerhalb einer administrativen Struktur mit weitgehender kultureller Autono-
mie anzustreben. Alternativ wurden anfangs jedoch auch Möglichkeiten einer Her-
auslösung der Lausitz aus Deutschland und einer engen Bindung, gegebenenfalls
auch ein Anschluß, an die Tschechoslowakei erwogen. In jedem Falle gingen die
Führer der Sorben jedoch davon aus, daß die Tschechoslowakei, wie auch Polen und
Jugoslawien, wichtige Verbündete in ihren Bestrebungen seien. So unterhielt die Do-
mowina zu den Militärmissionen dieser Länder in Berlin Kontakte und informierte
sie über wichtige Entwicklungen in der Lausitz und in der Sorbenfrage.
2 Friedrich Remes, Die Sorbenfrage 1918/1919. Untersuchung einer gescheiterten Autono-
miebewegung (Schriften des Sorbischen Instituts 3), Bautzen 1993, S. 82.
126
In besonders enger Weise entwickelte sich das Verhältnis zur Tschechoslowakei.
Dies hatte nicht nur ähnliche politische und historische Hintergründe wie in der Zeit
nach dem Ersten Weltkrieg, sondern wurde darüber hinaus noch von weiteren Fakto-
ren beeinflußt: Aus dem tschechisch-deutschen Grenzgebiet wurden 1945/46 die Su-
detendeutschen ausgesiedelt. Somit entstand in Nordböhmen ein besonders großer
Bedarf an Arbeitskräften. Andererseits führte die soziale Notlage in der von
Kriegseinwirkungen sehr stark betroffenen deutsch-sorbischen Lausitz zu einem
nicht unbeträchtlichem Interesse an Arbeitsmöglichkeiten im Nachbarland.
Diese politischen und wirtschaftlichen Hintergründe ließen zwischen 1945 und 1948
ein durchaus beachtliches Maß an Grenzgängen unter den Sorben entstehen. Die
Grenzgänger lassen sich im wesentlichen in die nachfolgenden Gruppierungen ein-
ordnen:
1. Sorbische Arbeitskräfte, die mit Vermittlung sorbischer und tschechischer Stellen
im Grenzgebiet tätig waren.
2. Sorbische Schüler und Studenten, die mit Vermittlung durch die Domowina, die
Außenstelle des Sorbischen Nationalrats in Prag oder seitens tschechischer Stellen
eine Ausbildung erhielten.
3. Sorbische Lehrer und einzelne sorbische Geistliche, die zur Betreuung der sorbi-
schen Schüler in der Tschechoslowakei eingesetzt waren.
4. Sorbische Grenzgänger, die sich unter Umgehung der tschechisch-sorbischen Ver-
einbarungen privat Arbeitsstellen im tschechischen Grenzgebiet suchten.
5. Kinder, die zwischen 1945 und 1948 zu längeren Ferienaufenthalten in die Tsche-
choslowakei gebracht wurden3.
6. Einige ausgesiedelte Sudetendeutsche, die unter Vorgabe einer sorbischen Her-
kunft eine Rückkehrmöglichkeit in die verlorene Heimat suchten.
7. Sorben, die bereits vor 1945 in die Tschechoslowakei kamen und in der Regel nicht
im Grenzgebiet, sondern in Prag oder anderen Städten lebten.
Die beiden letztgenannten Gruppen dürften zahlenmäßig klein gewesen sein. Die
Zahl der sorbischen Schüler, Studenten und Arbeiter unter den Grenzgängern zwi-
schen der Sowjetischen Besatzungszone und der Tschechoslowakei machte mehrere
Tausend Personen aus4.
Das tschechische Gebiet, in welches der größte Teil der Grenzgänger einströmte, war
relativ begrenzt und lag in der Stadt und der Region um Liberec, den grenznahen
Kleinstädten Vamsdorf und Rumburk und in Ceska Lipa sowie in Sluknov. Aus der
Lausitz gingen vor allem Sorben aus der Region um Kamenz, Hoyerswerda und
Bautzen in die Tschechoslowakei, wenige kamen aus der Region um Schleife (bei
Weißwasser) und nur vereinzelte (etwas mehr als 100) aus der Niederlausitz in Bran-
denburg. Neben Schulbesuch und Berufsausbildung waren die Grenzgänger in ver-
3 Es handelte sich um Kindergruppen von jeweils mehreren Hundert Kindern, die bis zu drei
Monaten im Nachbarland weilten.
4 In Publikationen zu dieser Problematik finden sich keine verläßlichen Angaben. Nach Mar-
tin Kasper dürfte jedoch eine Zahl von weit über 1000 Sorben als realistisch angenommen
werden. Vgl. Martin Kasper, Wliw ¿¿skoslowakskich februarskich podawkow 1948 na
Serbow, in: Rozhlad 28 (1978) 2 S. 48.
127
schiedenen tschechischen Betrieben und als Hausangestellte bei Privatpersonen tä-
tig
2.2. Wie wurden Sorben Grenzgänger?
2.2.1. Die Funktion der Domowina
Erste Kontakte der Sorben mit tschechoslowakischen Stellen wurden unmittelbar
nach Kriegsende über den bereits am 9. Mai 1945 gebildeten Lausitzisch-Sorbischen
Nationalausschuß (Narodny wuberk = NW) in Prag, einem Gremium von Exil-Sor-
ben, und vermittelt durch einflußreiche tschechische Sympathisanten aufgenommen.
In einer Grußadresse zum Sieg über Deutschland vom 9. Mai an den tschechischen
Nationalrat heißt es u.a., daß die Sorben „neue Lebenskraft schöpfen und davon über-
zeugt sind, daß sie mit Hilfe der Verbündeten die Herausbildung eines selbständigen
Ganzen in enger Verbindung mit der Tschechoslowakei“3 erreichen werden. Der Hi-
storiker Peter Schurmann stellte hierzu fest: „Am zweiten Tag nach der Rückkehr der
tschechoslowakischen Exilregierung kam es zu Verhandlungen mit dem stellvertre-
tenden Regierungschef, J. David. Bei der sich anschließenden Audienz beim Mini-
sterpräsidenten J. Fierlinger in Anwesenheit seiner Stellvertreter K. Gottwald und J.
David wurde über die Erstellung eines Memorandums beraten, welches auch den
Wünschen der Domowina entsprechen sollte. Insofern genoß [- so Schurmann -] der
NW nicht nur Sympathie, sondern hatte auch eine gewisse Lobby in Regierungskrei-
sen der Tschechoslowakei.“5 6 Zur tschechischen Lobby für die Sorben zählte auch die
von Intellektuellen getragene Freundschaftsgesellschaft mit den Sorben (Sdruzeni
Prätel Luzice) in Prag. Am 17. Mai 1945 bevollmächtigte die Domowina in Bautzen
ihren Vorsitzenden Dr. Jan Cyz sowie dessen Stellvertreter Jan Meskank, mit allen
zuständigen tschechoslowakischen Behörden im Interesse des sorbischen Volkes
und beider Lausitzen zu verhandeln7.
In den folgenden Monaten entwickelte sich die Domowina zu einer maßgeblichen
Stelle, die das Grenzgängerwesen der Sorben regelte. Auf tschechischer Seite war
hierbei zunächst der Lausitzisch-Sorbische Nationalausschuß tätig, 1947/48 wurde
dann verstärkt die Gründung der „Domowina in der Tschechoslowakei“ forciert, die
nach der amtlichen Zulassung durch das Prager Innenministerium Anfang 1948 er-
folgte.
Die grenzüberschreitenden Tätigkeitsbereiche der Domowina und des Sorbischen
Nationalrats waren:
1. Werbung von Interessenten für einen Schulbesuch oder eine berufliche Tätigkeit in
der Tschechoslowakei, Vermittlung von Arbeits- und Ausbildungsstellen (bis ca.
November 1946).
2. Ausstellung von Dokumenten, die den Grenzübertritt und Aufenthalt in der Tsche-
choslowakei ermöglichten.
5 Sorbisches Kulturarchiv Bautzen (nachfolgend SKA), Akte D II 4.4. A, Bl. 1.
6 Peter Schurmann, Zwischen Selbstbehauptung und gesetzlicher Regelung von Minderhei-
tenrechten. Die Sorbische Bewegung und das Ringen ihrer Organisationen um ethnische
Gleichberechtigung (1945 - 1948), Dissertation, Bautzen 1997, S. 34.
7 SKA, Akte D II 4.4. A, Bl. 9.
128
3. Vorgehen gegen in der Tschechoslowakei tätige Sorben, die sich ordnungswidrig
verhalten hatten.
4. Beschaffung und grenzüberschreitende Lieferungen von Lebensmitteln, techni-
schen Geräten und sonstigen Materialien aus der Tschechoslowakei.
5. Vermittlung von längerfristigen Ferienaufenthalten sorbischer Kinder in der
Tschechoslowakei.
6. Einflußaufnahme auf die Arbeit der von den Sorben genutzten Druckerei in Rum-
burk.
2.2.2. Sorbische Grenzgänger 1945 bis 1948
Beauftragte der Domowina warben 1945/46 in allen Teilen der Lausitz für die Auf-
nahme einer Tätigkeit in der Tschechoslowakei. Ein wichtiges Kriterium neben der
fachlichen Eignung dabei war, daß die betreffenden Interessenten einen Nachweis er-
bringen konnten, daß sie Sorben seien. Ferner war auch eine Bescheinigung über die
politische Zuverlässigkeit erforderlich. Die tschechoslowakische Seite wollte damit
verhindern, daß ausgesiedelte Sudetendeutsche, die sich in beträchtlicher Zahl im
grenznahen Gebiet aufhielten, zurückkehrten. Die Domowina war ihrerseits daran
interessiert, ihre guten Beziehungen nicht durch Mißbräuche des tschechischen Ent-
gegenkommens zu trüben. Daher entwickelte sich der Mitgliedsausweis der Domo-
wina zu einem außerordentlich wichtigen Dokument für jeden Grenzgänger, da er an-
fangs fast wie ein Reisepaß akzeptiert wurde. Offensichtlich häuften sich jedoch bald
unkontrollierte Grenzübertritte, was wiederholte Modifikationen der Konditionen
zur Folge hatte. Entscheidend wurde hier der von den sowjetischen Besatzungsbe-
hörden auszustellende „Propusk“. Dieses russische Wort für „Durchlaßgenehmi-
gung“ fand in den damaligen sorbischen Sprachgebrauch breiteren Eingang, das sor-
bische Äquivalent dafür, „prepusk“, findet sich in Dokumenten aus dieser Zeit nicht.
So hieß es in einem Schreiben aus Bautzen an die Grenzbehörden der Tschechoslo-
wakei vom Mai 1946: „Es kommt vor, daß Lausitzer Sorben mit dem Ausweis der
Domowina die lausitzisch-tschechische Grenze überschreiten, um persönlichen In-
teressen nachzugehen, die oftmals nicht in Ihrem und unserem Interesse liegen. Alle
Personen, die im Auftrag und Interesse der Lausitz und unserer brüderlichen Bezie-
hungen mit der Tschechoslowakei hin und zurück reisen, erhalten einen besonderen
Propusk, ausgestellt vom Lausitzer-Sorbischen Landesausschuß in Bautzen. Wir bit-
ten daher, Personen, die sich nicht mit einem solchen Propusk legitimieren können,
den Grenzübertritt zu verwehren.“8
Mit der Konsolidierung der politischen Strukturen sowohl in der Tschechoslowakei
als auch in der Sowjetischen Besatzungszone verstärkten sich die Probleme für die
Grenzgänger. Die sowjetischen Besatzungsbehörden und die deutsche Polizei akzep-
tierten die mehr oder weniger inoffiziellen Praktiken der Sorben immer weniger. Es
häuften sich beispielsweise für sorbische Arbeitskräfte und Schüler aus der Tsche-
choslowakei, die ihre Verwandten in der Lausitz besuchen wollten, Schwierigkeiten
und Zurückweisungen an der Grenze. Dies führte dazu, daß sich die Kreisvereini-
gung Kamenz der Domowina am 30. März 1947 in einer Resolution an die tschechi-
sche Regierung wandte. „Viele Hundert Väter, Söhne und Töchter unserer Mitglie-
SKA, Akte D II 4.5. 5, Bl. 99.
129
der arbeiten seit 1945 in Nordböhmen ... Diese Arbeiter konnten sich schon monate-
lang nicht mehr um ihre Familien kümmern, da ihnen jeder Grenzübertritt in die Lau-
sitz verwehrt ist. Ihre Familien zu Hause sind dadurch in größte Not geraten. Die Do-
mowina hat bereits seit Monaten die Regelung von Propusken für diese Arbeiter ge-
fordert, bisher ohne Erfolg. Wir bitten die tschechische Regierung, diese Angelegen-
heit endlich zu lösen und unseren Leuten einen ordentlichen Grenzübertritt und die
Versorgung ihrer Familien mit den Früchten ihrer Arbeit zu ermöglichen.“9 Im glei-
chen Monat teilte die Domowina in der Tschechoslowakei ihren Mitgliedern mit, daß
Grenzübertritt und Aufenthalt im Nachbarland nur mit einem Propusk des örtlichen
Tschechischen Nationalausschusses bzw. der Paßbehörde gestattet ist. Ausgestellt
wird der Propusk nur Personen, die eine „Bescheinigung der sorbischen Nationalität“
vorlegen können. Diese Bescheinigung stellt die Domowina denen aus, die
a) Sorben der Sprache nach sind,
b) national zuverlässig sind,
c) Mitglieder der Domowina sind,
d) ihre Mitgliedsverpflichtungen erfüllt haben.
Eine dauerhafte Regelung der Grenzübertritte für die in der Tschechoslowakei täti-
gen Sorben kam aber auch dadurch nicht zustande. Offensichtlich haben die Sorben
ihren spezifischen Bonus der unmittelbaren Nachkriegszeit verloren, und es wurde
ihnen immer schwieriger, sich bei den tschechischen Behörden Gehör zu verschaf-
fen. Dabei dürften auch die politischen Entwicklungen im Lande selbst und vor allem
die kommunistische Machtübernahme im Februar 1948, die Gründung der DDR im
Oktober 1949 und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Tschechoslowa-
kei mit der DDR eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. In einem dreiseitigen
Brief des Vorstands der Domowina in der Tschechoslowakei an die Oberste Grenz-
kontrollbehörde des Landes vom November 1949 wird die Verschlechterung der Si-
tuation in harten Worten beklagt und unter anderem Beschwerde darüber geführt, daß
Sorben durch die zuständigen Behörden als „deutsche Staatsbürger“ ohne den Zusatz
„sorbischer Nationalität“ bezeichnet werden10.
Die politischen Veränderungen in der Tschechoslowakei im Februar 1948 und die
rechtliche Absicherung und beginnende praktische Verwirklichung der Interessen
der Sorben (Entstehung des staatlich gestützten sorbischen Schulwesens in der Lau-
sitz, Gründung sorbischer kultureller und wissenschaftlicher Institutionen) auf
Grundlage des durch den Sächsischen Landtag beschlossenen „Gesetzes zur Wah-
rung der Rechte der sorbischen Bevölkerung“ vom 23. März 1948 und des Minder-
heitenartikels 11 der DDR-Verfassung vom Oktober 1949 leiteten das Ende der sor-
bisch-tschechischen Grenzgänge ein. Eine Hauptversammlung der Domowina in der
Tschechoslowakei verabschiedete am 14. November 1948 eine Erklärung an die Re-
gierung. Darin hieß es: „Wir, Lausitzer Sorben, welche nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs als Arbeiter, Schüler und Studenten auf den Boden der Tschechoslowaki-
schen Republik kamen, haben uns zur gemeinsamen Rückkehr in unsere Lausitzer
Heimat entschieden, weil es die Existenz unseres kleinen Volks, welches den Weg ei-
9 SKA, Akte D II 4.4. B, Bl. 60.
10 SKA, Akte D II 4.2. C, Bl. 68ff.
130
ner neuen freien Entwicklung angetreten ist, erfordert.“11 Für die geordnete Rück-
kehr werden folgende Bitten ausgesprochen:
1. mit Genehmigung der tschechischen und sowjetischen Behörden gemeinsam und
legal in die SBZ zurückkehren, zuvor alle anstehenden Angelegenheiten in der
Tschechoslowakei klären und allen persönlichen Besitz in angemessenem Um-
fang mitnehmen zu dürfen,
2. daß bis zur Rückkehr keine Umsiedlungen von Sorben aus den Grenzregionen in
das Landesinnere erfolgen, wie das vielfach angesichts der deutschen Staatszuge-
hörigkeit ungeachtet der slawischen Herkunft gefordert wurde,
3. daß den sorbischen Studenten nach Bestätigung ihrer slawischen Gesinnung im
Geiste der neuen Zeit der weitere Aufenthalt in der Tschechoslowakei ermöglicht
werde,
4. daß ausgewählten Spezialisten der Verbleib in der Tschechoslowakei und die Inte-
gration in die gesellschaftlichen Strukturen des Landes ermöglicht werde.
Diese Erklärung entsprach einem Beschluß des Hauptsekretariats der Domowina in
Bautzen zur Aufforderung nach Rückkehr in die Lausitz. 1950 war der überwiegende
Teil der Sorben in die Lausitz zurückgekehrt.
2.2.3. Alltagsprobleme der Grenzgänger in der Tschechoslowakei
Der Alltag der in der Tschechoslowakei lebenden Sorben ist bisher kaum beschrie-
ben. Es existieren nur einige Zeitschriftenbeiträge und in der sorbischen Tageszei-
tung wiedergegebene Erinnerungen. 1995/96 hat die Museologin Hanka Fascyna, die
als Schülerin selbst in der Tschechoslowakei weilte, eine Ausstellung über das Sorbi-
sche Gymnasium von Vamsdorf zusammengestellt. Über die Lebensumstände der in
der Tschechoslowakei weilenden sorbischen Arbeitskräfte liegen bisher noch keine
zusammenfassenden Informationen vor.
Aus Erlebnisberichten und Darstellungen geht hervor, daß die Sorben vor allem in
Rumburk, Ceska Lipa und Vamsdorf ein durchaus vielfältiges und reichhaltiges sor-
bisches kulturelles Leben entfalteten. Es umfaßte nicht nur Vereinsleben, Bildungs-
veranstaltungen und künstlerische bzw. volkskünstlerische Aktivitäten, sondern
auch die Herausgabe von Zeitungen und die Ausstrahlung sorbischsprachiger Rund-
funksendungen.
Die sorbischen, oft jugendlichen Grenzgänger, waren in der Regel straff organisiert
und reglementiert, zuletzt durch die Domowina in der Tschechoslowakei. Natürlich
blieb es nicht aus, daß zuweilen ein etwas lockerer Lebenswandel geführt wurde, es
zu Liebschaften kam oder Eheprobleme auftraten und Unterhaltsverpflichtungen in
der Lausitz nicht eingehalten wurden, illegal nach Deutschland gereist wurde, Kon-
takte mit Sudetendeutschen aufgenommen wurden, bestimmte Vereinbarungen und
Verbote nicht eingehalten wurden. Da die Sorben als „Repräsentanten des Sorben-
tums“ galten, wurde in solchen Fällen rigoros eingeschritten, nicht selten wurden die
Betroffenen in die Lausitz zurückgeschickt und ihnen der Domowina-Ausweis abge-
nommen. Gegenüber den tschechoslowakischen Behörden setzten sich die Repräsen-
tanten der Domowina bei weniger schwerwiegenden Delikten dafür ein, auf eine
strafrechtliche Verfolgung zu verzichten.
11 SKA, AkteD II 4.2. C, Bl. 51 f.
131
In die politischen Meinungsverschiedenheiten, die zwischen der Domowina in Baut-
zen und dem Nationalrat in Prag seit 1946 auftraten und sich in den folgenden Jahren
zuspitzten, wurden auch die Sorben in der Tschechoslowakei von beiden Seiten hin-
eingezogen. In diesem Zusammenhang kam es zu Enthebungen aus Funktionen und
Rückversetzungen in die Lausitz.
Neben der Regelung der Angelegenheiten der sorbischen Arbeiter und Studierenden
in der Tschechoslowakei entwickelten sich zwischen 1945 und 1949 über die Domo-
wina weitere grenzüberschreitende Aktivitäten. Sie können hier nur genannt werden,
ein Kommentar ist an dieser Stelle nicht möglich, auch weil hierzu ebenfalls noch zu-
wenig geforscht wurde. An die Domowina wandten sich sowohl einzelne Personen
als auch deutsche Stellen mit Bitten um Hilfen in verschiedensten Fragen. So sah sich
die Organisation beispielsweise wiederholt mit Rückkehr- und Eigentumsproblemen
ausgesiedelter Sudetendeutscher konfrontiert. Helfen konnte sie allerdings kaum.
Seitens einzelner Sudetendeutscher wurden Gesuche um „Zuerkennung“ des Wen-
dentums und damit um Ausstellung eines Mitgliedsausweises der Domowina, der die
Rückkehr in die alte Heimat ermöglichen sollte, gestellt.
Die Stadt Löbau wiederum stellte mit Hilfe der Domowina Nachforschungen über
den Verbleib des von den Nationalsozialisten nach Böhmen verbrachten Stadtarchivs
an, und auch bei der Suche von Vermißten wurde die Domowina um Hilfe gebeten.
Konfrontiert wurde die sorbische Organisation wiederholt mit Problemen illegaler
Grenzgänger, teils unter Mißbrauch ihres Mitgliedsausweises, In einer Stellungnah-
me zur Festnahme eines davon betroffenen Sorben aus der Gegend um Schleife an
die Grenzbehörden verwies die Domowina-Führung darauf, daß sie alles mögliche
tue, um „schwarzes“ Überschreiten der Grenze zu verhindern. „Aber wir sind macht-
los, weil Agenten tschechischer Firmen und Staatsbetriebe durch die Lausitz reisen
und Leute werben, in die Tschechoslowakei zur Arbeit zu gehen. So geschah es auch
in Schleife. Herr S. ist einfacher Landwirt aus einem Dorf unweit von Muskau an der
polnischen Grenze und ein guter Sorbe. Deshalb bitten wir Sie, S. freizulassen, damit
er in die Lausitz zurückkehren kann. Es ist sehr wichtig im Kampf um die Erhaltung
des Sorbentums in der Gegend von Muskau, daß S. zurückkehrt.“12
Ein weiterer Bestandteil des sorbisch-tschechischen Grenzgängertums war die mate-
rielle Sicherung sorbischer Aktivitäten in der Lausitz durch grenzüberschreitende
Verbindungen. So nutzten die Sorben eine Druckerei in Rumburk für ihre Zwecke
und verhandelten mit der tschechischen Seite über eine mögliche Auslagerung nach
Bautzen. Grenzgänger mit Domowina-Papieren brachten Lebensmittel, Drucker-
zeugnisse und weitere Güter in die Lausitz. Hierzu wurden Kuriersysteme und De-
pots angelegt. Für die Ausstattung des Sorbischen Lehrerbildungsinstituts wurden
Bücher aus konfiszierten ehemals deutschen Beständen organisiert. Treibstoffe und
Ersatzteile für die Fahrzeuge der Domowina wurden gleichfalls, nicht immer legal,
herangeschafft. Für den Neubau des kriegszerstörten Hauses der Sorben in Bautzen
wurde Baumaterial beschafft.
Seitens der deutschen Polizeibehörden wurden die sorbischen Grenzaktivitäten - ob
legal oder illegal - mit Mißtrauen betrachtet und teils behindert. Protokolliert ist bei-
spielsweise, daß von deutschen Polizeiangestellten sorbischen Arbeitern, die ihre
SKA, Akte D II 4.5. C, Bl. 163.
132
Angehörigen in der Lausitz zu Feiertagen besuchen wollten, mitgebrachte Güter ab-
genommen wurden.
3. Nach dem Ende des sorbisch-tschechischen Grenzgängertunis
1949 verbanden die noch in der Tschechoslowakei lebenden Sorben die Aufnahme
diplomatischer Beziehungen zwischen Tschechoslowakei und DDR zunächst noch
mit der Hoffnung, daß in der Botschaft ein sorbischer Mitarbeiter sich mit ihren spe-
zifischen Fragen beschäftigen würde. Dies erfolgte jedoch nicht. Statt dessen wurden
alle Sorben nach Deutschland zurückgerufen. Die letzte Schülergruppe setzte 1950
den Unterricht an der sorbischen Oberschule in Bautzen fort. Auch hinsichtlich der
Studenten in Polen wurde Anfang der 50er Jahre durch die DDR-Regierung festge-
legt, daß nur noch abschließende Semester in Polen bleiben durften, alle übrigen Stu-
denten wurden nach Leipzig zurückgeholt13.
Es ist hervorzuheben, daß die Ausbildung mehrerer hundert sorbischer Schüler un-
mittelbar nach dem Krieg im Nachbarland von herausragender Bedeutung für die ge-
samte kulturelle Nachkriegsentwicklung für das sorbische Volk war. Nur durch die
vom tschechischen Schulverein „Matica skolska“ unterstützte gymnasiale Ausbil-
dung und die Gewährung von Studienmöglichkeiten in der Tschechoslowakei, Polen
und Jugoslawien konnte sich eine Schicht sorbischer Intellektueller herausbilden, die
dann in der Lage war, in Bildung, Kultur, Wissenschaft und Politik Elitefunktionen
bis nach der politischen Wende in der Lausitz einzunehmen. Auch auf den Erlaß des
Gesetzes zur Wahrung der Rechte der sorbischen Bevölkerung dürfte die aus der
Tschechoslowakei gewährte Unterstützung der Sorben nicht ohne Einfluß gewesen
sein. So erklärte ein CDU-Landtagsabgeordneter seine Zustimmung zum Gesetz un-
ter anderem mit folgenden Worten: „Somit ist es in Zukunft auch nicht mehr nötig,
daß die Kinder dieser Minderheit ihre Ausbildungsstätten im Ausland suchen müs-
sen, wo ihnen besondere Vorzüge auch gewährt wurden.“14
Nach 1950 wurden Auslandsstudien für Sorben nur noch nach den DDR-üblichen
Auswahlverfahren vergeben, der besonderen slawischen Herkunft und sprachlichen
Voraussetzungen wurde bewußt nicht Rechnung getragen. Selbst die Auslandsbezie-
hungen der Domowina unterlagen einer strikten Kontrolle und Regulierung durch die
SED. Erst die Einführung paß- und visafreier Reisemöglichkeiten führte ab Ende der
60er Jahre wieder zu einer Erweiterung von Kontakten auf verschiedenen Ebenen
(Austausch und partnerschaftliche Kontakte zwischen sorbischen und tschechischen
Kulturensembles, Kontakte der Domowina mit den Verbänden der polnischen und
ruthenischen Minderheit in der Tschechoslowakei, vielfältig strukturierte Partner-
schaftsbeziehungen zwischen Gemeinden, Schulen, Betrieben und Landwirtschaftli-
chen Produktionsgenossenschaften beider Länder).
Während die Mehrzahl der sorbischen Grenzgänger wieder in die Lausitz
zurückkehrte, blieb eine kleine Gruppe von Sorben, meist Frauen, durch Heirat eines
13 Vgl. Ludwig Elle, Sprachenpolitik in der Lausitz (Schriftenreihe des Sorbischen Instituts
11), Bautzen 1995,8.78.
14 Protokoll der 37. Sitzung des sächsischen Landtages, 25 Februar 1948, in: Stiftung Archiv
der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv, NL 74/150 Bl. 40.
133
tschechischen Partners in der Tschechoslowakei. Der tschechische Ethnologe Leos
Satava charakterisierte diesen Personenkreis, der 1983 noch ca. 100 Menschen
umfaßte, in einer Studie als „eine zahlenmäßig geringe, in gewisser Weise aber
gleichbleibend ausgeprägte, zerstreute kleine ethnische Gruppe. Diese Sorben haben
sich zumeist weitgehend in ihre neue Umwelt eingelebt, die sie als ihre Heimat
betrachten. Dennoch hält sich unter ihnen eine besondere Beziehung zur Lausitz und
zur sorbischen Nationalität in ihr.“15 Die Sorben um Vamsdorf als kleine ethnische
Gruppe stellen, so Satava 1983, eine vorübergehende Angelegenheit dar. Ihre Zahl
wird gegenwärtig für Nordböhmen auf ca. 70 Personen, alle im Alter von über 65
Jahren, geschätzt.16
15 Leoä Satava, Die Sorben in Nordböhmen als kleine ethnische Gruppe der Gegenwart, in:
Lötopis, Reihe C - Volkskunde, 26 (1983) S. 99.
16 Zdenök Valenta, Serbja w sewjemej Cöskej, in: Sprawy luzyckie w ich slowiariskich kon-
tekstach, Warzsawa 1996, S.186.
134
Cordula Ratajczak
Zwischen „sorbischer Innen- und deutscher
AUSSENPERSPEKTIVE“. GRENZ-WERTE EINER MISCHKULTUR IM
Lausitzer Braunkohlentagebaugebiet
1. „Sei bissei stolz uff das Wendsche ooch!“
Mein Beitrag zu diesem Grenzgänger-Symposium wird die Frage behandeln, wie
kulturelle bzw. ethnische Grenzen definiert und verhandelt werden, wenn man nicht
auf rechtsstaatlich-nationale Grenzen zurückgreifen kann.
Der Slawist und Literaturwissenschaftler Walter Koschmal setzt sich in seinem
Leitaufsatz des Readers „Perspektiven sorbischer Literatur“ (zwar kurz, aber prä-
gnant) mit einem Grenzfall sorbischen Literaturschaffens auseinander, dem dreibän-
digen autobiographischen Roman „Der Laden“ von Erwin Strittmatter. Der von Ko-
schmal als „Mischling“1 gekennzeichnete und sich im Roman selbst als „Halbsorbe“
bezeichnende Strittmatter1 2 habe damit der „sorbisch-deutschen Mischkultur ein be-
redtes Denkmal gesetzt“3. Diese im Roman „als so reich gezeichnete sorbisch-deut-
sche Mischkultur“, fährt er fort, harre bislang gänzlich der Erforschung in den ver-
schiedensten Disziplinen.
Ich möchte mich im folgenden aus einer kulturanthropologischen Perspektive einer
solchen sorbisch-deutschen Mischkultur nähern. Die „halbsorbische Heimat“ Stritt-
matters4 der zwanziger und dreißiger Jahre, im Roman als „Bossdom“ benannt und
auf der Landkarte als Bohsdorf zu finden, liegt nur ein paar Ortschaften weiter nörd-
lich von jenem Dorf, in dem ich 1995 eine fünfmonatige Feldforschung unternom-
men habe, Miloraz/Mühlrose: Einige Male kommt der Ich-Erzähler des Romans auch
nach Schleife, dem Kirchdorf des Kirchspiels Schleife, zu dem auch Mühlrose ge-
hört. Während meines Aufenthaltes gehörte der Roman zu meiner Abendlektüre. Ich
hatte ihn von einem gebürtigen Mühlroser empfohlen bekommen, der sich offenbar
gut mit den Schilderungen Strittmatters über das Leben, die Verhältnisse und den
Wandel der Zeiten in Bossdom identifizieren konnte: Der Roman schien Repräsenta-
tionsfunktion übernehmen zu können (inwieweit er was für wen repräsentieren kann,
werde ich hier allerdings nicht zu klären versuchen).
Zwei Punkte hebt Koschmal für Strittmatters „spezifische Mischung von sorbischer
Innen- und deutscher Außenperspektive“5 hervor, an die ich in meinen weiteren Aus-
1 Walter Koschmal, Perspektiven sorbischer Literatur, in: Perspektiven sorbischer Literatur,
hg. von Walter Koschmal, Köln u.a. 1993, S. 33.
2 Erwin Strittmatter, Der Laden. Erster Teil, Berlin 1994, S. 43.
1 Koschmal (wie Anm. 1) S. 31.
4 Strittmatter (wie Anm. 2) S. 527.
5 Koschmal (wie Anm. 1) S. 33.
135
führungen anknüpfen werde: „Die Verspottung der Sorben und die Diskreditierung
ihres Selbstgefühls durch die Deutschen kann kaum plastischer geschildert werden
als bei Strittmatter“6 hören wir zum einen. Dem stehe zum anderen ein sorbisches
Selbstbewußtsem der Frauen gegenüber, das „in der sorbischen Literatur seinesglei-
chen sucht“7. Der Verhöhnung des Ich-Erzählers als „wendscher Kito“ seitens der
Deutschen, bzw. derer, die sich dafür halten oder dafür gehalten werden wollen, wie
Strittmatter an mehreren Stellen fein säuberlich unterscheidet8, steht die Aufforde-
rung nach Loyalität zum Sorbischen der Großtante Maika gegenüber: „Sei bissei
stolz uff das Wendsche ooch!“, ermahnt sie den Halbsorben9.
Ich möchte nun versuchen, anhand meines Materials aus dem Schleifer Kirchspiel
zunächst die Verbindung einer sorbischen Diskrimimerungserfahrung samt Wider-
stand der Frauen mit dem traditionellen Kulturmodell einer bestimmten Generation,
das für die nachfolgenden Generationen seine Gültigkeit verloren hat, nachzuzeich-
nen. Dieses Modell ist durch eine spezifische Art der ethnischen Grenzziehung aus-
gewiesen. Es identifiziert deutsch und sorbisch mit einer je bestimmten reinen Kul-
tur- und Lebensweise. Grenzgänger werden in diesem Modell zu einem Problem, wie
zu zeigen ist, da sie als ‘Wanderer zwischen den Welten’ die Abgeschlossenheit und
Reinheit gefährden: Assimilierung als Gefährdung der ethnischen Differenz wird in
dieser Logik zum bedrohlichen Grenzwert einer kulturellen Entwicklung und des
Wandels der Zeiten.
Zum zweiten möchte ich die Transformation dieses geschlossenen Kulturmodells in
ein Muster der Ambivalenz darstellen, das Sorbisches einerseits als Differenz mar-
kiert und präsent sein läßt durch unterschiedliche kollektive und individuelle Bezüge,
gleichzeitig aber eine deutsche Identifikation zuläßt.
Drittens und letztens werde ich noch auf ein alternatives gegenwärtiges sorbisches
Muster des Wechselns zwischen zwei Kulturen hinweisen, das der ‘kompetenten
Grenzgänger’.
2. Sorbische Innen- und deutsche Außenwelt: Gefährliche und gefährdete
Grenzgänger zwischen geschlossenen Kulturen
Das Modell zweier geschlossener und sich gegenüberstehender Kulturen, einer sor-
bischen und einer deutschen, ist in Mühlrose/ Schleifer Kirchspiel für eine als tradi-
6 Koschmal (wie Anm. 1) S. 31.
7 Koschmal (wie Anm. 1) S. 32.
8 Strittmatter (wie Anm. 2) S. 389/4! 6.
9 Zitiert nach Koschmal (wie Anm. 1) S. 32.
136
tionell zu bezeichnende Generation der Jahrgänge bis ca. 1930 alltagsbestimmend10 11.
Die kulturelle Beharrungstendenz des Kirchspiels stellt eine regionale Ausnahme in
der Heideregion dar: Benachbarte Trachtengebiete, die sich bereits von der Tracht
gelöst hatten, „sahen mit Spott auf die Schleifer herab“1 Ein Grund für dieses Phä-
nomen kann in dem ‘SchutzwalT gesehen werden, der durch die kontinuierliche, bis
in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur andauernde Besetzung der Pfarrstelle
mit sorbischen Geistlichen entstand, die als sorbische „Patrioten“ wirkten12. Träger
einer als sorbisch verstandenen Lebensweise sind vor allem die Frauen: Sie stellen
die Garanten der dörflichen Trachten- und Brauchgemeinschaft dar und sind haupt-
sächlich für die Subsistenzwirtschaft verantwortlich. Den Männern hingegen obliegt
die Vervollständigung des ökonomischen Bedarfs durch Lohnarbeit in der entweder
gräflich-dörflichen Kleinindustrie bzw. dominant in der seit der Jahrhundertwende
erstarkenden Industrie der nahen Stadt Weißwasser, die 1920 zu den weltweit führen-
den Glasproduzenten gehört13. Mit dieser Arbeitsteilung ist die Partizipation an zwei
Arbeits- und Lebenswelten verbunden: Die Lebenswelt der Frauen ist die der sor-
bischsprachigen und bäuerlich orientierten Innenwelt des Dorfes, die der Männer die
deutschsprachige Außenwelt der Industrie. Die Männer pendeln zwischen diesen
beiden Welten, sie sind Grenzgänger zwischen einer deutschen Arbeits- und Lebens-
welt, in der Sorbisches als Differenz problematisch wird: „Ihr wendschen Hunde“
lautet eine typische in der Außenwelt erfahrene Diskriminierungsformel. Die Diskri-
minierungserfahrungen der Frauen in der nationalsozialistisch geprägten Schulzeit,
in der sie vom Lehrer die sorbischen Hauben heruntergerissen bekommen14 bzw. der
10 Zur Generationsentwicklung bis heute vgl. Cordula Ratajczak, Generationen antworten.
Der Wandel von Lebensstrategien in der Generationenfolge als Reaktion auf den Umbau
einer Lebenswelt, in: Skizzen aus der Lausitz, (alltag & kultur 3), hrsg. v. Institut für Euro-
päische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin & Sorbisches Institut/Serbski insti-
tut Bautzen, Köln u.a. 1997, S. 23-52.
11 Albrecht Lange, Die ‘halbdeutsche’ Tracht in Schleife, in: Lötopis C 19, Bautzen 1976, S.
108.
12 Vgl. Helmut Faßke, Der Schleifer Dialekt - eine lebendige Existenzform der sorbischen
Sprache, in: Zur Wortfolklore der Schleifer Region, Folklore der Schleifer Region Heft 4,
hg. vom Haus für sorbische Volkskultur - Sorbisches Folklorezentrum Bautzen o. J., S. 32f.
13 Vgl. Albrecht Lange, Der Wandel der Volkstracht um Muskau im Rahmen der kapitalisti-
schen Entwicklung des Dorfes, in: Lötopis C 23, Bautzen 1980, S. 9-17; Eberhard Blu-
me/Hanspeter Gmers/Lutz Stuck, Zur wirtschaftlichen Entwicklung des Kreises Weißwas-
ser/OL in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Heimatkundliche Beiträge für den Kreis
Weißwasser/OL Heft 7, Weißwasser 1991.
14 Ein Angehöriger des Jahrgangs 1928 verknüpft die Erfahrung des Hauben-Herunterreißens
bei seinen Mitschülerinnen während seiner Schulzeit kausal mit nationalsozialistischer an-
tisorbischer Politik: „Ich wollte gerade sagen, ich bin ja bei den Nazis gegangen, da war das
Sorbentum verboten. Unterbunden, nicht, unterbunden, wie muß ich sagen. Z.B hat der
Lehrer Ulmann bei uns die Hauben runtergerissen, weil die unten drunter angeblich nicht
gewaschen waren.“ Auch Karin Bott-Bodenhausen erwähnt in ihrer Oral-History-Studie
über Sprachverfolgung in der NS-Zeit bei den Sorben eine ähnliche Geschichte einer Ange-
hörigen des Jahrgangs 1935 im gleichen Kirchspiel über einen Lehrer, der das Herunterrei-
ßen der Haube als Strafe für nicht genügende Schulleistungen einsetzt: „Und wehe, ich
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Mädchenzeit, in der auch sie in die Glasfabriken nach Weißwasser fahren, erscheinen
demgegenüber als Übergangserfahrungen in Zwischenwelten vor Übernahme der ei-
gentlichen Frauenpflichten in der geschützten Innenwelt des Dorfes. Dort stellen sor-
bische Tracht und Sprache selbstverständliche Bestandteile des normalen Alltags
dar. Aus diesem Rückhalt erwächst die Kraft, den üblen Nachrufen „wendsche Han-
ka, wendsche Hanka“ in der Gegenwelt Weißwasser das Eigene als Gleichwertiges
entgegenzusetzen: „Wenn du nicht Deutsch kannst, mußt du bellen wie ein Hund,
und wenn ich nicht Deutsch kann, kann ich immer noch Sorbisch!“ formuliert eine
1924 geborene Mühlroserin ihren Widerstand.
Für die Männer allerdings wird diese Außenwelt zur eigentlich maßgebenden Welt:
„Mit dem Sorbischen kamen wir ja nicht in der Welt mm“ lautet die Erklärung, mit
der ein Vater die deutsche Sprache - entgegen den Interessen der Schwiegereltern, in
deren Wirtschaft er eingeheiratet ist - als Familiensprache insbesondere gegenüber
den Kindern durchsetzen will. Die Männer entwickeln, wie es jüngst der Soziolingu-
ist Peter Neide in seiner Großstudie über Minderheitensprachgemeinschaften in Eu-
ropa festgestellt hat, eine für europäische Sprachminderheiten typische „negative
Identität“15, die durch die Identifizierung der eigenen Minderheitensprache mit einer
traditionellen, als ‘veraltet’ geltenden Welt im Gegensatz zur zukunftsweisenden und
positiv belegten Moderne und Nation gekennzeichnet ist. „Der (Schuldirektor) soll
mir mal einen sagen, der durch das Sorbische etwas Gutes gemacht hat!“ lautet der
Wertlosigkeitskommentar eines 1926 geborenen sorbischen Muttersprachlers hin-
sichtlich des sorbischen Sprachunterrichts heute. Die männlichen Grenzgänger
habe das nicht gekonnt, dann hat er sogar mehrmals mein Trachtenhäubchen vom Kopf ge-
rissen. Und das war so beleidigend, das werde ich nicht vergessen, das war schlimm.“ (Ka-
rin Bott-Bodenhausen, Sprachverfolgung in der NS-Zeit. Sorbische Zeitzeugen berichten
(Lötopis Gesamtband 44, Sonderheft), Bautzen 1997, S.32). Jenseits der spezifischen natio-
nalsozialistischen Antisorben-Politik, mit dem die demütigende Handlung der Autoritäts-
person hier sowohl vom Erzählenden als auch der Interpretin in Zusammenhang gebracht
wird, läßt sich das Phänomen des Hauben-Herunterreißens auch für die Zeit davor, d.h. in-
nerhalb der nationalstaatlichen Germanisierungspolitik des Kaiserreiches, nachweisen. So
berichtet Albrecht Lange in seiner Studie zum Wandel des Trachtenverhaltens in der Mus-
kauer Heide von einem ähnlich gelagerten Vorfall in einem Ort, dessen letzte Trachtenträ-
gerinnen 1909 konfirmiert wurden: „Es ist z.B. noch bekannt, daß chauvinistische Lehrer
den Schulmädchen das Haubentragen verboten (z.B. in Sagar) und daß sie ihnen dieselben
sogar vom Kopf rissen.“ (Albrecht Lange (wie Anm. 13) S. 12). Auch wenn die Rede vom
‘Herunterreißen’ der zeitbedingten Normalität von körperlichen Züchtigungen in der Schu-
le geschuldet sein mag, so ist doch die Kontinuität der Auseindersetzung um die
Kopfbedeckung als Symbol des anderen bis in unsere Zeit auffallend. Die symbolische
Verhandlung von Akzeptanz oder Negation des anderen, von Anerkennung der Differenz
oder Verpflichtung auf Anpassung bzw. scheinbare Universalität hat zuletzt in Gestalt der
‘Kopftuch-Affaire’ in Frankreich die Öffentlichkeit beschäftigt (vgl. Werner Schiffauer,
Die civil society und der Fremde. Grenzmarkierungen in vier politischen Kulturen, in: Wer-
ner Schiffauer, Fremde in der Stadt. Zehn Essays über Kultur und Differenz, Frankfurt am
Main 1997, S. 38f.).
15 Peter H. Neide et al., Euromosaic. Produktion und Reproduktion der Minderheiten-Sprach-
gemeinschaften in der Europäischen Union (Europakommission D6 XXII), Brüssel 1996,
S. 26.
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wechseln also zwischen zwei als nicht gleichwertig und konkurrenzfähig empfunde-
nen Welten, identifizieren sich mit der Wertung der deutschen Außenwelt und tragen
diese mit in die Innenwelt des Dorfes. Die Frauen hingegen bestehen auf dem Recht
ihrer Lebenswirklichkeit: Für sie ist die „Eigengruppe Minderheit“ weiterhin positi-
ve Bezugsgruppe, um es in der Logik der Bezugsgruppentheorie des Soziologen
Manfred Markefka auszudrücken. Das Gutheißen der Moderne geht einher mit der
ökonomischen Abhängigkeit von ihr und verlangt in dieser sich aus schließ enden Lo-
gik das Verleugnen des Traditionellen und damit das Abschaffen seiner Attribute16:
Die Männer drängen die Frauen zum Ablegen der Tracht und zum Sprachwechsel
vorrangig gegenüber den Kindern17.
3. Vom Tragen und Nicht-Tragen deutscher Hüte
Ich möchte nun zu einer im Schleifer Kirchspiel kursierenden Geschichte einer miß-
lungenen Grenzüberschreitung kommen, in der sich die zwischengeschlechtlichen
Auseinandersetzungen um das Ablegen der Tracht verdichtet haben. In dieser Ge-
schichte wird allerdings nicht nur das Verhältnis zu Tradition und Moderne themati-
siert (wie es für eine Geschichte des Trachtenablegens in Deutschland um die Zeit
des 2. Weltkriegs üblich wäre), es wird auch nach dem Modus eines angemessenen
Umgangs mit und Wandern zwischen zwei ethnisch differenten Kulturen zur Spra-
che gebracht. Sinngemäß erzählt die Geschichte folgendes:
Eine Trachtträgerin der traditionellen Generation bekommt als junge Frau von ihrem
Mann oder Bruder, der durch Partizipation an einer deutschen Lebenswelt, sei es die
Arbeitswelt Weißwasser, sei es die Lebenswelt Westdeutschland, gekennzeichnet
ist, einen Satz deutscher Kleidung, den sie statt der sorbischen Tracht tragen soll. Sie
kleidet sich alleine an und begeht dabei einen folgenschweren Fehler: Sie setzt zwei
Hüte übereinander auf, weil sie denkt, das müsse so sein. Sie bemerkt ihren Fehler
nicht und begibt sich in die deutsche Außenwelt oder auch in die sorbische Innen-
welt, die das Fehlverhalten registriert und blamiert so sich und den Mann, der das An-
ziehen der deutschen Kleidung von ihr verlangt hat. Die Blamage wird zum Gegen-
stand allgemeiner Belustigung im Dorf, die bis heute nicht ganz verschwunden ist:
„Da lachen noch die Leute drüber“, beendete meine Gesprächspartnerin ihre Erzäh-
lung.
16 Vgl. Peter H. Neide (wie Anm. 15).
17 Die hier vorgestellte geschlechtliche Rollenverteilung in Form von die eigene Minderhei-
tensprache negierenden Männern gegenüber positiv bis neutral eingestellten Frauen ergibt
sich meiner Meinung nach strukturell aus den Wertverhältnissen der jeweiligen Arbeits-
welt. In soziolinguistischen Studien ist demgegenüber daraufhingewiesen worden, daß ge-
rade die Frauen im Hinblick auf die Zukunftschancen ihrer Kinder dazu tendieren, diesen
die mit Modernität und Aufstieg assoziierte Mehrheitssprache zu vermitteln, vgl. Lenora A.
Timm, Bilingualism. Diglossia and Language Shift in Brittany, in: International Journal of
the Sociology of Language 25 (1980) S. 36; Rosita Rindler-Schjerve, Zur Konfliktsituation
des Sprachenwechsels in der Minderheitenfamilie, in: Peter H. Neide (Hg.), Language
Conflict and Minorities (Plurilingua X), Bonn 1990, S. 225f.
139
Man kann diese Geschichte zunächst einmal als eine Kulturkontakterzählung kenn-
zeichnen: Sie problematisiert den Kontakt zweier Kulturen in Form einer Narration.
Kulturkontakterzählungen lassen sich mit dem europäischen Ethnologen Klaus Roth
definieren als „individuelle oder kollektive narrative Wiedergaben interkultureller
Interaktionen, gewöhnlich von überraschenden, kritischen, konflikthaften, unerwar-
teten oder unerklärbaren Erfahrungen und Erlebnissen“18. Sie ist andererseits keine
Kulturkontakterzählung, da der verhandelte Vorfall sich nicht wesentlich zwischen
zwei Kulturen ereignet, sondern mnnerhalb eines Kultur- und Lebenszusammen-
hangs, der sein Verhältnis zu einem anderen klären will. Es kommt im eigentlichen
Sinne auch zu keiner interkulturellen Interaktion: Alle Beteiligten zeichnen sich
durch die Partizipation an der gleichen Kultur aus.
Es scheint sich hierbei um eine kollektive Erzählung zu handeln, die zwar der Nach-
barin, Bekannten oder einer sonstwie dem Dorf zugehörigen Frau diese Geschichte
als erlebte individuelle Erfahrung zuordnet, die aber in einer ähnlichen Form von ei-
ner anderen Frau in einem anderen Dorf ähnlich erzählt wird: Ich habe sie in Mühlro-
se in der Version eines Bruders im Westen in der Rolle des Initiatiors und Blamierten
gehört, einer Mitarbeiterin unseres Projekts wurde sie im Nachbardorf Rohne in der
Fassung eines in Weißwasser arbeitenden und im Dorf lebenden Ehemanns erzählt19.
Das stereotypisierte Narrativ, das ich hier in bezug auf das Schleifer Kirchspiel inter-
pretieren werde (wobei zu fragen wäre, in welchen sorbischen oder europäischen
Minderheitskontexten es vergleichbare Erzählungen gibt) reflektiert eine bestimmte
Krisensituation. Auf den ersten Blick ist es der Konflikt der unterschiedlichen Le-
bensweltausrichtungen von Männern und Frauen: Die Männer zwingen ihre Frauen,
Schwestern und wahrscheinlich auch Mütter gegen deren Willen, den Übertritt zu der
von ihnen präferierten deutsch-modernen Kultur zu vollziehen. Diese folgen der
Weisung, scheinen aber nicht fähig, den Wechsel zu vollziehen und geben damit sich
und den Mann der Lächerlichkeit preis. Lächerlich, so wird diese Geschichte von
meiner Erzählerin gewertet, machen sich nämlich nicht nur die Frauen durch ihre
mangelnde interkulturelle Kompetenz, sondern ebenso die Männer, die von den
Frauen etwas Falsches, nämlich ihrer Lebens Wirklichkeit in der Innenwelt Dorf Un-
angemessenes verlangen. Der mißlungene Versuch des Wechsels auf die andere Sei-
te macht aus einer akzeptierten Dörflerin dieser Generation nicht nur eine falsch ge-
kleidete ‘Doppelthütige’, sondern im Falle des Gelingens eine richtige „Ente in Stök-
kelschuhen“, wie meine Erzählerin kommentierte, und gibt sie damit dem allgemei-
nen Spott der Lebens weit Dorf preis,
Diese Erzählung eines gescheiterten Versuchs kultureller Grenzüberschreitung in der
Metapher eines Kleiderwechsels wertet sowohl die interkulturelle Inkompetenz der
Frauen als unangemessen und fordert deutsche Kulturkompetenz ein, wie es gleich-
zeitig die Forderung nach deutscher Kulturpraxis der Unangemessenheit überführt:
18 Klaus Roth, Erzählen und Interkulturelle Kommunikation, in: Klaus Roth (Hg.), Mit der
Differenz leben. Europäische Ethnologie und Interkulturelle Kommunikation (Münchner
Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation 1 = Südosteuropa Schriften 19), München
1996, S. 69.
19 Vgl. Ines Neumann, „Man konnte sich ja nicht mal in die Stadt trauen“. Deutungen und
Wertungen des Sorbischen, in: Skizzen aus der Lausitz (wie Anmerkung 10), S. 217.
140
Zwar sollte frau in der Lage sein, sich deutsch zu kleiden, aber sie sollte es nicht tun,
lautet zunächst die ambivalente Lektion dieser Geschichte.
Eindeutig ist demgegenüber die Hutlektion, die Strittmatter in seinem Roman die
sorbische Großmutter erteilen läßt: Sie müßte vor sich selbst ausspucken, würde sie
ihren sorbischen Rock in die Lumpen schmeißen und einen (deutschen) Hut mit Blu-
men aufsetzen20. Hier ist bezeichnenderweise nicht die Rede von zwei Hüten und ei-
ner damit ins Spiel gebrachten Frage nach kultureller Inkompetenz: Natürlich weiß
die Großmutter im halbsorbischen Bossdom, wie man mit einem deutschen Hut um-
zugehen hat, und sie weiß auch, was man von ihm zu halten hat. Die Problematisie-
rung des Nicht-Wissens in der Zwei-Hüte-Geschichte ist in diesem Kontrast an das
klar getrennt konzipierte Nebeneinander einer sorbischen und deutschen Welt ge-
bunden, in der die Sorbin die Regeln der deutschen Kleidung nicht kennt. Zu vermu-
ten wäre, daß sie sorbische Regeln angewandt hat. Für den Sprachwechsel ließen sich
viele Beispiele anfiihren, bei dem der Übergang in die andere Sprache gekenzeichnet
ist durch die Anwendung der eigenen Grammatik: Auch wenn das Material übernom-
men wird, kann der Modus der Verwendung, das Tun geprägt sein von den zugrunde-
liegenden eigenen Regeln.
Die Fragwürdigkeit eines solchen geschlossenen und ausschließenden Zwei-Kultu-
ren-Konzepts und der damit notwendigen Grenzüberschreitungen scheint sich so in
der Verwendung der Metapher der zwei Hüte wiederzufinden: Das Tragen von zwei
Hüten als Absurdität im Bild läßt sich befragen auf eine hier thematisierte und zur
Disposition stehende Absurdität des Modells zweier getrennter Kulturen und der da-
mit implizierten Entweder-Oder-Entscheidung21 in einer spezifischen lebensweltli-
chen Krisensituation, in der die bisherige Konzeption nicht mehr trägt. Wird nicht auf
einer Meta-Ebene dieses im Narrativ symbolisch vollzogenen Diskurses das Zwei-
Kulturen-Muster selbst in Frage gestellt? Ist die Frage, welchen Hut man aufsetzt, so
kann man weiter fragen, die entscheidende Frage einer ethnischen Identität, und stellt
der Hut oder irgendein anderes Attribut den entscheidenden Ort dar, in dem Diffe-
renz sich artikulieren muß?
In einem der heutigen Konstruktivismus-Diskussion der verschiedenen kulturwis-
senschaftlichen Disziplinen vorgängigen Ethnizitätsverständnis kommt der Schritt
des Ablegens bestimmter kultureller Attribute einer Assimilation gleich, das heißt,
mit der Angleichung des kulturellen Stoffes ist auch das Verschwinden der spezifi-
schen Differenz, in diesem Fall des Sorbischen, zu erwarten. Dieser herkömmliche
Ethnizitätsbegriff postuliert das „Zur-Deckung-Kommen von sozialer Gruppe, Kul-
tur und Identität“, wie die Kulturanthropologin Gisela Welz ihre Nachzeichnung der
Kritikentwicklung des Ethnosbegriffes emleitet22. Das Recht, die eigene Alterität den
jeweiligen Lebensumständen entsprechend neu zu verorten, widerspricht einer ge-
20 Erwin Strittmatter (wie Anm. 2) S. 87.
21 Vgl. Elka Tschemokoshewa, Das Reine und das Gemischte. Anstöße für ein diskursives
Kulturverständnis, in: Kulturfoschung 12, September 1996, S. 7-8.
22 Gisela Welz, Die soziale Organisation kultureller Differenz. Zur Kritik des Ethnosbegriffes
in der anglo-amerikanischen Kulturanthropologie, in: Nationales Bewußtsein und kollekti-
ve Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, hrsg. von
Helmut Berding, Frankfurt am Main 1994, S. 66.
141
forderten Authentizität, mit der allein sich das Recht auf Andersheit scheinbar legiti-
mieren läßt. Auch Multikulturalismus als eine für das andere eintretende Politik ver-
pflichtet die durch eine Differenz gekennzeichneten Gruppen und Individuen auf die
Einhaltung der von der gesellschaftlichen Mehrheit anerkannten Kulturmuster, wie
Welz in ihrer Habilitationsschrift „Inszenierungen kultureller Vielfalt“ gezeigt und
bereits in dem zitierten Artikel als Kritik formuliert hat: „Das Insistieren auf kulturel-
ler Kontinuität - dem Gleichbleiben des ‘cultural stuff, den die ethnische Grenze
umschließt, um mit Barths Worten zu sprechen - definiert die Authentizität von eth-
nischen Gruppen und ethnischer Identität in einer Weise, die die historische Erfah-
rung dieser Gruppen einschränkt und nicht zur Sprache kommen läßt“ 23.
Im Schleifer Kirchspiel läßt sich mit der Zwei-Hüte-Geschichte ein Wendepunkt der
sozialen und symbolischen Organisation ethnischer Differenz markieren: Die nach-
folgenden Generationen lösen sich - gezwungenermaßen - vom Zwei-Kulturen-Mo-
dell deutsch-sorbisch, ohne jedoch die eigene Differenz völlig preiszugeben.
4. Das Außen fällt ins Innen: Ambivalenz als Präsenz des anderen
Das Innen-/Außenwelt-Modell bricht für die nachfolgende Generation, die ihre
Hauptprägezeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, zusammen: Die Außenwelt
dringt in Mühlrose massiv in die Innenwelt ein und unterbricht damit sowie mit durch
den Sozialismus bereitgestellten neuen Formen ethnischer Organisation die bisheri-
gen Abgrenzungs-, Anpassungs- als auch Entscheidungsstrategien. Eine kurze Auf-
zählung von Faktoren, allesamt Fremdeinwirkungen, soll davon einen Eindruck ver-
mitteln24:
- Einheiraten von deutschen Flüchtlingen , meist aus Schlesien, mit denen teilweise
schon vorher Kontakt bestand,
- Präsenz von deutschen Tagebauarbeitem in der Öffentlichkeit (angefangen mit den
Bohrarbeitern ab 1953, Tagebauerschließung, Tagebaubetrieb: z.B. Tagebaubriga-
den in der Dorfgaststätte),
- Einheiraten von Tagebauarbeitem (oder Soldaten des Wehrübungsplatzes Noch-
ten) in die Familien,
- Arbeiten der Frauen im Tagebau (und nicht mehr in der Innenwelt Dorf),
- Neuverortung des Ortes als Dorf am Tagebau statt Dorf im Wald, samt der damit
einhergehenden räumlich-zeitlichen Bedrohung des Dorfes durch den Tagebau
(teilweise abgebaggert, wird der Ort zum Kohlevorranggebiet erklärt, d.h., er exi-
stert nur noch auf Vorbehalt).
Die Folge dieses Lebensweltwandels ließe sich innerhalb der Assimilationslogik be-
schreiben, deren Hauptargument der Wechsel der dominant gesprochenen Sprache -
heutzutage des Deutschen - sein könnte. Doch zeugt selbst innerhalb einer Argumen-
tation, die Sprache parallel zu Kultur mit Identität und Ethnos identifiziert, die anhal-
tende Zweisprachenfähigkeit respektive der Anstieg dieser in der jüngeren Generati-
23 Gisela Welz (wie Anm. 21) S. 77.
24 Für eine differenzierte Analyse vgl. Anm. 10.
142
on davon25, daß von einem Verschwinden der ethnischen Differenz nicht die Rede
sein kann: Sie ist heute präsent in Selbst- und Fremdzuschreibungen als sorbisches
Dorf; sie ist präsent in individuellen Selbstbezeichnungen, in der Diskussion der Le-
gitimation solcher Selbstbeschreibung. Das Sorbische ist gegenwärtig im individuel-
len Bezug auf eine Kultur, „die man eigentlich liebt“, auf die eigene Muttersprache,
die man für ungut hält, auf eine Sprachunterrichtsgemeinschaft im sorbischen
Sprachunterricht, an der man (freiwillig) teilnehmen muß, um nicht aufzufallen -
kurz es gibt die verschiedensten Formen, in denen auf Sorbisches Bezug genommen
wird. In den sozialistisch aufwachsenden Generationen werden Möglichkeiten ge-
nutzt, die die Anerkennung des Sorbischen innerhalb der Nationalitätenpolitik re-
flektieren: sorbischer Sprachunterricht, sorbische Kulturveranstaltungen, die Mög-
lichkeit, sich sorbische Nationalität im Personalausweis bestätigen zu lassen. Sorbi-
sche Identität wird aber auch genausogut zurückgewiesen und auf Vertreter der tradi-
tionellen Generation projiziert, welche sich selbst zuweilen paradoxerweise lediglich
als ‘wendischsprechende Deutsche’ verstehen26. Diese Ambivalenz, die jenseits ei-
ner eindeutigen kulturellen Selbstidentifikation dennoch die Gegenwärtigkeit einer
anderen, die deutsche Normalität brechende Perspektive beinhaltet, ist der Punkt der
Diskussion. Von einer durch Nicht-Ambivalenz gekennzeichneten deutschen Sicht
aus gewinnt das Sorbische als anderes selbst dann Realität, wenn eine substantielle
Identifikation wegbricht. Die von zugezogenen Deutschen vorgenommene Identifi-
kation der Mühlroser als Sorben funktioniert, indem sie die Präsenz des Sorbischen
in den Ambivalenzen als eindeutig anderes qualifiziert, das sich deutlich von der ei-
genen Nicht-Ambivalenz abhebt. Auf der anderen Seite betont die schlichte Verwei-
gerung, sich auf einer Seite der ethnischen Grenze selbst zu verorten, wie Jens Adam
die Haltung einer Schieiferin interpretiert hat27, die Differenz zu „richtigen Deut-
schen“, „Eigentliches Sorbischsein“ der Herkunft und Lebenserfahrung nach in
Kombination mit „deutscher Kultur“ ist das Spannungsfeld, in dem diese persönliche
Nicht-Festlegung stattfmdet, und in dem sich die Transformation von einer Kultur-
und Lebensweise-Definition zu einer symbolischen Setzung der Differenz innerhalb
einer Relation artikuliert. Als Analyse-Horizont erscheint vor diesem ambivalenten
Hintergrund das Konzept eines sorbischen Diskursfeldes angemessen, wie Jens
Adam es empirisch in der Nachzeichnung verschiedener innerer und äußerer Diskur-
se um das Sorbischsein Schleifes herausgearbeitet hat und ebenso die kulturanthro-
pologische Theorieentwicklung der letzten Jahre nahelegt: Wie Werner Schiffauer
rekapituliert, wird Kultur „immer häufiger als Diskursfeld (...) konzipiert, als eine
25 Für den Sorabisten Helmut Faßke ist das „ nicht geringe Anwachsen der Sorbischsprechen-
den in der jüngeren Generation“, festgestellt anhand einer 1988 durchgeführten Befragung
in einer Nachbargemeinde Mühlroses, „ein deutlicher Beweis für die Wirksamkeit des sor-
bischen Sprachunterrichts in der früheren DDR.“ Gleichzeitig macht Faßke auf die Nicht-
übereinstimmung von sorbischer Sprachfähigkeit und Bekenntnis zur sorbischen Nationa-
lität aufmerksam, vgl. Helmut Faßke (wie Anm. 12) S. 34.
26 Vgl. Cordula Ratajczak, Sorben oder Nicht-Sorben. Facetten einer Ambivalenz, in: Skiz-
zen aus der Lausitz (wie Anmerkung 10) S. 233f.
27 Vgl. Jens Adam, Was macht Schleife sorbisch? Vom lokalen Umgang mit einem regiona-
len Identitätsmuster, in: Skizzen aus der Lausitz (wie Anmerkung 10) S. 196.
143
Arena, in der Werte, Normen, Deutungsmuster von kulturellen Akteuren ständig neu
„verhandelt“ werden“, womit „jeder Bestimmung von Kultur als Substanz, als We-
sen oder als Struktur eine Absage erteilt (wird) - statt dessen wird sie primär als Pro-
zeß konzipiert“.28 Daß der Blick auf Aushandlungsprozesse gerade in bezug auf Min-
derheiten notwendig ist - die bereits vom Begriff her durch eine Beziehung zu einer
anderen Gruppe, nämlich der Mehrheit, definiert sind -, exemplifiziert Schiffauer an-
schließend an einer sogenannten „neuen Minderheit“29, türkischen Migranten in
Deutschland. Er stellt dabei fest, daß eine lediglich dualistische Perspektive, die sich
in der Zuschreibung bzw. Absprechung einer eindeutigen Identität als Türke er-
schöpft, „gewaltsam“ wirkt, „wie ein ungeduldiges Auflösen von Widersprüchen,
die zwar nicht angenehm sind, aber ausgehalten werden müssen“30. In diesem kultu-
rellen Zusammenhang scheint somit eine Grenze ihren Charakter als scheidende
Trennlinie zu verlieren und eröffnet die Chance, sie als Verbindung zu begreifen, die
Widersprüche sowohl aushalten muß als auch vermitteln kann.
5. „Wandern zwischen den Identitäten“
Das Diskursfeld Sorbisch kennt aber nicht nur Ambivalenz: Es existiert heute weiter-
hin ein Muster, das Identität nicht nur im Widerspruch formuliert, sondern eindeutig
trennt: das Muster der ’kompetenten Grenzgänger’ - ‘echte’ Sorben sprechen Sor-
bisch mit Sorben und Deutsch mit Deutschen, möglichst mischungs- und akzentfrei.
Ihnen gegenüber erscheinen die Mühlroser sich selbst als unecht und „nicht ganz
richtig“: Sprache als Alltagspraxis und Angelpunkt der eigenen kulturellen Identität
behauptet exakt das Zur-Deckung-Kommen eines klassischen Ethnizitätsverständ-
nisses, dem nur mit ungenügender Authentizität geantwortet werden kann. Ohne auf
die historisch-sozial-ökonomischen Bedingungen der Beharrung, vielleicht auch Re-
organisation, eines solchen Konzepts näher einzugehen, möchte ich es doch als inter-
essante Version eines kulturellen Grenzgängers kurz skizzieren.
Der sorbische kompetente Grenzgänger zwischen der slawischen und der deutschen
Kulturwelt ist durch die symbolische Transformation seiner gesamten Person ins je-
weilige Kulturfeld gekennzeichnet: Setzen wir den Fall eines imaginären sorbischen
Mercin Wicaz, so wird dieser in sorbisch-slawischen Kontexten mit diesem Namen
agieren. In einem deutschen Kontext und deutschem Dialog wird er sich als Martin
Lehmann präsentieren - und damit jede Differenz unsichtbar machen. Stefan Buch-
holt beschreibt in einer Gemeindestudie einen gleichermaßen auf die deutsche Au-
ßenwelt wie die sorbische Gemeinschaft bezogenen jungen Mann, den er als ,,‘dual
28 Werner Schiffauer, Kulturalismus versus Universalismus, in: Werner Schiffauer, Fremde
in der Stadt. Zehn Essays über Kultur und Differenz, Frankfurt am Main 1997, S. 148.
29 Zur Diskussion um Unterschiede und Gemeinsamkeiten alter sowie neuer Minderheiten in
Europa vgl. Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz/Ursula Neumann, Kultur und Spra-
chenvielfalt in Europa - Bilder von gestern, Visionen von morgen?, in: Ingrid Gogolin u.a.
(Hg.), Kultur und Sprachenvielfalt in Europa, Münster, New York 1991, S. 1-19.
30 Werner Schiffauer (wie Anm. 28) S. 154.
144
orientierten’ Sorben“ bezeichnet31. Ebenso wie das Beispiel vom Träger eines Dop-
pelnamens gehören beide zu einem Typus, der Bikulturalität nicht in Form von Ver-
mischung, Überblendung und damit Leugnung der scharfen Trennung organisiert,
sondern gerade durch eine klare dualistische Definition von kulturellen Feldern und
Identitäten. Die Verbindung wird erst durch den Akt des Wechselns, des „Wandems
zwischen den Identitäten“ geschaffen’2. Dieser sorbischen Grenzgängerlogik des die
Personennamen implizierenden kulturellen Code-Switchings zufolge wäre ein deut-
scher Ministerpräsident eines an Frankreich grenzenden Bundeslandes mit dem fran-
zösischen Namen Lafontaine eine recht abwegige Vorstellung - Grenzen und Trans-
formationsregeln müßten eingehalten werden33.
Aus der Perspektive von klaren Entweder-Oder Zuordnungen, zu der auch die
bisherige deutsche nationalpolitische Logik der Ablehnung doppelter
Staatsbürgerschaft gehört, stellen beide Modelle - das der Ambivalenz und das des
‘kompetenten Grenzgängers’ - Absurditäten dar: das eine im Verzicht auf die
Festlegung sowie Schließung und Erhärtung der ethnischen Identität durch
vermeintliche kulturelle Authentizität (Was wäre, so kann man in diesem
Zusammenhang fragen, für Dörfer des Schleifer Kirchspiels eigentlich die
authentisch-richtige Sprache? Der nur gesprochene Schleifer Dialekt, das
Obersorbische der Kirche und der heimischen Schulen oder das Niedersorbische des
traditionell bevorzugten Cottbuser Gymnsiums?); das andere in der Reformulierung
einer Identität im jeweiligen Kontext, wie es im Namen zum Ausdruck kommt - auch
dies ist eine Identität im Widerspruch. Sinnvoll erscheinen diese Muster allerdings
erst im Bezug auf die deutsche Mehrheit: Beide stellen Defensivstrategien einer
Minderheit dar, die die Mehrheit vor zuviel Alterität schützt.
31 Stefan Buchholt, Transformation und Gemeinschaft: Auswirkungen der „Wende“ auf so-
ziale Beziehungen in einem Dorf der katholischen Oberlausitz, in: Wilfried Heller (Hg.),
Identität, Regionalbewußtsein, Ethnizität (Praxis Kultur- und Sozialgeographie 13), Pots-
dam 1996, S. 59.
32 Ludwig Elle und Ulrich Mai haben den Ausdruck des ‘ Wanderns’ zwischen den Identitäten
benutzt, um die uneindeutige ethnische Haltung in einem weiteren Dorf des Schleifer
Kirchspiels zu charakterisieren. Er läßt sich aber darüber hinausgehend ebenso im Zusam-
menhang mit scheinbar nur eindeutigen sorbischen Identitäten anwenden, wie ich zu zeigen
versuche, vgl. Ludwig Elle/Ulrich Mai, Sozialer und ethnischer Wandlungsprozeß in Tre-
bendorf, in: Lbtopis 43 (1996) 2, S. 18.
33 Der Logik zufolge - natürlich gibt es in der Praxis genügend Mischformen, in denen ein sor-
bischer Name auch in deutschen Kontexten bestehen bleibt. Daß es das Phänomen des Per-
sonennamen-Übersetzens und -Wechselns aber überhaupt gibt und es zudem eine durchaus
übliche Praxis darstellt, ist erklärungsbedürftig und kann als Resultat einer solchen dualisti-
schen Logik verstanden werden.
145
Stefan Kaluski
Grenzgänger an der deutsch-polnischen Grenze - unter
GEOGRAPHISCHEM BLICKWINKEL
Politische Grenzen sind Forschungsgegenstand zahlreicher Wissenschaftszweige
wie Geschichte, Politologie, Internationales Recht, Geographie, Soziologie und vie-
ler anderer. Jede einzelne Disziplin untersucht ausgewählte, für sie wesentliche
Grenzmerkmale.
Sogar verschiedene Richtungen der Geographie sind an abweichenden Aspekten der
politischen Grenzen interessiert. Infolge der Themenvielfalt erwecken Probleme der
politischen Grenzen steigendes Interesse nicht nur auf dem Gebiet der politischen
Geographie oder der sich im letzten Vierteljahrhundert bildenden Grenzgeographie,
sondern auch auf dem Gebiet der ökonomischen, sozialen und regionalen Geogra-
phie. In vereinfachter Form wird der Forschungsbereich der Grenzgeographie auf
dem Bild 1 gezeigt.
GEOGRAPHIE:
GRENZGEOGRAPHIE
MENSCHLICHE
TÄTIGKEIT:
Grenzübergänge, Bewirt-
schaftung der
Grenzregionen
UMWELT:
Relief, Klima, Erdboden,
Wasser, Pflanzendecke,
Wildnis
Bild 1
Wenn das Forschungsfeld der ganzen Geographie in einer Dreiecksform - Raum,
Umwelt, menschliche Tätigkeit - dargestellt wird, dann wird mit der Erläuterung die-
ser drei Stichworte die Eigenart der Grenzgeographie verdeutlicht.
147
Im Zusammenhang mit dem Symposiumsthema und mit dem Titel des vorliegenden
Beitrags möchte ich zwei Thesen vorstellen und kurz begründen:
1. Bisherige Delimitationsversuche der Grenzregionen sind wenig effektiv. Bei der
Delimitation sollen unbedingt Naturbedingungen berücksichtigt werden.
2, Die deutsch-polnische Grenze soll so lange Grenze der Europäischen Union blei-
ben, bis Polen zur Vereinigung bereit ist. Die Grenzregionen können gute Unter-
suchungsgebiete werden.
Eine der wichtigen Aufgaben der polnischen Westgrenze in der Zeit, als Polen noch
an die DDR grenzte, war - trotz ihrem Propagandanamen “Friedens- und Freund-
schaftsgrenze” - die Trennung der beiden Staaten. Charakteristisch waren hier
Schwierigkeiten mit der Grenzüberschreitung, zu wenig Grenzübergänge, Mangel an
lokalen Transgrenzkontakten. Als einzige “Grenzregionen” galten dann die soge-
nannten Grenzzonen (auf beiden Seiten) mit genau festgelegten Vorschriften, die
dem Staatsgrenzenschutz dienten. Dadurch wurden strenge Aufenthaltsregeln in den
Grenzgebieten bestimmt, die sowohl für Bürger eines der beiden Staaten als auch für
Ausländer obligatorisch waren. Die Vorschriften bestimmten auch Möglichkeiten
der Grenzwasserbenutzung, Entwicklung des touristischen Verkehrs und so weiter.
Alle Investitionsentwürfe sollten mit entsprechenden Grenzschutzorganen bespro-
chen werden. Die einige zehn Jahre dauernde Situation hat zur deutlichen ökonomi-
schen Stagnation dieser Gebiete beigetragen. Wesentliche Veränderungen und eine
Wirtschaftsbelebung folgten im polnisch-deutschen Grenzgebiet nach der Vereini-
gung Deutschlands und nach dem Zerfall sozialistischer Staaten. Man begann dann
mit Versuchen, Territorialgrenzen der polnisch-deutschen Transgrenzzusammenar-
beit festzusetzen. Es wurden Kontakte zwischen den westlichen Wojewodschaften
Polens und den östlichen Bundesländern Deutschlands aufgenommen, die als erste
Symptome gegenseitiger Zusammenarbeit angesehen werden können.
Obwohl die Annahme des angedeuteten territorialen Umfangs der Transgrenzregio-
nen einige Vorteile, wie zum Beispiel genau bestimmte Grenze, Koordinationsmög-
lichkeit lokaler Wirtschaftsentwicklungspläne und so weiter aufweist, überwiegen
hier die Nachteile. Darunter sind unter anderem verschiedene Regionengrößen auf
den beiden Grenzseiten und verschiedene Befugnisse der lokalen Behörden zu er-
wähnen, Bei der Bestimmung der Grenze zwischen Wojewodschaften und Bundes-
ländern wurde die Rolle der Transgrenzzusammenarbeit auf diesen Gebieten nicht
berücksichtigt. Grenzen der administrativen Einheiten wurden bei der Bestimmung
des Territorialumfangs der auf dem polnisch-deutschen Grenzland gegründeten Eu-
roregionen genutzt. Trotz der Anfangsbegeistemng funktionieren die Euroregionen
nicht völlig effektiv. Den größten Vorbehalt sieht man in ihrem Umfang, der der
spontan entstehenden Transgrenzzusammenarbeit, der Plazierung der Grenzüber-
gänge und so weiter nicht entspricht. Nicht alle schon vieljährigen Erfahrungen ande-
rer Euroregionen lassen sich auf das Grenzgebiet Polen-Deutschland übertragen. Zur
Gestaltung der Transgrenzregionen wurden natürlich auch andere Versuche unter-
nommen. Es sollten zum Beispiel zwei auf beiden Seiten der Grenze parallel laufen-
de Bodenstreifen abgesondert werden. Eine solche Idee hat unter anderen der Bran-
denburger Ministerpräsident Stolpe vorgeschlagen. Der Stolpe-Plan setzte die Trans-
grenzzusammenarbeit in einem Streifen in Breite von 40-50 km auf der deutschen
und 75-100 km auf der polnischen Seite voraus. Gemeinsame Investitionen in diesem
148
Gebiet - vor allem im Bereich Touristik, Agrar- und Nahrungsmittelindustrie usw.
sollten durch eine Deutsch-Polnische Entwicklungsbank finanziert werden.
Die Landwirtschaftsentwicklung auf der polnischen Seite wurde im Stolpe-Plan nur
zweitrangig betrachtet. Vorausgesetzt wurde außerdem eine schwächere Industrie-
entwicklung als auf der deutschen Seite. Im polnischen Teil der Insel Uznam sollte -
dem Plan nach - ein deutsches Wirtschaftsgebiet mit der deutschen Mark als Zah-
lungsmittel gegründet werden. Sogar die Deutschen meinen, daß solche Projekte vie-
le polnische Bürger beunruhigen können (Wirtschaftspolitische Diskurse 1992).
Der zweite Satz der ersten These: “Bei der Delimitation sollen unbedingt Naturbe-
dingungen berücksichtigt werden”, hängt mit der kontroversen Teilung in natürliche
und künstliche Grenze zusammen, was oft kritisiert wurde (Maul O. 1956, Barbag J.
1974).
Umgangssprachlich versteht man unter natürlicher Grenze eine durch Flüsse, Seen,
Gebirgsgipfel oder Moore laufende Staatsgrenze. Der Begriff “natürliche Grenze”
wird auch aufgrund seiner geopolitischen Herkunft nur ungern benutzt. Seit der Ent-
wicklung der Militärtechnik haben natürliche Grenzen ihre strategische Bedeutung
verloren, was zum am häufigsten erwähnten Argument gegen die Benutzung dieses
Begriffs wurde.
Man betont auch, daß die Rolle der natürlichen Grenzen als Kommunikationshmder-
nis immer kleiner wird. Wenn wir aber unter natürlicher Grenze die ganze Natur-
schönheit wie Grenzflüsse, Seen, Grundwasser, Wälder verstehen, die durch zwei
aneinander grenzende Länder gemeinsam benutzt werden kann (Kaluski S., 1997),
dann ist dieser Begriff aktuell und logisch begründet. Der Umfang einer Transgrenz-
region der so gemeinten natürlichen Grenze kann zum Beispiel durch die Wasser-
scheide der Grenzflüsse oder durch Waldgrenzen angesetzt werden. Im Falle der pol-
nisch-deutschen Grenze kann als eine solche Transgrenzregion das Oder-Neiße-Ge-
biet gelten, das bis jetzt bei Gestaltungsversuchen der oben genannten Regionen kon-
sequent unbeachtet gelassen wurde.
Vielleicht werden sich infolge der Hochwasserkatastrophe im Sommer 1997 Zentral-
und Lokalbehörden der beiden Länder dessen bewußt, daß Natur ein wesentlicher
Faktor der Transgrenzzusammenarbeit ist. Beispiele einer solchen Zusammenarbeit
sieht man in vielen Ländern Europas und der Welt (Kaluski S,, 1992).
Alle mit der gemeinsamen Wirtschaft im Odergebiet verbundenen Unternehmen
würden sicher durch einen Vertrag über das internationale Zuflußgebiet (bassin de
drainage international) erleichtert. Das ist ein neuer Begriff, der Ende der 50er Jahre
unseres Jahrhunderts in der Literatur des Internationalen Rechts und in der Ver-
tragspraxis erscheint (Harting E., 1955). Darunter ist am häufigsten ein sich auf dem
Territorium zweier oder mehrerer Länder erstreckendes Gebiet zu verstehen, das
durch die Wasserscheide des Flußgebiets begrenzt wird. Zur Entstehung dieses Be-
griffs hat die Notwendigkeit einer planmäßigen und optimalen Ausnutzung der
Grenzflüsse und ihrer Nebenflüsse beigetragen. Wenn das Odergebiet als eine Trans-
grenzregion betrachtet wird, entstehen große Möglichkeiten in allen Bereichen der
Wasserwirtschaft, wie in der Binnenschiffahrt, der Bewässemng, im Kampf mit der
Wasserverschmutzung und so weiter, koordinierend zu handeln.
Dank der Naturschönheit kann im Odergebiet eine touristische Transgrenzregion ge-
staltet werden. Von Kostrzyn bis Szczecin fließt die Oder durch ein landschaftlich in-
149
teressantes Tal. Seine Ränder sind auf beiden Flußseiten steil und mit zahlreichen
Hohlwegen durchschnitten. Die Landschaftsschönheit wird an mehreren Stellen
auch durch Talwälder betont. Für die Touristikentwicklung spielt eine wesentliche
Rolle auch die Tatsache, daß im Odertal die Badesaison im Vergleich mit ganz Polen
am längsten dauert. Sowohl die Oder als auch ihre Nebenflüsse sind aber auf diesem
Gebiet sehr verschmutzt, was natürlich für die Touristikentwicklung ein großes Pro-
blem ist.
Die Oder kann jetzt durch die Entwicklung der internationalen Passagierschiffahrt
touristisch genutzt werden, weil diese Touristikform unabhängig von der Wasserver-
schmutzung funktionieren kann.
Eine andere Grundlage für die Gestaltung einer polnisch-deutsch-tschechischen
Transgrenzregion bilden zwei wesentliche Naturfaktoren:
- das Vorkommen und die Gewinnung der Braunkohle auf dem Gebiet des Grenzzu-
sammenlaufs der drei Länder, was die Ursache großer Degradation der Umwelt ist.
Das Gebiet der degradierten Natur (Foto 1) gehört auch zur “spezifischen touristi-
schen Region”.
- Eine Chance, eine Transgrenzregion der drei Länder zu werden, haben auch die Su-
deten.
Der touristische Verkehr ist hier nicht mehr durch Grenzgesetze erschwert. Man be-
obachtet auch eine wesentliche Belebung verschiedener touristischer Investitionen
(Foto 2). Es gibt noch viele Beispiele, wo aufgrund der günstigen Naturbedingungen
Transgrenzregionen gebildet werden sollten. Auf diesen Gebieten könnte die Bevöl-
kerung im Einklang mit der Natur handeln. Die wertvollsten, noch nicht verschmutz-
ten Naturregionen sollen durch Entstehung von Naturschutzgebieten geschützt wer-
Foto 1: Devastierter Wald im Westsudentenland. Foto: Stefan Kaluski.
150
Foto 2: Neue touristische Herbergen in Sudeten. Foto: Stefan Kaluski.
Foto 3: Oderheide. Foto: Stefan Kaluski.
151
den. In diesem Bereich weist Polen große und lange Traditionen auf. Gerade hier im
Grenzland Polens und der Tschechoslowakei wurde Mitte der 20er Jahre unseres
Jahrhunderts das erste Trans grenznaturschutzgeb iet in Europa gegründet. Der Pol-
nisch-Deutsche-Niederoder-Park soll zur Fortsetzung dieser Tradition beitragen.
Schützenswert ist auch die auf dem Foto 3 dargestellte Oderheide.
Um die Richtigkeit der zweiten These zu bestätigen, muß man auf das historische
Phänomen aufmerksam machen, das Polen in den letzten Jahren erlebt hat. Im Ver-
lauf von ungefähr 1300 Tagen haben sich alle an Polen grenzenden Länder geändert,
und ihre Zahl ist von drei auf sieben gewachsen. Im Westen grenzt jetzt Polen nicht
mehr an die DDR, sondern an das vereinigte Deutschland. Dieses Land mit einer Flä-
che von 356.000 km2 und mit zirka 80 Millionen Einwohnern steht aufgrund seines
Wirtschaftspotentials an erster Stelle in Europa und an dritter in der Welt. Mit
Deutschland haben wir gute Nachbarkontakte. Auch der Verlauf der gemeinsamen
Grenze wurde endgültig akzeptiert. Wesentlich ist auch die Tatsache, daß Polen im
Westen an die Europäische Union, den größten Block integrierter Länder in der Welt
grenzt. Dank dieser Situation wird für Polen eine historische Chance geschaffen, sich
an die Integrationsprozesse in Europa anzuschließen. Es muß dabei betont werden,
daß das keine neue, sondern nur eine qualitativ unterschiedliche Erscheinung ist, weil
Polen seit tausend Jahren an allen in Europa vorkommenden Prozessen teilgenom-
men hat. Die Zugehörigkeit zum westeuropäischen Kulturkreis wurde in Polen nie in
Frage gestellt. Integrationsprozesse weisen in der heutigen Welt einen objektiven
Charakter auf, was sich aus Bedürfnissen und Bedingungen heutiger Wirtschaftsent-
wicklung ergibt. Die Möglichkeit, Polen an die Europäische Union anzuschließen,
ruft bei der polnischen Bevölkerung verschiedene Gefühle von Begeisterung bis
Angst hervor. Polen wird zweifellos große Kosten tragen, um sich den Anforderun-
gen der Europäischen Union anzupassen. Es muß auch einerseits die eigene Wirt-
schaft geschützt werden, andererseits soll die Konkurrenz besser entwickelter Länder
beachtet werden. Einzelne polnische Parteien nehmen zu dieser Frage verschieden
Stellung.
Europäische Integrationsprozesse müssen aber trotz verschiedener Streitfragen als
unvermeindlich angesehen werden. Das Hauptproblem bildet die Art und Weise und
das Tempo, in dem sich Polen der Europäischen Union anschließen wird.
In Westeuropa spielte die Entstehung der Transgrenzregionen eine wesentliche Rolle
bei der internationalen Integration. Sie sollten alle Schwierigkeiten, denen die Tren-
nungsfunktion der Grenze zugrunde lag (was vor allem für Grenzgebiete wesentlich
war) zu überwinden helfen. Die Transgrenzzusammenarbeit war dort ohne irgend-
welche Vorschriften als spontane Lokalinitiative, manchmal sogar als gentleman
agreement vorhanden (Regio Basiliensis 1981). Erst im Jahre 1980 wurde durch den
Europarat die Rahmenkonvention über Transgrenzzusammenarbeit ausgegeben.
Die Erfahrungen westeuropäischer Länder im Bereich der Trans grenzzusammenar-
beit können bei der Entstehung dieser Prozesse an der polnischen Grenze - vor allem
an der westlichen Grenze, die “unser Tor in die Europäische Union” genannt wird -
behilflich sein.
Das polnisch-deutsche Grenzland kann als ein wunderbares “Laboratorium” für For-
schung und Einschätzung der Integrationsprozesse Polens mit der Europäischen Uni-
on gelten. Man muß sich dessen bewußt sein, daß westeuropäische Erfahrungen auf-
152
grund der Eigenart der politischen Westgrenze hier nur zum Teil genutzt werden kön-
nen. Es gibt nämlich eine Reihe Faktoren, die Transgrenzintegrationsprozesse er-
schweren. Darunter sind die geringe Zahl der Grenzübergänge (durch Mangel an
Brücken über die Grenzflüsse), Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung auf den
beiden Grenzseiten zu erwähnen und endlich spezielle Funktionen der Grenze, die
nicht nur als Staatsgrenze, sondern auch als Grenze an die Europäische Union und
den Nordatlantischen Bund angesehen werden muß. Äußerst anstrengend wird es für
Polen sein, die soziale und ökonomische Infrastruktur vorzubereiten. Erstens soll un-
ter Grenzlandbevölkerung die deutsche Sprache gelernt und allgemein popularisiert
werden. Die nächste Sache ist, die Geschichte - vor allem die neueste Geschichte der
beiden Nationen - so vorzustellen, daß sie keine Vorurteile hervorruft.
Es müssen auch Maßnahmen getroffen werden, die den in beiden Ländern vorhande-
nen nationalistischen oder sagar faschistischen Tendenzen entgegenwirken.
Wirtschaftlich gesehen ist die Verbesserung der Wege und der Eisenbahnlinien auf
der polnischen Seite wie auch der Bau von Autobahnen unentbehrlich.
Außerdem sollen Abwasserreinigungsanlagen, moderne Haldenkippen, Müllver-
brennungsanlagen und so weiter gebaut werden. Einige Investitionen, wie Arbeiten
im Bereich der Wasserwirtschaft im Odergebiet oder die mit dem Ausbau des Fern-
sprechverkehrs verbundenen Investitionen, zwingen sogar die Leute zum gemeinsa-
men Handeln.
Man darf auch nicht vergessen, daß Berlin mit seinem ungefähr 45 km von der polni-
schen Grenze entfernten westlichen Stadtrand eine der sich am schnellsten entwik-
kelnden Städte Europas ist. Das soziale und wirtschaftliche Hinterland für so große
Städte befindet sich am häufigsten auf dem Gebiet im Umkreis von 100 km. Daraus
ergibt sich eine große Chance für Westpolen. Hier können verschiedene Firmen und
Unternehmen entstehen, die gewisse Profite bringen und dank derer neue Arbeits-
plätze geschaffen werden können.
Im Prozeß der Wirtschaftsbelebung des westlichen Grenzgebiets Polens sind aber
auch negative Seiten zu sehen. Es kommt vor, daß über die Grenze (aus Deutschland
nach Polen) giftige Abfälle befördert werden, die dann in Grenzwaldgebieten “depo-
niert” werden. Man trifft sich auch mit verschiedenen sozialen Pathologien und Ver-
brechen. Diese sowohl positiven als auch negativen Erscheinungen und Prozesse las-
sen sich in den kleinen Grenzgebieten beobachten. Daraus sind bestimmte Schlußfol-
gerungen zu ziehen, die dann bei den Integrationsprozessen eine sehr große Rolle
spielen können.
Die Einschätzung der Transformationsprozesse im polnisch-deutschen Grenzgebiet
muß durch eine allgemeine Reflexion ergänzt werden. Aus der Geschichte lernen
wir, daß alle heftigen Verwandlungen - Revolutionen - neben der ihnen zu Recht oder
nur für Propagandaziele zugeschriebenen Verdienste, auch eine Reihe negativer Er-
scheinungen hervorgerufen haben.
Sowohl die Behörden als auch die Bevölkerung sollen das beachten und die Verände-
rungen im deutsch-polnischen Grenzland nicht beschleunigen. Ihr vernünftiger, ra-
tioneller Verlauf wird nicht nur für beide Länder, sondern auch für die gesamten eu-
ropäischen Integrationsprozesse nützlich sein. Es soll nämlich nicht vergessen wer-
den, daß die europäische Integration keine statische Erscheinung ist. Viele Länder
Europas möchten sich der Europäischen Union anschließen. Eine große Rolle spielt
153
dabei Rußland - der größte Staat der Welt. Es wird für Europa keinen Schaden brin-
gen, wenn seine Integrationsprozesse im XXI. Jahrhundert fortgesetzt werden.
Literaturverzeichnis
J. Barbag, Geografía polityczna ogolna, Warszawa 1974.
S. Kaluski, Frontier rivers an the shaping of regional ties in Europe, Warszawa 1992.
S. Kaluski, The natural and artificial political borders - anachronism or a current pro-
blem. Prace i studia geograficzne, Band 19, Warszawa 1997.
M. Koter, Transborder “Euroregions” round Polish Border Zones as an Example of a
New Form of Political Coexistence. “Political Boundaries and Coexistence”. Edi-
ted by Wemer A. Gallusser in colaboration with Matthias Bürgin and Walter
Leimgneber, Bern 1994.
E. Hartig, Internationale Wasserwirtschaft und Internationales Recht, Wien 1955.
O. Maul, Politische Geographie, Berlin 1956.
Euroregion Neiße. Grenzüberschreitende Kooperation im deutsch-polnisch-tsche-
chischen Dreiländereck, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1992, “Wirtschaftpoliti-
sche Diskurse” Nr.28.
Internationales Symposium - Grenze und Kulturlandschaft. Basel 1981 “Regio Basi-
liensis” XXII 23 Basel - Referate.
154
Christian Schulz
Grenzgänger „von Amts wegen“ - die interkommunale
GRENZÜBERSCHREITENDE ZUSAMMENARBEIT
im Saar-Lor-Lux-Raum
Bei der nachfolgenden Betrachtung der interkommunalen grenzüberschreitenden
Zusammenarbeit und ihres Beitrags zur Integration des Saar-Lor-Lux-Raumes steht
ein besonderer Grenzgängertypus im Mittelpunkt: die lokalen Akteure, sozusagen
Grenzgänger „von Amts wegen“, wie Bürgermeister, Gewählte, Gemeindebedien-
stete, Vereinsvorstände usw„ ohne deren persönliches Engagement und deren Krea-
tivität bei der Überwindung grenzbedingter Hindernisse die hier dargestellten Akti-
vitäten kaum denkbar wären.
Die Bezeichnung Saar-Lor-Lux geht zurück auf Hubertus Rolshoven1, der einen grif-
figen Namen für das „Montandreieck“ Saarland-Lothnngen-Luxemburg schaffen
wollte, das trotz der von ihm betonten kulturellen, wirtschaftlichen und strukturellen
Gemeinsamkeiten auch heute noch ein sehr heterogener Raum bleibt. Dies verwun-
dert nicht angesichts der Tatsache, daß dieses Gebiet in den letzten zwei Jahrhunder-
ten die labilsten Grenzen Westeuropas aufzuweisen hatte. Der deutsch-französische
Krieg (1870/71) und die beiden Weltkriege haben ihm eine sehr leidvolle Geschichte
beschert; den politischen Katastrophen folgten wirtschaftliche Wechselbäder im
Bergbau und der Eisen- und Stahlindustrie1 2. Somit wurde die Wortschöpfung Saar-
Lor-Lux auch zum Symbol der Hoffnung für eine Schicksalsgemeinschaft periphe-
rer, wirtschaftlich schwacher Grenzräume, die in einem heranwachsenden „Europa
der Regionen“ eine neue Identität und eine bessere Zukunft suchen. Heute gilt Saar-
Lor-Lüx zudem als Ausdruck einer Vielzahl von Formen grenzüberschreitender Ko-
operation öffentlicher und privater Institutionen. Bevor nachfolgend auf die unter-
schiedlichen Ebenen der Zusammenarbeit im Saar-Lor-Lux-Raum eingegangen
wird, ist zunächst das Problem der unklaren räumlichen Abgrenzung zu diskutieren.
Im weiteren wird vornehmlich die lokale Ebene der Kooperation betrachtet, wobei
anhand dreier Fallbeispiele die Entwicklung zunehmend institutionalisierter Koope-
1 Hubertus Rolshoven, Rohstoffwirtschaft in der Großregion Saar-Lor-Lux, in: Glückauf
110(1974), S. 841-846.
2 Vgl. u.a. Wolfgang Brücher, Saar-Lor-Lux: Grenzregion, Peripherie oder Mitte der Euro-
päischen Gemeinschaft?, in: Geographische Rundschau 41, 10 (1989), S. 526-529; ders.,
Saar-Lor-Lux. Région modèle pour une Europe des régions?, in: Bulletin de l'Académie
des Sciences, Agricultures, Arts et Belles-lettres d'Aix, Année académique 1993-1994,
Aix-en-Provence 1994, S. 85-95; François Reitel, Krise und Zukunft des Montandreiecks
Saar-Lor-Lux, Frankfurt am Main-Berlin-München 1980; ders., Die Veränderungen der
politischen Grenzen im Saar-Lor-Lux-Raum und ihre wirtschaftlichen und regionalen Kon-
sequenzen, in: Dietrich Soyez et al. (Hgg.), Das Saarland, Bd. 1 : Beharrung und Wandel in
einem peripheren Grenzraum (Arbeiten aus dem Geographischen Institut der Universität
des Saarlandes 36), Saarbrücken 1989, S. 127-138.
155
Der Saar-Lor-Lux-Raum
Unterschiedliche Abgrenzungen
a)
Saarland-Lothringen-
Luxemburg
/j Saarland
[H Lothringen
y Luxemburg
28700 km2/3,8 Mio. E
b)
Regionalkommission
Saar-Lor-Lux-T r./Westpf.
Saarland.
Region Trier,
Region Westpfalz,
LK Birkenfeld
m Lothringen
Luxemburg
36700 km2/4,9 Mio. E
d) Fördergebiete
INTERREG II
Landkreise
Bitburg, Tner-Saarb ,
Merzig-Wadern,
Saarlouis, Stadt-
verband Saarbr,
Saar-Pfalz-Kreis,
LK Pirmasens.
Stadt Trier,
Stadt Zwei brücken.
Stadt Pirmasens
Luxemburg
Arrondiss
Arion, Virton,
Bastogne.
Neutchäteau
Départements
Moselle, Meurthe-
et-Moselle. Meuse
0 50 100 km
c) Interregionaler
Parlamentarierrat (IPR)
67400 km2/10,9 Mio. E
29500 km2/3,8 Mio. E
Entwurf + Kartographie: Christian SCHULZ (1997)
Abb. 1.
156
rationsnetze aufgezeigt wird. Dies geschieht in Anlehnung an das raumordnerische
Leitbild der Städtenetze, das zuvor kurz umrissen wird. Abschließend wird der Stel-
lenwert der interkommunalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen
des gesamteuropäischen Integrationsprozesses andiskutiert.
Die „variable Geometrie“ des Raumes
Ein großes Problem des Saar-Lor-Lux-Konzeptes, das eine stärkere Identifikation
der Bevölkerung mit diesem Raumgebilde behindert, ist die bis heute unklare Ab-
grenzung. Trotz der über zwanzigjährigen Geschichte und der in vielen Bereichen
gefestigten partnerschaftlichen Zusammenarbeit konnten sich die Akteure nicht auf
eine allgemeingültige Definition einigen. Somit hängt der jeweilige Zuschnitt von
Saar-Lor-Lux zwangsläufig davon ab, über welche Ebene oder Art der Kooperation
man spricht. Der hieraus resultierende, medienwirksame Begriff der „variablen Geo-
metrie“ macht auch in anderen europäischen Grenzräumen erfolgreich die Runde.
Nachfolgend seien hier nur die vier gängigsten Abgrenzungen dargestellt (Abb. 1):
Wörtlich genommen umfaßt Saar-Lor-Lux das Saarland, die französische Region
Lothringen (Lorraine) sowie das Großherzogtum Luxemburg (Abb. la). Die seit
1971 bestehende Regionalkommission Saar-Lor-Lux-Trier/Westpfalz, die sich aus
Vertreterinnen und Vertretern der staatlichen Verwaltungen der Teilräume konstitu-
iert, fügt diesem Entwurf den Westen von Rheinland-Pfalz hinzu, nämlich den Re-
gierungsbezirk Trier, den Landkreis Birkenfeld sowie die Planungsregion Westpfalz
(Abb. lb). Der Interregionale Parlamentarierrat (IPR), der seit 1986 dem Austausch
zwischen Abgeordneten des luxemburgischen Nationalparlaments, des wallonischen
Regionalparlaments, des lothringischen Regionalrats sowie der Landtage von Rhein-
land-Pfalz und dem Saarland dient, liefert die großzügigste Definition (Abb. lc), in-
dem er die gesamte Region Wallonien und ganz Rheinland-Pfalz in die „Großregion“
integriert. Die vierte Konzeption (Abb. Id) umfaßt die Fördergebiete der Gemein-
schaftsinitiative INTERREG II, von der im weiteren noch die Rede sein wird.
Der von Metzer und Saarbrücker Geographen entwickelte Vorschlag3 4 (Abb. 2) er-
gänzt den Zuständigkeitsbereich der Regionalkommission um die belgische Provinz
Luxemburg, die bis 1839 zum Großherzogtum Luxemburg gehörte. Vor allem der
südliche Teil der Provinz ist ebenso von einer ehemals dominanten Eisen- und Stahl-
industrie und den damit verbundenen Folgeproblemen geprägt wie die Nachbarräu-
4
me .
Alle diese fünf Konzeptionen haben den Nachteil, daß sie sich - aus pragmatischen
Gründen - an existierenden Verwaltungsgrenzen orientieren, die nur selten den tat-
sächlichen strukturellen Verflechtungen des Raumes entsprechen. Besonders deut-
lich wird dies am Beispiel des IPR-Territoriums, wo auf der Suche nach äquivalenten
Partnern die gesamte Region Wallonien sowie ein Bundesland Aufnahme fanden,
obwohl beispielsweise die östlichen Teile von Rheinland-Pfalz eindeutig anderen
3 Wolfgang Brücher, Heinz Quasten und François Reitel, Saar-Lor-Lux-Atlas, Pilotstudie
(Schriftenreihe der Regionalkommission Saar-Lor-Lux 8), Saarbrücken-Metz-Luxem-
burg-Trier 1982.
4 Brücher, Saar-Lor-Lux: Grenzregion (wie Anm. 2).
157
Abgrenzungsvorschlag
Geographie Metz/SB
Saarland,
Region Trier,
Region Westpfalz,
Landkr. Birkenfeld
Lothringen
Luxemburg
Provinz
Luxemburg
50 100 km
41100 km2/5,2 Mio. E
Entwurf + Kartographie: Christian SCHULZ (1997)
Abb. 2.
158
Großregionen, wie etwa dem Rhein-Main-Gebiet, zuzuordnen sind. Auch die Zuge-
hörigkeit der südlichen Region Lothringen, insbesondere des Departements Vosges,
erscheint hier problematisch. Moll spricht in diesem Zusammenhang von „territoria-
lem Ballast“, den der Saar-Lor-Lux-Raum mit sich herumtrage5.
Auch ein Größenvergleich mit anderen europäischen Grenzräumen (Abb. 3) zeigt
deutlich, daß alle vier genannten Abgrenzungen ihre Pendants, sowohl in der räumli-
chen Ausdehnung als auch in der Einwohnerzahl, um ein Mehrfaches überbieten, so
beispielsweise die Regio Basiliensis am südlichen Oberrhein oder die Euregio
Maas-Rhein im Aachener Grenzdreieck. Auf das „Größenproblem“ aller Saar-Lor-
Lux-Defmitionen wird im weiteren noch einzugehen sein. Es wirkt sich auf die Mög-
lichkeiten wie auf die Motivation zur Kooperation negativ aus, aber nicht zuletzt
auch auf die Identifizierung der Bevölkerung mit welchem dieser künstlichen Raum-
gebilde auch immer.
Die Ebenen der Kooperation
Wie bereits angedeutet, bestimmen die unterschiedlichen Formen und Maßstabsebe-
nen der Kooperation das Bild von Saar-Lor-Lux. Ausgehend von einer schematisie-
renden Darstellung der Ebenen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Euro-
pa (Abb. 4) sind die vorgenannten Kooperationsformen auf der interregionalen, d.h.
der Mesoebene angesiedelt. Wie die Grafik zeigt, kann diese Ebene nicht isoliert be-
trachtet werden, sondern steht in sehr enger Wechselwirkung mit den übrigen Hand-
lungsebenen. So nimmt beispielsweise die Europäische Union ebenso wie ihre Mit-
gliedstaaten maßgeblichen Einfluß auf die rechtlichen und finanziellen Rahmenbe-
dingungen der Kooperation (s.u.).
Ebenfalls auf der Mesoebene zu finden ist die Zusammenarbeit zahlreicher Institutio-
nen, wie zum Beispiel der Industrie- und Handelskammern, der Handwerkskam-
mern, einzelner Berufsverbände und Innungen sowie der Gewerkschaften, die mit
dem Interregionalen Gewerkschaftsrat (IGR) im Jahre 1976 eine bis dato einmalige
Institution gründeten, Vorbild für zahlreiche Nachahmungen in Europa. Jüngstes
Beispiel einer institutionalisierten Zusammenarbeit auf regionaler Ebene ist der
Saar-Lor-Lux-Gipfel, der im November 1996 zum zweiten Mal die Exekutiven der
Teilregionen vereinte und unter anderem die Einrichtung eines „Wirtschafts- und So-
zialausschusses der Großregion“ beschloß. Neben Fragen des grenzüberschreitenden
Arbeitsmarktes widmete er sich auch Problemen der Raumordnung und dem Abbau
administrativer Hemmnisse der Kooperation.
Bedeutungszuwachs der kommunalen Ebene
So wichtig die regionale Ebene der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit für den
Integrationsprozeß im Saar-Lor-Lux-Raum ist, so begrenzt ist ihre Reichweite, Zwar
kann sie, etwa durch die Forcierung größerer Infrastrukturmaßnahmen (Stichwort;
TGV Est), die groben Leitlinien der Entwicklung beeinflussen und die Wahmeh-
5 Peter Moll, Kooperation an der EU-Binnengrenze. Das Beispiel des SaarLorLux-Raumes.
Rückblick und Perspektiven, in: IÖR-Schriften 9 (1994), S. 71-76g.
159
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Abb. 4.
Europäische Union
Nationalstaaten
Regionale
Gebietskörperschaften
Lokale
Gebietskörperschaften
Partner
Supraebene
♦H
Makroebene
Hl
Mesoebene
Kooperationsebenen
Maastrichter Verträge,
EU-Richtlinien / -Organe
etc.
Staats vertrage,
Regierungskommissionen,
Nationale Gesetzgebung
etc
Regionalkommissionen,
Raumordnungskommis-
sionen, ParlamentarieiTäte
etc.
Mikroebene Arbeitsgemeinschaften, EUREGIOS u.ä., Zweckverbände
etc.
Institutionen
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997)
mung des Raumgebildes Saar-Lor-Lux und dessen Perspektiven durch eine entspre-
chende Öffentlichkeitsarbeit fördern. Der eigentliche Integrationsprozeß, mit einem
darauf aufbauenden neuen, die Grenze überschreitenden Regionalbewußtsein,
scheint sich jedoch auf einer untergeordneten Ebene (Mikroebene) zu vollziehen.
Diese wird in erster Linie von den grenznahen kommunalen Gebietskörperschaften
gebildet, die schon lange vor Schengen und Maastricht in sehr engem Kontakt zu ih-
ren Nachbarn jenseits der Grenze standen und alltägliche Probleme oft auf freund-
schaftlich informelle, dafür aber sehr effektive Weise zu lösen wußten.
In diesem Zusammenhang definiert Moll eine „Grenzzone“ innerhalb des Saar-Lor-
Lux-Raumes, die ein Band von etwa 30 km beiderseits der Grenzen umfaßt. Diese
Zone läßt sich aufgrund ihrer Raumstruktur in Abschnitte gliedern, die eine „nahezu
identische Entwicklungsproblematik“ diesseits und jenseits der Grenze aufweisen6.
Bevor auf einzelne dieser Teilräume eingegangen wird, sollen zunächst die rechtli-
chen und finanziellen Rahmenbedingungen der interkommunalen grenzüberschrei-
tenden Zusammenarbeit Umrissen werden.
Rechtliche Rahmenbedingungen
Bis heute spielt sich die Mehrzahl der grenzüberschreitenden Aktivitäten der Ge-
meinden und Gemeindeverbände in einem weitgehend rechtsfreien bzw. informellen
Rahmen ab. Freiwillige Vereinigungen, Runde Tische und ähnliche Gremien meiden
- nicht zuletzt mangels rechtlicher Möglichkeiten - die Schaffung neuer (politisch-
administrativer) Strukturen und orientieren sich in der Regel am Bedarf und am Ein-
zelfall. Diese minimalistisch institutionalisierten Organe können jedoch dem wach-
senden Bedarf an Übernahme operativer Aufgaben nur bedingt gerecht werden. Zu
dieser Erkenntnis führten unter anderem die Erfahrungen mit den Mitteln der Ge-
meinschaftsinitiative INTERREG I (s.u ), die gemeinsame Abwicklungsstellen für
grenznachbarschaftliche Projekte forderte7.
Während den belgischen und luxemburgischen Kommunen im Rahmen der „Con-
vention Benelux concernant la coopération transfrontalière entre collectivités ou au-
torités territoriales“ bereits seit 1991 weitgehende Möglichkeiten für eine eigenver-
antwortliche grenzüberschreitende Kooperation offenstehen, wurde für den größten
Teil des Saar-Lor-Lux-Raumes erst kürzlich eine rechtliche Basis geschaffen. Im Ja-
nuar 1996 Unterzeichneten Deutschland, Frankreich, Luxemburg sowie die Schweiz
in Karlsruhe ein Übereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen („Karlsruher
Übereinkommen“), das derzeit in den einzelnen Staaten ratifiziert wird. Zwar verfiig-
6 Peter Moll, Stand und Probleme der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Raum
Saarland / Lothringen / Luxemburg / westliches Rheinland-Pfalz, in: Akademie für Raum-
forschung und Landesplanung (Hg.), Grenzübergreifende Raumplanung (ARL-For-
schungs- und Sitzungsberichte 188), Hannover 1992, S. 101-121.
7 Christian Autexier, Gemeinsame lothringisch-saarländische administrative Einrichtungen
und Verfahrensweisen. Rechtsgutachten im Auftrag des saarländischen Wirtschaftsmini-
steriums (Études et documents du Centre d'Études Juridiques Françaises 6), Saarbrücken
1993.
162
ten Frankreich mit der „Loi Joxe/Marchand“ und die Bundesrepublik mit der Grund-
gesetzänderung in Artikel 24, Absatz la, bereits seit 1992 über nationale gesetzliche
Regelungen, die die Kommunen zur Wahrnehmung grenzüberschreitender Aufga-
ben innerhalb ihres sachlichen Kompetenzbereichs befähigen. Das Karlsruher Über-
einkommen definiert jedoch erstmals einheitliche Institutionen als Persönlichkeiten
des öffentlichen Rechts, beispielsweise den „Grenzüberschreitenden Örtlichen
Zweckverband“ (GÖZ), dem auch hoheitliche Aufgaben übertragen werden können.
Diese Regelung würde beispielsweise die Gründung eines lothringisch-luxemburgi-
schen kommunalen Abwasserverbandes ermöglichen, der - bei einem angenomme-
nen Sitz in Luxemburg - Gebührenrechnungen auch an lothringische Haushalte stel-
len und rechtlich eintreiben dürfte8. Unklar bleibt bis auf weiteres der Rahmen der
kommunalen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Bel-
gien, da hier entsprechende zwischenstaatliche Vereinbarungen fehlen.
Finanzielle Rahmenbedingungen
Bei der finanziellen Unterstützung kooperationswilliger Gebietskörperschaften spie-
len die Strukturfonds der Europäischen Union eine herausragende Rolle, hier insbe-
sondere die aus ihnen gespeiste Gemeinschaftsinitiative INTERREG. Sie zielt unter
anderem darauf ab,
1. die Gebiete an den Binnen- wie auch an den Außengrenzen der EU zu unterstützen.
Es geht vor allem um die Bewältigung besonderer Entwicklungsprobleme infolge der
relativen Isolierung sowohl innerhalb der nationalen Volkswirtschaften als auch in
der EU insgesamt. Dabei haben die Interessen der lokalen Bevölkerung und die An-
forderungen an den Umweltschutz Vorrang.
2, sollen Einrichtung und Ausbau von Kooperationsnetzen über die Binnengrenzen
hinweg gefordert werden, gegebenenfalls unter Verknüpfung dieser Netze mit um-
fassenderen Gemeinschaftsnetzen im Kontext des Binnenmarktes.9
Vor der Einrichtung dieser Gemeinschaftsinitiative im Jahre 1990 wurden Gemem-
schaftsmittel für Aktivitäten der lokalen und regionalen grenzüberschreitenden Zu-
sammenarbeit nur in sehr geringem Umfang eingesetzt. INTERREG II, die Fort-
schreibung der Initiative für den Zeitraum 1994-1999, trägt mit einem Umfang von
2,4 Mrd. ECU dem Erfolg des ersten INTERREG-Programms Rechnung. Die Nach-
8 Vgl. Gregor Halmes, Rechtsgrundlagen für den regionalen Integrationsprozeß in Europa.
Das neue „Karlsruher Übereinkommen“ und die Weiterentwicklung des Rechts der grenz-
übergreifenden Zusammenarbeit, in: Die Öffentliche Verwaltung 49, 22 (1996),
S.933-943.
9 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), Mitteilung (94/C 180/13) an die
Mitgliedsstaaten über die Leitlinien für die von ihnen aufzustellenden Operationellen Pro-
gramme im Rahmen einer Gemeinschaftsinitiative für die Entwicklung von Grenzregio-
nen, grenzübergreifende Zusammenarbeit und ausgewählte Energienetze (INTERREG II),
in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 180/60 vom 1.7.1994, Brüssel.
163
INTERREG II (1994-1999)
Fördergebiete und Operationelle Programme
im Saar-Lor-Lux-Raum
Aainz
62,2
INTERREG I11994-1999
Operationelle Programme:
s—ST—Gesamtumtang in Mio, ECU
f ^^4— Höhe der EU-Zuwendungen
J D-L Deutschland-Luxemburg
D-F Lothrlngen-Saartand-Westplalz
\y///\ B-F-L Wallonlen-Lothrlngen-Luxemburg
zugehörige Abwicklungsstellen
► Arbeitsteilung Rheinland-Ratz / Saarland
Saar-Lor-Lux-Raum
mit Verwaltungsgrenzen NUTS III
Staatsgrenze
Entwurf und Kartographie: Christian SCHULZ (1997)
Quelle: Operationelle Programme INTERREG II (1994-1999)
Deutschland-Luxemburg, Wallonie-Lotralne-Luxembourg,
Lothrlngen-Saa da nd-West pfalz
Karlengrundlage: Saar-Lor-Lux-Atlas (Pllotstudle).
Grundkarte Verwaltung, 1: 500.000 (1980)
Abb. 5.
164
frage nach Förderung durch INTERREG I überstieg die verfügbaren Mittel von 800
Mio. ECU um 35 %10 11.
Bei der Verwendung der Gelder von INTERREG I (1990-1993) spielte die kommu-
nale Ebene im Saar-Lor-Lux-Raum noch eine deutlich untergeordnete Rolle. Bei-
spielsweise ging im Rahmen des Operationellen Programmes für den saarländisch-
lothringischen Grenzraum von insgesamt 9,8 Mio. ECU Gemeinschaftsmitteln nur
etwa ein Drittel an Projekte mit lokaler Beteiligung (Begleitausschuß 1994). Die
mittlerweile bessere Kenntnis über die Fördermöglichkeiten durch INTERREG II
und die demzufolge größere Anzahl qualifizierter Projektanträge seitens der Kom-
munen läßt jedoch erwarten, daß sich die Gelder aus INTERREG II (Abb. 5) ausge-
glichener auf die beiden Kooperationsebenen verteilen werden.
Städtenetze im Grenzraum
INTERREG II beruft sich, wie oben zitiert, auf die Notwendigkeit eines Ausbaus von
Kooperationsnetzen über die Binnengrenzen der EU hinweg. Es wird ein Leitbild
aufgegriffen, das in den achtziger Jahren Einzug in die französische, zu Beginn der
neunziger Jahre auch in die deutsche Raumordnungsdiskussion gefunden hat. Grund-
lage ist das klassische Modell der zentralen Orte von Christaller1'. Dieses wurde da-
hingehend erweitert, daß nicht mehr eine zentralitätsbedingte, vertikale Hierarchie
Leitbild siedlungsstruktureller Ordnung ist; in den Mittelpunkt des Interesses rückt
vielmehr eine eher horizontale Vernetzung zentraler Orte mit Aufgaben- und Funkti-
onsteilung zwischen diesen (Abb. 6). Letztere ist in der Regel ein Ergebnis von inten-
sivem Austausch und Kommunikationsprozessen zwischen den Zentren12.
Denkbar sind dabei Netze sowohl auf der transeuropäischen Ebene zwischen den eu-
ropäischen Metropolen, auf der nationalen Ebene zwischen den Ballungs- und Ver-
dichtung sräumen eines Landes, auf der regionalen Ebene zwischen Ober- bzw. Mit-
telzentren als auch auf der lokalen Ebene zwischen Unterzentren. Das Konzept ist
demnach nicht nur auf stark urbanisierte Räume, sondern auch auf ländliche Gebiete
anwendbar. Des weiteren kann ein Städtenetz unterschiedliche zentralörtliche Ebe-
nen vereinen. Besteht es beispielsweise aus einem Oberzentrum und mehreren umlie-
genden Mittelzentren, so besitzt das Oberzentrum auch weiterhin einen zentralörtli-
chen Überschuß im Sinne Christallers. Jedoch sind die Mittelzentren nicht mehr
zwangsläufig zentripetal allein auf diesen Ort ausgerichtet, sondern weisen ebensol-
che Relationen untereinander auf, mitunter gar ohne einen direkten Bezug zum Ober-
zentrum.
10 Reinhard Klein, Grenzüberschreitende regionalpolitische Zusammenarbeit im Rahmen
von INTERREG und PHARE, in: EUREG 2 (1995), S. 48-52.
11 Walter Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland, Darmstadt 1933 (Neuauflage
1968).
12 Vgl u.a. Gerhard Stiens, Veränderte Entwicklungskonzeption für den Raum außerhalb der
großen Agglomerationsräume. Von der monozentrisch dezentralen Konzentration zur in-
terurbanen Vernetzung, in: Informationen zur Raumentwicklung 7/8 (1994), S. 427-443;
Paul Drewe, Les villes du Benelux face au défi de la coopération transfrontalière, in: Revue
de l'Assemblée des Régions d'Europe 9 (1994), S. 24-28.
165
Konzept der Zentralen Orte
| = Oberzentrum
□
Konzept der Städtenetze
Mittelzentrum — = Bezugsachse
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997)
VO
vo
Abb. 6.
Das Konzept orientiert sich an dem seit einigen Jahren in Wissenschaft und Politik
diskutierten Phänomen der „Netzwerke“, die Steinbach als „mehr oder minder stabile
Beziehungssysteme zwischen einer Anzahl von ‘Grundelementen’“ bezeichnet13.
Mit Grundelementen sind - im bildlichen Sinne - Städte als die Knoten des Netzes ge-
meint. Diese stehen über die „Kanten“ des Netzes miteinander in Beziehung. Die
Kanten können sowohl materieller Art (z.B. Verkehrswege, Versorgungsleitungen
etc.) als auch immaterieller Art sein (z.B. Verwaltungshierarchien, Kooperationsver-
einbarungen etc.). Letztere bezeichnet Stembach (ebd.) auch als „sekundäre“ Netze,
die in der Regel nur auf der Basis von „primären“ Netzen der Transport-, Kommunt-
kations- und Ver- bzw. EntsorgungsInfrastruktur existieren können. Drewe bezieht
neben den chames matérielles und den chaînes immatérielles auch die Ströme {flux)
bzw, den Austausch von Gütern, Personen und Informationen zwischen den Städten
in seine Betrachtungen ein14 15. Ähnlich unterscheidet Stiens „physische“ von „organi-
satorischen“ Austauschbeziehungen; letztgenannte „umfassen Koordinations- und
Kooperationsbeziehungen, die erst in der Umsetzung gemeinsamer Planungen und
Entscheidungen raumrelevant werden“, während die erstgenannten „sich räumlich-
funktional bereits niedergeschlagen haben“13. Solche immateriellen bzw. organisato-
rischen Beziehungen zwischen Städten stehen im Mittelpunkt der nachfolgenden Be-
trachtungen.
Grundvoraussetzung für das Funktionieren immaterieller Städtenetze ist nach Drewe
zum einen, daß sich die jeweiligen Aktivitäten ergänzen, zum anderen, daß zwischen
den lokalen Akteuren ein Konsens und ein bestimmter Wille zur Schaffung von Sy-
nergieeffekten existieren16 17. In beiden Fällen handelt es sich um Bedingungen, die
zwischen grenznachbarschaftlichen Gemeinden in der Regel erfüllt sind. Es kann
also von der Annahme ausgegangen werden, daß sich Städtenetze im regionalen
Maßstab mit wachsendem Bedeutungsverlust der Barriere Wirkung der Grenze auch
grenzüberschreitend ausbilden können, wie das Modell in Abb. 7 zeigt.
In stark integrierten Grenzräumen kann somit der Fall eintreten, daß grenzüber-
schreitende Städtenetze ehemals national ausgerichtete Kooperationsstrukturen und
Verwaltungshierarchien überlagern oder sogar verdrängen. Sie würden in diesem
Stadium in die Städtenetz-Defmition von Adam passen, wonach die Elemente eines
Netzes, also die Städte und Gemeinden, „in engeren bzw. in intensiveren Austausch-
beziehungen zueinander stehen als zu Elementen außerhalb dieses Netzes“1'.
Im Saar-Lor-Lux-Raum lassen sich unterhalb eines regionalen bzw. überregionalen,
die Oberzentren miteinander und mit den Nachbarräumen verbindenden Städtenetzes
Anzeichen für die Entstehung lokaler grenzüberschreitender Netze ausmachen
13 Josef Steinbach, Regionalpolitik mit Netzen, in: Raum. Österreichische Zeitschrift für
Raumplanung und Regionalpolitik 20 (1995), S. 26-30.
14 Drewe (wie Anm. 13).
15 Stiens (wie Anm. 13).
16 Drewe (wie Anm. 13).
17 Brigitte Adam, Städtenetze zwischen Tradition und Innovation, BfLR-Arbeitspapiere 94,
2, Bonn 1994.
167
Oberzentrum
Mittelzentrum
Unterzentrum
Bezugsachse 1. Ordnung
Bezugsachse 2. Ordnung
Bezugsachse 3. Ordnung
Staatsgrenze mit
geringer Durchlässigkeit
Staatsgrenze mit
hoher Durchlässigkeit
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997)
Abb 7.
168
Arbeitsmodell
Städtenetz Saar-Lor-Lux
Namur
Coblenz
Wiesbaden
Mannheim
Ludwigshafen
rn
St-Dizier
£ Oberzentrum
• Mittelzentrum
• Unterzentrum
(Auswahl)
— Regionale Bezugsachse
--- Lokale Bezugsachse
" ~ • Staatsgrenze
i--1 Saar-Lor-Lux mit regionalen
--- Gebietskörperschaften
weiteres grenzüber-
schreitendes lokales Städtenetz
Kartengrundlaga: MOLL (1992); Saar-Lor-Lux-Atlas (Pilotstudie, 1980);
Topographische Übersicht (1 ; 500.000), Grundkarle Verwaltung (1 : 500.000)
Entwurf + Kartographie; Christian SCHULZ (1997)
Abb. 8.
169
(Abb. 8). Es handelt sich um Teilräume jener von Moll definierten Grenzzone18, von
denen im folgenden beispielhaft die drei vorgestellt werden sollen, die angesichts ei-
ner voranschreitenden Institutionalisierung ihrer lokalen Kooperation mittel- bis
langfristig die Entstehung echter Städtenetze erwarten lassen.
Fallbeispiel A: Die Agglomération Transfrontalière du PED
Longwy-Rodange-Athus
Die Agglomération Transfrontalière ist als Nachfolgeprojekt aus dem Pôle Eu-
ropéen de Développement (PED) hervorgegangen. Es handelte sich hierbei um ein
bisher einmaliges, trinationales Vorhaben, das im Zeitraum 1985-1995 zur wirt-
schaftlichen Wiederbelebung des ehemaligen Eisen- und Stahlreviers im Raum
Longwy (F), Athus (B) und Pétange (L) beitragen sollte. Mit erheblicher finanzieller
Unterstützung der EU konnte auf den ca. 5 km2 großen Industriebrachen im Tal der
Chiers ein trinationaler Gewerbepark, der Parc International d'Activités (PIA), ge-
schaffen werden. In diesem Bereich sowie auf umliegenden, z.T. neu erschlossenen
Gewerbeflächen wurden etwa 5.500 neue industrielle Arbeitsplätze geschaffen, städ-
tebauliche, Ökologische und kulturelle Aktivitäten jedoch weitestgehend vernachläs-
sigt19
Aus dem Unmut über die einseitige wirtschaftliche Ausrichtung des Programmes er-
wuchs die Initiative von 21 Grenzgemeinden (15 F, 3 B, 3 L), fortan stärker Einfluß
auf die Entwicklung ihres Grenzraumes zu nehmen. Leitbild der Kooperation ist die
Schaffung einer Agglomération Transfrontalière, die langfristig die Gestalt eines
Stadtverbandes (Communauté urbaine) annehmen soll. Diese Projektidee wurde von
den Regierungen der am PED beteiligten Nationalstaaten begrüßt und 1993 in einer
gemeinsamen Resolution zum offiziellen Folgeprojekt des PED bestimmt. Das Pro-
jektgebiet umfaßt eine Fläche von 300 km2 und zählt etwa 112.000 Einwohner.
Mit der Association Transfrontalière de l'Agglomération du PED wurde 1996 eine
privatrechtliche20 Organisationsstruktur geschaffen, die im wesentlichen von den be-
troffenen Gemeinden und Gemeindeverbänden getragen wird, aber auch staatliche
Vertreter integriert. Ferner ist auf belgischer Seite mit IDELUX21 ein kommunaler
Zweckverband an der Association beteiligt, der bereits im Rahmen des PED-Projek-
tes operative Aufgaben wahmahm. Die Aufnahme ministerieller Repräsentanten der
drei beteiligten Staaten war aus Gründen der Vorgeschichte des Projektes sowie an-
gesichts der in Aussicht gestellten finanziellen Unterstützung aus nationalen und eu-
18 Moll (wie Anm. 7).
19 Vgl. Christian Schulz, Reaktivierung von Industriebrachen als Element einer ökologisch
orientierten Strukturpolitik im Saar-Lor-Lux-Raum? Das Beispiel des Pôle Européen de
Développement Longwy-Rodange-Athus, Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität des
Saarlandes, Fachrichtung Geographie, Saarbrücken 1994; ders., L'Agglomération Trans-
frontalière du Pôle Européen de Développement (PED) Longwy-Rodange-Athus. Expéri-
ences et perspectives d'un programme trinational de restructuration économique, in: Revue
Géographique de l'Est 35 (1996), S. 133-150.
20 Verein nach französischem Recht.
21 = Intercommunale d'Équipement Économique de la Province de Luxembourg.
170
Abb. 9
Région Wallonne État français Ministère de l'Aménagement du Territoire Ministère de l'Intérieur
IDELUX
k
Collège des Administrations
Association
Transfrontalière de
de l'Agglomération ■“ I*
du PED
Observatoire
du PED
k
Bourgmestres von Aubange, Messancy, Musson 3 Maires (Cosnes- et-Romain, Longwy, Villers-la-Montagne), stellv. für die 18 Ge- meinden d. Observatoire 3 Élus Locaux aus Bascharage, Differdange u. Pétange, stellvertr. für SIKOR
Collège des Élus
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997)
ropäischen Quellen unabdingbar. Die Generalversammlung wird jedoch mehrheit-
lich von Kommunalvertretem besetzt.
Als zentrale Einrichtung unterhält die Association ein Observatoire de l 'Urbanisme22
in Mont-Saint-Martin (F), das seit 1994 unter anderem ein orientierendes Document
d'Urbanisme Commun erarbeitete. Dieses Planwerk, das Bestand und Entwicklungs-
potentiale des Territoriums darstellt, kommt inhaltlich dem deutschen Flächennut-
zungsplan nahe, ohne jedoch Rechts- oder Behördenverbindlichkeit zu besitzen. Die
Planung erfolgte auf Basis eines Geographischen Informationssystems (GIS), das
von dem Observatoire konzipiert wurde und entsprechende Grundlagendaten zu Flä-
chennutzung, sozio-ökonomischer Struktur, Umweltproblemen usw. des Projektge-
bietes zusammentrug und die Datenformate harmonisierte. In ähnlicher Weise fan-
den alle existierenden Pläne und raumbezogenen Gutachten Eingang in das GIS. Mit-
telfristig sollen alle beteiligten Gemeinden über einen direkten Zugang zu der zentra-
len Datenbank verfügen, um räumliche Daten abmfen, aber auch Aktualisierungen
des Datenbestandes vornehmen zu können.
Das Document d'Urbanisme Commun hat als erste Zielaussage die Verdichtung des
Raumes zu einer tatsächlichen Agglomeration formuliert. Während die jetzige Be-
völkerungsdichte von 372 E/km2 es gerade erst erlaubt, von einem ansatzweise ver-
städterten Grenzraum zu sprechen, wird langfristig eine Bevölkerungszahl von
240.000, d.h. eine Bevölkerungsdichte von ca. 800 E/km2 angestrebt. Die notwendi-
gen städtebaulichen Planungen innerhalb und außerhalb des bestehenden Siedlungs-
bereiches sollen gemeinsam entwickelt werden und schließlich in eine Charte d'Ag-
glomération Transfrontalière münden, die nach ihrer Verabschiedung in die jeweili-
gen nationalen Planwerke zu integrieren ist23. Die Planungsphase wird seitens der EU
mit 11,2 Mio. ECU aus der Gemeinschaftsinitiative INTERREG II kofinanziert, die
restlichen 50% übernehmen die drei beteiligten Staaten (B 1,8 Mio. ECU; F 8,7 Mio.;
L 0,7 Mio.).
Fallbeispiel B: Das „Europäische Tal der Obermosel“
„Europäisches Tal der Mosel“ lautet der Name eines Tourismuskonzeptes, das
1993/94 im Auftrag der Regionalkommission vom Europäischen Tourismus Institut
(ETI) an der Universität Trier erarbeitet wurde. Es baut auf eine gemeinsame Marke-
tingstrategie der Teilregionen und strebt die Steigerung der touristischen Attraktivi-
tät des Raumes an24. Das Motto „WeinKulturLandschaft“ wurde zum übergeordne-
ten Tourismusleitbild erhoben. Dieses trifft in besonderer Weise für den Bereich zwi-
schen Thionville und Trier zu, der im Dreiländereck als eigentlicher „europäischer“
22 Leider verfügt die deutsche Sprache nicht über ein entsprechendes Pendant. Die wörtliche
Übersetzung „Beobachtungsstelle für Städtebau“ wirkt zu passiv und wird der aktiven, stra-
tegischen Ausrichtung des Observatoire als Planungsinstitution nicht gerecht. Im weiteren
wird daher ausschließlich der französische Begriff verwendet.
23 Observatoire de l'Urbanisme de L'Agglomération du PED (Hg.), Projet d'Agglomération
du Pôle Européen de Développement, Rapport d Activité 3, Longwy 1995.
24 Europäisches Tourismus Institut (Hg.), Tourismuskonzept „Europäisches Tal der Mosel“.
Handlungsempfehlungen, Trier 1994.
172
Abschnitt des Mosellaufs zu werten ist. Dieser Raum umfaßt etwa 920 km2 und zählt
ca. 95.000 Einwohner. Die Bevölkerungsdichte liegt mit knapp über 100 E/km2 deut-
lich im Bereich des ländlichen Raumes. Einzige Mittelzentren sind Saarburg und
Konz (beide D), als Unter- bzw. Kleinzentren gelten Remich, Grevenmacher (beide
L), Perl und Mettlach (beide D). Auf französischer Seite haben lediglich die Orte
Sierck-les-Bains und Hettange-Grande einen gewissen Zentralitätsüberschuß25.
In diesem Raum vereint die Ronde des Trois Frontières in regelmäßigen Abständen
kommunale Vertreter/innen aus den Landkreisen Merzig-Wadem und Trier-Saar-
burg, fünf luxemburgischen Gemeinden und dem im lothringischen Kanton Sierck-
les-Bains für Tourismusfragen zuständigen Gemeindeverband SMVT26. Die Ronde
arbeitet derzeit unter anderem an der Entwicklung und Umsetzung eines grenzüber-
schreitenden Radwegekonzeptes für die Obermosel. Daneben existiert im Dreilän-
dereck ein Bürgermeistertreffen, das seit 1987 einmal jährlich Bürgermeister und
Gemeinedebedienstete von insgesamt 37 Gemeinden zu einem Arbeitstreffen zusam-
menbringt. Neben dem Fremdenverkehr spielen hier Fragen des Umwelt- und Natur-
schutzes, kulturelle Veranstaltungen und der Bildungssektor eine bedeutende Rolle.
Beide Gremien verfügen nicht über eine permanente Organisationsstruktur wie das
erste Fallbeispiel. Durch die langjährigen Erfahrungen sowie die Regelmäßigkeit der
Kontakte hat sich jedoch insbesondere im Rahmen des Bürgermeistertreffens eine
gewisse Vertrauensbasis und damit eine Verbindlichkeit der Absprachen eingestellt,
die bisher keiner weiteren Institutionalisierung bedurften.
Fallbeispiel C: Der Saar-Rosselle-Raum
Die Wortschöpfung Saar-Rosselle-Raum geht auf eine gemeinsame Initiative des
Stadtverbandes Saarbrücken und des Départements Moselle zurück, die 1994 ein
grenzüberschreitendes Kartenwerk für das südliche Saarland und den Raum Mosel-
le-Est vorlegten27. Der hier dargestellte Raum umfaßt etwa 1650 km2 und zählt nahe-
zu eine Million Einwohner. Ihm gehören weite Teile des saarländischen Verdich-
tungsraumes sowie das angrenzende lothringische „Kohlebecken“ (Moselle-Est) an.
Innerhalb dieses Gebietes existiert seit 1993 eine von der Stadt Sarreguemines und
dem Stadtverband Saarbrücken koordinierte Interkommunale Arbeitsgemeinschaft,
die derzeit auf freiwilliger Basis von etwa 20 Gemeinden und Gemeindeverbänden
getragen wird. Die Interkommunale Arbeitsgemeinschaft versteht sich als Koordma-
tionsnetzwerk der Grenzgemeinden und unterhält ein hauptamtlich besetztes Koope-
rationsbüro beim Stadtverband Saarbrücken, das von 1996 bis 2000 mit insgesamt
217.500 ECU aus INTERREG II bezuschußt wird. Die Arbeitsgemeinschaft be-
schäftigt sich vornehmlich mit Fragen der grenzüberschreitenden Koordination des
25 Regionalkommission Saar-Lor-Lux-Trier/Westpfalz, Arbeitsgruppe Raumordnung (Hg.),
Raumordnungsstudie Thionville-Trier (Moseltalstudie). Nach der Beteiligung der Arbeits-
gruppen der Regionalkommission überarbeitete Fassung, Trier 1995.
26 = Syndicat Mixte à Vocation Touristique du Pays des Trois Frontières.
27 Conseil Général de la Moselle, Stadtverband Saarbrücken und D.D.E. Moselle (Hg.), Re-
gard sur l'espace Saar-Rosselle - Blick auf den Saar-Rosselle-Raum, Metz-Saarbrücken
1994.
173
Carling
Creutzwald
Forbach
Freyming-Meriebach
Grosbliederstroff
L'Hôpital
c
Petite-Rosselle
| Sarreguemines
r
Saint-Avold
Villes+Communes
4______________
District de Forbach
[ District da Sarreguemines
SIVOM Val de Blies
SiVOM Vai de Sarre
SIVOM Saint-Avold
Gemeindezweckverbände
> r
Interkommunale
Arbeitsgemeinschaft Kooperationsbüro
Geschäftsführung: Ville de Sarreguemines Stadtverband Saarbrücken (SVS)
> 4.
Großrosseln
Kleinbittersdorf
Saarbrücken
Völklingen
Städte+Gemeinden
Stadtverband Saarbrücken!
Gemeinde verband
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997)
Abb. 10.
174
Umweltschutzes (Bsp. Sanierung der Rossel) und einer gemeinsamen Flächennut-
zungs- und Landschaftsplanung der Grenzgemeinden, Zu ihren Aufgaben zählt auch
die Vorbereitung gemeinsamer Projektanträge im Rahmen der Gemeinschaftsinitia-
tive INTERREG II. Jüngstes Vorhaben ist ein grenzüberschreitendes Umweltinfor-
mationsnetzwerk namens TEMSIS28, das derzeit in Zusammenarbeit mit namhaften
Forschungseinrichtungen aufgebaut wird (Finanzvolumen: 2 Mio. ECU), Es soll der
Aufbereitung und Verbreitung von Umweltdaten und -informationen im Grenzraum
dienen. Besonders innovativ ist dabei die Zugänglichkeit der Datenbank über öffent-
liche „Umweltkioske“, die im Rathaus Sarreguemines, beim Stadtverband sowie in
je zwei weiteren Gemeinden auf deutscher und französischer Seite eingerichtet wer-
den sollen. Neben der allgemeinen Information werden die aufbereiteten Daten
Grundlage für gemeinsame Planungen im Grenzraum sein.
Bewertung der Fallbeispiele
Eine vergleichende Bewertung sollte sich im vorliegenden Falle nur auf strukturelle
Aspekte der grenzüberschreitenden Kooperation beschränken. Angesichts der sehr
knappen Darstellung der Fallbeispiele erscheint eine Bewertung der Inhalte der Zu-
sammenarbeit problematisch, da sie kaum nachvollziehbar wäre. Dennoch soll die
nachfolgende Tabelle in synoptischer Form die inhaltlichen Schwerpunkte in den
drei Teilräumen zusammenfassen und gewichten:
Tabelle 1 : Inhaltliche Schwerpunkte der Kooperation
Sachgebiet / Fallbei- spiel PED Moseltal Saar-Rosselle
Siedlungsentwick- lung •• — ••
Gewerbeflächen / Wirtschaftsforderung •• • •
Verkehrsinfrastruk- tur/ÖPNV • O •
Tourismus O •• O
Kultur / Bildung / Sport o •• •
Umwelt- u. Natur- schutz o • ••
Ver- und Entsorgung • • ••
Organisatorische Fragen • o •
(— = unbedeutend; O = wenig bedeutend; • = bedeutend; #• =sehr bedeutend)
28 = Transnational Environmental Management Support and Information System.
175
Rein rechtlich gesehen stellt die Association Transfrontalière du PED die am stärk-
sten institutionalisierte Form der Kooperation dar. Der Zusammenschluß in einem
Verein sowie die gemeinsame Finanzierung des Observatoire de l'Urbanisme sowie
die politische Willensbekundung zur mittelfristigen Umsetzung der Charte d'Ag-
glomération ermöglichen eine hohe Verbindlichkeit und Kontinuität der interkom-
munalen Aktivitäten. Ähnlich strukturiert erscheint die Interkommunale Arbeitsge-
meinschaft,, deren Kooperationsbüro jedoch weder über die Ausstattung des Obser-
vatoire noch über dessen klaren Auftrag verfugt. Es besitzt somit eher eine Koordina-
tionsfunktion denn eine operative Aufgabe, Derzeit verhandeln die Gemeinden und
Gemeindeverbände der Interkommunalen Arbeitsgemeinschaft über den Abschluß
einer Kooperationsvereinbarung gemäß dem Karlsruher Abkommen. Sollte diese
realisiert werden, würde es sich nicht nur um den ersten Abschluß dieser Art seit Exi-
stenz des Abkommens handeln, sondern der Kooperation auch eine stärkere Verbind-
lichkeit und dem Kooperationsbüro womöglich weiterreichende Kompetenzen ver-
leihen. Im Gegensatz dazu erscheint das Bürgermeistertreffen im Moseltal als sehr
lose Form der Zusammenarbeit, deren Kontinuität jedoch erlaubt, auch hier von einer
gewissermaßen institutionalisierten Kooperation zu sprechen. Die ländliche Struktur
des Raumes, die eher als „weich“ zu bezeichnenden Gegenstände der Kooperation
sowie das deutlich geringere finanzielle Engagement aller beteiligten Ebenen ließen
eine stärkere Formalisierung der Zusammenarbeit bisher nicht notwendig erschei-
nen.
Hemmnisse der Kooperation
Die im folgenden diskutierten Hemmnisse der interkommunalen grenzüberschreiten-
den Zusammenarbeit konnten in ähnlicher Form in allen drei Teilräumen vorgefun-
den werden, weshalb hier auf eine weitere Differenzierung verzichtet wird. Beson-
ders auffallend sind dabei strukturelle Hemmnisse, die im wesentlichen auf den un-
terschiedlichen Staatsaufbau und damit auf zum Teil erhebliche Differenzen in Zu-
schnitt, Ausstattung und Kompetenzen der kommunalen Gebietskörperschaften zu-
rückzuführen sind. Selbstredend ist in diesem Zusammenhang ein Größenvergleich
der Gemeinden, wie ihn die vorstehenden Verwaltungskarten ermöglichen. Hier
wird insbesondere die Diskrepanz zwischen den (fusionierten) saarländischen und
rheinland-pfälzischen (Verbands-)Gemeinden und den lothringischen Kommunen
deutlich, die durchschnittlich nur etwa ein Achtel der Fläche und wenig mehr als fünf
Prozent der Bevölkerung ihrer deutschen Pendants vorzuweisen haben. Die damit
verbundene schlechtere finanzielle und personelle Ausstattung dieser Gemeinden im
Vergleich zu ihren deutschen, aber auch zu den belgischen und luxemburgischen
Nachbarkommunen erschwert sowohl die fachliche Abstimmung als auch die ge-
meinsame Realisierung von kostenwirksamen Maßnahmen. Hinzu kommt ein mit
abnehmender Gemeindegröße wachsender esprit du clocher, das Kirchturmdenken
der Bürgermeister und Gemeinderäte, das eine Kooperation nicht unbedingt erleich-
tert.
Trotz aller Bemühungen um die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen
der kommunalen grenzüberschreitenden Aktivitäten, wie sie die dargestellten natio-
nalen Gesetzesinitiativen und internationalen Abkommen verkörpern, bleiben recht-
176
Haushaltsmittel für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Quelle: Eigene Erhebung Berechnungsgrundlage:
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997) 29 befragte Gemeinden
Abb. 11.
liehe Hemmnisse bestehen. So klammert beispielsweise das Karlsruher Abkommen
das Polizeirecht aus seinem Geltungsbereich aus. Da in Frankreich jedoch die kom-
munale Bauleitplanung dem Polizeirecht unterliegt, ist damit ein Sektor betroffen,
der für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von elementarer Bedeutung sein
kann. Gerade hier erschiene es sinnvoll, mittels einer Kooperationsvereinbarung eine
gewisse Verbindlichkeit in die grenzüberschreitende Abstimmung der Bauleitpläne
zu bringen, Abgesehen von solchen Einzelproblemen herrscht derzeit noch eine gro-
ße Verunsicherung der Gemeinden angesichts der Reichweite und Vorteile der ge-
nannten Abkommen. Diese äußert sich auch in der starken Zurückhaltung der Kom-
munen bezüglich der Nutzung der neuen Organisationsformen.
Die sehr beschränkten finanziellen Spielräume der Kommunen wirken sich selbst-
verständlich auch hemmend auf die Bereitschaft zur Investition in grenzüberschrei-
tende Aktivitäten aus. Zwar hält die Mehrzahl der befragten Gemeinden eigene
Haushaltsmittel für die Zusammenarbeit vor (s. Abb. 11), diese umfassen jedoch
meistens nur die jährlichen Mitgliedsbeiträge für gemeinsame Einrichtungen, die
Unterhaltung von Städtepartnerschaften oder die Grundfinanzierung gemeinsamer
kultureller Aktivitäten
Darüber hinausgehende Projekte kommen in der Regel nur dann in Betracht, wenn
anderweitige Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. In diesem Zusam-
menhang kommen den Finanzhilfen seitens der EU und hier vor allem der bereits
ausführlich besprochenen Gemeinschafts initiative INTERREG eine herausragende
Rolle zu. Die Mehrzahl der befragten Gemeinden, die von Geldern aus INTERREG I
profitierten, wären nicht in der Lage gewesen, die Vorhaben ohne den EU-Zuschuß
sowie regionale bzw. nationale Komplementärmittel zu realisieren. In vielen Fällen
hat INTERREG I sogar Projekte generiert, die ohne die Existenz der Gemein-
schaftsinitiative nie angedacht worden wären. Die meisten Gemeinden erhoffen sich
von INTERREG II angesichts ihrer besseren Kenntnis über die Vergabekriterien so-
wie dessen größeres Volumen eine stärkere Berücksichtigung ihrer Anliegen. Über
90 % der befragten Gemeinden (s.u.) haben dementsprechende Anträge eingereicht,
177
PROBLEME:
sprachlich
Kultur / Mentalität
techn./administrativ
politisch
sehr kaum nicht
störend störend störend störend
Abb. 12.
wobei es sich zu etwa gleichen Teilen um rein kommunale Vorhaben sowie um Vor-
haben mit regionaler bzw. nationaler Beteiligung handelt.
Die Fülle der Anträge läßt jedoch erwarten, daß wiederum nur ein kleiner Teil der
kommunalen Projekte in den Genuß der EU-Förderung kommen wird. Hinzu kommt
das Problem des möglichen Rückzugs nationaler bzw. regionaler Zuschußgeber im
Falle eines finanziellen Engagements der Europäischen Kommission. Letzteres wird
vor allem von rheinland-pfälzischen Kommunen beklagt, wo sich das Land in eini-
gen Fällen in dem Maße aus gemeinsamen Projekten zurückgezogen hat, wie euro-
päische Fördergelder bereitgestellt wurden. Daß diese Form der staatlichen Refinan-
zierung nicht im Sinne der Gemeinschaftsinitiative sein kann, liegt auf der Hand.
Ohne der abschließenden Diskussion vorgreifen zu wollen, kann es daher im Sinne
eines weiteren Ausbaus der lokalen grenznachbarschaftlichen Zusammenarbeit nur
wünschenswert sein, daß nicht nur die EU ihre Förderung erweitert, sondern in glei-
chem Maße auch regionale und nationale Instrumente zur finanziellen Unterstützung
der Aktivitäten der Grenzgemeinden aufgebaut werden.
Hemmnisse, die auf sprach- bzw. mentalitätsbedingte Verständigungsprobleme der
Akteure zurückzuführen sind, scheinen - anders als auf der regionalen und nationalen
Ebene - auf der lokalen Ebene vemachlässigbar. Dies erklärt sich aus der Tatsache,
daß in allen untersuchten Teilräumen eine gemeinsame Umgangssprache existiert,
die in der Regel auch als Arbeitssprache in den Kooperationsgremien dient. Im Falle
des PED ist dies die französische Sprache, während im Moseltal das Luxemburgisch
(Letzebuergseh) bzw. der diesem sehr ähnliche und auf deutscher und französischer
Seite sehr verbreitete moselfränkische Dialekt die Kommunikation unproblematisch
macht. Im Saar-Rosselle-Raum profitieren die deutschen Partner von dem Umstand,
178
Bewertung des Abstimmungsprozesses
Quelle: Eigene Erhebung
Entwurf + Darstellung: Christian SCHULZ (1997) ■ Anzahl der Nennungen
Abb. 13.
daß der rheinfränkische Dialekt im angrenzenden Lothringen als Umgangssprache
relativ geläufig ist und daher meistens auch als Arbeitssprache zwischen den Akteu-
ren füngiert. Zwar bestätigen zahlreiche Personen die Annahme, daß unterschiedli-
che Mentalitäten und kulturelle Umfelder beispielsweise bei der Konzeption neuer
Projekte zu gewissen Verständigungsproblemen fuhren können. Diese werden je-
doch kaum als störend empfunden. Auch der Fall, daß die Kooperation durch die un-
terschiedliche politische Couleur der verantwortlichen Entscheidungsträger ge-
hemmt wird, tritt nur selten auf. Parteipolitische Animositäten bleiben bei der grenz-
überschreitenden Zusammenarbeit üblicherweise ausgespart. Somit werden nur die
aus den strukturellen Unterschieden resultierenden technisch-administrativen Pro-
bleme als störend empfunden - wie die vorstehende Abbildung zeigt. Ihr liegt eine
Umfrage unter Bürgermeistern, Beigeordneten und Gemeindebediensteten in 29
Grenzgemeinden des Saar-Lor-Lux-Raumes zugrunde.
Diese insgesamt sehr positive Bewertung der praktischen Kooperationserfahrungen
kommen auch in den vorstehenden Äußerungen zum Ausdruck (s. Abb. 13). So sah
die Mehrzahl der befragten Akteure die Zusammenarbeit mit den Kommunen des
Nachbarlandes als nicht schwieriger als mit den Kommunen des eigenen Landes an,
manche empfanden sie gar als leichter. Etwa ein Drittel der Antwortenden sieht den
Abstimmungsprozeß als mühsamer an, bestätigen jedoch eine erfolgversprechende
Entschlossenheit der Beteiligten und gegenseitiges Vertrauen. Nur sehr wenige Per-
sonen hatten den Eindruck, daß ihre Arbeit sehr mühsam und ernüchternd sei.
Schlußfolgerungen
Am Beispiel des Saar-Lor-Lux-Raumes konnte ansatzweise gezeigt werden, inwie-
fern die interregionale grenzüberschreitende Kooperation unter den Abgrenzungs-
problemen und der Heterogenität dieses sehr großflächigen Grenzraumes leidet. Vor
diesem Hintergrund kommt den kleineren, relativ homogenen Untereinheiten der en-
geren Grenzzone eine besondere Bedeutung für den regionalen Integrationsprozeß
179
zu. Die Ausführungen haben gezeigt, daß die lokalen Akteure der grenzüberschrei-
tenden Zusammenarbeit weitaus weniger mit praktischen Problemen zu kämpfen ha-
ben, die durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kultur- oder Sprachräume
bzw. unterschiedlicher Staatssyteme hervorgerufen werden. Hinzu kommt, daß die
Kooperation auf dieser Ebene sehr stark durch private Kontakte, d.h. familiäre bzw.
freundschaftliche Beziehungen zu Menschen jenseits der Grenze, begünstigt werden.
Sich negativ auswirkende Ressentiments, wie sie möglicherweise ein französischer
Staatsbeamter der Regionalpräfektur gegenüber einem deutschen Landesbeamten
(oder umgekehrt) haben kann, scheinen auf der untersuchten Maßstabsebene eine
marginale Rolle zu spielen. Das tatsächlich aufgetretene Extrembeispiel eines loth-
ringischen Bürgermeisters, der ob seiner persönlichen Erfahrungen mit der Nazizeit
die Kooperation mit einer saarländischen Nachbargemeinde über Jahre blockierte,
sollte in diesem Zusammenhang nicht übennterpretiert werden. Trotz dieser histori-
schen Erblast ist das Klima zwischen den lokalen Partnern in der Regel von einem
sehr kollegialen, meist aufrichtig freundschaftlichen Umgang miteinander geprägt.
Die Kooperation von Planung und Verwaltung wird im grenznahen Raum begleitet
von mannigfaltigen kulturellen Aktivitäten wie Festen, Messen, Ausstellungen, Ju-
gendfreizeiten, Sportveranstaltungen etc., die zum Teil aus der Verwaltungskoopera-
tion hervorgegangen sind, zum Teil auf Eigeninitiativen der örtlichen Vereine und
dörflichen Gemeinschaften beruhen. Der Beitrag dieser - oftmals belächelten - Ver-
anstaltungen zur grenzüberschreitenden Identitätsbildung in der Bevölkerung bzw.
zur Akzeptanzforderung für grenzüberschreitende Projekte und Investitionen ist kei-
neswegs zu unterschätzen.
Angesichts dieser sozio-kulturell günstigen Rahmenbedingungen für eine
grenzüberschreitende Integration spielen die dargestellten Teilräume eine tragende
Rolle in der Entwicklung des gesamten Grenzraums Saar-Lor-Lux. Dabei ist ihre
Zukunft davon abhängig, in welchem Maße es gleichzeitig auf der internationalen
wie interregionalen Ebene gelingt, die Rahmenbedingungen der Kooperation zu
verbessern und die bestehenden Hindernisse abzubauen. Wie beispielhaft gezeigt
wurde, erfahren diese Netzwerke eine zunehmende Institutionalisierung und
gewährleisten damit sowohl eine gewisse Kontinuität als auch eine größere
Verbindlichkeit der Absprachen und Planungen. Sie können als bereits integrierte
Kembereiche des Saar-Lor-Lux-Raumes betrachtet werden, die mittelfristig einen
wesentlichen, ja beispielhaften Beitrag zur Überwindung der EU-Bmnengrenzen
leisten. Diese Ansätze können als Basis einer Integration „von unten“ (bottom-up)
verstanden werden, die, im Gegensatz zu den bei der Realisierung des europäischen
Binnenmarktes oder der Währungsunion dominierenden to/?-fi?ow«-Kräften, eine
größere Nachhaltigkeit und Akzeptanz in allen Lebensbereichen erwarten läßt.
180
Andreas Schorr
Grenzgänger zwischen den Sprachen.
Eine Umfrage zur Sprachenwahl und zu
Spracheinstellungen in der Saar-Lor-Lux-Region.
Grenzgänger leben zwischen den Sprachen. Wenn sie zwischen Wohnort und Ar-
beitsplatz die Staatsgrenze überschreiten, betreten sie nicht nur ein Territorium mit
einem anderen Rechtssystem, mit anderen Sitten und Gebräuchen in der Familie und
im öffentlichen Leben, sondern sie treten auch ein in eine Gesellschaft mit einem an-
deren Sprach enge füge. Selbst wenn die Sprachgrenzen wie in der Saar-Lor-Lux-Re-
gion nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmen, so besitzen diese Sprachen doch in
jedem Territorium einen anderen Stellenwert.
Eine Annäherung an diesen bislang wenig beachteten Komplex wurde mit Hilfe einer
brieflichen Umfrage unternommen. Doch bevor die Ergebnisse der Fragebogenakti-
on zur Sprachenwahl und zu Spracheinstellungen vorgestellt werden, will ich den
Untersuchungsraum in sprachlicher Hinsicht skizzieren. Als Saar-Lor-Lux-Region
werden hier folgende Teilregionen verstanden: das Saarland, das lothringische Mo-
seldepartement, die belgische Provinz Luxemburg, das Großherzogtum Luxemburg
sowie der Regierungsbezirk Trier und die Westpfalz als Teile von Rheinland-Pfalz.
Die EU-Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich und Luxemburg haben Anteil an
dieser Region.1 Zehntausende von Menschen überschreiten hier täglich die Grenzen
auf dem Weg vom Wohnort zum Arbeitsplatz.
Der unterschiedliche Stellenwert von Sprachen und Dialekten in der Region läßt sich
nach der Untersuchung von Jean-Paul Hofffnann an den nah verwandten moselfrän-
kischen Dialekten dreier Nachbarorte im deutsch-französisch-luxemburgischen
Dreiländereck zeigen.1 2 Im luxemburgischen Schengen ist das örtliche Moselfrän-
kisch die mit Stolz gesprochene Nationalsprache Letzebuergesch oder Luxembur-
gisch, im deutschen Perl ist es ein von den Sprechern geschätzter, aber zuweilen auch
als hinderlich empfundener Dialekt des Deutschen und im französischen Apach ein
früher gering geschätztes Patois, heute die immer mehr akzeptierte Regionalsprache
Francique oder Fränkisch. Ein ortsunkundiger Zuhörer kann die drei Varianten des
Moselfränkischen nicht unterscheiden. Nicht nur verschiedene Dialektvarianten
1 Zu den unterschiedlichen Abgrenzungen des Saar-Lor-Lux-Raumes vgl. Christian Schulz /
Wolfgang Brücher, Saar-Lor-Lux. Die Bedeutung der lokalen grenzüberschreitenden Ko-
operation für den europäischen Integrationsprozeß, in: magazin forschung Universität des
Saarlandes (1/1997), S. 46-53. Christian Schulz danke ichherzlich für die freundliche Un-
terstützung bei der Anfertigung der Karte.
2 Jean-Paul Hoffmann, Standardsprache und Dialekt in der saarländisch-lothringisch-luxem-
burgischen Dreiländerecke (Beiträge/Abteilung für Sprachwissenschaft, Ethnologie und
Toponymie des Großherzoglichen Institutes von Luxemburg; 17/25) (Publications mosel-
lanes), Luxemburg 1985, zugleich Bonn, Universität, Dissertation, 1984.
181
Karts: A. Schorr
werden in Saar-Lor-Lux gesprochen. Die Region wird von Norden nach Süden von
der romanisch-germanischen beziehungsweise deutsch-französischen Sprachgrenze
durchzogen, die sich im frühen Mittelalter zwischen Galloromanen und Franken her-
ausbildete.3 Westlich dieser Grenze werden wallonische und romanisch-lothringi-
sche Dialekte des Französischen gesprochen, beziehungsweise nach dem weitgehen-
den Verschwinden der romanischen Dialekte ein Regionalfranzösisch. Mutterspra-
che, Umgangssprache und Nationalsprache fallen in den frankophonen Teilen Bel-
gisch-Luxemburgs und Lothringens also durchweg zusammen.
Östlich der Sprachgrenze werden moselfränkische und rheinfränkische Dialekte so-
wie darauf fußende regionale Umgangssprachen gesprochen. Die Grenze zwischen
mosel- und rheinfränkischen Dialekten wird durch die dat/das-Linie markiert: nörd-
lich dieser Linie sagt man moselfränkisch dat, südlich davon rheinfränkisch das.
Weitere Wort- und Lautgrenzen konstituieren die sogenannte ‘Hunsrückbarriere’ als
Grenzsaum zwischen Mosel- und Rheinfränkisch. Das Moselfränkische des Untersu-
chungsraums kann mit Hilfe der op/of-Linie in eine westmoselfränkische oder lu-
xemburgische Variante mit op und eine südmoselfränkische Variante mit of unter-
schieden werden. Insgesamt zeigt das Südmoselfränkische eine größere Nähe zum
Rheinfränkischen und zum Hochdeutschen. Die mosel- und rheinfränkischen Dia-
lekte gehören trotz dieser Laut- und Wortgrenzen einem sprachlichen Kontinuum an,
das heißt die Verständigung von Ort zu Ort ist möglich, und erst nach einer gewissen
Strecke wird der sprachliche Brückenschlag schwieriger.
Nach ersten Anfängen im vergangenen Jahrhundert wurden seit Beginn des 20. Jahr-
hunderts die moselfränkischen Dialekte Luxemburgs in Abgrenzung gegen das
Deutsche, und nach der zweimaligen Besetzung im I. und 2. Weltkrieg vor allem in
Abgrenzung gegen die Deutschen, zu Letzebuergesch oder Luxemburgisch ausge-
baut. Luxemburgisch wurde erstmals 1939 und dann im Sprachengesetz von 1984
zur Nationalsprache erhoben. Neben Französisch und Deutsch ist auch Luxembur-
gisch Verwaltungs Sprache.4
In der belgischen Provinz Luxemburg mit der Hauptstadt Arlon/Arel werden wallo-
nische und romanisch-lothringische Dialekte und entlang der luxemburgischen
Grenze auch moselfränkische Dialekte gesprochen. Das moselfränkische Sprachge-
biet wird im allgemeinen als Arelerland bezeichnet. Das Moselfränkische ist fast nur
noch als Familiensprache im Gebrauch, während das öffentliche Leben vom Franzö-
3 Zur Entstehung der Sprachgrenze vgl. Wolfgang Haubrichs, Über die allmähliche Verferti-
gung von Sprachgrenzen. Das Beispiel der Kontaktzonen von Germania und Romania, in:
Wolfgang Haubrichs/Reinhard Schneider (Hgg.), Grenzen und Grenzregionen (Veröffent-
lichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 22),
Saarbrücken 1994, S. 99-129.
4 Zur neueren Geschichte der Sprachen in Luxemburg vgl. Fernand Hoffmann, 1839-1989:
Fast 150 Jahre amtlicher Zwei- und privater Einsprachigkeit in Luxemburg. Mit einem na-
tionalsozialistischen Zwischenspiel, in: Wolfgang Dahmen et alii (Hgg.), Germanisch und
Romanisch in Belgien und Luxemburg. Romanistisches Kolloquium VI (Tübinger Beiträ-
ge zur Linguistik 363), Tübingen 1992, S. 149-164.
183
sischen beherrscht wird.5 6 Neuerdings gibt es wieder Ansätze für einen frühzeitigen
Deutschunterricht in den Schulen.0
Lothringen ist größtenteils frankophon. Französisch ist wie in ganz Frankreich allei-
nige Amtssprache. Im germanophonen Nordosten Lothringens genießt das Deutsche
also keinen Status als offizielle Sprache. Zu dieser Situation hat die Abwehr gegen
die moderate, aber beharrliche Eindeutschung in der Reichslandszeit (1871-1918)
und ihre radikale Ausprägung während der nationalsozialistischen Okkupation
(1940-1945) ebenso beigetragen wie der ausgeprägte französische Sprachzentralis-
mus seit der Französischen Revolution. Heute haben die mosel- und rheinfränkischen
Dialekte Nordostlothringens, zusammenfassend als Francique oder Fränkisch be-
zeichnet, den Status einer Regionalsprache, mit Deutsch als deren Schriftform. Die-
ser Status ermöglicht finanzielle Zuwendungen von staatlicher Seite für sprachlich-
kulturelle Aktivitäten und die Unterrichtung als Schulfach.7
Im Saarland werden in der nordwestlichen Hälfte moselfränkische und in der südöst-
lichen Hälfte rheinfränkische Dialekte gesprochen. Die Dialekte werden vom Hoch-
deutschen überdacht. Zahlreiche Schattierungen zwischen Dialekt und Hochsprache
sowie Kompromißformen der unterschiedlichen Ortsdialekte beherrschen die All-
tagskommunikation. Das Französische hat, abgesehen von Adelskreisen, erst seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts eine Tradition als Bildungssprache herausbilden können.
Gegen Versuche einer französischen Sprachforderung in den sogenannten Domani-
alschulen der französischen Grubenverwaltung wurde während der Völkerbundsver-
waltung (1919-1935) scharf polemisiert, und noch in den 50er Jahren scheiterte die
Einführung des Französischen als früh zu erlernender Fremdsprache in den Volks-
schulen an Protesten des Lehrpersonals.8 Mit der Ablehnung des Französischunter-
richts bekräftigte man damals im Saarland eine deutsche Identität. Inzwischen haben
sich im Saarland die Französischkenntnisse langsam, aber stetig verbessert, und
Französisch ist die wichtigste Fremdsprache geworden. Bis zu einer verbreiteten
5 Peter Hans Neide, Volkssprache und Kultursprache. Die gegenwärtige Lage des sprachli-
chen Übergangsgebietes im deutsch-belgisch-luxemburgischen Grenzraum (Zeitschrift für
Dialektologie und Linguistik Beihefte Neue Folge Nr. 31), Wiesbaden 1979, S. 66-96.
6 Zum Deutschunterricht in Belgisch-Luxemburg vergleiche: Innergemeinschaftliches Re-
gional-Institut, Untersuchung zur Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Großregion. Im Auf-
trag des Mimstère de l’Aménagement du Territoire du Grand-Duché de Luxemburg, Lu-
xemburg 1997, S. 215-217.
' Zur aktuellen Lage - die sprachhistorischen Teile sind allerdings mit Fehlem behaftet - der
germanophonen Dialekte in Lothringen vergleiche Sabine Legrand, Zur Situation der Spra-
chenpolitik in Ostlothringen, Diplomarbeit, Saarbrücken 1993. Weiter ist zu nennen Comé-
lia Stroh, Sprachkontakt und Sprachbewußtsein. Eine soziolinguistische Studie am Bei-
spiel Ost-Lothringens (Tübinger Beiträge zur Linguistik 383), Tübingen 1993, zugleich
Bremen, Universität, Dissertation, 1992, S. 40-60.
8 Die Geschichte des Französischen im Saarland skizziert Hans-Walter Herrmann, Kenntnis
und Verwendung der französischen Sprache in früheren Zeiten, in: Moselle-Saarland,
Grenzüberschreitende nachbarschaftliche Zusammenarbeit, Freyming-Merlebach ohne
Jahr, S. 33-67. Zur Auseinandersetzung um den Französchunterricht in den saarländischen
Volksschulen vgl. Armin Heinen, Saarjahre. Politik und Wirtschaft im Saarland 1945-1955
(Historische Mitteilungen Beiheft 19), Stuttgart 1996, S. 344 f.
184
Französischkompetenz auf germanophoner Grundlage, die der Situation in Luxem-
burg vergleichbar wäre, scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Zumindest in
Saarbrücken und Saarlouis ist Französisch de facto zweite Geschäftssprache.
Die dialektale Gliederung setzt sich östlich in Rheinland-Pfalz fort. Im Regierungs-
bezirk Trier wird Moselfränkisch gesprochen, in der Westpfalz mit dem Hauptort
Kaiserslautern Rheinffänkisch oder Pfälzisch. Im Gegensatz zum Saarland ist Eng-
lisch unbestritten die erste Fremdsprache, Französisch spielt daneben nur eine unter-
geordnete Rolle.
Die Ergebnisse der brieflichen Umfrage zum Sprachverhalten und zu Spracheinstel-
lungen bei Grenzgängern aus verschiedenen Regionen in Saar-Lor-Lux beruhen auf
der Auswertung von 44 ausgefüllt zurückgesandten Fragebögen.9 Der Begriff des
Grenzgängers umfaßt dabei die Arbeitspendler, die den höheren Löhnen jenseits der
Grenze folgen, und die Wohnpendler, welche die niedrigeren Immobilienpreise auf
der anderen Seite der Grenze nutzen. Den Schwerpunkt bilden französische Arbeits-
pendler aus Ostlothringen, die im Saarland, in der Westpfalz oder in Luxemburg ei-
ner Beschäftigung nachgehen. Aus Frankreich liegen 30 beantwortete Fragebögen
vor, acht wurden von Deutschen, zwei von Luxemburgern und vier von Belgiern be-
antwortet. Es antworteten 25 Männer und 19 Frauen. Alle befragten Grenzgänger
sind zudem Einkaufspendler, die sich auch im Nachbarland versorgen. Neben den
Grenzgängern gibt es viele weitere Einkaufs- und Freizeitpendler, die in dieser Un-
tersuchung nicht berücksichtigt werden. Durch die Verschickung von Fragebögen
konnte eine größere Anzahl von Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus unter-
9 Einige weitere Fragebögen konnten nicht in die Auswertung einbezogen werden, da sie
nicht von Grenzgängern ausgefüllt wurden, sondern von Gemeindeangestellten oder
sprachpolitisch interessierten Personen aus den angefragten Gemeinden. Studien zum
Sprachgebrauch von Grenzgängern waren bibliographisch nicht zu ermitteln. Einige Be-
merkungen zu dem Komplex macht Wolfgang Bufe, Bilingualismus an der Grenze oder die
Lothringer und ihre ‘Sprache’, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik
83 (1991) S. 96-99. Allerdings gibt es zahlreiche Studien zum Sprachgebrauch in
Sprachminderheitengebieten. Im Untersuchungsraum ist zuerst zu nennen Walter Hoffmei-
ster, Sprachwechsel in Ost-Lothringen. Soziolinguistische Untersuchung über die Sprach-
wahl von Schülern in bestimmten Sprechsituationen (Deutsche Sprache in Europa und
Übersee, Berichte und Forschungen 2), Wiesbaden 1977. Mit Fragebögen arbeiteten auch
Yves Persoons / Mireille Versele, Deutsch-Französischer Sprachkontakt in “la Wallonie
Prussienne”. Eine sprachsoziologische Fallstudie im deutsch-sprachigen Raum Belgiens,
in: Jean Caudmont (Hg.), Sprachen in Kontakt. Langues en contact (Tübinger Beiträge zur
Linguistik 185), Tübingen 1982. Vergleichbar in den Problemstellungen ist eine belgische
Untersuchung: Sonja Vandermeeren, Spracheinstellungen links und rechts der Sprachgren-
ze. Eine kontaktlinguistische Umfrage im Vurgebiet und in Altbelgien-Nord (Plurilingua
14), Bonn 1993. Zu den Untersuchungsmethoden insbesondere die S. 31 -44. Mit Leitfaden-
interviews arbeitete Stroh (wie Anm. 7). Zu sprachsoziologischen Methoden vgl. auch Jo-
hannes Bechert / Wolfgang Wildgen, Einführung in die Sprachkontaktforschung. Unter
Mitarbeit von Christoph Schroeder (Die Sprachwissenschaft), Darmstadt 1991, S. 38-51.
185
schiedlichen Regionen befragt werden.10 Die Versendung von je einem Fragebogen
erfolgte an Bürgermeister und Ortsvorsteher in 200 Gemeinden und Gemeindebezir-
ken im lothringischen Moseldepartement, im Großherzogtum Luxemburg, in Bel-
gisch-Luxemburg, im Saarland und in Rheinland-Pfalz (Regierungsbezirk Trier und
Westpfalz). Nach Lothringen und Belgisch-Luxemburg wurden Fragebögen in fran-
zösischer Sprache, in die übrigen Regionen in deutscher Sprache verschickt.
Aus Luxemburg und dem frankophonen Lothringen kam mehrmals die Mitteilung,
daß in der Gemeinde kein Grenzgänger bekannt sei. In Luxemburg hat das wirt-
schaftliche Gründe, da das Land Grenzgänger aufnimmt und nicht entsendet. Für das
frankophone Lothringen ist jedoch zu vermuten, daß die Zweisprachigkeit Voraus-
setzung für die Arbeitssuche in Deutschland und in Luxemburg ist, somit französisch
einsprachige Lothringer weit weniger Chancen auf den grenzüberschreitenden Ar-
beitsmärkten als ihre germanophonen Mitbürger besitzen. Die geringste Rückmel-
dung kam aus saarländischen Orten. In Lothringen und Luxemburg lag die Rücklauf-
quote - Negativmeldungen eingerechnet - etwa bei 30 Prozent, was als recht hoch an-
zusehen ist.
Die Gruppe der Befragten wurde durch den Filter der angesprochenen Bürgermeister
konstituiert. Es darf vermutet werden, daß tendenziell diejenigen Bürgermeister, die
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der Mehrsprachigkeit aufgeschlos-
sen gegenüberstehen, die Fragebögen weitergeleitet haben. Sie werden vor allem
Grenzgängerinnen und Grenzgänger mit ähnlichen Ansichten zur Mitarbeit gewon-
nen haben. Nicht auszuschließen ist in einigen Fällen auch der umgekehrte Fall, daß
also ein bewußter Kontrapunkt zu den in den Medien progagierten Vorteilen der
Mehrsprachigkeit gesetzt werden sollte.
Durch das geschilderte Auswahlverfahren kann kein Anspruch auf Repräsentativität
für die befragte Gruppe erhoben werden. Deshalb wird bewußt auf eine statistische
Auswertung der Ergebnisse verzichtet. Es werden jeweils nur Angaben zur Vertei-
lung gemacht, die auf die unterschiedlichen Tendenzen aufmerksam machen sollen.
Die Befunde haben sich freilich in einem zweiten Durchgang der Befragung, durch
den die ursprüngliche Anzahl ausgefüllter Fragebögen fast verdoppelt werden konn-
te, weitgehend erhärtet, denn gravierende Unterschiede zur ersten Runde traten in
den Ergebnissen nicht auf.
Zunächst sollten die befragten Personen Angaben zum Alter, zum Wohnort, zur
Schul- und Berufsbildung, zum Arbeitsort sowie zum aktuellen Beschäftigungsver-
hältnis machen. Das Durchschnittsalter der Befragten beträgt 39 Jahre, wobei die
Jahrgänge 1954 bis 1960 am stärksten vertreten sind. Die Mehrheit der Befragten
stimmte der Veröffentlichung ihrer Namen zwar zu, aus Gründen des Persönlich-
keitsschutzes wurden sie dennoch alle anonymisiert.
Im ersten Frageblock zum Sprachverhalten wurde nach der Sprachenwahl in der Fa-
milie, am Wohnort, am Arbeitsplatz und beim grenzüberschreitenden Einkauf ge-
10 Wiederholt vorgebrachte Bedenken gegen diese Methode wie die mangelnde Rückkopp-
lung an die befragten Personen und die unumgängliche Standardisierung der Fragen wur-
den bei der vorsichtigen Bewertung der Ergebnissse berücksichtigt. Als Hintergrundwissen
haben auch zahlreiche Gespräche und langjährige Erfahrungen des Autors in Saar-Lor-Lux
in die Bewertung der Fragebogenaktion Eingang gefunden.
186
fragt. Bewußt wurde ohne konkrete Vorgaben nur allgemein nach Sprachen und Dia-
lekten gefragt, um die Eigenbezeichnung der Sprach- und Dialektgruppen zu erfah-
ren. Falls in einer dieser Sprachdomänen mehrere Sprachen angegeben wurden, soll-
te die Häufigkeit der Verwendung präzisiert werden.
Die germanophonen lothringischen Grenzgänger bezeichneten ihre Sprache als
Deutsch, Platt, Lothringer Platt, Dialekt oder im Norden als Luxemburgisch, nie als
Francique oder Fränkisch. Die von Regionalisten eingefiihrte und mittlerweile auch
bei Politikern gängige Bezeichnung ist jedenfalls noch nicht volkstümlich gewor-
den.11 Die Eigenbezeichnung der Familiensprache im moselfränkischen Teil, der an
Luxemburg grenzt und nach dem Hauptort Thionville/Diedenhofen als Diedenhofe-
ner Land bezeichnet wird, scheint weniger von einem Sprachbewußtsein als von kon-
kreten sprachlichen Erfahrungen geprägt zu sein. Bei Grenzgängern ist das der Ar-
beitsplatz und der Einkaufsort. Demzufolge benennen lothringische Grenzgänger aus
dem Diedenhofener Land mit Arbeitsplatz im Großherzogtum ihre Muttersprache als
Luxemburgisch und diejenigen, die im Saarland arbeiten, eher als Deutsch oder Platt.
Letztere gaben sogar in einigen Fällen an, kein Luxemburgisch zu verstehen. Die zu
beobachtende Bezeichnungsvielfalt für die germanophonen Dialekte in Lothringen
ist charakteristisch für staatlich wenig abgesicherte Sprachvarietäten, denen es dazu
an einer Standardisierung mangelt.11 12
Hinsichtlich des familiären Sprachgebrauchs wurde zuerst allgemein nach der Fami-
liensprache gefragt, dann nach der Sprache, die man mit den Kindern benutzt, und
zuletzt nach der Sprache, die man mit den Eltern spricht. Die Hälfte der Dialektspre-
cher aus Lothringen redet danach mit ihren Kindern nur französisch, auch wenn sie
sich sprachpolitisch für die Erhaltung der Dialekte ausspricht. Nur zwei Befragte ga-
ben Deutsch als Erstsprache an, sieben weitere sprechen Französisch und Deutsch
mit ihren Kindern. Mit den Eltern spricht über die Hälfte vorwiegend Dialekt, und
das in einer Generation, die in der eigenen Kindheit sowohl in der Schule wie in der
Familie überwiegend in Französisch sozialisiert wurde. In den frankophonen Regio-
nen Belgisch-Luxemburgs und Lothringens sowie in Luxemburg, im Saarland und in
Rheinland-Pfalz wird in der Familie durchweg die Landessprache beziehungsweise
deren dialektale Variante gesprochen. Saarländische Wohnpendler in Lothringen,
eine im Vergleich zu den Arbeitspendlern junge Erscheinung, integrieren teilweise
schon das Französische in die Familienunterhaltung, zumindest wenn die Kinder
französische Vorschulen und Schulen besuchen und somit die französische Sprache
nach Hause mitbringen. In Luxemburg sowie in den deutschen Grenzregionen wird
in wenigen Fällen Französisch als Zweitsprache in der Familie gepflegt.
Was den Sprachgebrauch im Wohnort betrifft, wurde nach dem Sprachverhalten in
der Metzgerei, im Supermarkt, im Gasthaus und im Rathaus gefragt. Der öffentliche
11 Anders Bufe (wie Anm. 9) S. 101, Anm. 15. Auch Stroh (wie Anm. 7) S. 103-105 notiert
mehrere Bezeichnungen für die germanophonen Dialekte im lothringischen Kohlebecken,
vor allem Deutsch und nur einmal Francique.
12 Vgl. die Bezeichnungsvielfalt für das Hunsrückische in Südbrasilien nach Ciro Damke,
Sprachgebrauch und Sprachkontakt in der deutschen Sprachinsel in Südbrasilien (Europäi-
sche Hochschulschriften: Reihe 21, Linguistik Bd. 190), Frankfurt am Main und andere
1997, S. 47.
187
Sprachgebrauch stimmt meistens mit der Nationalsprache überein. Nur eine Minder-
heit der befragten germanophonen Lothringer verwendet noch Dialekt in der Öffent-
lichkeit, etwa ein Drittel in der Metzgerei und im Gasthaus, weniger als ein Viertel im
Supermarkt und im Rathaus.
Was den Einkauf im Nachbarland betrifft, wurde ebenfalls nach dem Sprachverhal-
ten in der Metzgerei, im Supermarkt und im Gasthaus gefragt. Die befragten Grenz-
gänger passen sich ganz überwiegend der jeweils geltenden Nationalsprache an. Sel-
ten wird explizit der Dialekt genannt. Eine Ausnahme bilden die Lothringer, die trotz
vorhandener Sprachkenntnissse beim Einkauf in Luxemburg fast ausschließlich
französisch sprechen. Gerade wegen der starken Präsenz von frankophonen Grenz-
gängern aus Frankreich und Belgien im Personal des luxemburgischen Einzelhandels
sprechen auch die Grenzgänger aus Deutschland beim Einkauf in Luxemburg oft
französisch, sofern die Sprachkenntnisse dies zulassen.
Am Arbeitsplatz gelten ganz unterschiedliche Sprachregelungen, je nachdem, ob
man sich mit dem Chef, mit Kollegen, mit Untergebenen oder mit Kunden unterhält.
Eindeutig sind die Sprachregelungen mit dem Chef, nämlich meistens die National-
sprache. Für Luxemburg wurde überdies mehrmals Englisch angegeben. Nur in we-
nigen Fällen - und zwar in Luxemburg, im Saarland und in der Westpfalz - war der
Dialekt das Verständigungsmittel mit dem Chef. In der Unterhaltung mit Untergebe-
nen wird ebenfalls die Nationalsprache bevorzugt, mit der Ausnahme Luxemburg,
wo in der Triglossie-Situation oft das Französische als ‘Respektsprache’ benutzt
wird. Im Gespräch mit Kollegen werden mehrere Sprachen angewandt, wobei der
Dialekt und Luxemburgisch von rund einem Dritteln der Befragten ausdrücklich ge-
nannt wurden. Noch differenzierter ist das Bild beim Kundengespräch. Etwa ein
Viertel der Befragten, die im Kontakt mit Kundschaft stehen, gaben sogar drei und
mehr Sprachen an, womit man in Luxemburg mit Abstand das größte Sprachenange-
bot für die Kundschaft bereithält. Im Saarland werden von etwa zwei Dritteln der Be-
fragten nur die Landessprache Deutsch beziehungsweise deren Dialekte mit Kunden
verwendet. Auffälligerweise konnten gerade hier einige der besser Qualifizierten
ihre Französischkenntnisse im Kundenkontakt gar nicht anwenden - wohl wegen
mangelnder Nachfrage.
Vergleicht man diese Angaben zu den Sprachdomänen mit Fragen zur Einschätzung
der eigenen Sprachkompetenz, zur Haltung gegenüber sprachprognostischen Aussa-
gen und sprachpolitischen Forderungen und schließlich zu den von den Befragten
frei formulierten Erfahrungen und Wünschen, so lassen sich mehrere Typen von
Spracheinstellungen herausarbeiten. Die so gewonnenen Typisierungen will ich ei-
ner Detailanalyse voranstellen.
1. Die nationalsprachlich Orientierten.
Selbst wenn die Mitglieder dieser Gruppe in der Familie zweisprachig sind, so
verwenden sie in der Öffentlichkeit eines jeden Landes doch nur die jeweils offizi-
elle Sprache. Die National spräche und das nationale Territorium scheinen für sie
unteilbar zu sein. Sie wenden sich häufig gegen sprachpolitische Forderungen im
Sinne einer offiziell zweisprachigen Saar-Lor-Lux-Region und sehen die Funkti-
on und die Zukunft der Dialekte negativ. In diese Gruppe gehören überwiegend
Einsprachige mit eher passiven Fremdsprachenkenntnissen, vor allem sind es
188
Frankophone, aber auch Deutschsprachige. Sie bilden eine Minderheit von etwa
einem Siebtel der Befragten.
2. Die Pragmatiker der Zweisprachigkeit.
Sie stellen mit mehr als der Hälfte der Befragten die größte Gruppe dar. Vorwie-
gend zweisprachig sozialisierte Lothringer, die Zweisprachigkeit in der Familie
und in der Öffentlichkeit praktizieren, gehören dazu. Ein Teil hat ein sehr differen-
ziertes Sprachwahlverhalten, andere halten sich in der Öffentlichkeit dem oben
genannten Muster folgend an die Nationalsprachen. Die Rolle der Dialekte wird
optimistisch gesehen und die Zustimmungsrate zu den sprachpolitischen Forde-
rungen ist sehr hoch. Der Blick richtet sich auf das Französische und das Deut-
sche, während eine wichtige Rolle für das Englische von einigen abgelehnt wird.
3. Die Dialektbewußten.
Diese Untergruppe der Bilingualen teilt deren Auffassungen zu den sprachpoliti-
schen Forderungen. Kennzeichnend ist, daß sich ihre Mitglieder positiv zu den
Dialekten äußern, die Zukunft der Dialekte jedoch stark gefährdet sehen. Die Ori-
entierung ist kleinräumiger als bei den Bilingualen, was sich auch daran ablesen
läßt, daß sie weniger andere Dialekte im Saar-Lor-Lux-Raum kennen als diese.
Der englischen Sprache wird überdies eine untergeordnete Rolle für die Zukunft
in der Großregion zugesprochen. Die Mehrzahl hat ein niedriges Ausbildungsni-
veau, es befinden sich sich aber auch Grenzgänger mit gehobener Ausbildung dar-
unter. Ihr ist etwa ein Fünftel der Befragten zuzurechnen.
4. Die Multilingualen.
Diese Gruppe, etwa ein Siebtel der Befragten, wird in der Hauptsache von gut aus-
gebildeten Grenzgängern mit Arbeitsplatz in Luxemburg-Stadt oder Saarbrücken
gebildet. Sie beherrschen neben Französisch, Deutsch und Luxemburgisch auch
Englisch, zuweilen Wallonisch und Italienisch, und sie wenden diese Sprachen im
Beruf und im Privatleben an. Die Einschätzung hinsichtlich der eigenen Kompe-
tenz in den Sprachen ist sehr hoch. Ebenso ist die Zustimmungsrate zu den sprach-
politischen Fordemngen hoch, insgesamt jedoch etwas niedriger als bei den Prag-
matikern der Zweisprachigkeit. Die Übertragung des Modells Luxemburg mit sei-
ner staatlich garantierten und in der Praxis gelebten Triglossie auf die gesamte
Saar-Lor-Lux-Region erscheint nicht allen in dieser Gruppe ohne weiteres mög-
lich oder wünschenswert zu sein. Die Mehrsprachigkeit gehört für sie zur indivi-
duellen, indes nicht unbedingt zur kollektiven Identität.
Die Einteilung der Spracheinstellungen in verschiedene Kategorien wurde aus Ant-
worten zu standardisierten Fragen ermittelt. Zuerst wurde die Einschätzung der eige-
nen sprachlichen Kompetenz in verschiedenen Dialekten und Sprachen erfragt. Es
sollte der Grad der Sprachbeherrrschung in Hochdeutsch, Französisch, Luxembur-
gisch, deutschem Dialekt, Wallonisch und Englisch auf einer fünfstufigen Skala von
‘sehr guf bis ‘überhaupt nicht’ eingeordnet werden. Alle Befragten gaben Kenntnis-
se in mehreren Sprachen und Dialekten an. Überraschend oft sahen sie ihre eigene
Kompetenz als ‘sehr guf an, und das meist für mehrere Sprachen. Einige stuften ihre
Kompetenz in keiner Sprache als ‘sehr guf ein. Wer sich höchstens die Note ‘gut’
vergab, zeigte damit ein problematisierendes Sprachbewußtsein, denn wer mehrere
Sprachen spricht, kann - linguistisch wertneutral gesehen - in jeder Sprache Interfe-
renzen verursachen. Das sprachliche Umfeld sanktioniert diese als Fehler. Die Lu-
189
xemburger und die Grenzgänger nach Luxemburg bewerteten ihre Sprachfertigkei-
ten alles in allem am positivsten.
Anschließend wurde gefragt, welche der genannten Sprachen und Dialekte die be-
fragte Person gern besser beherrschen würden. Es überrascht nicht, daß in der unter-
suchten Gruppe, in der Englischkenntnisse insgesamt spärlich verbreitet sind, die
meisten sich bessere Kenntnisse in dieser Sprache wünschten. Einige der befragten
Deutschen würden gern besser Französisch sprechen und die Lothringer besser
Deutsch oder besser Luxemburgisch, je nach Arbeitsplatz. Manche Befragte mit ei-
nem niedrigen Ausbildungsniveau äußerten sich zu dieser Frage nicht, was als
Selbstgenügsamkeit in bezug auf die sprachlichen Alltagsherausforderungen bewer-
tet werden kann.
Eine weitere Frage sollte den Verstehensgrad der Dialekte verschiedener Städte in
der Saar-Lor-Lux-Region ermitteln. Wenn bestimmte Stadtdialekte als unbekannt
eingestuft werden, läßt das nicht nur Rückschlüsse auf die überdialektale Verstellbar-
keit, sondern auch auf den Bewegungsradius der befragten Personen zu. Es wurde
nach den Stadtdialekten von Luxemburg-Stadt (L), Trier (D), Arlon/Arel (B), Thion-
ville/Diedenhofen (F), Saarlouis (D), Saarbrücken (D) und Sarreguemines/Saarge-
münd (F) gefragt. Bei der Bewertung der Ergebnisse war auffällig, daß die Mosel-
franken auch die Dialekte der rheinfränkischen Städte Saarbrücken und Saargemünd
gut verstehen, während die Rheinfranken beim Verständnis der moselfränkischen
Dialekte doch größere Schwierigkeiten haben. Luxemburgisch war bei den Rhein-
franken meist bekannt, wurde aber oftmals nur schwer oder gar nicht verstanden. Am
bekanntesten war der Saarbrücker Dialekt, der durchweg sehr gut verstanden wurde.
Anschließend wurden zehn sprachprognostische und sprachpolitische Aussagen auf-
gestellt, zu denen die Befragten sich positiv, negativ oder unentschieden äußern
konnten. Insgesamt stand man den sprachprognostischen Aussagen oft unentschlos-
sen gegenüber, während die Befragten sich zu den sprachpolitischen Aussagen fast
alle klar äußerten.
Die ersten Aussagen beziehen sich auf die Stellung und die Zukunft der Dialekte in
Saar-Lor-Lux. Fast alle Befragten befürworteten folgenden Satz: Die Dialekte funk-
tionieren über die Grenzen hinweg als Verständigungsmittel. Unentschlossene ka-
men hauptsächlich aus dem nordlothringisch-luxemburgisch-belgischen Raum,
wohl weil dort die luxemburgische Koiné, die Ausgleichsform der luxemburgischen
Dialekte, als Sprechsprache nicht unter die Kategorie Dialekt fällt. Die wenigen
Neinstimmen kamen von Frankophonen aus Belgien und Lothringen, auch ein ger-
manophoner Lothringer, der ins Saarland pendelt, war darunter.
Das Ergebnis steht im offenen Widerspruch zu den Angaben zur Sprachdomänenver-
teilung, wo für Deutschland und Frankreich in der Öffentlichkeit und in der Hierar-
chie am Arbeitsplatz meist das Modell ‘ein Land - eine Sprache’ galt und der Dialekt
nur selten genannt wurde. Dieser Widerspruch erklärt sich dadurch, daß die Differen-
zierung zwischen Dialekt und Hochsprache von vielen Befragten nicht gemacht wur-
de. Wenn im ersten Teil Deutsch genannt wurde, können sowohl die Hochsprache als
auch Dialekte gemeint sein. Das Luxemburgische wurde von lothringischen Grenz-
gängern meistens so benannt, während deutsche Grenzgänger es mehrmals als Platt
oder Dialekt bezeichneten. Luxemburger werden das nicht geme hören.
190
Daß die Dialekte sich behaupten werden, war für die Hälfte der Gruppe fraglich, für
die Jüngeren mehr als für die Älteren. Etwa je ein Viertel antwortete mit Ja oder Nein.
Die negativen Einschätzungen kamen vor allem von Grenzgängern, die nach Luxem-
burg empendeln, was auf die schwächere Stellung der Dialekte im Diedenhofener
Land und im Arelerland hinweist. Von den Frauen kamen keine Neinstimmen. Die
Aussage hingegen, daß die Dialekte nur noch von Alten gesprochen würden, wurde
sehr unterschiedlich bewertet. Knapp mehr als die Hälfte stimmte ihr zu, die bewuß-
ten Dialektsprecher verneinten sie und nur ein Befragter zeigte sich unentschieden.
Die Neinstimmen kamen vor allem von germanophonen Grenzgängern aus Lothrin-
gen und aus Rheinland-Pfalz. Fast alle Befragten waren der Ansicht, daß Deutsch
und Französisch auch in Zukunft die Verkehrssprachen in der Saar-Lor-Lux-Region
seien.
Im Anschluß sollten sich die befragten Grenzgänger zu den zuerst von André Weck-
mann aufgestellten Forderungen für eine deutsch-französische Bilingua-Zone äu-
ßern. Der Elsässer Schriftsteller hatte sie 1991 für das Saarland, Rheinland-Pfalz, Ba-
den, das Elsaß und das Moseldepartement in Lothringen erhoben.13 Mittlerweile
wurden diese Forderungen von einem europäischen Jugendverband, dem Landesver-
band Saar der Jungen Europäischen Föderalisten, auf die Saar-Lor-Lux-Region aus-
geweitet.14 In diesem Sinne wurden die Fragen formuliert.
Die Fordemng nach einer durchgängig zweisprachigen Beschilderung in Saar-Lor-
Lux wurde von einer Zweidrittelmehrheit der befragten Grenzgänger befürwortet.
Die Gegenstimmen kamen von den nationalsprachlich Orientierten und in größerer
Zahl von den bewußten Zwei- und Mehrsprachigen, die eine solche Beschilderung
wegen ihrer eigenen Kenntnisse wohl nicht für notwendig hielten. Eine zweisprachi-
ge Beschriftung von Hinweisschildern richtet sich tendenziell an die Einsprachigen
und verletzt zudem bislang strikt abgegrenzte Sprachterritorien, indem sie ihre schon
vielfach praktizierte Überwindung oder Unterwanderung, je nach Einstellung, sym-
bolisch aufhebt. Auch dies mag Widerstand provozieren.
Daß alle Schüler in Saar-Lor-Lux Deutsch und Französisch lernen sollten, wurde fast
ohne Ausnahme befürwortet. Nur drei Männer sprachen sich dagegen aus, zwei fran-
kophone Lothringer sowie ein germanophoner Lothringer aus der Gruppe der natio-
nalsprachlich Orientierten. Die weitergehende Fordemng, daß Deutsch und Franzö-
sisch in allen Teilen von Saar-Lor-Lux Amtssprachen werden sollten, erhielt einen
etwas geringeren Zuspruchswert, doch bekam sie eine überraschende Zweidrittel-
mehrheit. Fast alle befragten Frauen stimmten der Fordemng zu, während von den
befragten Männern nur eine knappe Mehrheit damit einverstanden war. Die Nein-
stimmen kamen in erster Linie von Frankophonen und von Rheinland-Pfälzem.
Schließlich sollten sich die Grenzgänger noch zur Rolle des Englischen, das als die
wichtigste internationale Verkehrssprache bei sprachenpolitischen Fragestellungen
ja nicht ausgeklammert werden kann, äußern. Die Aussage, daß auch Englisch eine
13 André Weckmann, Plädoyer für eine deutsch-französische Bilingua-Zone. Plaidoyer pour
une zone bilingue franco-allemande, Strasbourg 1991. Abdruck der deutschen Version in:
LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 83 (1991) S. 108-116.
14 Saar-Lor-Lux. Eine Region in Europa. Une région européenne. Grundsatzprogramm der
Jungen Europäischen Föderalisten Landesverband Saar, Saarbrücken 1995, S. 10.
191
wichtige Verkehrssprache in Saar-Lor-Lux sein wird, wurde von einer großen Mehr-
heit mit Ja beantwortet, es gab aber auch einige ablehnende Äußemngen aus Frank-
reich und Belgien. Die nationalsprachlich Orientierten sprachen sich überraschen-
derweise am wenigsten gegen das Englische aus. Es hat den Anschein, daß Englisch
mittlerweile dem Gerangel der Nationalsprachen um regionale Einflußgebiete entwi-
chen und in die alte Rolle des Latein geschlüpft ist.
Daß es wichtiger sei, Englisch zu lernen als die Sprache des Nachbarn, wurde von ei-
ner großen Mehrheit der befragten Grenzgänger verneint. Ein auffälliger Unterschied
bestand bei den Einstellungen zu dieser Aussage zwischen den Geschlechtern: Nur
eine Frau, aber etwa ein Viertel der Männer postulierten einen Vorrang für das Engli-
sche beim Sprachenangebot.
Die verschiedenen Altersgruppen zeigten keine auffälligen Unterschiede bei der
Sprachenwahl und den Spracheinstellungen. Da alle befragten Grenzgänger der
Nachkriegsgeneration angehören, ist eher mit einem langsamen Wandel als mit auf-
fälligen Brüchen zu rechnen. Interessante Unterschiede ergaben sich jedoch bei einer
Unterteilung der Gruppe nach der beruflichen Qualifikation.15 Die schlechter Ausge-
bildeten stimmten den sprachpolitischen Forderungen eher zu als die besser Ausge-
bildeten und waren auch dem Englischen gegenüber aufgeschlossener. Dies mag auf
den ersten Blick überraschen, doch da Bildungs- und Berufsabschlüsse immer noch
in nationalen Systemen erworben werden, übernehmen die Erfolgreichen wohl auch
national geprägte Einstellungsmuster während ihrer Ausbildung. Sie haben infolge
einer stärkeren Ideologisierung oder Politisierung größere Probleme, gedanklich den
sprachenpolitschen Status quo an die sprachlichen Realitäten, das heißt den mehr-
sprachigen Arbeitsmarkt in Saar-Lor-Lux, anzupassen.
Ganz deutlich unterschieden sich die Geschlechter in ihren Spracheinstellungen. Im
Gegensatz zu den Männern sahen die Frauen Dialekt nicht in erster Linie als eine von
Alten gesprochene Sprachvariante an, und sie beurteilten auch die Zukunft der Dia-
lekte optimistischer. Pessimistische oder restriktive Äußerungen kamen fast aus-
schließlich von Männern, während die befragten Frauen sich für eine Zweisprachig-
keit in allen Bereichen aussprachen. Über die Ursachen der geschlechtsspezifischen
Einstellungsmuster kann an dieser Stelle nur spekuliert werden, da sich aus den Fra-
gebögen keine weiteren Informationen ergaben: Vielleicht sehen Frauen die Spra-
15 Das Bild vom Grenzgänger als niedrig qualifiziertem ‘Aussteiger’, so noch Bufe (wie Anm.
9) S. 98, ist im Wandel. Unter den 44 Antworten kamen 5 von Grenzgängern mit hoher,
meist universitärer Ausbildung, und diese gehörten allesamt zur jüngsten Altersgruppe
(Jahrgänge 1960-1975).
192
chenfrage pragmatischer als Männer.’6
Drei Fragen nach Problemfeldem sollten offen beantwortet werden, um den befrag-
ten Grenzgängern größeren Raum für die Formulierung eigener Erfahrungen und
Wünsche zu geben. Zuerst wurde nach Negativerfahrungen im sprachlichen Kontakt
mit dem Nachbarland gefragt. Dies wurde meist verneint, mitunter sogar entschie-
den. Es gab aber auch bestätigende Antworten, die überwiegend von tendenziell ein-
sprachigen Personen mit passiven Fremdsprachenkenntnissen kamen. Im Klartext
heißt dies, daß sich Saarländer sowie frankophone Lothringer und Belgier am ehesten
über Diskriminierungen wegen ihrer Sprache beklagten.
Ein Gefühl von Diskriminierung kann aber auch aus einem vermeintlich aufgezwun-
genen Gebrauch der Nachbarsprache erwachsen. Ein frankophoner Techniker aus
Volstroff/Wolsdorf bei Diedenhofen, der in Saarlouis arbeitet, antwortete trotzig:
Nein, da ich gezwungen bin, mich immer auf deutsch auszudrücken, wird der Deut-
sche keine Anstrengung machen, um französisch zu reden! Lernt er es überhaupt?16 17
Eine allgemein pessimistische Einschätzung des sprachlichen Entgegenkommens
zeichnet ein in Luxemburg arbeitender Krankenpfleger aus dem lothringischen Het-
tange-Grande/Großhettingen:
Es genügt, daß man vorgibt, die Sprache des besuchten Landes nicht zu beherrschen,
und schon lernt man die wahre Mentalität der Einheimischen kennen, welches Land
es auch sei. Mit Sprachkenntnis dagegen verschafft man sich Respekt.18
Ein frankophoner, in Luxemburg arbeitender Ingenieur aus dem belgischen Auban-
ge/Ibingen unterstellt sogar böse Absichten beim Gebrauch der Landessprache:
Ja, die Luxemburger reden mehr und mehr luxemburgisch, damit man nicht verste-
hen kann, was sie sagen.19
Eine Büroangestellte aus Belgisch-Luxemburg, ebenfalls frankophon und mit Ar-
beitsplatz in Luxemburg-Stadt, beschwerte sich allgemein über sprachliche Anforde-
rungen bei der Arbeitssuche:
16 Zur stärkeren sprachlichen Anpassung von Frauen in Richtung auf das Französische in wal-
lonischen Dörfern Neubelgiens vgl. Persoons / Versele (wie Anm, 9) S. 13. Die Autoren
sind der Meinung, daß Frauen ‘empfindlicher sind für die Sprache, die mit den einfluß-
reichsten ‘Triebkräften’ der Gesellschaft assoziiert wird’. Für eine kombinierte Betrach-
tung von Geschlecht und Klasse anhand des Materials einer Kopenhagener Studie, einepo-
lyculturalperspective different from the idea of a single dimension correlating with a unidi-
mensional linguistic variable, plädiert Inge Lise Pedersen, Sociolinguistic Classification in
a Gender Perspective, in Wolfgang Viereck (Hg,), Verhandlungen des internationalen Dia-
lektologenkongresses. Bamberg, 29.7.-4.8.1990, Bd. 4 (Zeitschrift für Dialektologie und
Linguistik, Beihefte Nr. 77), Stuttgart 1995, S. 106-117. Regionale Unterschiede zwischen
flämischen und niederländischen Orten bei geschlechtsspezifischen Dialekteinstellungen
konstatiert Johan Taeldeman, Linguistic Sex Defferentiation in Flanders, in Viereck (Hg.),
wie oben, S. 411 -423.
17 Non, car obligé de m’exprimer toujours en allemand, l’allemand ne fera pas l’effort de par-
ler français! L’apprend-il?
18 II suffit de feindre d’ignorer la langue du pays visité et on apprend à connaître la vraie men-
talité des gens (indigènes) quel que soit le pays. La connaissance de la langue force le re-
spect.
19 Oui, les Luxembourgeois parlent de plus en plus luxembourgeois pour qu’on ne comprenne
pas ce qu’ils disent.
193
Die Tatsache, daß man kein Deutsch kann, ist ein Hindernis bei der Arbeitssuche im
Großherzogtum, und die Tatsache, daß man kein Niederländisch spricht, ist eins in
Belgien. Doch das Französische wird vernachlässigt,2Ü
Die Belgier äußerten sich noch am offensten über die negativen Begleiterscheinun-
gen eines mehrsprachigen Arbeitsmarktes.20 21 Angesichts des seit Jahrzehnten andau-
ernden ‘ Sprachenkampfes’ in Belgien gibt es für solche Bezeugungen sicherlich be-
reits allgemein verbreitete Muster. Die Grenzgänger aus Rheinland-Pfalz indessen,
die nach ihrer eigenen Einschätzung nicht über sehr gute Französischkenntnisse ver-
fügen, sind diesen Anforderungen in Luxemburg zwar in gleicher Weise ausgesetzt,
doch nahmen sie dazu nicht Stellung. Lediglich der Wunsch nach Verbesserung der
eigenen Sprachkompetenz wurde ausgedrückt.
Auf die Frage nach einem bezeichnenden sprachlichen Erlebnis im grenzüberschrei-
tenden Verkehr kamen nicht sehr viele Antworten. Es wurden zum Beispiel besonde-
re Übersetzungssituationen geschildert, nicht ohne Stolz auf die eigenen Fähigkeiten
zur Meisterung solcher Situationen. Auch das Aushandeln der Sprache wurde mehr-
mals genannt. Eine saarländische EDV-Sachbearbeiterin, die im grenznahen lothrin-
gischen Spicheren/Spichem wohnt, erzählte folgendes:
Als ich vor 11 Jahren die ‘Pkw'-Bäckersfrau in Französisch fragte, ob sie Deutsch
spricht, antwortete sie Non - woraufhin ich im ‘schönsten ’ Schulfranzösisch meine
Backwaren auswählte. Als ich zahlen wollte, fragte sie mich: ‘Ei, hanna ’s ned
klään
Über die Hälfte beantwortete die Frage nach eigenen Wünschen für die sprachliche
Zukunft in Saar-Lor-Lux. Eine Gruppe befürwortete nochmals die Zweisprachigkeit
beziehungsweise Dreisprachigkeit für die gesamte Region, oft unter ausdrücklicher
Einbeziehung der Dialekte. So wünschte sich eine im lothringischen Frauenberg
wohnende saarländische Kauffrau beide Sprachen und Dialekt für die Zukunft. Eine
Sekretärin aus dem lothringischen Waldhouse/Waldhausen, die in Homburg im Saar-
land arbeitet, nannte die Dialekte sogar an erster Stelle:
Erhaltung der Dialekte, denn sie dienen als Grundlage für die Fremdsprachen. Zwei-
sprachige Erziehung der Kinder in allen Fällen, in denen die Situation es erlaubt22
Jeder sollte die Sprache des Nachbarn lernen, meinte eine Arbeiterin aus dem loth-
ringischen Sturzelbronn/Stürzelbronn, die in Pirmasens beschäftigt ist. Mehrmals
wurde betont, daß die zweisprachige Erziehung möglichst früh beginnen sollte. So
wünschte sich eine saarländische Arzthelferin, die im lothringischen Bliesguersvil-
ler/Bliesgersweiler wohnt, daß bereits im Kindergarten deutsch [und] französisch
gesprochen werde. Ein in Luxemburg beschäftigter Elektrotechniker aus dem loth-
20 Le fait de ne pas connaître l’allemand est un obstacle pour trouver un emploi au Grand-
Duché et le fait de ne pas parler le néerlandais en est un en Belgique. Pourtant le français est
négligé.
21 Zur ökonomischen Bedeutung von Mehrsprachigkeit vergleiche Florian Coulmas, Die
Wirtschaft mit der Sprache. Eine sprachsoziologische Studie (suhrkamp taschenbuch Wis-
senschaft 977), Frankfurt am Main 1992, insbesondere S. 79-123.
22 Maintien des dialectes car ils servent de base aux langues étrangères. Education bilingue
des enfants chaque fois que la situation le permet.
194
rmgischen Waldwisse/Waldwies erhoffte sich, daß die Jungen schon vom frühesten
Alter an die Sprache des Nachbarn lernen11
Auch die Rheinland-Pfälzer, die nach Luxemburg pendeln, äußerten sich im Sinne
eines früh einsetzenden deutsch-französischen Unterrichts. In Anbetracht des wenig
verbreiteten Französischunterrichts in Rheinland-Pfalz kann hier vielleicht von einer
Vorreiterrolle der Grenzgänger gesprochen werden. Einen Ausbau des zweisprachi-
gen Unterrichts gerade vor dem Hintergmnd der zurückgehenden Dialekte befürwor-
tete ein im Saarland beschäftigter Facharbeiter aus dem lothringischen Achen:
Da die Dialekte so langsam verschwinden, wäre es wünschenswert, daß in der Saar-
Lor-Lux-Region die Sprache des Nachbarlandes ab dem frühesten Alter gelehrt
wird24
Einen ausdrücklichen Akzent auf die Großsprachen Französisch und Deutsch - viel-
leicht mit einer darin enthaltenen Abgrenzung gegen die Dialekte und das Luxembur-
gische - legt ein in Luxemburg-Stadt beschäftigter Arbeiter aus dem lothringischen
Grenzort Mondorff/Mondorf:
Ich finde, daß man in der Saar-Lor-Lux-Region beide Sprachen wissen und lernen
sollte, und die sind das Französische und das Deutsche1'
Einige befragte Franzosen drängten darauf, daß die Deutschen in Grenznähe Franzö-
sisch lernen sollten. So meinte ein in Saarbrücken beschäftigter Arbeiter aus dem
lothringischen Etting/Ettingen:
Ich wünsche mir, daß die Deutschen an der Grenze Französisch sprechen. Man muß
sich halt ein bißchen anstrengend
Etwas vorsichtiger drückte sich ein im Saarland arbeitender Ingenieur aus dem loth-
ringischen Hellimer aus:
Man findet selten einen Deutschen, der das Französische perfekt beherrscht. Das ist
schade! Die Franzosen von der Grenze haben es da leichter}1
Mit Bezug auf die saarländische Situation meint eine in Saarlouis arbeitende Sekretä-
rin aus dem lothringischen Creutzwald:
Der Dialekt und das Deutsche werden in Lothringen mehr gesprochen als [das Fran-
zösische] im Saarland, finde ich. Und mir fällt während der Arbeit auf daß das Fran-
zösische sehr wenig beherrscht wird. Es wäre gut, wenn das sich ändern würde, da-
mit die Kommunikation auf beiden Seiten unserer Grenzen besser würden
Zusammenfassend läßt sich heraussteilen, daß alle Grenzgänger passiv mehrsprachig
und fast alle aktiv zwei- oder mehrsprachig sind. Regional ist das sehr verschieden.
Im moselffänkisehen Saum um Luxemburg findet man viele Multilinguale, die somit
23 Que les jeunes apprennent dès leur plus jeune âge la langue de leurs voisins.
24 Etant donné que les dialectes tendent à disparaître, il serait souhaitable que dans la grande
région Saar-Lor-Lux soit enseignée la langue du pays voisin et ceci dès le plusjeune âge...
25 Je pense que dans la grande région Saar-Lor-Lux, il faudrait savoir et apprendre les deux
langues, qui sont le français et l’allemand.
26 Je souhaite que les allemands frontaliers parlent français, il y a un petit effort à faire.
27 II est rare de trouver un allemand maîtrisant parfaitement le français: c’est dommage! Les
français frontaliers ont plus de facilités.
28 Le dialecte et l’allemand sont en Lorraine plus parlés, je pense qu’en Sarre, et je remarque
cela au niveau du travail, le français est très peu maîtrisé. Il serait bon que cela change, pour
que la communication se fasse mieux des deux côtés de nos frontières.
195
den dreisprachigen Luxemburgern vergleichbar sind. Die gesellschaftliche Dreispra-
chigkeit in Luxemburg ermöglicht auch eine individuelle Einsprachigkeit. Viele
frankophone Grenzgänger aus Frankreich und Belgien, die nur über eine niedrige be-
rufliche Qualifikation verfügen, wählen aus dem Luxemburger Sprachenangebot
konsequent immer nur das Französische aus. Sie können damit ohne Probleme in Lu-
xemburg arbeiten und einkaufen, aber wohl kaum beruflich aufsteigen.
Die Franzosen, die in Deutschland arbeiten, sind hingegen zwingend auf deutsche
Sprachkenntnisse angewiesen. Rein frankophone Grenzgänger sind die Ausnahme,
und sie müssen sich ziemlich schnell sprachlich anpassen. Französisch kann nur von
einem Teil in Kundenbeziehungen angewandt werden. Die deutsch-französische
Sprachgrenze in Lothringen wird somit zur schwer durchlässigen Anwerbegrenze für
Grenzgänger nach Deutschland. Frankophone Lothringer erfahren so leicht eine
sprachliche Minderwertigkeit. Als Reaktion formulieren sie - wie die einsprachigen
Deutschen aus der Grenzregion - die Aufforderung: Lerne die Sprache des Nach-
barn! leichten Herzes um in: Nachbar, lerne meine Sprache] In dieser deutsch-fran-
zösischen Sprachenkonkurrenz hatte bislang das Deutsche alle ökonomischen
Trümpfe in der Hand, doch die Erfolge der Region Lothringen bei der Schaffung neu-
er Arbeitsplätze könnten für die Zukunft ausgeglichenere Verhältnisse hersteilen.
Vielleicht suchen dann auch Saarländer eine Anstellung in Lothringen, Franzö-
sischkenntnisse vorausgesetzt.
Die Zweisprachigkeit der germanophonen Lothringer ist ihr ökonomischer Vorteil.
Einige erkennen den Zusammenhang zwischen der Bewahrung der Dialekte als
Grundlage der Zweisprachigkeit und dem daraus entstehenden Vorsprung in einem
vielsprachigen europäischen Arbeitsmarkt. Auf einsprachiger Grundlage eine per-
sönliche und gesellschaftliche Zwei- oder Dreisprachigkeit wie die Luxemburger zu
erreichen, scheint für die frankophonen Lothringer hingegen in noch größerer Feme
zu liegen als für die Deutschen in den Grenzregionen.
Die meisten Grenzgänger ziehen aus ihrer persönlichen Zwei- und Mehrsprachigkeit
ein erhöhtes Selbstbewußtsein. Der Bilingualismus trägt somit auch zur
Identitätsbildung bei. Die große Zustimmung zu André Weckmanns Forderungen für
eine Bilingua-Zone kommt von Menschen, die täglich mit der Sprachenvielfalt
umgehen müssen. Das sollte die Politiker der Region ermuntern, weitere Schritte in
diese Richtung zu wagen. Die Reserviertheit der Frankophonen aus Lothringen und
Belgien sowie der Rheinland-Pfälzer aus dem Regierungsbezirk Trier, die beide
etwas abseits der deutsch-französischen Grenze leben, gegenüber den Forderungen
zeigt aber auch die Grenzen dieses Konzeptes auf. Kern einer Bilingua-Zone in
Saar-Lor-Lux können auf absehbare Zeit wohl nur das Großherzogtum Luxemburg,
das Arelerland, das germanophone Lothringen und das Saarland sein, obwohl gerade
im Saarland die prinzipielle Offenheit gegenüber dem Französischen oft von einer
sprachlichen Bequemlichkeit bei grenzüberschreitenden Kontakten konterkariert
wird.
196
Carole Schmit
30 Jahre Grenzgänger in Luxemburg (1965 -1995)
1. Einleitung
Zur Illustration des bearbeiteten Problems geben wir einige Zahlen aus Luxemburg:
Das Land hat eine Größe von 2.586 km2.
Die Gesamtbevölkemng (01/01/1997) liegt bei 418.031 Einwohnern.
Die aktive Bevölkemng macht (12/1996) 204.360 Personen aus.
Die Grenzgänger sind 61.065 (12/1996), sie machen also 29,9 % der aktiven BevöL
kerung aus!
Luxemburg hat 25 % wohnhafte Ausländer.
Kommen wir jetzt zur Definition des Grenzgängers: Es handelt sich dabei um einen
Angestellten ohne Unterschied seiner sozio-professionellen Kategorie, der im Prin-
zip jeden Tag oder mindestens einmal pro Woche in sein Wohnland zurückfährt. In
Luxemburg wird oft von Grenzpendlern gesprochen, was ihre große Mobilität unter-
streicht. Das französiche Wort ist frontalier. Die Grenzgänger in Luxemburg kom-
men aus den drei Nachbarländern von Luxemburg: Belgien, Deutschland und Frank-
reich. Zwei Drittel dieser Grenzgänger leben in einem Umkreis von 20 km von der
luxemburgischen Grenze.
Sie werden nicht mit den wohnhaften Ausländem in den Statistiken verrechnet. Seit
Anfang der achtziger Jahre haben sie ihre eigene Kartei bei den staatlichen Kranken-
kassen, Sie sind in Luxemburg versichert, fallen aber als Arbeitslose unter die Ver-
waltung ihrer Wohngegend. Sie stehen also nicht bei den luxemburgischen Arbeits-
losenzahlen.
Warum analysiere ich gerade die 30 Jahre von 1965 bis 1995 ? Diese Epoche ist sehr
interessant für die Entwicklung Luxemburgs. Denn die Erdölkrise von 1973 hat nicht
eine schwerste Wirtschaftskrise zur Folge oder gar eine Stagnation, sondern parado-
xerweise einen Aufschwung, bedingt durch eine tiefe Restrukturation. Neue Wirt-
schaftsbezirke entstehen (Dienstleistungen, Banken, Medienkonzeme). Arbeitsplät-
ze werden geschaffen, die nur mit Hilfe der Grenzgänger belegt werden können. Die
siebziger und achziger Jahre werden in Luxemburg als die goldenen bezeichnet.
Zum andern ist der Beginn dieser Arbeit durch eine Quellengrenze begründet. Es hat
sich nämlich als schwierig erwiesen, Grenzgängerzahlen vor 1961 zu bekommen. Es
gibt keine abgetrennte Kartei, nur der Wohnort ist bestimmend; die Grenzgänger
wurden noch im Ausland besteuert und waren auch dort versichert.
2. Die historische Entwicklung
Es gibt zwei Hauptphasen, in denen man den Grenzgängeraufschwung in Luxemburg
nachvollziehen kann.
197
2.1. Erste Phase: 1965-1980
Man könnte diese Phase folgendermaßen überschreiben: Öffnung des luxemburgi-
schen Arbeitsplatzes zu seinen Nachbarn und rasches Aufkommen der Grenzgän-
gerarbeit in Luxemburg.
Luxemburg hat eine lange Immigrationsgeschichte, da das Land seit Beginn der In-
dustrialisation auf ausländische Arbeitskraft angewiesen ist. Ende des 19. Jahrhun-
derts sind 60 % der Stahlarbeiter im Süden des Landes Ausländer. Mitte des 20. Jahr-
hunderts müssen dann massiv Arbeitskräfte ins Land einwandem, um Luxemburg
nach dem Krieg wieder aufzubauen. Erst mit der Erdölkrise von 1973 merkt die Re-
gierung, daß sie mit diesem Immigrationsmodell am Ende ist.
Zuviele Probleme kommen auf, wenn fast 30 % Ausländer in Luxemburg wohnhaft
sind: Wohnungsmangel und überzogene Immobilienpreise, Schulinfrastrukturpro-
bleme, Sprachprobleme, Integrationsprobleme, Rassismus u. a. In dieser engen Si-
tuation erscheinen die Grenzgänger als bewußte oder zum Teil unbewußte Lösung:
Sie benötigen keine Wohnungen, keine Schulen, sie verlangen kein politisches Mit-
spracherecht und dazu bereichern sie noch das Land mit ihrem Wissen und ihrer Ar-
beit. Wir können Anfang der siebziger Jahre das Grenzgängerphänomen als eine Art
Folge der Einwanderungen bzw. Immigration sehen.
Von 1966 an bremst die Luxemburger Regierung offiziell die Immigration. Nur Fa-
milienangehörige der Eingewanderten können noch ins Land kommen. Luxemburg
braucht jedoch importierte Arbeitskräfte, da nicht genug Menschen im Arbeitsalter
vorhanden sind: Das Land muß sich folglich seinen direkten Nachbarländern öffnen.
Bemerken wir hier, daß dieses - gewiß simplifizierte - Immigrationsschema sich an-
fangs der neunziger Jahren wiederum verändert hat. Heute kommen Einwanderer
und Grenzgänger auf einem zum Teil überlasteten Arbeitsmarkt zusammen, was
nicht zuletzt zu erheblichen Spannungen führt.
Anfang der siebziger Jahre öffnet sich Luxemburg durch offizielle Maßnahmen ge-
genüber seinen drei Nachbarländern Belgien, Frankreich und der Bundesrepublik.
- Luxemburg öffnet zuerst seine Grenzen dem belgischen Nachbarn: Schon 1921
hatten Luxemburg und Belgien eine Wirtschaftsunion unterschrieben. Deshalb ha-
ben beide Länder bis heute noch diesselbe Währung. 1944 wird die BENELUX ge-
gründet. Sie ist ein Zollabkommen, das das Alltagsleben der Grenzgänger sehr ver-
einfacht. 1970 kommt das Gesetz hinzu, daß jede Steuer an der Quelle bezahlt wer-
den muß, also in Luxemburg. Hingegen zahlt Luxemburg Belgien eine Steuerent-
schädigung.
- Es folgt die Öffnung zu Frankreich: Luxemburg und Frankreich unterschreiben
1958 Steuerabkommen, die 1970 modifiziert werden. Letzteres Abkommen, das eine
doppelte Besteuerung verhindern soll, tritt 1973 in Kraft. Der Grenzgänger wird von
jetzt an in Luxemburg besteuert, wo die Einkommenssteuer höher ist als in Frank-
reich. Dennoch werden die Grenzgänger französischer Herkunft immer zahlreicher
auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt. Heute machen sie über die Hälfte der Grenz-
gänger aus.
- Kommen wir schlußendlich zur gesetzlichen Öffnung gegenüber der Bundesrepu-
blik:
198
Die Grenzabkommen zwischen Luxemburg und Deutschland gehen auf den Zollver-
ein mit Preußen von 1842 bis 1867 zurück. Dem zufolge gibt es zwischen den beiden
Ländern keine Grenzzone. Mit Deutschland gelten diesselben Regelungen wie mit
den anderen Nachbarländern: Die Abkommen von 1958 werden auch 1970 so geän-
dert, daß der Grenzgänger seine Einkommenssteuer ausschließlich in Luxemburg be-
zahlt.
Schlußfolgernd kann man also bemerken, daß von 1973 (Ratifizierung der Verträge
von 1970) an alle Grenzgänger, unabhängig von ihrer Nationalität, in Luxemburg auf
ihr Einkommen besteuert werden. Dies bedeutet für den Luxemburger Staat massive
Einkommen und erklärt die weitgehende Öffnung des Landes für die arbeitenden
Grenzgänger anfangs der siebziger Jahre.
Im Zeitabstand von 1974-1979 kommt es zu einer Art Stagnation des Grenzgänger-
phänomens in Richtung Luxemburg; also einer Verlangsamung des Aufschwungs
der Grenzgängerzahlen auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt. Die traditionelle Indu-
strie der Großregion, die Stahlindustrie, ist durch die internationale Erdölkrise von
1973 in ihrem Kern getroffen. Nach und nach tritt eine wirtschaftliche Gleichge-
wichtsstörung in der Region Saar-Lor-Lux-Rheinland/Pfalz-Luxembourg beige ein.
Dieses Ungleichgewicht wird den Grenzpendlerstrom in Richtung Luxemburg in di-
rekter Weise beeinflussen. Ohne den wirtschaflichen Rückgang mit Abschaffung
von Arbeitsplätzen in den Grenzregionen hätte es nie einen Aufschwung der Grenz-
pendler auf dem luxemburgischen Arbeitsmarkt gegeben.
Es ist der Anfang der Entwicklung Luxemburgs zu einem Land, wo proportional im
Vergleich zu dem gesamten europäischen Binnenmarkt die meisten Grenzgänger ar-
beiten. Diese Entwicklung wurde bewußt eingeschlagen.
Graphik 1: Grenzgänger in Luxemburg 1961-1980, Quelle: STATEC, aufgerundete Zahlen.
199
Kommentieren wir kurz: Wir bemerken einen leichten Aufschwung der Grenzgän-
gerzahlen zwischen 1961 und 1975. Die sichtbare Unterbrechung von 1966 kommt
von einer rückläufigen nationalen Konjunktur im Jahre 1966. Ab 1975 sehen wir die
Verlangsamung, man kann sogar von Stagnation sprechen, in der Kurve der Grenz-
gänger. 1974 ist in der Tat ein Trennstrich auf verschiedenen Ebenen:
- Im Oktober 1973 bricht weltweit die Erdölkrise aus, deren politische, soziale und
wirtschaftliche Folgen weit über 1974 hinaus spürbar sein werden.
- Europa erweitert sich: seit Januar 1973 sind Dänemark, Irland und Großbritannien
der Europäischen Union beigetreten. Die neun europäischen Länder wollen voraus-
sichtlich keine neuen Immigranten (von außerhalb der EU) mehr hereinnehmen. Mit
diesen Bestimmungen fördern die europäischen Politiker die Arbeitsmobilität inner-
halb der EU und geben den binneneuropäischen Grenzgängern eine neue Legitimität.
- Durch die Erdölkrise ist die gesamte traditionelle Industrie (Textil, Kohle, Stahl...)
in ihrem Kern getroffen. Das wirtschaftliche Gleichgewicht in der Großregion um
Luxemburg ist total zerstört. Verschiedene nationale Politiken bringen unterschiedli-
che Resultate auf regionaler Ebene. Einige Grenzregionen entwickeln sich zu wirt-
schaftlich starken Polen, andere werden schwächer.
Diese wirtschaftliche Gleichgewichtsstörung beeinflußt den Grenzpendlerstrom in
direkter Weise: Luxemburg erscheint vielen als idealer Arbeitsort, da hier nicht nur
genügend Arbeitsplätze vorhanden sind, sondern auch bessere Löhne ausbezahlt
werden.
Die nationale Wirtschaftspolitik hat Erfolg, in Luxemburg ist das gesamte Arbeits-
stellenvolumen seit 1975 in konstantem Aufschwung. Bei den Grenzgängern stabili-
siert sich die Zahl der Neuschaffungen jedoch bis 1979 bei 11.500, danach aber
kommt es zum Aufschwung. 1975 stellen die Grenzgänger 10 % der aktiven Bevöl-
kerung dar. Sie werden in der Presse als starke Minorität bezeichnet.
Die luxemburgische Regierung schlägt 1975 eine sehr energische Antikrisenpolitik
ein. Es handelt sich um eine Zweifrontenpolitik: einerseits das öffentliche Investieren
(mit Steuergeldem) und die Modernisierung der traditionellen Stahlindustrie und an-
dererseits der gleichzeitige Aufbau des Dienstleistungsbereiches (secteur tertiaire),
insbesondere des Bankenwesens. So gerät Luxemburg nach und nach in Abhängig-
keit des ausländischen know-how, das dem Lande unter anderem von den Grenzgän-
gern vermittelt wird.
Die Öffnung des Landes für die Grenzgänger Anfang der siebziger Jahre ist für mich
ein bewußter Schritt, der nicht zuletzt in der demographischen Lage des Landes eine
Erklärung findet: wenig junge Erwerbskandidaten und Qualifizierte, immer mehr
Pensionierte und zuviele Arbeitsschaffungen in neuen Wirtschaftssektoren im Ver-
gleich zur aktiven Bevölkerung. Das Stellenangebot in Luxemburg ist also anfangs
der siebziger Jahre stärker als die Nachfrage. Deshalb braucht Luxemburg immer
mehr Grenzgänger.
Dazu kommt, daß die nahen Grenzgebiete der drei Nachbarländer ein unerschöpfli-
ches und verfügbares Arbeitsreservoir darstellen: Die Erdölkrise von 1973 und die
darauffolgende Stahlkrise haben in Frankreich und in Belgien zu massiven Arbeits-
abschaffungen geführt. Beide Länder liefern die meisten Grenzgänger nach Luxem-
burg. Da die Krise im Saarland etwas später emtrifft als in Belgien und Frankreich,
200
Total -------Belgien
Frankreich ------------ Deutschland
Graphik 2: Entwicklung der Grenzgänger in Luxemburg nach Herkunft: 1965-1980, Quelle:
STATEC, Cahiers Economiques
nimmt die Zahl der Grenzgänger aus Deutschland zwischen 1965-1974 sogar leicht
ab.
Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung der Grenzgebiete fördert den
Grenzgängerstrom nach Luxemburg: ohne einen wirtschaftlichen Rückgang mit Ab-
schaffung von Arbeitsplätzen in den Grenzregionen hätte Luxemburg nie einen Auf-
schwung seiner Grenzpendler gekannt. Der Grenzgängerstrom nach Luxemburg
hängt in dieser ersten Phase also hauptsächlich von der konjunkturellen Lage der
Grenzregionen ab. Die Grenzregionen ihrerseits sehen diesen Grenzgängerstrom
nach Luxemburg des öfteren als einen Verlust geschulter Arbeitskräfte.
Schon in dieser ersten Phase ändern sich die Proportionen der drei Herkunftsländer
der Grenzgänger auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt. Wir können einen leichten
Rückgang der Grenzgänger aus Deutschland feststellen. Zudem beobachten wir ei-
nen Aufschwung der belgischen Grenzgänger. Dazu kommt ein starken Aufschwung
der Grenzgänger aus Frankreich.
-Wir stellen fest, daß Belgien in der Periode 1965-1980 die Hälfte der Grenzgänger
auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt liefen. Dies beruht zum einen auf traditionellen
Wirtschaftskontakten (Benelux) zwischen Luxemburg und Belgien und zum anderen
auf der frühen Wirtschaftskrise in den belgischen Grenzregionen.
- Die Grenzgänger aus Lothringen arbeiten in den siebziger Jahren an erster Stelle
im Saarland, Luxemburg kommt erst an zweiter Stelle. Diese Entwicklung beruht auf
der gemeinsamen Geschichte Lothringens und des Saariandes, als die Lorraine ein
Reichsland zwischen 1871 und 1918 war. Das Straßennetz Saar-Lothringen ist dem-
201
entsprechend gut entwickelt und fördert den Grenzgängerstrom in Richtung Saar-
land. Von 17 000 lothringischen Grenzgängern (Oktober 1973) gehen 71 % ins Saar-
land und nur 17 % nach Luxemburg arbeiten. Diese Proportionen ändern sich nach
und nach. Man sieht, daß die Zahl der Grenzgänger aus Lothringen sich zwischen den
Jahren 1965 und 1974 mehr als verdreifacht. Lothringens Wirtschaftsklima ver-
schlechtert sich zusehends, das bestätigt dieser massive Aufschwung der Grenzgän-
gerzahlen in Luxemburg.
- Die Zahl der Grenzgänger aus der Bundesrepublik bleibt in dieser Zeitspanne
(1965-1980) stabil; sie nimmt zwischen 1969 und 1979 sogar ab. 1965 machen die
deutschen 1 Grenzgänger noch 26 % der Grenzgänger in Luxemburg aus, 1974 sind
es nur noch 12 %. Diese Entwicklung erklärt sich dadurch, daß die Konjunktur in
den deutschen Grenzgebieten Anfang der siebziger Jahren noch relativ gut ist. Die-
se Gebiete stürzen erst nach Belgien und Frankreich in eine Krise mit Arbeitsab-
schaffungen, die zu einem Zuwachs der Grenzgänger in Richtung Luxemburg fuh-
ren.
Sehen wir jetzt den starken Aufschwung, man kann sogar von einer tatsächlichen Ex-
plosion des Grenzgängerphänomens in Luxemburg sprechen in einer zweiten chro-
nologischen Phase;
Graphik 3: Grenzgänger in Luxemburg: 1981-1996, Quelle: IGSS; STA TECfür 1996 (Dezem-
ber)
1 In Wirklichkeit handelt es sich um einen Grenzgänger, der in Deutschland seinen Wohnsitz
hat; ganz abgesehen von seiner Nationalität.
202
2.2 Zweite Phase: 1981-1995: Massiver Aufschwung und Explosion der Zahlen der
Grenzgängerarbeit in Luxemburg
Das Jahr 1981 ist der wirkliche Anfang dessen, was heute als ein regelrechtes Phäno-
men betrachtet wird. Die Grenzgänger in Luxemburg steigen von nun an explosions-
artig: 1987 sind es über 20,000 Grenzgänger, 1992 über 40.000, 1995 wird die
Schwelle der 50.000 überschritten, und seit Ende 1996 zählen die offiziellen Statisti-
ken über 60.000 Grenzgänger auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt.
Betrachten wir diese Zahlen etwas genauer:
Wir stellen einen steilen Aufstieg der Kurve ab 1985 fest. Zwischen 1985 und 1995
hat die Grenzgängerzahl sich mehr als verdreifacht. Dieser Aufstiegskurs scheint
sich in nächster Zukunft nicht zu verlangsamen, da viele Betriebe noch immer mit ei-
nem Mangel an qualifiziertem Personal in Luxemburg rechnen müssen. Ende 1996
machen die Grenzgänger 29,9 % der aktiven Bevölkerung Luxemburgs aus! Bei die-
sen Proportionen auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt müssen die Grenzgänger mit
Alltagsproblemen rechnen:
Über 90 % der Grenzgänger kommen mit ihrem PKW zu ihrem Arbeitsplatz, was in
einem kleinen Land wie Luxemburg zu erheblichen Verkehrsproblemen führt. Dies
fuhrt nicht nur zu gewaltigen Staus während den Spitzenstunden, sondern auch zu
enormen Parking-Problemen: Mit nur 2 % des Landesgebietes muß die Stadt Luxem-
burg 38 % der Arbeitnehmer unterbringen. Es gibt aber nur 15.500 Parkplätze für
45.000 Berufstätige.
Die Behörden bemühen sich, Lösungsvorschläge zu suchen. Des öfteren stoßen diese
auf Widerstand bei der Bevölkerung: So bemüht man sich, die Dauerparker durch
sehr hohe Geldstrafen aus dem Stadtkern zu entfernen. Nur, das einzige Problem ist,
daß man auf diese Weise auch die Kurzparker bestraft... Seit Anfang der 80er Jahren
baut man nach Vorbild des Auslandes P&Ride Parkings rund um die Stadt. Mehr als
17.000 Parkplätze stehen heute durch diese Alternative zur Verfügung. Mit
Verkehrsstockungen müssen die Grenzpendler jedoch weiterhin rechnen. Das lu-
xemburgische Straßennetz kann keinen Bemfsverkehr von über 200.000 Menschen
problemlos täglich befördern.
Kommen wir jetzt zur Analyse der Herkunft der Grenzgänger zwischen 1981 und
1995:
Wir stellen fest, daß Frankreich und Belgien anfangs der achtziger Jahre fast die glei-
che Zahl an Grenzgängern stellen. Ab 1985 nehmen die Lothringer die Spitze hin-
sichtlich des Herkunftslandes der in Luxemburg arbeitenden Grenzgänger. In der
Zeit zwischen 1981 und 1995 hat sich die Zahl der französischen Grenzgänger ver-
fünffacht; die der belgischen fast verdreifacht und die der deutschen fast versechs-
facht.
Die Grenzgänger aus Deutschland haben proportional also die stärkste Zunahme, ob-
wohl sie 1995 noch immer nur 18 % der Gesamtgrenzgängerzahl in Luxemburg aus-
machen. Die Zahl der Grenzgänger aus Frankreich steigt proportionnal zur Gesamt-
kurve. Die Lothringer machen 1995 über 50 % der Grenzgänger aus. Die belgischen
Grenzgänger steigen proportional am schwächsten: 1975 machten sie noch 50 % der
Grenzgänger in Luxemburg aus, 1995 sind es nur noch 30 %. Seit 1985 haben die bel-
203
Total ---------Belgien
......... Frankreich -------------------- Deutschland
Graphik 4: Herkunft der Grenzgänger in Luxemburg: 1981-1996, Quelle: STA TEC, IGSS.
gischen Grenzgänger ihre historische Vorrangsstelle in Luxemburg verloren, und das
hauptsächlich zugunsten der aus Frankreich kommenden Grenzgänger.
Auch in dieser zweiten Phase wird der Grenzgängerstrom Richtung Luxemburg von
der konjunkturellen Lage der umhegenden Grenzregionen beeinflußt.
- Lothringens Stahl- und allgemeine Wirtschaftskrise wird immer schlimmer ; im-
mer mehr Arbeiter verlieren ihren Arbeitsplatz und suchen neue Arbeitsplätze in den
Grenzgebieten. Zwischen 1970 und 1990 werden mehr als 100.000 Arbeiter entlas-
sen.
Luxemburg gilt als Arbeitsziel Nummer eins, da die Gehälter um die 20% höher lie-
gen. Fortan arbeiten 58 % der lothringischen Grenzgänger in Luxemburg (1968 wa-
ren es nur 31 %!), und nur noch 39 % im Saarland.
- Auch die deutschen Nachbargebiete kennen eine Wirtschaftskrise. So hat das Saar-
land 1983 eine Arbeitslosenquote von 12,4 %. Diese Situation erklärt den Auf-
schwung der Grenzgänger aus Deutschland nach Luxemburg.
- Die Grenzgänger aus Belgien machen 1995 nur noch 30 % des Grenzgängertotais
aus (1975 waren es 50 %!). Im belgischen Nachbargebiet ist es zwischen 1975 und
1991 zu einer Arbeitsschaffung von 23 % gekommen ; somit kommen auch propor-
tional weniger belgische Grenzgänger nach Luxemburg.
- Luxemburg ist und bleibt heute Grenzgängerziel Nummer eins seiner drei Nachbar-
länder.
204
4. Schlußfolgerung (Siehe Gesamtgraphik)
Mit diesem einseitigen Grenzpendlerverkehr Richtung Luxemburg ist das Land zu
einer Art Testplattform des Europas der Bürger geworden. Von 1965 bis 1996 hat die
Grenzgängerzahl in Luxemburg sich mehr als verzehnfacht!
Viele Fragen drängen sich auf: Wird die regionale Dimension immer wichtiger in ei-
nem globalisierten Europa ? Verlieren die Grenzen ihre Rolle in einem globalen Ar-
beitsmarkt oder werden die Kontrollen im Innern immer stärker?
Wie lange halten der Luxemburger Arbeitsmarkt und die Bevölkerung diese von vie-
len als Konkurrenzkampf angesehene Situation noch aus? Anders gedreht, wie lange
hält der lokale Arbeitsmarkt solche Gleichgewichtsstörungen, charakterisiert durch
gegenseitige Abhängigkeit sowohl wirtschaftlich wie politisch und sozial, noch aus?
Sicher ist, daß die Grenzgänger täglich die Ideale eines vereinten Europas testen. Sie
können jedenfalls als richtige Europäer betrachtet werden, da sie sich alltäglich auf
der Schwelle von zwei Länden bewegen und die Vorteile und Nachteile ihrer beson-
deren Lage erleben.
In Luxemburg jedenfalls gehören die Grenzgänger zum gewohnten Alltagsleben.
Niemand wundert sich mehr über ihre Präsenz, weder die Arbeitgeber, die des öfte-
ren vergebens auf dem nationalen Gebiet nach gebildeten Fachleuten suchen, noch
die Kunden, die an den Umgang mit Fremdsprachen gewöhnt sind. Die Grenzgänger
gehören in Luxemburg zur wirtschaftlichen und vielleicht sogar schon zur sozialen
Struktur. Ohne sie gäbe es keine soziale Mobilität, keinen wirtschaftlichen Auf-
schwung. Einige reden sogar von einer reellen Symbiose zwischen der Luxemburger
Graphik 5: Die Gesamtentwicklung der Grenzgangerzahlen in Luxemburg: 1965-1996, Quel-
le: STATEC, IGSS.
205
Bevölkerung und den Grenzpendlern, Zu all diesen Fragen und Aspekten wird die
zukünftige Entwicklung Aufschluß geben ...
Selektive Bibliographie:
-COCHER(Chantal), PERRIN (Marie-Thérèse), ’’L’aspirateur luxembourgeois”, in
Economie Lorraine, № 121, Mai 1993,1.N.S.E.E.
- FEHLEN (Fernand) (dir.), ”La main-d’oeuvre frontalière au Luxembourg”, in Ca-
hiers Economiques N 0 84, Luxembourg, STATEC, 1995
- GENGLER (Claude), Le Luxembourg dans tous ses états, La Garenne-Colombes,
Editions de l’Espace Européen, 1991
- GENGLER (Claude), ”La mosaïque socio-économique et culturelle du Grand-
Duché”, in Les Cahiers Luxembourgeois n° 3, Luxembourg, 1990
- GENGLER (Claude), ”Le Grand-Duché de Luxembourg, un véritable melting
pot”, in FORUM, Nr. 113, Juli 1989, Luxembourg, 1989
- GENGLER (Claude), ”Le Luxembourg et ses travailleurs frontaliers”, in Revue
Géographique de l’Est, № 1, 1991, P.U.N.
- Ministère de l’Aménagement du Territoire, Le travail frontalier au sein de la gran-
de région dans l’optique de l’Aménagement du Territoire, Luxembourg, Centre
des Conférences à Luxembourg-Kirchberg, 1993
- PIERETTI (Patrice) et BAULER (Etienne), ’’L’Importance de la Région Fronta-
lière pour une Economie de Très Petite Taille”, in Cahiers d’Economie, Fascicule
VII, Luxembourg, Publications du Centre Universitaire de Luxembourg, 1993
- SESOPI - CENTRE INTERCOMMUNAUTAIRE Asbl (éd.), Recueil statistique
sur la Présence des Etrangers au Luxembourg, Luxembourg, Imprimerie Saint
Paul, 1995
- SOUTIF (Véronique), Les travailleurs frontaliers au Grand-Duché de Luxem-
bourg, Mémoire de D.E.A. ’’Sociétés et Aménagement du Territoire”, Université
de Nantes, 1994
- Statistisches Landesamt Saarland (éd.), Evolution de l'économie dans l’espace
frontalier Sarre-Lor-Lux-Trèves/ Palatinat occidental de 1970 à 1987, Saarbrük-
ken, Statistisches Landesamt, 1990
- Statistisches Landesamt Saarland, STATEC-Luxembourg, INSEE-Lorraine, Stati-
stisches Landesamt Rheinland-Pfalz (éd.), Portrait des Régions
- Saar-Lor-Lux-Trier/Westpfalz, Eurostat, 1993
- TIBESAR (Arthur), ”Le travail frontalier dans l’économie du Luxembourg et des
régions voisines, in Notes de recherches № 3/ 1992, Walferdange,
CEPS/INSTEAD, 1992
- TIBESAR (Arthur), ’’Travail et Ressources Humaines au Luxembourg et dans la
Grande Région”, in Cahiers Socio-Economiques du CEPS, n° 1/1990, Luxem-
bourg
- ’’Transfrontalièrement vôtre”, in Forum, n° 158, mars 1995, Luxembourg
206
Bernhard Mohr
Landwirte als Grenzgänger.
Schweizerischer Auslandsanbau im
deutschen Hochrheingebiet
1. Einführung
Bei der Bewertung von Staatsgrenzen in Geschichte und Gegenwart tritt zunächst
ihre trennende Wirkung in den Vordergrund. An Staatsgrenzen können sich aber
auch grenzüberschreitende Verflechtungen und Strukturen erhalten oder entwickeln,
die länderverbindend wirken. Die deutsch-schweizerische Grenze ist ein typisches
Beispiel für beides. Einerseits trennt sie nicht nur zwei Staaten, sondern immer noch
den EU- und EWR-Raum von einem Nichtmitglied der Gemeinschaft. Andererseits
gehörte das Hochrheingebiet lange ungeteilt zum Deutschen Reich und ist bis heute
Teil des alemannischen Sprachraums.
In den folgenden Ausführungen wird ein Aspekt aus den zahlreichen und engmaschi-
gen grenzüberschreitenden Verflechtungen am Hochrhein herausgegriffen, nämlich
die Bodenbewirtschaftung durch Schweizer Landwirte im deutschen Grenzgebiet.
Dieser sogenannte Auslandsanbau ist räumlich sehr begrenzt, infolgedessen weithin
unbekannt und - vermeintlich - ohne spektakuläre Züge. Er hat aber für den schma-
len Grenzsaum und seine Bewohner eine ebenso große Bedeutung wie die überregio-
nal wirksamen arbeitsfunktionalen Beziehungen durch die rund 30 000 aus Südbaden
in die Schweiz pendelnden Grenzgänger, wie die schon traditionellen Schweizer Ka-
pitalinvestitionen auf deutscher Seite in Form von industriellen Zweigwerksgrün-
dungen, wie die Verflechtungen beim Einkaufsverhalten, im Freizeitbereich, im Ge-
sundheitssektor usw. Kooperation wie stimulierende Konkurrenz sind hierbei neben-
einander zu beobachten, sie können sich in Teilbereichen überschneiden oder sogar
die Stoßrichtung ändern.
Um das agrarische Verflechtungsmuster am Hochrhein zu verstehen, muß zunächst
ein Blick auf den schweizerischen Auslandsanbau insgesamt geworfen werden, be-
vor die Entwicklung und Situation in der deutschen Grenzregion, speziell im Bereich
des Kantons Schaffhausen, zur Sprache kommen. Eine Detailuntersuchung über
zwei besonders stark betroffene deutsche Gemeinden schließt den Beitrag ab.
2. Auslandsaktivitäten Schweizer Landwirte
Umfang und Entwicklung
Etwa 2 000 Schweizer Bauern bewirtschaften zwischen 7 000 und 8 000 ha grenznah
gelegener Grundstücke außerhalb des eidgenössischen Territoriums. Sie dürfen die
dort erzeugten Agrarprodukte abgaben- und bewilligungsfrei ins Inland einführen.
Aus Tab. 1 geht hervor, daß die Einfuhr dieser „rohen Bodenerzeugnisse“ zwischen
207
1970 und 1995 mengenmäßig kräftig angewachsen ist, was teils mit der Flächenex-
pansion im Ausland, teils mit den erzielten Ertragssteigerungen zusammenhängt.
Mehr als verdreifacht haben sich die Bezüge aus dem deutschen Grenzraum, die nun
die Hälfte aller eingeführten „Bewirtschaftungsprodukte“ ausmachen. Ähnlich stark
angestiegen sind die Zufuhren aus Österreich, während diejenigen aus Italien und
Frankreich sich nicht ganz verdoppelt haben. Verglichen mit der agrarischen Inlands-
produktion der Schweiz bleiben die Einfuhren aus dem grenznahen Bewirtschaf-
tungsverkehr mit knapp einem Prozent an der Tonnagemenge gleichwohl recht be-
scheiden. Hinsichtlich der Art der pflanzlichen Erzeugnisse sei angedeutet, daß über
die französische Grenze im Jura viel Rauhfutter, aus dem italienischen Veltlin Obst,
aus dem Vorarlberger Rheintal hauptsächlich Körnermais und Heu, aus Südbaden
und dem elsässischen Sundgau überwiegend Brot- und Futtergetreide in die Schweiz
gelangen.
Der arealmäßige Umfang der Grenzlandbewirtschafhing in der Vergangenheit ist
nicht genau zu rekonstruieren, denn die verfügbaren Daten der schweizerischen
Zollkreisdirektionen und der eidgenössischen Landwirtschaftszählungen stimmen
nicht überein. Nach letzteren registrierte man 1939 eine Auslandsfläche von
2 995 ha, die wohl schon jahrzehntelang ein ähnliches Ausmaß hatte und die sich
auch bis 1965 wenig veränderte (2 901 ha). Danach erfolgte über die Jahre 1969
(3 752 ha), 1975 (4 541 ha) und 1980 (5 595 ha) ein kontinuierlicher Zuwachs. Bis
1985 soll dann ein Rückgang auf 5 100 ha eingetreten sein.
Tabelle 1: Abgaben- und bewilligungsfreie Einfuhr “roher Bodenerzeugnisse ” in die Schweiz
nach Herkunftsländern 1970-1995 (in t)
Jahr BRD Frankreich Italien Österreich Total
1970 11 290 15 741 3 344 2 728 33 103
1980 19 922 20 826 4 709 4 375 49 832
1984 27 396 19 880 5 605 4 663 57 544
1988 35 006 23 207 6 242 2 985 (?) 67 440
1995 37 434 27 258 6 358 6 772 77 822
Quelle: Landwirtschaftlicher Bewirtschaftungsverkehr, Beilage 3 und Jahresstatistik des Au-
ßenhandels der Schweiz, 1988 u. 1995, Bd III, Grenzverkehr.
Für das Jahr 1996 errechnet das Bundesamt für Statistik/Bem eine Fläche von
6 670 ha, wobei als Bemessungsgrundlage die Direktzahlungen für die im Ausland
erzeugten Agrarprodukte zugrundegelegt wurden. Unter bestimmten Umständen -
Geländetausch, nicht angestammtes Nutzland (s. u.), Forstflächen u. ä. - entfallen je-
doch solche Direktzahlungen, so daß dadurch nicht alle Auslandsflächen erfaßt wer-
den. Der oben angegebene arealmäßige Umfang von 7 000 bis 8 000 ha, jenseits der
eidgenössischen Grenze gelegen, dürfte deshalb eher den augenblicklichen Stand
wiedergeben. Etwa neun Zehntel davon entfallen auf den deutschen und den franzö-
sischen Grenzraum.
208
Gesetzliche Regelungen und Einfuhrbestimmungen
Wer in der schweizerischen Grenz- oder Wirtschaftszone wohnt, kann „rohe Boden-
erzeugnisse“ aus Grundstücken, die in der ausländischen Grenzzone liegen und von
ihm als Eigentümer, Nutznießer oder Pächter bewirtschaftet werden, in die Schweiz
einführen.
Voraussetzung ist, daß er das Land „vom schweizerischen Stammbetrieb aus im an-
gestammten oder ortsüblichen Rahmen zur existenzsichemden Betriebsaufstockung
bebaut“ (Verordnung über Anbauprämien im Ackerbau vom 2.4.1980, 1. Abschnitt,
Art. 4). Die Grenzlandbewirtschaftung wurde teils autonom, teils per Staatsvertrag
geregelt. Landesrechtlich basiert der zollbegünstigte Warenverkehr auf Art. 14, Ziff.
19-24 des schweizerischen Zollgesetzes vom 1. Okt. 1925. Völkerrechtlich wurden
die entsprechenden Sonderregelungen in den Grenzverkehrsabkommen mit den vier
Nachbarstaaten (Frankreich 1938, Österreich 1948, Italien 1953, Bundesrepublik
Deutschland 1958) verankert. Zur Anwendung kommt die Rechtsquelle mit der für
den Bewirtschafter günstigeren Lösung.
Als „Wirtschaftszone“ gilt ein Gebiet von 10 km auf jeder Seite der Zollgrenze. Es
bildet entweder einen Streifen von 10 km Tiefe parallel zur Staatsgrenze (sogenannte
Parallelzone zu Österreich) oder einen Kreis von 10 km Radius mit einer vorge-
schriebenen Grenzübergangsstelle als Mittelpunkt (sogenannte Radialzone zu
Deutschland, Frankreich und Italien). Jede Einfuhr muß dem Zollamt getrennt nach
Produkten und Nettogewicht gemeldet werden, das seinerseits Herkunft, Art und Ge-
wicht der Erzeugnisse stichprobenweise überprüft.
Anspruch auf abgaben- und bewilligungsfreie Einfuhr hat, wer einen von der zustän-
digen Zollkreisdirektion genehmigten landwirtschaftlichen Ertragsausweis besitzt.
Dieser ist für die Dauer eines Produktionsjahres gültig und wird erteilt, wenn durch
Grundbuchauszüge, Pachtverträge oder ähnliches nachgewiesen wird, daß die Vor-
aussetzungen erfüllt sind.
Unter den Einfuhrerleichterungen ist zunächst die Zollffeiheit zu nennen. Sie spielt
eine untergeordnete Rolle, weil die Einfuhrzölle auf „rohe Bodenprodukte“ allge-
mein niedrig sind. Ferner sind die Anbauprämien zu erwähnen, bei denen man im
schweizerischen Ackerbau zwischen einer Grundprämie und einem Zuschlag für Ge-
biete mit klimatisch und topographisch erschwerten Produktionsbedingungen zu un-
terscheiden hat. Im Auslandsanbau wird kein Zuschlag ausgerichtet, die Grundprä-
mie wurde für die ersten 3 ha eines Betriebes voll gewährt, für weitere Flächen zur
Hälfte.
Im Jahr 1989 trat die „Allgemeine Landwirtschaftsverordnung“ des Schweizerischen
Bundesamtes für Landwirtschaft in Kraft, welche die Fördermaßnahmen neu defi-
niert, die Landwirten zuteil werden, die über landwirtschaftliche Produktionsflächen
im Ausland verfügen. Im Kern wird angestammtes Nutzland von nicht angestamm-
tem unterschieden. Die Richtlinie besagt im Wortlaut:
„ Das landwirtschaftliche Nutzland in der ausländischen Wirtschaftszone, das gemäß
Ertragsausweis 1984 der Eidgenössischen Zollverwaltung durch einen in der
schweizerischen Wirtschaftszone wohnenden Landwirt bewirtschaftet wurde, gilt als
angestammt und somit gemäß den speziellen Bestimmungen bei den einzelnen Maß-
nahmen als förderungsberechtigt. “
209
Diese Regelung dient dazu, den bereits seit geraumer Zeit im Ausland aktiven Land-
wirten die üblichen Fördermaßnahmen zukommen zu lassen, für die Zukunft jedoch
den Anreiz für weitere Expansionen zu bremsen. Konkret bedeutet dies, daß Flächen,
die nach dem 1.1.1985 in Besitz genommen wurden, als nicht angestammt gelten und
somit nicht förderungsberechtigt sind. Während die Landwirte für angestammte Flä-
chen Anbauprämien (70 % des normalen Satzes) und Direktzahlungen (50 % des nor-
malen Satzes) erhalten, sind nicht angestammte Flächen von sämtlichen Direktzah-
lungen ausgeschlossen. Von den nicht angestammten Flächen dürfen außerdem le-
diglich Kartoffeln, Futtergetreide, Silomais, Wiesenfütter sowie in beschränktem
Maße Brotgetreide eingeführt werden, nicht jedoch Raps, Soja, Sonnenblumen und
Zuckerrüben.
3. Schweizer Landbewirtschaftung im südbadischen Grenzraum
Expansion
Unter den Rahmenbedingungen des angestammten Nutzlandes wickelte sich der
Schweizer Auslandsanbau in Südbaden jahrzehntelang in bescheidenem Umfang ab,
konzentriert auf die Randzonen um den Kanton Schaffhausen sowie um das zum
Kanton Zürich gehörende Rafzerfeld, wo sich deutsches und schweizerisches Staats-
gebiet wegen der gewundenen Grenzführung sehr eng miteinander verzahnt (Jestet-
ter Zipfel). Durch Grenzkorrekturen und Feinabstimmungen bei Flurbereinigungs-
maßnahmen, mehr noch auf Gmnd von Heiraten und Landkäufen, waren im übrigen
Bauern beider Seiten zu Bodeneigentum im Nachbarland gekommen. Während aller-
dings die Schweizer ihren Ausmärkerbesitz stetig erweitern konnten, mußten die
Deutschen aus finanziellen Gründen, vor allem während der Inflation der zwanziger
Jahre und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, zurückstecken. Am längsten hat
sich die alte Tradition im Klettgau gehalten: So bewirtschafteten Erzinger Bauern
1967 fast 10 ha Land auf der Schaffhauser Gemarkung von Trasadingen, heute sind
es nur noch wenige Äcker und ein Rebstück.
Die siebziger und achtziger Jahre waren durch eine über das bisherige Maß hinausge-
hende Expansion von Schweizer Betrieben im Hegau, Klettgau und am Randen ge-
kennzeichnet. Gründe hierfür waren: das starke Gefälle zwischen den hohen schwei-
zerischen und den niedrigen deutschen bzw. EG/EU-Agrarpreisen, die Verknappung
landwirtschaftlich nutzbaren Bodens in den schweizerischen Grenzregionen, Förder-
maßnahmen zugunsten der schweizerischen Landwirtschaft sowie andererseits die
prekäre Lage der deutschen Bauern, von denen mehr als auf der Gegenseite zur Auf-
gabe gezwungen waren. Das Bodenangebot wuchs infolgedessen, Pacht- und Kauf-
preise waren aus schweizerischer Sicht extrem niedrig.
Ende 1992 betrug der Schweizer Landbesitz in Südbaden 2 779 ha, davon rund 64 %
als Pachtflächen. Allein 2 532 ha lagen im Grenzsaum östlich von Waldshut. Davon
wiederum wurden 1 834 ha von Schaffhauser Landwirten bestellt. Bis 1997 dehnte
sich der Schweizer Landbesitz trotz der eingeleiteten Gegenmaßnahmen weiter auf
ca. 3 300 ha (einschließlich Wald) aus, wovon 2 303 ha vom Kanton Schaffhausen
aus bewirtschaftet wurden. 1980 hatte die schweizerische Ausmärkerfläche in
Deutschianderst 1 240 ha, 1967 gar nur 430 ha umfaßt. War bis in die achtziger Jahre
210
hinein eine kräftige Zunahme beim Pachtland zu beobachten, so verstärkte sich der
Druck in den letzten zehn Jahren durch forcierte Landkäufe. Diese Entwicklung zeigt
Abb. 1 am Beispiel des Kantons Schaffhausen, von dessen landwirtschaftlich genutz-
ter Fläche inzwischen fast 14 Prozent außerhalb des eigenen Territoriums liegen.
Konflikte
Gegen diesen Expansionsdrang blieben Gegenmaßnahmen auf deutscher Seite nicht
aus. Da aufstockungswillige badische Landwirte den Preisgeboten ihrer Schweizer
Kollegen nicht mehr folgen konnten, griffen sie erbost zur Selbsthilfe, im „Stühlin-
ger Bauernkrieg“ wurde ein Schweizer, der Dünger auf seinen Feldern in Deutsch-
land ausbringen wollte, festgesetzt. Strohballen gingen in Flammen auf usw. Eine
Beruhigung an der Pachtfront ergab sich erst, als die zuständigen deutschen Land-
wirtschaftsämter durchsetzten, daß alle Verträge zur Genehmigung vorzulegen wa-
ren, so daß zumindest offiziell die ortsüblichen Pachtpreise emgehalten wurden.
Weitergehende Forderungen sind durch ein OLG-Urteil unterbunden worden. Bei
den Landkäufen haben deutsche Bauern zwar ein Vorkaufsrecht, doch kann dieses im
Zuge von Zwangsversteigerungen umgangen werden. Ohnehin bieten Schweizer
Landwirte bis zum Doppelten der ortsüblichen Preise und können sich außerdem auf
die Uneinigkeit der Deutschen verlassen.
Unter der deutschen landbesitzenden Bevölkerung sind nämlich unschwer zwei In-
teressengruppen auszumachen: einerseits die aufstockungswilligen Vollerwerbs-
landwirte, welche mit den Schweizern in Konkurrenz stehen, andererseits die sonsti-
ha
Pachtland |JJJ]Eigenland einschl. Wald
Abbildung 1: Eigen- und Pachtland von Schaffhauser Bauern auf deutschen Gemarkungen 1970-1997.
(Quelle: Ergänzt nach Schaffhauser Landwirtschaftsbericht 1995, S. 8)
211
gen Grundbesitzer, für welche die Schweizer Partner sind, da beide von der Grund-
stücksmobilität profitieren. Spannungen in den Dörfern bleiben deshalb nicht aus.
Ebenso uneinheitlich tritt aber auch die Schweizer Bauernschaft auf. „Grasen über
den Hag“ ist seit Jahrzehnten üblich. Die Felder jenseits der Grenze sind zu einer we-
sentlichen Betriebsgrundlage geworden - im Kanton Schaffhausen hat immerhin die
Hälfte aller Haupterwerbsbetriebe Ausmärkerbesitz, und nicht wenige würden bei
massiven Korrekturen in Existenznot geraten. Den Auslandsanbau in Verruf ge-
bracht hat eine kleine Minderheit von Schweizer Landwirten, - etwa ein Dutzend aus
dem Kanton Schaffhausen mit zusammen 500 ha Ausmärkerbesitz (1991)-, die ohne
Rücksicht auf die schwierige Lage der deutschen Standeskollegen übermäßig expan-
dierten.
4. Fallbeispiele Tengen und Blumberg
Im nationalen Rahmen betrachtet, ist der Schweizer Auslandsanbau für die Eidge-
nossenschaft ein Minimalproblem und für Deutschland ziemlich bedeutungslos,
wäre da nicht die Konzentration auf den schmalen Grenzsaum und die daraus entste-
henden Spannungen. Denn in einigen Gemarkungen steigt der schweizerische Besitz
an der LN auf beachtliche Werte: so in Tengen-Wiechs auf 57,5 %, in Klettgau-Weis-
weil auf 47 %, in Jestetten auf 27,6 %, in Hilzingen-Schlatt auf rund 21 % und in
Blumberg-Fützen auf 16,5 %. Im deutschen Lottstetten (31 %) ergab sich die kuriose
Situation, daß durch die Anlage eines vornehmlich von Schweizern initiierten und
frequentierten Golfplatzes Schweizer Bauern entschädigt werden mußten.
Tengen
Beispielhaft sei die Situation der Landstadt Tengen herausgegriffen. Eine Auswer-
tung der Ertragsausweise und Flurkartierungen zeigen dort ein ungleiches Streuungs-
muster von Schweizer Einmärkerparzellen über das Gemeindegebiet. Am intensiv-
sten durchdrungen ist die Gemarkung von Wiechs (s. Abb. 2), während das benach-
barte Uttenhofen sowie die grenzfemen Dörfer Weil und Watterdingen bis 1988 fast
unberührt blieben. Bei letzterem wirkte sich die Distanz als maßgeblicher Faktor aus.
In Uttenhofen und Weil haben intakte, leistungsstarke einheimische Betriebe bislang
Eindringlinge abgewehrt. Für die übrigen fünf Gemarkungen ist eine disperse Vertei-
lung, vornehmlich von Pachtflächen, typisch. Tabelle 2 orientiert über die Entwick-
lung von 1980 bis 1996 und weist auf die Sonderstellung von Wiechs am Randen hin.
212
Tabelle 2: Schweizer Bodenbesitz (einschl. Wald) auf dem Gemeindegebiet der Stadt Tengen
1980-1996 (in ha).
Gemarkung 1980 1984 1988 1992 1996 (davon Pacht in %)
Beuren a. R. 10,4 14,2 30,0 42,0 52,6 (95,2)
Blumenfeld 11,9 21,9 45,3 60,3 89,2 (91,6)
Büßlingen 25,9 36,5 51,8 64,3 82,7 (55,0)
Talheim 4,2 11,7 25,0 33,7 32,4 (84,6)
Tengen 39,7 63,6 88,6 97,3 96,9 (64,0)
Uttenhofen 4,7 4,7 4,7 4,7 4,7 (0,0)
Watterdingen 0,3 0,3 2,2 34,0 45,7 (57,8)
Weil 0,07 0,07 0,07 3,1 1 1,2 (75,0)
Wiechs a. R. 194,5 219,7 223,1 246,3 253,0 (62,8)
Tengen gesamt 291,6 372,8 471,8 585,7 668,4 (68,9)
Quelle: Unterlagen der Gemeindeverwaltung und eigene Berechnungen
Wiechs weist mit 253 ha nicht nur den größten Umfang und mehr als ein Drittel allen
schweizerischen Besitzes auf Tengener Gemeindegebiet auf, es verzeichnet auch an-
teilmäßig die höchsten Werte in bezug auf die Gemarkungsfläche (30 %), an der
landwirtschaftlich genutzten Fläche (57,5 %) und am Waldareal. Diese für den ge-
samten Grenzsaum extreme Situation resultiert eindeutig aus der Lage der Gemar-
kung, die weit in Schweizer Hoheitsgebiet hineinragt, sowie aus den engen Kontak-
ten zur Bevölkerung in den benachbarten Schaffhauser Dörfern (s. Abb. 2).
Einfluß auf das Bodenpreisniveau in Tengen wie überhaupt auf die Grundstücksmo-
bilität üben neben inner- auch außerlandwirtschaftliche Faktoren aus. So ist die Vor-
ratswirtschaft des Zementwerkes Thayngen/SH von Bedeutung, welches Grundstük-
ke im Umfeld seiner Kalkbrüche und einer Tongrube erwirbt, diese - soweit nicht so-
fort benötigt - wieder verpachtet oder bei der Beschaffung von Ersatzland auf deut-
scher Seite mitwirkt. Dabei werden Zwangsversteigerungen genauso genutzt wie
Verkaufswellen, von denen gerade Tengen Ende der 80er Jahre erfaßt wurde. Zwi-
schen Oktober 1988 und Mai 1989 wechselte durchschnittlich jede Woche 1 ha Land
aus deutschen in schweizerische Hände. Lokaler Angebotsschwerpunkt ist derzeit
der Teilort Watterdingen mit seinen über 50 Nebenerwerbsbetrieben. Die finanzielle
Versuchung scheint für die dortigen Kleingrundbesitzer übermächtig zu sein, zumal
wenn Schulden abgebaut werden müssen oder an die Altersversorgung gedacht wird.
Blumberg
Vom schweizerischen Ausmärkertum ebenfalls, aber nicht ganz so stark betroffen ist
das westlich an Tengen anschließende Gebiet der Kleinstadt Blumberg, genauer de-
ren grenznahe Gemarkungen mit den Dörfern Fützen, Epfenhofen und Nordhalden.
213
Kanton
\
/
[ 1 Grundstücke deutscher A /
1 I Eigentümer an Schweizer a /
Landwirte verpachtet '•»/
MGrundstücke Schweizer
Eigentümer q
Entwurt: B. Mohr, Kartographie: B. Gaida
Blumberg ^ ^Tengen
0 10 km C—
Kanton
Sc half hausen \s
Schaffhausen
500 m •-»
Rhein
Abb. 2: Bodenbesitz Schweizer Landwirte auf der Gemarkung Tengen-Wiechs
am Randen 1997
214
ausen
Auch hier haben Schaffhauser Bauern in den neunziger Jahren viel Grund und Boden
aufgekauft. Ihre Eigentums flächen sind von 45,4 ha auf 75 ha (1997) angewachsen,
während die Pachtflächen mit rund 190 ha in etwa konstant blieben. Auffällig ist je-
doch, daß auf denjenigen Gemarkungen, auf denen Eigentumszuwächse der Schwei-
zer registriert wurden, gleichzeitig die Pachtflächen zurückgegangen sind. Um die
Nutzung auf Dauer zu sichern, haben hier die Schaffhauser Bauern bereits gepachtete
Flächen durch Kauf erworben.
Von dem für Blumberg zuständigen Landwirtschaftsamt in Donaueschingen wird
der schweizerische Auslandsanbau nicht nur kritisch gesehen. So wird anerkannt,
daß anders als in anderen Teilen des Amtsbezirks keine Grenzertragsböden brachfal-
len. Auch stellte sich heraus, daß deutsche Landwirte oft gar nicht daran interessiert
seien, das zur Verfügung stehende Land zu pachten. Im übrigen sei der grundsätzli-
chen finanziellen Besserstellung der Schweizer Landwirte mit staatlichen Regulati-
onsmechanismen nicht derart beizukommen, daß dadurch die Konkurrenzfähigkeit
deutscher Landwirte gesteigert werden könnte. Ein Anreiz zum Kauf bestehe für die
Schweizer durch die großen Unterschiede bei den Grundstückspreisen. So koste ein
Hektar Land in Deutschland 20 000 - 30 000 DM während in der Schweiz 80 000 -
100 000 Franken fällig würden. Zudem können Schweizer bei Kreditaufnahmen von
einem günstigeren Zins profitieren. Sie können außerdem billiger Düngemittel und
Maschinen in Deutschland beziehen und die dort erzeugten Agrarprodukte zu „para-
diesischen“ Preisen in der Schweiz absetzen.
5. Fazit
Für die Schweizer Grenzlandwirte ist es nicht nur verlockend, sondern betriebswirt-
schaftlich sinnvoll, günstige und profitable Flächen im benachbarten Ausland zu
pachten oder hinzuzukaufen. Die Expansion wäre nicht denkbar ohne die durch
Grenzabkommen mit den Nachbarländern geschaffene zollfreie 10-km-Zone und
ohne die innerschweizerischen Fördermechanismen, die zwar eingeschränkt wurden
(Direktzahlungen statt Preisgarantien), aber den Schweizer Landwirten nach wie vor
ein hohes Einkommen sichern und somit die Konkurrenzfähigkeit gegenüber Bauern
in Deutschland bis auf weiteres erhalten. Ohne die Anpassung an EU-Preise wird es
daher für Schweizer auch in nächster Zeit wenig Grund geben, auf die Ausdehnung
ihrer Produktions flächen im Ausland zu verzichten. Die Tatsache, daß vielfach das
Verhältnis zu den Kollegen im Nachbarland unter diesen Gegebenheiten leidet,
scheint die primär nach Aspekten der Wirtschaftlichkeit und auch der Existenzsiche-
rung arbeitenden Schweizer nicht zu Nachsicht gegenüber finanziell schwächer aus-
gestatteten deutschen Landwirten zu veranlassen. War der bis in die sechziger Jahre
hinein noch bescheidene Schweizer Auslandsanbau in Südbaden ein Teil der vielfäl-
tigen traditionellen Beziehungen zwischen den Bewohnern diesseits und jenseits der
Staatsgrenze, oft auf verwandtschaftlichen Bindungen begründet, so ist seit der ra-
santen Expansion bei Pachten und Grundstückskäufen ein Konkurrenzdruck entstan-
den, der besonders junge deutsche Landwirte im Grenzraum trifft.
215
Literatur
Jahresstatistik des Außenhandels der Schweiz (1988). Hrsg.: Eidgenössische Ober-
zolldirektion Bern. Bd. 3. Bern.
Landwirtschaftlicher Bewirtschaftungsverkehr (1989). Bern (= unveröff. Manu-
skript der Abteilung Zollveranlagung der Eidgenössischen Oberzolldirektion
Bern).
Mohr, B. (1990): Schweizer Landwirte im deutschen Grenzraum. In: Alemannisches
Jahrbuch 1989/90, S. 197-212.
Mohr, B. u. W. D. Sick (1993): Trennendes und Verbindendes am Hochrhein. Grenz-
überschreitende Verflechtungen zwischen Deutschland und der Schweiz. In: Bei-
träge zur Landeskunde. Beilage zum Staatsanzeiger von Baden-Württemberg, Juni
1993, H. 3, S. 1-6.
Schaffhauser Landwirtschaftsbericht 1995 (1995). Hrsg.: Volkswirtschaftsdeparte-
ment des Kantons Schaffhausen. Schaffhausen.
216
Reinhard Schneider
Schlussbetrachtung und Ausblick
Am Ende der Tagung im Mai 1997 hatte mancher den Eindruck, als werde der Grenz-
gängerbegriff mitunter diffus gebraucht, als gäbe es auch allzu viele Teilaspekte. Die
Lektüre der Beiträge, die in diesem Bande enthalten sind, könnte eine ähnliche Beur-
teilung hervorrufen, so daß es angebracht scheint, die Komplexität des Themas noch
einmal anzusprechen. Denn der vermutete Eindruck ist ja keineswegs nur auf eine
gewiß nicht befriedigende Forschungslage zurückzuführen, auch handelt es sich
nicht nur um die Konsequenz eines sehr weit gefaßten Tagungsprogramms.
Ausgehen könnte man von der modernen lexikalischen Beschreibung, die Grenzgän-
ger versteht im Sinne von “Arbeitnehmern, die ihren Wohnsitz im Grenzgebiet (10-
km-Zone) eines Landes haben und regelmäßig in das eines anderen Landes zur Ar-
beit fahren”. Ganz aktuell wäre allerdings zu fragen, ob die angenommene 10-km-
Zone beiderseits der Staatsgrenze noch ein brauchbares Kriterium ist, der Rahmen
nicht enger oder (wohl eher) weiter definiert werden muß. Damit wird angespielt auf
Veränderungen in der räumlichen Mobilität, die sich zunächst durch das Aufkommen
des Eisenbahnwesens, dann durch die rasante Entwicklung des Individualverkehrs
ergeben haben. Ob im Zeitalter des TGV und des ICE dieser Prozeß sich in bezug auf
Arbeitnehmer weiterhin beschleunigen wird, bleibt offen, weil die Beförderungsko-
sten doch recht erheblich sind. Auch im Individualverkehr zeigen sich verzögernde
Momente, wie es beispielsweise für Luxemburg mit den dortigen völlig unzureichen-
den Parkmöglichkeiten anschaulich verdeutlicht wurde (Carole Schmit).
Ohne eine solche Präzisierung des Betrachtungsraumes nach Kilometern formulierte
der Arbeitsrechtler: Grenzgänger sind “Arbeitnehmer und Selbständige, die ihren
privaten Mittelpunkt in einem Staat haben und die ihre Berufstätigkeit über die Gren-
ze in einem anderen Staat ausüben und täglich oder mindestens einmal wöchentlich
zu ihrem privaten Lebensmittelpunkt zurückkehren” (Stephan Weth).
Interessant an dieser Definition sind die zusätzlich zu den sonst üblichen “Arbeitneh-
mern” genannten “Selbständigen”, die im Beitrag von Bernhard Mohr tatsächlich be-
gegnen. Die von ihm vorgestellten Schweizer “Landwirte als Grenzgänger” sind of-
fenkundig selbständige Bauern, die jenseits ihrer Heimats- und Staatsgrenze zusätzli-
che Felder bewirtschaften. Doch trotz dieser zweifellos interessanten Typvariante
dominiert der Arbeitnehmer als Grenzgänger. Zu diesem Typus gehören dann sicher
auch Wanderarbeitnehmer, die ggf. nur saisonal an ihren Heimatort bzw. Familien-
wohnsitz zurückkehren - und am ehesten in der Kontinuität viel älterer Grenzgänger-
formen stehen, welche über das 19. Jahrhundert zeitlich bis in die frühe Neuzeit und
gar in Phasen der mittelalterlichen Geschichte zurückverfolgt werden können.
Eine eher metaphorische Begriffsbildung zielt vor allem auf einzelne Künstler, Ge-
lehrte und Unternehmer, für die eine Existenz beiderseits der Staats- und Nationali-
tätsgrenze, ein ständiges physisches wie auch geistiges und mentales Hinüber- und
Herüberwechseln über die Grenze charakteristisch ist. Zu dieser Art gehörten in frü-
217
hen Zeiten wohl vorrangig Geistliche, und wenn Huw Pryce von einer mobility
across borders in the ecclesiastical world spricht, rechnet er gewiß mit einem allge-
meinen Phänomen im mittelalterlichen Europa, für das Giraldus beispielhaft und
vielleicht zusätzlich akzentuiert steht: Giraldus offers an example of the cross-border
career in a colonialist context.
Als zwei weitere Vertreter dieses Typs können Albert Langen und “Hansi” bzw. J.J.
Waltz angesprochen werden. Jener vermittelte als Verleger “vorrangig zwischen drei
Kulturkreisen: dem deutschen, dem französischen und dem skandinavischen”, war
sehr engagiert “im Literaturtransfer von Frankreich nach Deutschland” tätig und
konnte doch nicht verhindern, daß er “wider Willen” während des Ersten Weltkriegs
“der französischen Propagandaabteilung zugearbeitet” hatte (Helga Abret). J.J.
Waltz hingegen, der engagierte Franzose aus dem elsässischen Colmar, profitierte
noch in der Polemik nicht nur von seiner festen Verankerung auch in der deutschen
Kultur, sondern mindestens während des Weltkrieges von manchen vorgegebenen
Formen der deutschen Widersacher, insbesondere von eingängigen Bildern des
“Simplizissimus”, die er teilweise bedenkenlos übernahm und mit eigenen, polemi-
schen Unterschriften versah, also schamlos für ganz andere Zwecke umdeutete
(Hans-Jürgen Lüsebnnk, Helga Abret).
Abzuheben von den angedeuteten Grenzgänger-Begriffen ist das Phänomen jener
Grenzgänger, die nach vielfachem und lange geübtem Überschreiten von Grenzen zu
Einwanderern wurden, wobei es offenbleiben kann, ob es sich jeweils um Spätfolgen
des Pendelns über die Grenzen oder um Frühformen der Einwanderung handelt.
Möglicherweise sind derartige Differenzierungen ohnehin nur schwer zu erreichen.
Wulf Müller hat diese Thematik behandelt. In methodisch beeindruckender Weise
untersuchte er nämlich französische Personennamen im Oberelsaß und konnte dabei
eine Sonderform der Zuwanderung und Einwanderung fassen, die nur durch Detail-
analysen des Rappoltsteinischen Urkundenbuchmaterials erkennbar wird. Vermut-
lich sind diese Personen, die vorzugsweise aus Lothringen, also über den Vogesen-
hauptkamm aus dem Westen kamen, erst nach mehrfachem Grenzübergang definitiv
zu Zu- oder Einwanderern geworden, hätte die mehrfache Wiederholung als Vorstufe
zu gelten.
Dieser Aspekt verdient Aufmerksamkeit, weil er in den sonstigen Beiträgen zu die-
sem Band nicht eigens aufscheint, aber durchaus in der Konsequenz des Grenzgän-
gertums liegen könnte. Mindestens “Artikel 1 Buchstabe b der Verordnung (EWG)
des Rates über die Anwendung des Systems der sozialen Sicherheit auf Arbeitneh-
mer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemein-
schaften zu- und abwandem (Nr. 1408/71)” weist in diese Richtung, rechnet minde-
stens mit derartigen Auswirkungen.
Berücksichtigt man zusätzlich, daß die aktuelle Grenzgängerthematik durch sog.
Drittstaatsangehörige, zu denen sich illegale “Grenzgänger” aus sehr fernen Regio-
nen Asiens oder Afrikas in nennenswertem Umfang gesellen könnten, nicht nur eine
Akzentverschiebung erfahren dürfte, so ergeben sich beachtliche Dimensionen.
Auch derjenige, dem es imponiert, wie etwa im Hinblick auf das Arbeitsrecht im
Saar-Lor-Lux-Raum große Hindernisse für eine grenzüberschreitende Mobilität be-
reits abgebaut worden sind (Stephan Weth), wird angesichts größerer Grenzgänger-
ströme in weniger harmonisch strukturierte Regionen guttun, die angedeuteten Ent-
218
Wicklungsmöglichkeiten sorgfältig zu beachten, zumal sie weitreichende und nur
schwer kontrollierbare Auswirkungen haben dürften.
Im Beitrag über “Grenzgänger an der deutsch-polnischen Grenze” (Stefan Kaluski)
lassen sich derartige Entwicklungen ahnen, wenn an die offene Ostgrenze Polens er-
innert wird. Die grenzübergreifenden Projekte der sog. Euro-Regionen können derar-
tige Probleme nicht auffangen, so begrüßenswert sie für die Regelung der gemeinsa-
men Interessen diesseits wie jenseits der Oder sind. Für Stefan Kaluskis Beitrag erge-
ben sich interessante Parallelen, wenn Christian Schulz Grenzgänger “von Amts we-
gen” behandelt und das zielstrebig geknüpfte Netz kommunaler grenzüberschreiten-
der Zusammenarbeit im Saar-Lor-Lux-Raum analysiert. Es scheint, als zeige sich in
dieser Region gegenüber dem Land beiderseits der Oder nicht nur ein erheblicher
Vorsprung an Erfahrung und Umsetzung kommunalen Willens, sondern als spiegele
sich manches exemplarisch für den großen Bereich der EU. Freilich bezieht sich die
untersuchte Thematik vorrangig auf die Verwaltungsebene mit ihren gewiß vielfälti-
gen Komponenten. Doch die Überwindung mentaler, psychologischer und durch Ge-
schichtsbewußtsein und längerfristige Erfahrungen geprägter Gegensätze läßt sich
noch nicht erfassen. Immerhin zeigen “linguistische Erfahrungen in Saar-Lor-Lux”
(Andreas Schorr), daß zweisprachige Grenzgänger bevorteilt sind und daß dem Dia-
lekt in dieser Grenzregion nahezu die Funktion einer Ersatz- oder Zweitsprache zu-
kommen kann.
Trotz der gebotenen Differenzierung von “Grenzgängern”, die sich in den angedeute-
ten Definitionen und Beschreibungsansätzen niederschlägt, ist es angebracht, metho-
dische Grundfragen wenigstens knapp anzuschneiden. Sie betreffen das Überliefe-
rungsproblem und dabei vornehmlich die Verfügbarkeit über entsprechende Zeug-
nisse für das uns interessierende Phänomen. Michael Oberweis hat diesen Zusam-
menhang sehr deutlich angesprochen mit dem Hinweis, daß der Typus des Grenzgän-
gers vornehmlich der Lebenssphäre der sog. Kleinen Leute zuzuordnen sei, deren
Daseinsbedingungen üblicherweise außerhalb des Wahmehmungshorizonts bei-
spielsweise der mittelalterlichen Schriftquellen liegen. Diese fehlende “Perspektive”
mag auch für spätere Zeiten gelten oder dann mindestens partielle Bedeutung haben.
Am Beispiel von “Ketzerboten als Grenzgängern” gelang nun aber der Nachweis,
daß es Ausnahmen geben kann, wenn etwa der Vorwurf der Häresie ins Spiel kommt
und hochkirchliches bzw. kuriales Interesse entsteht. Aufgrund des Postulats der
“Wachsamkeit” gegenüber religiösen Abweichlern waren die kirchlichen Behörden
in solchen Fällen zu intensiver Recherche und Dokumentation verpflichtet (Michael
Oberweis). Es bliebe zu prüfen, ob ähnliche Sonderfälle auch für andere historische
Phasen ermittelbar sind, die eine blasse Überlieferung zu ergänzen oder fehlende zu
ersetzen vermögen.
Gleichwohl bleibt zu beachten, daß für Grenzgänger der Typus der “Kleinen Leute”
bis in die Moderne bestimmend bleiben könnte und daß die grundsätzliche Überliefe-
rungsproblematik dann bliebe. Nur bei relevanten Auswirkungen darf deshalb mit
amtlichen Regelungen und Aktenüberlieferung gerechnet werden. Aus methodi-
schen Gründen erhalten daher eher zufällige Zeugnisse, zu denen literarisch verdich-
tete Überlieferungsformen treten können, für die Grenzgängerthematik einen beson-
deren Rang. Dies gilt selbst für die allerjüngste Vergangenheit, obwohl für sie ver-
schiedentlich sogar amtliche Statistiken vorliegen, die aus der Sicht des Historikers
219
jedoch meist kritischer Ergänzung, auch einer Überprüfung bedürfen. Daß hierbei
den Literaturwissenschaften eine besondere Bedeutung zukommt, sollte herausge-
stellt werden. Die Beiträge von Helga Abret und Hans-Jürgen Lüsebrink dokumen-
tieren dies.
Wie lassen sich die recht aufschlußreichen Beiträge über sorbische Grenzgängerphä-
nomene in das Gesamtthema einordnen? Spezifische sorbische Grenzgänger gab es
nur vorübergehend nach dem Zweiten Weltkrieg, als Sorben über die Grenze vor-
zugsweise in die Tschechoslowakei, aber auch nach Polen gingen, um dort Schulen
und Universitäten zu besuchen oder geregelter Arbeit nachzugehen. Den slawischen
Nachbarstaaten wies man Patronatsfunktionen für das eigene Volk zu, also für die
autochthonen sorbischen Bevölkerungsgruppen im deutschen Staatsverband, und
trotz nur kurzfristiger Intensität in den wechselseitigen Beziehungen ergab sich seine
“herausragende Bedeutung für die gesamte kulturelle Nachkriegsentwicklung für das
sorbische Volk” (Ludwig Elle). Sie lag vornehmlich in der Stärkung des ethnischen
Selbstbewußtseins und der kulturellen Eigenständigkeit, die durch stetes Wechseln
zwischen zwei geschlossenen Kulturen, der “sorbischen Innen- und deutschen Au-
ßenwelt”, anhaltend gefährdet wurde und bleibt (Cordula Ratajczak), aber auch ein
“Wandern zwischen den Identitäten mehr erzwingt als nur ermöglicht”. - Könnte hier
bereits eine paradigmatische Bedeutung für ein sich einigendes Europa aufleuchten?
Beim Aufwerfen dieser Frage ist nicht einmal daran gedacht, daß gerade die slawi-
schen Sorben beispielhafte Resistenzformen entwickelt und bewiesen haben zur Er-
haltung ihrer ethnischen und kulturellen Identität in einem anderen Kultur- und Sied-
lungsraum.
Noch umfassender hat diesen Aspekt der Soziologe betont, wenn er meinte, daß “in
einer Welt, die wirtschaftlich zunehmend durch Globalisierung, politisch durch su-
pra-nationale Organisationen und sozio-kulturell durch Regionalisierung” gekenn-
zeichnet ist, “auch die Prozesse der Ent-grenzung fortschreiten” werden. Hans Leo
Krämer diente die Kategorie des Grenzarbeitnehmers als Vorlage zur Konstruktion
eines besonderen Typus des künftigen Grenzgängers, der vermutlich eine spezifisch
moderne Lebensform repräsentieren, eine neue Existenzform darstellen werde.
Eine resümierende Schlußbetrachtung sollte schließlich herausstellen, daß die
Grenzgängerthematik nicht nur aktuell ist, sondern eine beachtliche historische Di-
mension zeigt, die weit in frühere Jahrhunderte zurückreicht (Reinhard Schneider).
Es handelt sich zudem um eine sehr farbige Thematik, deren Bedeutung und Konse-
quenzen noch längst nicht überschaubar sind. Daher sollte das Gesamtphänomen in-
tensiver untersucht und beobachtet werden, was von vielen Wissenschaftszweigen zu
leisten wäre: Interdisziplinärst und Internationalst sind gefordert, zusätzlich die
kleinräumige Analyse. Denn in der Grenzgängerthematik könnten sich künftige
Strukturen des kulturellen wie politischen und ökonomischen Miteinanders bereits
abzeichnen, beispielsweise im europäischen Kontext.
Schlüsse, die auf eine Verallgemeinerung abzielen, wird man vorerst nur sehr vor-
sichtig ziehen dürfen, denn der Forschungsstand ist noch längst nicht befriedigend.
Auch bei der Saarbrücker Tagung vom Mai 1997 konnte das Gesamtproblem nur in
Teilbereichen angerissen werden, sehr viele Fragen bleiben offen. Doch scheint sich
das bewußt eingegangene Risiko, für das Symposiumsthema eine offene Formulie-
rung zu wählen und lakonisch “Grenzgänger” (mit An- und Abführungszeichen) zu
220
setzen, gelohnt zu haben. Letztlich bietet sich ein bunter Strauß von Ergebnissen, die
künftig zu erweitern, mitunter auch zu überprüfen sein werden. Kritisch wird vor al-
lem anzumerken sein, daß wirtschaftliche Fragestellungen zwar nicht fehlten, jedoch
mindestens in größeren Zusammenhängen intensiver untersucht werden müßten.
Damit ist aber nur ein Desiderat angesprochen, ein weiteres wäre die gezielte Frage
nach kulturellen Auswirkungen. Im Felde literarisch-geistiger Transfers sind sie zu
greifen, doch ist man an solche eher gewöhnt. Sonst bleiben in der Grenzgängerthe-
matik entsprechende Einflüsse kaum spürbar, künftige Spezialuntersuchungen könn-
ten aber zu deutlicheren Erkenntnissen führen.
So sind vorerst nur wenige Eindrücke in Erinnerung zu rufen, vor allem der zwischen
1965 und 1996 mehr als verzehnfachte Pendlerzustrom nach Luxemburg. Über
200.000 Personen passieren täglich die Grenzen, sie kommen aus Deutschland, Bel-
gien und Frankreich, zwei Drittel von ihnen aus einer Entfernung von höchstens 20
km bis zu Luxemburgs Grenzen. Ohne sie wären Luxemburgs Wirtschaftsleben und
fast alle Dienstleistungsbereiche kaum funktionsfähig. Aber ist Luxemburg deshalb
schon “zu einer Art Testplattform des Europas der Bürger" geworden (Carole
Schmit)? Testen diese Grenzgänger “täglich die Ideale eines vereinten Europas”?
Die Antwort fällt zur Zeit positiv aus, obwohl vorerst nur ökonomische und soziale
Auswirkungen erkennbar sind. Was aber geschieht, wenn diese Grenzpendlerströme
konjunkturell bedingt ausbleiben?
Die Frage nach kulturellen Auswirkungen müßte eine solche nach ethnischen oder
nationalen einbeziehen. Hier ist vieles offen, manchmal wohl auch mit Verschärfung
statt Überbrückung von Fremdem und Gegensätzlichem zu rechnen. Für einen ent-
sprechenden Aspekt steht (noch immer) die Klage eines Giraldus Cambrensis, der zu
sehr Waliser für die Engländer und zu sehr Engländer für die Waliser war: “both peo-
ples regard me as a stranger and one not for their own ... one nation suspects me, the
other hates me” (vgl. den Beitrag von Huw Pryce). Die Haltung der Sorben, die ihre
ethnische Identität über tausend Jahre im fränkischen und dann deutschen Staatsver-
band zu wahren wußten, die auch auf ihre kulturelle Eigenart nachdrücklich achten,
mag in gewisser Weise als Gegenbeispiel zu verstehen sein. Wenn sie ihr stetes
Wechseln zwischen der “sorbischen Innen- und deutschen Außenwelt” auch unter
den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft ungefährdet durchhalten,
könnte sich hier ein Modell greifen lassen, eine “Testplattform” allemal.
Mit dieser Vermutung mag der Ausblick enden. Denn daß man leichter von
“Multikulturalität” reden kann und daß eine solche zu propagieren auf weniger
Hemmnisse stößt als die vielfältige Realität, ist ohnehin offenkundig.
221
Biographische Angaben
Abret, Helga: Dr.; Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Metz.
Publikationen u.a.: Gustav Meyrink conteur (1976); Das Jahrhundert der Marsianer.
Ein Science-Fiction Sachbuch (in Zusammenarbeit mit Lucian Boia, 1985); Im Zei-
chen des ‘Simplicissimus’, (in Zusammenarbeit mit Aldo Keel, 1987); Albert Lan-
gen - ein europäischer Verleger (1995); Zwischen Distanz und Nähe. Eine neue Au-
torinnengeneration in den 80er Jahren (Hrsg, und Mitautor). Zahlreiche Aufsätze zur
Publizistik der Kaiserzeit, zur phantastischen und utopischen Literatur um die Jahr-
hundertwende und zur Literatur des 20. Jahrhunderts.
Elle, Ludwig: Dr. agrar., geb. 1952, Studium der Wirtschaftswissenschaften in Leip-
zig. Seit 1985 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für sorbische Volksfor-
schung bzw. am Serbski institut/Sorbischen Institut Bautzen, Forschungsschwer-
punkte: Sorbenpolitik in der DDR, aktuelle Minderheitenpolitik. Publikationen: Sor-
bische Kultur und ihre Rezipienten, Bautzen 1992; Zur Entwicklung des sorbischen
Schulwesens in der DDR, Hamburg 1993; Sprachenpolitik in der Lausitz. Eine Do-
kumentation 1949-1989, Bautzen 1995; “Die sorbische Minderheit”. In: Ethnische
Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Lexikon, München 1995.
Kaluski, Stefan: Dr. hab., geb. 1944. Geograph. Seit 1968 wissenschaftlich-didakti-
scher Mitarbeiter der Fakultät für Geographie und Regionalstudien der Universität
Warschau. Publikationen: “Die Donau als Staatsgrenze und ihre Wirkungen auf die
Kulturlandschaft”, Basel 1981. “Frontier Rivers and the Shaping of Regional Ties in
Europe”, Warszawa 1992.
Krämer, Hans Leo: geb. 1936, nach Promotion (1968) und Habilitation (1973) Pro-
fessor für Soziologie zunächst an der Pädagogischen Hochschule und ab 1978 an der
Universität des Saarlandes. Direktor des Instituts für praxisorientierte Forschung und
Bildung. Leiter der Kooperationsstelle Hochschule und Arbeitswelt. Veröffentli-
chungen empirischer und theoretischer Studien zur Gesellschaftstheorie, Kultur- und
Bildungssoziologie, Arbeitsmarktpolitik und Transformation in Osteuropa.
Lüsebrink, Hans Jürgen: Jg. 1952, Prof. Dr. phil., seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls
für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Uni-
versität Saarbrücken; Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Deutsch-französische
Beziehungen, insbesondere interkulturelle Transfer- und Wahmehmungsprozesse;
Mentalitäts- und Kulturgeschichte Frankreichs von der Frühen Moderne bis zur Ge-
genwart; frankophone Literaturen und Kulturen außerhalb Europas.
Mohr, Bernhard: Dr. phil., Akad. Oberrat am Institut für Kulturgeographie der Uni-
versität Freiburg i. Br., geb. 1938, Abitur 1958, Staatsexamen 1964, Promotion 1968.
Veröffentlichungen (Auswahl): Rheinfelden (Regio Basiliensis 1978). Industrie im
Schwarzwald (Der Schwarzwald, Bühl 1980). Elsässische Grenzgänger in der Regi-
223
on Südlicher Oberrhein, Freiburg 1982. Der Schwarzwald (Geograph. Landeskunde
von Baden-Württemberg, Stuttgart 1993). Deutsche Grenzgänger in der Nordwest-
schweiz, Basel 1986. Wirtschaftsgeographie Südbadens (Südbaden, Stuttgart 1992).
Landwirtschaft des Hohen Schwarzwaldes, Konstanz 1997 (mit E.-J. Schröder).
Müller, Wulf: geb. 1941 in Baden-Baden, 1960-65 Studium der Romanistik und
Anglistik in Freiburg i. Br., Paris, Southampton und Freiburg (Schweiz). 1966-71
Schuldienst. 1971 Promotion. 1971-74 Mitarbeiter am Sprichwörter-Thesaurus in
Bern. Seit 1974 Dialektologe am Glossaire des patois de la Suisse romande in Neuen-
burg. Publikationen zu Namenkunde und mittelalterlicher Sprache der Suisse roman-
de.
Oberweis, Michael: Dr., geb. 1960, Priv.-Doz. für Mittelalterliche Geschichte u.
Hist. Hilfswissenschaften an der Universität des Saarlandes. 1978-1983 Studium der
Fächer Geschichte, Sozialkunde u. Kath. Religion; 1988 Promotion zum Dr. phil. mit
einer quellenkundlichen Untersuchung über die “Interpolationen im Chronicon Ur-
spergense” (ersch. München 1990). 1997 habilitiert mit “Studien zu Entstehung und
Funktion der mittelalterlichen Ritualmordlegende” (Druck i. Vorb.). Weitere Veröf-
fentlichungen zur Geschichte des mittelalterlichen Ordenswesens und des Juden-
tums.
Pryce, Huw: Dr. Huw Pryce is a Senior Lecturer in History at the University of Wa-
les, Bangor, where he has taught since 1981. In addition to articles on médiéval
Welsh history he is the author of Native Law and the Church in Médiéval Wales (Ox-
ford University Press, 1993), co-editor (with Nerys Ann Jones) of Yr Arglwydd Rhys
[The Lord Rhys] (University of Wales Press, 1996), and editor of Literacy in Médié-
val Celtic Societies (Cambridge University Press, 1998).
Ratajczak, Cordula: geb. 1964, Studium der Kulturanthropologie/Europäischen Eth-
nologie, Historischen Ethnologie und Religionsphilosophie in Frankfurt am Main,
seit 1995 Doktorandin am Sorbischen Institut Bautzen.
Schmit, Carole: Studium in Luxemburg und Paris. Studienabschluß Diplome d’Etu-
des Approfondies (D.E.A.) in Metz. Seither Gymnasiallehrerin in Luxemburg, Dok-
torandin in Metz mit dem Dissertationsthema: “Les travailleurs frontaliers au Lu-
xembourg, 1965-1995”.
Schneider, Reinhard: Prof. Dr. phil,, geb. 1934, Inhaber des Lehrstuhls für Geschich-
te des Mittelalters an der Universität des Saarlandes. Nach Schuldienst und Promoti-
on 1963 an der Freien Universität Berlin Habilitation 1971 und Professur; 1974-80 o.
Prof. Universität Marburg, seither Saarbrücken. Schwerpunkte in Lehre und.For-
schung: Geschichte des Früh- und Hochmittelalters, Verfassungsgeschichte, Ge-
schichte der Zisterzienser (Wirtschaft u. Studium).
Schorr, Andreas: M.A., geb. 1965 in Wiesbach/Saar, Studium der Älteren deutschen
Philologie, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Spanischen Philologie in
224
Saarbrücken und Valladolid/Spanien, Magister 1993, zur Zeit wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Lehrstuhl fur Ältere deutsche Philologie an der Universität des Saar-
landes, Veröffentlichungen zur Namenkunde, u.a. ‘Saarländische und ostlothringi-
sche Flurnamen unter kontaktlinguistischen Aspekten’, in: Sprachpolitik und Inter-
kulturalität, hg. von Jacob Kombeck, Trier 1996, S.40-62.
Christian Schulz: Dr. phil., geb. 1967, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Univer-
sität des Saarlandes, Fachrichtung Geographie, und Maître de Conférence invité am
Centre d’Etudes Géographiques de l’Université de Metz (CEGUM). Schulz, C.
(1996): L’Agglomération Transfrontalière du Pôle Européen de Développement
(PED) Longwy-Rodange-Athus. Expériences et perspectives d’un programme trina-
tional de restructuration économique. In: Revue Géographique de l’Est 2 (1996),
S.133-150. Nancy. Schulz, C. (1998): Interkommunale grenzüberschreitende Zu-
sammenarbeit im Saar-Lor-Lux-Raum. Arbeiten aus dem Geogr. Institut der Univer-
sität des Saarlandes 44. Saarbrücken (im Druck).
Weth, Stephan: Prof. Dr., geb. 1956, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und
Europäisches Prozeß- und Arbeitsrecht sowie Bürgerliches Recht und Direktor des
Instituts für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität des Saarlandes. Nach
Promotion (1986) über das Thema “Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens im
Zivilprozeß” und Habilitation (1993) über das Thema “Das arbeitsgerichtliche
Beschluß verfahren” war Weth etwa ein Jahr Professor an der Friedrich-Alexander-
Universität Erlangen-Nürnberg (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und
Sozialversicherungsrecht) ehe er an die Universität des Saarlandes wechselte. Als
Veröffentlichungen sind neben Promotions- und Habilitationsschrift die
Monographie “Rechtskraftdurchbrechung bei unrichtigen Titeln” (1994), die
Kommentierung des Rechtsberatungsgesetzes (in: Henssler/Prütting, Bundesrechts-
anwaltsordnung, München 1997) sowie die Kommentierung der §§ 50-90 der
Zivilprozeßordnung (in: Musielak, Kommentar zur ZPO, 1998) zu nennen.
225
Veröffentlichungen
der Kommission für Saarländische Landesgeschichte
und Volksforschung
I. Hans-Walter Herrmann, Geschichte der Grafschaft Saarwerden bis zum Tahre DM
1527
Band 1: Quellen, 1957ff., 676 S. 1.-3. Lieferung 36,—
Band 2: Darstellung, 1959 (- Dissertation) 265 S. (vergriffen)
II. Saarländische Bibliographie
Band 1: 1961/62, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Heinz Kalker,
1964, 448 S„ 3978 Titel 29,50
Band 2: 1963/64, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1966, 362 S., 3623 Titel 29,—
Band 3: 1965/66, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1968, 381 S„ 3792 Titel 32,50
Band 4: 1967/68, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1970, 382 S„ 3724 Titel 45,—
Band 5: 1969/70, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1972, 324 S., 2791 Titel 42,50
Band 6: 1971/72, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1974, 282 S„ 2251 Titel 42,50
Band 7: 1973/74, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1976,271 S., 2109 Titel 49,—
Band 8: 1975/76, zusammengestellt von Lorenz Drehmann und Ursel Perl,
1978, 306 S„ 2343 Titel 58,—
Band 9: 1977/78, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1980,
413 S-, 3262 Titel 68,—
Band 10: 1979/80, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1982,
424 $., 3242 Titel 81,—
Band 11: 1981/82, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1985,
294 S., 3333 Titel 78,—
Band 12: 1983/84, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1986,
309 S„ 3572 Titel 78,—
Band 13: 1985/86, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1988,
314 S„ 3852 Titel 78,—
Band 14: 1987/88, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1991,
358 S„ 4445 Titel 82,—
Band 15: 1989/90, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1992,
417 S., 4788 Titel 98,—
Ab Juli 1996 erfolgen Herausgabe und Vertrieb der Saarländischen Bibliographie über die Saarländische
Universitäts- und Landesbibliothek, Universität des Saarlandes, Postfach 151141, 66041 Saarbrücken
III. Maria Zenner, Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbunds-
regime 1920-1935, 1966, 434 S. 22,50
IV. Eduard Hlawitschka, Die Anfänge des Hauses Habsburg-Lothringen, 1969,
4. T, 209 S. 25,—
V. Manfred Pohl, Die Geschichte der Saarländischen Kreditbank Aktiengesell-
schaft, 1972, 14 Tab., 146 S. 29,50
VI. Fritz Jacoby, Die nationalsozialistische Herrschaftsübernahme an der Saar,
1973, 275 S. (vergriffen)
VII. Dieter Staerk, Die Wüstungen des Saarlandes, 1976, 445 S. 52,50
VIII. Irmtraud Eder, Die saarländischen Weistümer - Dokumente der Territorial-
politik, 1978, 272 S. 38,—
IX. Marie-Luise Hauck/Wolf gang Läufer, Epitaphienbuch von Henrich Dors
(Genealogia oder Stammregister der durchlauchtigen hoch- und wohlgebore-
nen Fürsten, Grafen und Herren des Hauses Nassau samt Epitaphien von
Henrich Dorsen), 1983, 286 S. 120,—
X. Jürgen Karbach, Die Bauernwirtschaften des Fürstentums Nassau-Saarbrücken
im 18. Jahrhundert, 1977, 7 Tab., 255 S. 48,—
XI. Hans Ammerich, Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur Regierung
von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches, 1981, 6 Beil., 284 S. 55,—
XII. Klaus Michael Mallmann, Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar
(1848-1904), 1981, 370 S. 59,—
XIII, Beiträge zur Geschichte der frühneuzeitlichen Garnisons- und Festungsstadt.
Referate und Ergebnisse der Diskussion eines Kolloquiums in Saarlouis vom
24.-27. 6. 1980, zusammengestellt von Hans-Walter Herrmann und Franz
Irsigler, 1983, 256 S. 57,—
XIV. Heinrich Küppers, Bildungspolitik im Saarland 1945-1955, 1984, 362 S. 68,—
XV. Wolfgang Haubrichs, Die Tholeyer Abtslisten des Mittelalters. Philologische,
onomastische und chronologische Untersuchungen, 1986, 267 S. 64,—
XVI. Ernst Klein, Geschichte der saarländischen Steinkohlengrube Sulzbach-Alten-
wald (1841-1932), 1987, 146 S. 29,—
XVII. Thomas Herzig, Geschichte der Elektrizitätsversorgung des Saarlandes unter
besonderer Berücksichtigung der Vereinigten Saar-Elektrizitäts-AG, 1987, 414 S. 48,—
18. Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende (1871-1918).
Referate eines Kolloquiums in Dillingen am 29./30, September 1988, hrsg. von
Hans-Walter Herrmann, 1991, 184 S. 48,—
19. Die alte Diözese Metz. L’ancien Diocèse de Metz. Referate eines Kolloquiums
in Waldfischbach-Burgalben vom 21.-23. März 1990, hrsg. von Hans-Walter
Herrmann, 1993, 320 S. 65,—
20. Stefan Flesch, Die monastische Schriftkultur der Saargegend im Mittelalter,
1991,239 5. 32,—
21. Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum (19. u.
20. Jh.), Développement urbain dans la région frontalière France-Allemagne-
Luxembourg (XIXe et XXe siècles), hrsg. von/sous la direction de Rainer
Hudemann, Rolf Wittenbrock, 1991, 362 S., davon 36 S. Abb. 45,—
22. Grenzen und Grenzregionen. Frontières et Régions Frontalières. Borders and
Border Régions, hrsg. von/sous la direction de/edited by Wolfgang Haubrichs,
Reinhard Schneider, 1994, 283 S. 45,—
23. Stefan Leiner, Migration und Urbanisierung. Bmnenwanderungsbewegungen;
räumlicher und sozialer Wandel in den Industriestädten des Saar-Lor-Lux-
Raumes 1856-1910, 1994, 443 S. 48,—
24. Zwischen Saar und Mosel. Festschrift für Hans-Walter Herrmann zum 65. Ge-
burtstag. Herausgegeben von Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Läufer, Reinhard
Schneider, 1995, 526 S. HO,—
25. Dieter Muskalla, NS-Politik an der Saar unter Josef Bürckel. Gleichschaltung -
Neuordnung - Verwaltung, 1995, 714 S. 78,—
26. LOTHARINGIA eine europäische Kernlandschaft um das Jahr 1000 - une
region au centre de l’Europe autour de l’an Mil. Referate eines Kolloquiums
vom 24. bis 26. Mai 1995 in Saarbrücken unter der Schirmherrschaft von Oskar
Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes und Bevollmächtigter der Bundes-
republik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages
über die deutsch-französische Zusammenarbeit. Herausgegeben von Hans-
Walter Herrmann und Reinhard Schneider, 1995, 257 S. (vergriffen)
27. Thomas Trapp, Die Zisterzienserabtei Weiler-Bettnach (Villers-Bettnach) im
Hoch- und Spätmittelalter, 1996, 409 S. 68,—
28. Hans-Christian Herrmann, Sozialer Besitzstand und gescheiterte Sozialpart-
nerschaft. Sozialpolitik und Gewerkschaften im Saarland 1945 bis 1955. 1996,
584 S. 68,—
29. Sprachenpolitik in Grenzregionen. Politique linguistique dans les régions
frontalières. Language Policy in Border Régions. Polityka jçzykowa na pogra-
niczach. Herausgegeben von Roland Marti, 1996, 415 S. 58,—
30. Jean-Marie Yante, Le péage lorrain de Sierck-sur-Moselle (1424-1549). Analyse
et édition des comptes. 1996, 371 S. 48,—
31. Frank Legi, Studien zur Geschichte der Grafen von Dagsburg-Egisheim, 1998,
699 S. 78,—
32. Klaus Ries, Obrigkeit und Untertanen. Stadt- und Landproteste in Nassau-
Saarbrücken ira Zeitalter des Reformabsolutismus, 1997, 492 S. 70,—
33. „Grenzgänger“. Herausgegeben von Reinhard Schneider, 1998, 225 S. 36,—
Auslieferung durch:
SDV Saarbrücker Druckerei und Verlag GmbH, Halbergstr. 3, 66121 Saarbrücken, Telefon
0681-665 01-35
Außerhalb der Reihe ist erschienen und über die Geschäftsstelle der Kommission für Saarländische
Landesgeschichte und Volksforschung eV Dudweilerstraße 1, 66133 Saarbrücken, erhältlich:
Fritz Eyer, Saarländische Betreffe des Départementsarchives Meurthe-et-Moselle in
Nancy, 1976, 379 S. DM 35,—