Man kann diese Geschichte zunächst einmal als eine Kulturkontakterzählung kenn¬
zeichnen: Sie problematisiert den Kontakt zweier Kulturen in Form einer Narration.
Kulturkontakterzählungen lassen sich mit dem europäischen Ethnologen Klaus Roth
definieren als „individuelle oder kollektive narrative Wiedergaben interkultureller
Interaktionen, gewöhnlich von überraschenden, kritischen, konflikthaften, unerwar¬
teten oder unerklärbaren Erfahrungen und Erlebnissen“18. Sie ist andererseits keine
Kulturkontakterzählung, da der verhandelte Vorfall sich nicht wesentlich zwischen
zwei Kulturen ereignet, sondern mnnerhalb eines Kultur- und Lebenszusammen¬
hangs, der sein Verhältnis zu einem anderen klären will. Es kommt im eigentlichen
Sinne auch zu keiner interkulturellen Interaktion: Alle Beteiligten zeichnen sich
durch die Partizipation an der gleichen Kultur aus.
Es scheint sich hierbei um eine kollektive Erzählung zu handeln, die zwar der Nach¬
barin, Bekannten oder einer sonstwie dem Dorf zugehörigen Frau diese Geschichte
als erlebte individuelle Erfahrung zuordnet, die aber in einer ähnlichen Form von ei¬
ner anderen Frau in einem anderen Dorf ähnlich erzählt wird: Ich habe sie in Mühlro¬
se in der Version eines Bruders im Westen in der Rolle des Initiatiors und Blamierten
gehört, einer Mitarbeiterin unseres Projekts wurde sie im Nachbardorf Rohne in der
Fassung eines in Weißwasser arbeitenden und im Dorf lebenden Ehemanns erzählt19.
Das stereotypisierte Narrativ, das ich hier in bezug auf das Schleifer Kirchspiel inter¬
pretieren werde (wobei zu fragen wäre, in welchen sorbischen oder europäischen
Minderheitskontexten es vergleichbare Erzählungen gibt) reflektiert eine bestimmte
Krisensituation. Auf den ersten Blick ist es der Konflikt der unterschiedlichen Le¬
bensweltausrichtungen von Männern und Frauen: Die Männer zwingen ihre Frauen,
Schwestern und wahrscheinlich auch Mütter gegen deren Willen, den Übertritt zu der
von ihnen präferierten deutsch-modernen Kultur zu vollziehen. Diese folgen der
Weisung, scheinen aber nicht fähig, den Wechsel zu vollziehen und geben damit sich
und den Mann der Lächerlichkeit preis. Lächerlich, so wird diese Geschichte von
meiner Erzählerin gewertet, machen sich nämlich nicht nur die Frauen durch ihre
mangelnde interkulturelle Kompetenz, sondern ebenso die Männer, die von den
Frauen etwas Falsches, nämlich ihrer Lebens Wirklichkeit in der Innenwelt Dorf Un¬
angemessenes verlangen. Der mißlungene Versuch des Wechsels auf die andere Sei¬
te macht aus einer akzeptierten Dörflerin dieser Generation nicht nur eine falsch ge¬
kleidete ‘Doppelthütige’, sondern im Falle des Gelingens eine richtige „Ente in Stök-
kelschuhen“, wie meine Erzählerin kommentierte, und gibt sie damit dem allgemei¬
nen Spott der Lebens weit Dorf preis,
Diese Erzählung eines gescheiterten Versuchs kultureller Grenzüberschreitung in der
Metapher eines Kleiderwechsels wertet sowohl die interkulturelle Inkompetenz der
Frauen als unangemessen und fordert deutsche Kulturkompetenz ein, wie es gleich¬
zeitig die Forderung nach deutscher Kulturpraxis der Unangemessenheit überführt:
18 Klaus Roth, Erzählen und Interkulturelle Kommunikation, in: Klaus Roth (Hg.), Mit der
Differenz leben. Europäische Ethnologie und Interkulturelle Kommunikation (Münchner
Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation 1 = Südosteuropa Schriften 19), München
1996, S. 69.
19 Vgl. Ines Neumann, „Man konnte sich ja nicht mal in die Stadt trauen“. Deutungen und
Wertungen des Sorbischen, in: Skizzen aus der Lausitz (wie Anmerkung 10), S. 217.
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