tivphänomene kannte, denn sonst würde etwa das Thema “Spitzel am Oberrhein” um
einen interessanten Aspekt gewiß beraubt.5
Die modernen Definitionen legen die Vermutung nahe, daß dieses Grenzgänger-Phä¬
nomen doch nicht sehr alt sein kann, daß sich keine nennenswerte historische Per¬
spektive und mithin auch kaum Niederschlag auf den Feldern der Sprache, Literatur,
vielfältiger kultureller und sicher auch sozialer Bereiche ergebe. Dies wäre allerdings
sorgsam zu prüfen! Denn bereits die heutigen - nicht ganz unstrittigen - Definitionen
profitieren von der Ausgrenzung ähnlicher, vielleicht sogar zugehöriger Erschei¬
nungsformen, sie sind abhängig von bewußten Akzentuierungen bei gleichzeitiger
Nichtberücksichtigung verwandter, möglicherweise wesentlicher Aspekte und Teil¬
phänomene. So ergibt sich mindestens die Pflicht auch zu historischer Untersuchung,
zur Rückschau in vergangene Zeiten, denn strukturelle Vorgaben des heutigen
Grenzgänger-Phänomens könnten sich durchaus finden lassen. Dies berechtigt wohl
dazu, den thematischen Rahmen weiter zu fassen, die Gesamtthematik nicht aus¬
schließlich unter eine ggf. recht starre Definition zu stellen, die andererseits bei einer
resümierenden Betrachtung sich als hilfreich, akzeptabel erweisen könnte, vielleicht
aber auch modifiziert werden müßte. Insofern mag der Blick auch Gastarbeitern,
wandernden Handwerkern und Arbeitern, Saisonarbeitern bzw. Saisonniers gelten,
wie man in der Schweiz sie nennen würde. Sicher müßte die Aufmerksamkeit auch
Einzelfragen bzw. Rahmenbedingungen gelten, beispielsweise der Durchlässigkeit
von Grenzen als notwendiger Voraussetzung, ferner dem Element der Freizügigkeit
und der Mobilität, die ja nicht nur technisch bedingt ist, sondern mindestens auch
mental, um von rechtlichen, sozialen und ökonomischen Schranken gar nicht zu re¬
den. Letztlich spiegeln sich in der Thematik “Grenzgänger” auch Formen der Ge¬
wöhnung an Fremde, ein relatives Vertrautsein mit Fremden und ein Vertrauen zu ih¬
nen - also eine wahre Vielfalt von Bezügen und Bedingungen, die in interdisziplinä¬
rer Betrachtung deutlicher werden als bei einer fachlich einseitigen Prüfung, und sei
sie noch so wichtig. Mit dieser Annahme ist sogar die Hoffnung auf plastische, le¬
bensvolle Bilder verknüpft, die sich vielleicht im literarischen Niederschlag als ein¬
drucksvollster Verdichtung finden lassen.
Die Konzentration auf historische Vor- und Frühformen der Grenzgängerei steht vor
Schwierigkeiten. Achtet man nämlich bei Grenzgängern vorzugsweise auf deren Su¬
che nach Arbeit und Existenzsicherung, so ergibt sich in weit zurückliegenden Jahr¬
hunderten kaum ein nennenswerter Niederschlag in den Quellen. Es wäre aber falsch
anzunehmen, daß Arbeitskräfte in großer Zahl für bestimmte Zeiträume und ggf.
Großprojekte nicht benötigt wurden. Eher ist an die uralte Form der Beschaffung von
Arbeitskräften zu denken, die Sklaverei. Wer keine Sklaven besaß, kaufte sie oder
verschaffte sie sich gewaltsam, indem er bislang freie, halb- oder minderfreie Men¬
schen versklavte. Eine sehr übliche Form war die Versklavung von Kriegsgefange¬
nen. Da diese Art der Arbeitskräftebeschaffung sehr effektiv ist, wurde sie seit jeher
praktiziert, auch das 20. Jahrhundert kennt den Einsatz von Kriegsgefangenen zur
Sklavenarbeit, es hat sogar die zahlenmäßigen Größenordnungen mitunter enorm zu
steigern gewußt. Doch sollen diese schandbaren Seiten auch europäischer Geschich¬
5 Das Referat von Claudia Ulbrich “Spitzel am Oberrhein (Ende des 18. Jh.)” fehlt leider in
diesem Band.
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