schieden zwischen Stadt und Land, auch sozioprofessionell und konfessionell,
nicht zuletzt individuell bedingt. Eben die neueste Untersuchung (1993), die in
den Grundschulen der Académie de Strasbourg durchgeführt wurde, dokumen¬
tiert die extremen Variationen, was die Gegenwart und Zukunft des Dialekts
betrifft: nur noch 2 Prozent dialektophone Schulkinder in Mulhouse, 5 Prozent
in Strasbourg, aber 54 Prozent in der Gegend um Wissembourg und 62 Prozent
um Sarre-Union, wobei das Stadt/Land-Verhältnis drastisch zum Vorschein
kommt, aber auch ein eigenartiges Nord-Süd-„Gefälle“.5 Diese Zahlen sind be¬
ängstigend für das Überleben der Mundart, sie beweisen aber auch, daß der
Dialekt gebietsweise erhalten bleibt. Es ließe sich dabei zeigen, daß dieses
Überleben auch qualitativ bedingt ist, daß hier die traditionelle Sprachstruktur
gesichert ist. Jedenfalls stellt sich die Vielfalt der Sprachsituation sowie ein
ausgesprochen konservatives Terrain der allzu vereinfachenden These des
„Bruchs“ entgegen.
Wir möchten ein literarisches Argument hinzufügen, das in den linguistischen
Untersuchungen (auch was die Erstellung des Korpus angeht) zumeist unbe¬
rücksichtigt bleibt. Ist Dichtung nicht das kreative Lebenszeichen einer Spra¬
che? Die Erneuerung der elsässischen Literatur seit den siebziger Jahren darf in
dieser Hinsicht als bedeutsam bezeichnet werden.6 Nichts Museales, Rückstän¬
diges, Regressives, Archaisierendes haftet diesen Werken an: noch nie war die
Dialektpoesie so sehr von Moderne und Modernität geprägt; noch nie war sie so
progressiv, noch nie so engagiert. Dort, wo es Kreativität gibt, gibt es keinen
Untergang. Und da ist auch keine Spur eines „Bruchs“ zu verzeichnen, ganz im
Gegenteil. Diese Literatur siedelt sich in einem größeren, gesamtalemannischen
Sprachraum an und lebt von und in der Öffnung der engen, allzu engen Gren¬
zen. Wenn diese Literatur oft in Deutschland veröffentlicht wird, deutet das
auch auf die grenzüberschreitende Rezeption hin. Gerade diese Aufnahme im
gesamtalemannischen Sprachraum ist für sie zur conditio sine qua non ihres
Überlebens geworden. Es ist heute kaum noch möglich, im Elsaß einen Verle¬
ger für ein deutschsprachiges Buch zu finden (auch in der Mundart ist es
schwierig geworden), schon weil es an einem Publikum fehlt, das noch über die
notwendigen Sprachkenntnisse verfügt, und weil die frankophonen Medien sol¬
che Publikationen kaum wahrnehmen und zur Kenntnis bringen. Die Verbin¬
dung mit dem deutschen Sprachraum erweist sich als sprachliche Notwendig¬
keit, und dieses literarische Modell darf in seiner richtungsweisenden Bedeu¬
tung verallgemeinert werden.
Jedoch scheint im heutigen Sprachbewußtsein der native speaker diese Einheit
von „Elsässisch“ (in seinen Varianten) und „Deutsch“ (als Standardsprache der
Koine) nicht (mehr) klar zu existieren. Eben dieses mangelnde „Bewußtsein“
wird jener doppelten Dimension der „Regionalsprache“ entgegengesetzt. Sozio-
5
6
Enquête rentrée 1993, in: L’enseignement des langues dans l’Académie, S. 30.
Vgl. Finck: Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Elsaß, S. 75 ff.
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