Jean-Paul Lehners
Wohnen in Düdelingen zu Beginn des 20. Jahrhunderts7
In der Literatur zur Industrialisierung Luxemburgs findet man des öfteren den Begriff
der ausgebliebenen Verproletarisierung der Luxemburger Industriearbeiterschaft.1 2
Dabei wird das Wohnen fast nur im Rahmen der "traditionellen Vorliebe für das
eigene Haus" angesprochen,3 während die verschiedenen Aspekte der Wohnbedin¬
gungen der Arbeiterschaft als wichtiges Indiz für das Vorhandensein oder Fehlen
eines Industrieproletariats weitgehend unbeachtet bleiben. Vor allem zeitgenössische
Untersuchungen im Bereich des Wohnungswesens sind bisher in dieser Perspektive
von der Forschung kaum ausgewertet worden, obwohl sie weitere Hinweise über
einen zentralen Lebensbereich der Industriearbeiterschaft enthalten. Eine auf empiri¬
schen Daten beruhende Analyse der Wohnbedingungen jedoch kann für die Debatte
um die ausgebliebene Proletarisierung in Luxemburg eine zusätzliche Dimension
eröffnen und eine sozialhistorische Kategorienbildung dadurch absichern, daß neben
der sonst dominierenden Positionsbestimmung im Produktionsprozeß nun auch der
Bereich der Reproduktion erfaßt wird.
Detaillierte Angaben über die Wohnverhältnisse in einer rasch wachsenden Industrie¬
siedlung enthält eine Häuser- und Wohnungsuntersuchung, die 1905/6 für einige
Gemeinden im Montanrevier im Süden Luxemburgs erstellt wurde. Schon die Auto¬
ren dieser Wohnungsenquete waren sich darüber im klaren, daß die Lösung des
1 Dieser Artikel, eine erweiterte Fassung des Vortrags in Orscholz, entstand im Rahmen
meines vom Luxemburger Staat geförderten Forschungsprojekts "Structures familiales et vie
ouvrière au Luxembourg (1800-1920)" (MEN/CUL 87/001) am Centre Universitaire in
Luxemburg. Zum Konzept dieses Forschungsprojekts s. Jean-Paul Lehners, Demographische
und soziale Aspekte der Industrialisierung im Luxemburger Eisenerzbecken (1850-1920). Ein
Werkstattbericht, in: Historische Forschung mit kleio, hrsg. v. Thomas Engelke, Jürgen
Nemitz, Carolin Trenker, St. Katharinen 1990 (Halbgraue Reihe zur Historischen Fach¬
informatik. Serie A, Band 8), S. 57-67. Ich danke den Teilnehmern des Orscholzer Kollo¬
quiums für wertvolle Hinweise, besonders Rolf Wittenbrock. Ich danke ebenfalls Stefan
Leiner und Rolf Wittenbrock aus Saarbrücken sowie Mars Lorenzini aus Düdelingen für die
Durchsicht des Artikels, letzterem zusätzlich für eine Reihe wichtiger lokalhistorischer
Kenntnisse. Dank gebührt schließlich Peter Feldbauer aus Wien, den Mitarbeitern des
Nationalarchivs in Luxemburg sowie der Gemeindeverwaltung in Düdelingen für bereitwilligste
Auskunft.
2 So etwa bei Heinz Quasten, Die Wirtschaftsformation der Schwerindustrie im Luxemburger
Minett, Saarbrücken 1970, S. 164ff. Quasten beruft sich auf die Arbeiten von André Heider-
scheid, Aspects de sociologie religieuse du diocèse de Luxembourg, Luxemburg 1961-1962 (2
Bände); Paul Weber, Histoire de l’économie luxembourgeoise, Luxemburg 1950 sowie J. G.
Leibbrandt, Zware industrie in een agrarische omgeving. Rapport over de door Utrechtse
Studenten in de Sociologie gemaakte excursie naar het Groothertogdom Luxemburg in
Juni/Juli 1957, Utrecht 1957.
3 Quasten (Anm. 2), S. 167.
35