VERÖFFENTLICHUNGEN DER
KOMMISSION FÜR SAARLÄNDISCHE LANDESGESCHICHTE
UND VOLKSFORSCHUNG
Das Saarrevier
zwischen
Reichsgründung
und Kriegsende
(1871-1918)
Referate eines Kolloquiums
in Diilingen
am 29./30. September 1988
herausgegeben von
Hans-Walter Herrmann
KOMMISSIONSVERLAG:
SAARBRÜCKER DRUCKEREI UND VERLAG GMBH
SAARBRÜCKEN 1989
Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende (1871-1918)
VERÖFFENTLICHUNGEN
DER KOMMISSION FÜR SAARLÄNDISCHE LANDESGESCHICHTE
UND VOLKSFORSCHUNG
18
Das Saarrevier zwischen Reichsgründung
und Kriegsende (1871-1918)
Referate eines Kolloquiums in Dillingen
am 29./30. September 1988
herausgegeben von Hans-Walter Herrmann
Saarbrücken 1990
Kommissionsverlag: SDV Saarbrücker Druckerei und Verlag GmbH
ISBN 3-925036-42-3
ISSN 0454-3533
Gesamthersteliung: SDV Saarbrücker Druckerei und Verlag GmbH, 6600 Saarbrücken
Grafische Arbeiten: Martin Wolff, 6683 Spiesen-Elversberg
Diese Veröffentlichung wurde gedruckt mit einer Förderung durch die volksbank saar-west
Vorwort
Auf einem von der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksfor-
schung am 29./30. September 1988 in Dillingen/Saar veranstalteten Kolloquium
wurde versucht, eine Zwischenbilanz des Forschungsstandes zu einem der wichtigsten
Abschnitte der saarländischen Geschichte zu ziehen. In der Zeit zwischen 1871 und
1918 hat das Industrierevier an der mittleren Saar seine ihm eigentümliche Wirt-
schafts- und Sozialstruktur erhalten, die weit über das Ende des wilhelminischen
Reiches hinaus, auch unter gänzlich veränderten politischen Rahmenbedingungen,
jahrzehntelang Bestand behielt und erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
tiefgreifende Änderungen erfahren hat.
Die Referate des Dillinger Kolloquiums werden hiermit vorgelegt, teils in unveränder-
ter, teils in ergänzter Form, meist mit aktualisierten Literaturangaben. Herrn Karl
Kirsch war es leider aus verschiedenen Gründen nicht möglich, in der vom Herausge-
ber gesetzten Zeit den Text seines Referates „Bürgerliches Bauen zwischen 1870 und
1914“ druckfertig zu machen.
Wenige Wochen nach dem Dillinger Kolloquium trafen sich lothringische, luxembur-
gische und saarländische Historiker/innen in Metz, um eine ähnliche Zwischenbilanz
zu ziehen, nun aber in einem größeren zeitlichen und geographischen Rahmen. Ihre
Ergebnisse, die inzwischen durch Alfred Wahl1 herausgegeben wurden, ergänzen die
der Dillinger Tagung für den größeren Saar-Lor-Lux-Raum.
Die Veröffentlichungsreihe der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und
Volksforschung erhält mit dem vorliegenden Band 18 ein neues Gesicht. Gleichzeitig
haben wir zwischen den Sammelbänden und Monographien einerseits und den
Bänden der Saarländischen Bibliographie andererseits eine farbliche Unterscheidung
eingeführt. Der Vorstand der Kommission hofft, daß diese Änderungen des äußeren
Erscheinungsbildes bei den Lesern und Abonnenten unserer Veröffentlichungen
Zustimmung finden. >
Saarbrücken, im Mai 1990 Hans-Walter Herrmann
1 L’Histoire moderne et contemporaine en Sarre-Lorraine-Luxembourg. Actes du Colloque de
Metz. Novembre 1988, présentés par Alfred Wahl, Metz 1990 (Centre de Recherche Histoire
et Civilisation de l’Université de Metz 18).
5
Inhalt
Seite
Vorwort ................................................................. 5
Hans-Walter Herrmann, Saarbrücken
Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende.................... 9
Michael Sander, Saarbrücken
Gewerkschaftsbewegung im Montanrevier - Arbeiter und ihre Organisation 40
Klaus-Michael Mallmann, Saarbrücken
Zwischen Machtanbetung und Revolte - Protestanten und Proletarisierung an
der Saar.................................................................... 57
Richard van Dülmen, Saarbrücken
Arbeiterkultur im Saarrevier ............................................... 71
Franz Ronig, Trier
Der Kirchenbau im Saarland in der Zeit von 1870 bis 1918 ................ 84
Paul Thomes, Saarbrücken
Die Saarwirtschaft nach der Reichsgründung zwischen Boom und Krise .... 115
Konrad Fuchs, Mainz
Ausbau und Funktionen des Eisenbahnnetzes im lothringisch-saarländischen
Industrierevier ........................................................... 133
Hanns Klein, Neunkirchen
Das stellvertretende Generalkommando des XXI./XVI. Armeekorps (Saar-
brücken) als Organ der Militärverwaltung im Ersten Weltkrieg .............. 148
7
Hans-Walter Herrmann
Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende
(1871-1918)*
I. Zur Abgrenzung des Themas
Mir ist die Aufgabe zugefallen, in die Thematik unserer Tagung einzuführen und den
Stand der Forschung in einigen Bereichen zu skizzieren. Die zeitliche Begrenzung
„zwischen Reichsgründung und Kriegsende“ erscheint auf den ersten Blick als die
Übertragung einer aus der allgemeinen deutschen Geschichte geläufigen Epoche auf
die Geschichte der hiesigen Region. Gewiß trifft dies für manche Entwicklungen der
Innenpolitik, der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu. Doch ergeben sich aus der
Geschichte der Saargegend selbst Fakten, die die Abgrenzung des Zeitabschnittes
zwischen 1871 und 1918 rechtfertigen. Dies bedarf für das Endjahr 1918, das mit
dem Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreiches die temporäre Lösung des
Saarindustriereviers aus dem deutschen Staatsverband und damit die teilweise Ver-
wirklichung eines Teiles der französischen Kriegsziele ermöglichte, keiner eingehen-
den Erläuterung. Für den Beginn, die Wende der 1860er/1870er Jahre, erscheinen
mir einige Bemerkungen angezeigt. Die Anbindung des Reviers an ein neuzeitliches
Verkehrsnetz und die Konzentrierung der Montanindustrie auf das mittlere Saartal
sind im wesentlichen vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen. Die Verlegung der
deutsch-französischen Staatsgrenze vom Saargau und dem Südrande des Warndts auf
die Flöhen westlich der Mosel und den dadurch bedingten Wegfall der bisherigen
Grenzlage zugunsten einer Binnenlage halte ich für die wichtigsten Faktoren. Sie seien
kurz erläutert.
Schon vor 1870 waren die Eisenbahnverbindungen über Ludwigshafen nach Süd-
deutschland (1849/50), über Kreuznach ins Rhein-Main-Gebiet (1860), über For-
bach-Metz nach Frankreich (1852), über Saargemünd ins Elsaß (1870) fertiggestellt
worden.1 Lediglich die Anbindung an den Raum Köln-Düsseldorf mit Anschlußmög-
lichkeiten an die belgischen und niederländischen Nordseehäfen erfolgte in den
1870er Jahren (Eifelbahn Trier-Köln 1871 und Strecke Trier-Koblenz 1879).2 Die
* Der Aktualität willen wurden einige zwischen der Tagung in Dillingen und der Drucklegung
dieses Bandes herausgekommene Neuerscheinungen in Text und Anmerkungsapparat einge-
arbeitet, allerdings nicht mehr: Das Saarland, Band 1: Beharrung und Wandel in einem
peripheren Grenzraum; Band 2: Die Saar - eine Flußlandschaft verändert ihr Gesicht. Eine
Sammlung von Einzelbeiträgen, zahlreiche Karten und Abbildungen, Vorschläge für Exkur-
sions- und Ausflugsrouten. Aus Anlaß des 47. Deutschen Geographentages im Oktober 1989
in Saarbrücken, hrsg. von D. Soyez, W. Brücher, D. Fliedner, E. Löffler, H. Quasten
und J. M. Wagner, Saarbrücken 1989.
1 Hoppstädter, Kurt, Die Entstehung der Saarländischen Eisenbahnen, Saarbrücken 1961.
(Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde des Saarlandes Bd. 2).
2 Hoppstädter, Kurt, Die Entstehung des Eisenbahnnetzes im Moseltal und in der Eifel, nach
den Akten des Staatsarchivs Koblenz bearbeitet, 1963, der erste Teil dieser hektographischen
Arbeit wurde posthum von der Bundesbahndirektion Saarbrücken veröffentlicht: ders., Die
Eisenbahnen im Moseltal nach den Akten des Staatsarchivs Koblenz, hrsg. von der Bundes-
bahndirektion Saarbrücken, Saarbrücken 1973. Zur Geschichte der Saarländischen Eisenbah-
nen vgl. auch Harrer, Kurt, Eisenbahnen an der Saar. Eineinhalb Jahrhunderte Eisenbahnge-
schichte zwischen Technik und Politik, Düsseldorf 1984.
9
Bahnbauten der folgenden Jahrzehnte dienten vornehmlich drei Zwecken: dem
Massengüterverkehr zwischen der Saar und Lothringen, dem Personenverkehr zwi-
schen Wohnort und Arbeitsplatz und militärischen Zwecken. Konrad Fuchs geht in
einem eigenen Beitrag dieses Sammelbandes darauf näher ein.3
Ein für die damalige Zeit ausreichender Wasserstraßenanschluß war 1866 eröffnet
worden. Bis zur Grenze bei Saargemünd war die Saar für Lastschiffe bis 350 t
ausgebaut, und durch den auf eigener Trasse angelegten Saar-Kohlen-Kanal im
Gunderchinger Weiher (Etang de Gondrexange) der Anschluß an den Rhein-Mar-
ne-Kanal vollzogen worden. Von dort gelangten die Schiffe in östlichem Kurs über
Zabern nach Straßburg.4 Ein Anschluß über den Rhein an das deutsche Wasserstra-
ßennetz ergab sich erst 1892, vorher war der Rhein nur bis Ludwigshafen schiffbar.5
Im Westen fanden sie Anschluß an das französische Wasserstraßennetz.
Die Veränderung der Verkehrsstruktur durch Eisenbahnbau und Saarkanalisierung
hatte die Konzentrierung der Saarindustrie auf die mittlere Saar und ihre Nebentäler
maßgeblich bestimmt. Neue Schächte der Steinkohlenbergwerke waren in Eisenbahn-
nähe abgeteuft, die Flächen zur Anlage neuer Glashütten und anderer Industriebetrie-
be so ausgewählt worden, daß mit wenigen Kilometer Industriegleis der Anschluß an
das öffentliche Bahnnetz zu bewerkstelligen war.
Im Bereich der Eisenindustrie hatten die Erschöpfung einheimischer Erzlager und die
Ersetzung der Holzkohle als Reduktionsstoff im Hochofenprozeß durch Steinkohlen-
koks die Standortverschiebung und Konzentration bestimmt. Die älteren kleinen
Werke im Hochwald und in den Seitentälern der Saar (Scheidterbach, Sulzbach,
Fischbach, Rossel) waren schon eingegangen oder wurden bald stillgelegt, als letztes
die Hütte in Geislautern (1884). Um 1870 war die Frage der ausreichenden
Erzversorgung der Saarhütten noch offen, ein Teil wurde aus der Lahngegend, ein
anderer Teil aus Lothringen gedeckt. Erst die Einführung des Thomas-Verfahrens
erlaubte seit Anfang der 1880er Jahre die Verhüttung der lothringischen und
luxemburgischen Minette in großem Maße. Diese hüttentechnische Innovation eröff-
nete den voluminösen Austausch saarländischer Steinkohle gegen lothringisches Erz,
wie er fast ein Jahrhundert lang die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden
Revieren charakterisierte. Er vollzog sich um so leichter als, wie bereits gesagt, mit
dem Frankfurter Frieden die Grenze zwischen dem Saarrevier und Lothringen gefallen
war.6
Die Verbesserung der Grenzlage zur Binnenlage, die Anbindung an das deutsche und
französische Verkehrsnetz und die Konzentrierung der Montanindustrie auf die
mittlere Saar und ihre rechten Nebenflüsse halte ich für die aus der saarländischen
3 Vgl. S. 133-147.
4 Böcking, Werner, Schiffe auf der Saar. Geschichte der Saarschiffahrt von der Römerzeit bis
zur Gegenwart, Saarbrücken 1984.
5 Reichsland Elsaß-Lothringen. Bd. 1, Straßburg 1898, S. 162.
6 Poidevin, Raymond, Les relations économiques et financières entra la France et l’Allemagne
1898-1914, Paris 1969. Thomes, Paul, Wirtschaftliche Verflechtungen einer Grenzregion:
die Industrielandschaft Saar-Lor-Lux im 19. Jh., in: Jb. f. westdtLandesgesch. 14, 1988
S. 181-198.
10
Geschichte sich ergebenden Fakten, um mit guten Gründen mit der Wende der
1860er/1870er Jahre einen neuen Abschnitt der saarländischen Geschichte beginnen
zu lassen.
Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zur räumlichen Abgrenzung des Themas.
Der Begriff „Saarrevier“, der im 19. Jh. wiederholt begegnet,7 ist noch nicht mit
administrativen Grenzen zu präzisieren. Er gilt für die Industriestandorte und die
zugehörigen Arbeiterwohngebiete.8 Preußen hatte im Jahre 1816 seine neu erworbe-
nen Gebiete an der Saar und deren unmittelbares Hinterland in den fünf Kreisen
Saarbrücken, Ottweiler, Saarlouis, Merzig und Saarburg organisiert. Sie zusammen
bildeten keine eigene Verwaltung der mittleren Ebene, sondern gehörten mit anderen
Kreisen zum Regierungsbezirk Trier in der Rheinprovinz.9 Im Jahre 1834 war das
bisherige sachsen-coburgische Fürstentum Lichtenberg als preußischer Kreis St. Wen-
del ebenfalls dem Regierungsbezirk Trier eingefügt worden.10 Nach Abschluß des
eingangs geschilderten Konzentrationsprozesses in der Montanindustrie häuften sich
die Industriestandorte in den Kreisen Saarbrücken und Ottweiler. Hier lagen die
meisten Steinkohlenbergwerke, einige auch im südöstlichen Teil des Kreises Saarlouis
um Ensdorf, Griesborn und Schwalbach. Die Eisenhütten verteilten sich auf dieselben
Kreise: Neunkirchen im Kreis Ottweiler, Haiberg, Burbach, Geislautern, später dann
noch Völklingen im Kreis Saarbrücken, Dillingen im Kreis Saarlouis. In den Kreisen
Saarbrücken und Ottweiler und im südöstlichen Teil des Kreises Saarlouis lagen auch
die Kokereien und Kalkwerke, die Betriebe der Metallverarbeitung und des Maschi-
nenbaues, ebenso die Glashütten. Lediglich die Keramikindustrie zeigte eine andere
Verteilung mit Werken in Wallerfangen, Merzig und Mettlach, kleinere Unterneh-
men11 verschwanden im Laufe unseres Untersuchungszeitraumes.
Mitten durch das Industrierevier verlief die preußisch-bayerische Grenze. Sie war
zwar seit dem Beitritt Bayerns zum Zollverein (1833) keine Zollgrenze mehr, aber
auch nachdem die beiden Königreiche Preußen und Bayern Teile des neuen föderativ
strukturierten Deutschen Reiches geworden waren, blieb doch eine Reihe von
Unterschieden und Abgrenzungen bestehen. Gerade die bayerischen Reservatrechte -
eigene Eisenbahnen, eigene Post- und Telegraphenverwaltung, eigenes Heer, selbstän-
dige Besteuerung von Bier und Branntwein - ließen im wilhelminischen Reich die
bayerische Grenze stärker spürbar werden als die jedes anderen Bundeslandes.
7 Z. B. Reichsland Elsaß-Lothringen, „ein großer Teil (des Nutzholzes) wurde nach der Pfalz,
dem Saarrevier, Baden (usw.) abgesetzt“ oder die Bezeichnung „Deutsche Gewerkvereine,
Sekretariat für das Saarrevier“. Adreßbuch Saarbrücken 1911, S. 42.
8 Zur Lage der Arbeiterwohngebiete vgl. Horch S. 31-34 (wie Anm. 135) und Saaratlas (wie
Anm. 42) insbesondere S. 98 f. und Tafel 35.
9 Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945, Reihe A: Preußen, hrsg. von
Walther Hubatsch, Band 7: Rheinland, bearbeitet von Rüdiger Schütz, Marburg 1978
S. 422 f.
10 Klein, Hanns, Der Landkreis St. Wendel von 1835-1985, in: St Wendeier Heimatbuch 20,
1983/84, S. 254-290, vgl. auch die Quellenhinweise von demselben Autor, ebenda 21,
1985/86, S.182-203.
11 Büch, Carl, Alte Wirtschaftsbetriebe im Gersweiler Raum. Epoche einer aufblühenden
Wirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert, Saarbrücken 1968.
11
Die ehemals bayerischen Teile des Saarlandes12 gehörten zunächst zu den beiden
Bezirksämtern Homburg und Zweibrücken, und zwar der größere Teil zum Bezirks-
amt Zweibrücken, das an den preußischen Kreis Saarbrücken grenzte. Die Stadt
Zweibrücken hatte schon früh, vor allem dank der Initiativen der Unternehmerfamilie
Dingler Bedeutung im Maschinenbau erlangt.13 Ein weiterer industrieller Schwer-
punkt lag in St. Ingbert, dessen Einwohnerzahl bereits 1875 nahe an die von
Zweibrücken herankam und sie dann 1895 überholte. Dem Eigengewicht des
industriellen Ballungsraumes um St. Ingbert Rechnung tragend bildeten mit Wirkung
zum 1. Oktober 1902 die bayerischen Gemeinden zwischen der Blies und der
preußischen Grenze das neu errichtete Bezirksamt St. Ingbert.14 Die Zuständigkeit
Zweibrückens blieb von nun an bis 1920 auf den schmalen Streifen zwischen der Blies
und der heutigen saarländisch-rheinland-pfälzischen Landesgrenze beschränkt.
Nördlich davon lag das Bezirksamt Homburg, zu dem nur wenige saarländische
Gemeinden gehörten und das sich nach Osten über Landstuhl hinaus erstreckte. Ihm
kam zunächst nur eine Randlage zum Saarrevier zu, die allerdings durch seine Rolle
als Eisenbahnknotenpunkt ausgeglichen wurde. Industriestadt wurde Homburg erst
zu Beginn unseres Jahrhunderts, nachdem die Stadt Gelände zur Ansiedlung von
Großbetrieben erschlossen hatte.
Eine die preußischen Saarkreise zusammenfassende geographische Bezeichnung taucht
erstmals im Jahre 1832 auf. Der Steuerrat Fr. von Poseck II betitelte die von ihm
entworfene Karte der Fabrikstandorte in den Kreisen Saarbrücken, Ottweiler, Saar-
louis, Merzig und Saarburg Topographische Karte des Saargebietes,15 Das Wort
begegnete oft in den folgenden Jahrzehnten,16 aber vor dem ersten Weltkrieg wurden
darunter nur die preußischen Kreise Saarbrücken, Ottweiler, Saarlouis und St. Wen-
del, oft auch Merzig, seltener Saarburg, verstanden. Die raumbildenden Impulse der
Wirtschaft spiegeln sich deutlich in dem Zuständigkeitsbereich der Handelskammer
Saarbrücken. Der Bezirk der durch Erlaß vom 26. September 1885 wieder errichteten
Kammer umfaßte die Kreise Saarbrücken, Ottweiler, Saarlouis und St. Wendel.17
12Jacoby, Fritz, Bayern und Preußen an der Saar, in: Richtig daheim waren wir nie.
Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815-1955, hrsg. von Klaus-Michael Mallmann, Gerhard
Paul, Ralph Schock und Reinhard Klimmt, Berlin-Bonn 2. Aufl. 1988 S. 27-30.
13 Hundert Jahre Dingler. Geschichte und Entwicklung der Werke. Ihr heutiger Stand, ihre
Erzeugnisse, Zweibrücken (1927).
14 Gebildet durch Kgl. Allerhöchste Verordnung vom 9. Aug. 1902 (Kreisamtsbl. d. Pfalz 1902
S. 135 f.).
15 Ein Exemplar in Landesarchiv (LA) Saarbrücken Best. Karten 2° Nr. 10.
16 Belege für die Verwendung des Wortes „Saargebiet“ in Meyers Konversations-Lexikon, eine
Encyklopädie des allgemeinen Wissens 3. Aufl. Bd. 13, Leipzig 1879 S. 949: „Saarbrücken. . .
ist Sitz. . . der Direktion der fiskalischen Steinkohlenbergwerke des Saargebiets“, vgl. auch die
Firmierungen „Verein zur Wahrung der industriellen Interessen des Saargebiets“ gegründet
1874, „Verein gegen Wucher im Saargebiet“ gegründet 1886/87. Das Adreßbuch von 1911
nennt „Arbeitgeberverband für das Baugewerbe und verwandte Betriebe des Saargebiets“
(S. 43), „Feuerbestattungsverein für das Saargebiet“ (S. 38), „Verein für naturgemäße Lebens-
und Heilweise im Saargebiet“ (S. 39), weitere Nachweise bei Hellwig (wie Anm. 17) S. 45 u.
72.
17 Hellwig, Fritz, Die Saarwirtschaft und ihre Organisationen seit der Errichtung der Industrie-
und Handelskammer zu Saarbrücken 1863/64, Saarbrücken 1939.
12
Ich habe bisher keinen Beleg gefunden, daß zu Zeiten des wilhelminischen Reiches die
Begriffe Saarrevier oder Saargebiet auch auf den bayerischen Teil des Industriereviers
angewendet wurden. Hier sprach man von der Westpfalz18 oder man verwendete den
jahrhundertealten Begriff Westrich,19 Das Wort Saarpfalz ist meines Wissens erst im
Sommer 1919 entstanden zur Bezeichnung des Teiles des Regierungsbezirkes Pfalz,
der aufgrund des Versailler Vertrages von Bayern abgetreten und gemeinsam mit
Teilen der preußischen Saarkreise der Verwaltung des Völkerbundes unterstellt
werden sollte.20 Bekanntlich wurde für dieses neue Gebilde seit Frühjahr 1920 der
Name Saargebiet üblich.
Es ist darauf hinzuweisen, daß die Grenzen der preußischen Kreise und der bayeri-
schen Bezirksämter vor 1920 nicht mit den heutigen Kreisgrenzen übereinstimmten.
Der Kreis Merzig reichte noch nicht bis zur Mosel, sondern endete gleich hinter
Orscholz. Zum Kreis Ottweiler gehörte noch die Bürgermeisterei Tholey. Der Kreis
St. Wendel erstreckte sich weit über die heutigen Landesgrenzen hinaus auf dem
Nordufer des Glans bis kurz vor Meisenheim. Durch die Grenzziehung des Versailler
Vertrages wurde nur der kleinere Teil mit der Kreisstadt zum neuen Saargebiet
geschlagen, seine Fläche wurde dann 1946 und 1947 durch die Angliederung der
Ämter Tholey und Nonnweiler und einiger Gemeinden aus den Kreisen Birkenfeld
und Kusel vergrößert. Der Versailler Vertrag veränderte auch ganz erheblich die
Fläche des Bezirksamtes Homburg, indem er den größeren östlichen Teil bei der Pfalz
beließ, aber die bisher zum Bezirksamt Zweibrücken gehörenden Orte zwischen der
Blies und der heutigen Landesgrenze ihm zuschlug.
Ich gehe deshalb auf die Veränderung der Grenzen der Kreise und Bezirksämter
ausführlicher ein, um damit die Vergleichbarkeit von statistischen Erhebungen vor
1920 mit Zahlen aus der Zeit nach 1920 zu problematisieren. Wenn Vergleiche der
Kritik standhalten sollen, müssen die Erhebungen auf der Ebene der Gemeinde oder
der Bürgermeisterei basieren. Die Vergleichbarkeit von Erhebungen auf Kreisebene ist
nur für die Kreise St. Ingbert, Saarlouis und Saarbrücken statthaft, wobei im letzteren
Fall der Erhebung Saarbrückens zur kreisfreien Stadt ab 1. April 1909 Rechnung zu
tragen ist.
In den knapp fünfzig Jahren, den unser Untersuchungszeitraum umfaßt, erlebte das
Land an der Saar eine stärkere Veränderung als je zuvor. Bezogen auf die Fläche des
heutigen Saarlandes stieg die Zahl der Einwohner zwischen 1871 und 1910 auf mehr
als das Doppelte: von 326 791 auf 700 174, im Kreis Saarbrücken sogar auf das
Dreifache von 89 167 auf 278 996.21 Die Förderung der Steinkohlengruben und die
18 Adreßbuch für die Westpfalz, umfassend die Bezirksämter Homburg, St. Ingbert und Zwei-
brücken 1911/12, bearb. u. hrsg. von Hermann Reiselt.
19 Zum Entstehen dieses Namens und seinem geographischen Inhalt vgl. Hans-Walter Herr-
mann, Territoriale Verbindungen und Verflechtungen zwischen dem oberrheinischen und
lothringischen Raum im Spätmittelalter, in: Jb. f. westdt. Landesgesch. 1, 1975, insbesondere
S. 166-175; „Zweibrücken im Westrich gelegen“, Meyers Konversations-Lexikon 2. Abt.
15. Bd., 1852, S. 1213 und Bd. 16, 1879, S. 307.
20 Herrmann, Hans-Walter, Der Oberpräsident der Rheinprovinz als Reichskommissar für die
Übergabe des Saargebietes, in: Aus der Arbeit der Archive, Beiträge zum Archivwesen, zur
Quellenkunde und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms, Boppard 1989, S. 751.
21 Vgl. die von Karbach (wie Anm. 131) zusammengestellten Zahlen.
13
Eisen- und Stahlproduktion der Hütten vervielfachte sich. Die Städte und Dörfer
wucherten über ihre alten Kerne hinaus und erhielten durch staatliche,22 kommuna-
le,23 kirchliche24 und private25 Bautätigkeit ein neues Gesicht.
Die landesgeschichtliche Forschung ist erst dabei, die Wandlungen und Veränderun-
gen, die in allen Bereichen anzutreffen sind, darzustellen; viele Wünsche sind offen,
nicht alle Fragestellungen der Forschung werden sich beantworten lassen, weil die
einschlägigen Quellen fehlen. Den derzeitigen Forschungsstand möchte ich im zweiten
Abschnitt meines einführenden Referates beschreiben.
II. Forschungsstand
Allgemeine politische Geschichte
Um einen ersten Überblick über die politische Entwicklung der preußischen Saarkrei-
se in der wilhelminischen Zeit zu erhalten, muß man immer noch mit dem schon über
dreißig Jahre alten Buch von Josef Bellot26 vorlieb nehmen, obwohl es viele Fragen
und Wünsche offen läßt. Infolge der vorwiegend ereignisgeschichtlichen Betrachtungs-
weise des Autors steht die Schilderung der Wahlen zum Preußischen Landtag und zum
Reichstag im Mittelpunkt. Bei dem Versuch eines Vergleiches der Stärkeverhältnisse
der Parteien vor und nach 1919 ergeben sich ernste Schwierigkeiten. Da das
preußische Dreiklassenwahlrecht bis zum Ende unseres Untersuchungsabschnittes
fortbestand, scheiden die Landtagswahlen für einen Vergleich ohnedies aus. Bei dem
Vergleich der Reichstagswahlen mit den Wahlen zum Landesrat des Saargebietes oder
22 Ich denke vor allem an Bahnhofs-, Gerichts- und Kasernenbauten, vgl. Armin Schmitt,
Denkmäler saarländischer Industriekultur (wie Anm. 158): Bahnhöfe in Merzig (S. 29),
Beckingen (S. 36), St. Ingbert (S. 108). Die Geschichte eines Verwaltungsgebäudes
1876-1976, Saarbergwerke AG, Saarbrücken 1976 (Nachdruck von Aufsätzen von Hans
Christoph Dittscheid, Martin Klewitz und anderen aus Saarbrücker Hefte 43/1976),
Wolfgang Götz, Das Landgericht Saarbrücken, in: 150Jahre Landgericht Saarbrücken.
Festschrift hrsg. vom Präsidenten des Landgerichts in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich
Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes, Köln-Berlin-Bonn-München 1985
S. 33-66.
23 Wittenbrock, Rolf, Die Stadtplanung in St. Johann im 19. Jahrhundert, in: Saarbrücker
Hefte 60, 1988 S. 83-129; Kranz-Michaelis, Charlotte, Das Rathaus Georg Hauberrissers
in St. Johann an der Saar, in: ZGSaargegend 19, 1971 S. 445-451; Hellwig, Friedrich, Der
Festsaal im Saarbrücker Rathaus zu St. Johann, in: Saarheimat 33, 1989 S. 7-12.
24 Saarn, Rudolf, Beitrag zur Baugeschichte neugotischer Kirchen an der Saar. Zum Leben und
Werk des Baumeisters Carl Friedrich Müller, in: Saarbrücker Hefte 48, 1978 S. 17-52;
Klewitz, Martin, Der evangelische Kirchenbau zwischen 1800 und 1945, in: Die evangeli-
sche Kirche an der Saar - gestern und heute, hrsg. von den Kirchenkreisen Ottweiler,
Saarbrücken und Völklingen, Saarbrücken 1975, S. 247-260; Klewitz, Martin, Bergbau half
den Kirchen. Bethäuser gebaut. Bergleute mit Familien folgten, in: Saarbrücker Bergmannska-
lender 1978 S. 61-68; Pinzka, Wolfgang E., Kirchenbau im Saarrevier im Spiegel der
Industrialisierung, in: Saarheimat 32, 1988 S. 272-275; 33, 1989 S. 13-15, 33-37; Busse,
Hans-Berthold, Wilhelm Hector (1855-1918), in: Saarländische Lebensbilder IV, hrsg. von
Peter Neumann, Saarbrücken 1988 S. 131-154. Nach den Plänen Hectors wurden mehr als
30 Kirchen im Saarland errichtet. - Vgl. auch den Beitrag von Franz Ronig in diesem Band
S. 84-114.
25 Ruser, Edith, Jugendstilarchitektur im Saarland, Saarbrücken 1981.
26 Bellot, Josef, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft
(1815-1918), Bonn 1954 (Rheinisches Archiv 45).
14
dem Landtag des Saarlandes ist einmal das damals fehlende Frauenwahlrecht zu
berücksichtigen und zum anderen die sich auch nicht annähernd mit den Grenzen des
Saargebietes oder Saarlandes deckende Wahlkreiseinteilung. Der Kreis Saarbrücken
bildete einen eigenen Wahlkreis, die anderen preußischen Saarkreise gehörten zu den
beiden Wahlkreisen Saarburg-Merzig-Saarlouis und Ottweiler-St. Wendel-Meisen-
heim. Die Zusammenstellung der noch erhaltenen Ergebnisse auf Gemeinde- oder
Bürgermeistereiebene wäre sehr zu wünschen.
Beilots Ausführungen über den Kulturkampf an der Saar sind einmal zu ergänzen
durch Christoph Webers Ergebnisse über Auseinandersetzungen und Verflechtungen
im innerkirchlichen Bereich, in dem der damalige Bischof von Trier eine wichtige
Rolle spielte,27 und zum andern durch Ergebnisse ortsgeschichtlicher und biographi-
scher Untersuchungen, wobei sich für das Revier durchaus differenzierte Geschehens-
abläufe in Kleinräumen ergeben dürften.28 Von sozialgeschichtlichen Ansätzen her hat
Klaus Michael Mallmann29 gezeigt, wie das „Erlebnis der Krisenanfälligkeit proletari-
scher Existenz“ über die Intensivierung der Volksfrömmigkeit im Kulturkampf
genutzt und in die Kanäle der sich bildenden Organisation des politischen Katholizis-
mus in Form der Zentrumspartei gelenkt werden konnte. Als Katalysator wirkten
Marienerscheinungen, vor allem die in Marpingen, die eines der wichtigsten Massen-
phänomene im deutschen Katholizismus des 19. Jahrhunderts war.30
Was die Geschichte einzelner Parteien anbetrifft, verspricht Gerhard Bauer31 in seinem
Buch „Hundert Jahre christliche Politik an der Saar“ mehr als er gibt; denn die Zeit
vor der Gründung der Christlichen Volkspartei im Frühjahr 1946 handelt er nur in
einer gedrängten Einleitung, nicht einmal unter Auswertung aller einschlägigen
Literatur, ab. Manche neue Aufschlüsse für das Zentrum an der Saar bietet die
Literatur über Dasbach.32 Die die Parteibildungen flankierenden Gründungen katholi-
27 Weber, Christoph, Kirchliche Politik zwischen Rom, Berlin und Trier 1876-1888. Die
Beilegung des preußischen Kulturkampfes, Mainz 1970.
28 Scharwarth, Alfred G., Die Geheim-Acta der Stadt Trier betr. Ultramontane, Kirchenange-
legenheiten 1873-1903, in: Kurtrierisches Jb. 19, 1969 S. 177-198; Vgl. auch Hanns Klein,
Die Saarlande im Zeitalter der Industrialisierung, in: ZGSaargegend 29, 1981 S. 93-121 mit
zahlreichen Literaturangaben.
29 Mall mann, Klaus-Michael, Kulturkampf, katholischer Klerus und Bergarbeiterbewegung an
der Saar, in: Der Anschnitt 33, 1981 S. 110-116; derselbe, Volksfrömmigkeit, Proletarisie-
rung und preußischer Obrigkeitsstaat. Sozialgeschichtliche Aspekte des Kulturkampfes im
Saarrevier, in: Soziale Frage (wie Anm. 32) S. 183-232; derselbe, „Aus des Tages Last machen
sie ein Kreuz des Herrn. . .?“ Bergarbeiter. Religion und sozialer Protest im Saarrevier des
19. Jahrhunderts, in: Volksreligiösität in der modernen Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfgang
Schieder, Göttingen S. 152-184.
30 Pinska, Wolfgang E., Die „Marpinger Ereignisse“ und der Kulturkampf in der Saarregion, in:
Saarheimat 32, 1988 S. 55-61.
31 Bauer, Gerhard, Hundert Jahre christliche Politik an der Saar: Vom Zentrum zur CDU,
Saarbrücken 1981.
32 Thoma, Hubert, Georg Friedrich Dasbach. Priester, Publizist, Politiker, Trier 1975; Fohr-
mann, Ulrich, Trierer Kulturkampfpublizist im Bismarckreich. Leben und Werk des Preßkap-
Ians Georg Friedrich Dasbach, Trier 1977; ders., Georg Friedrich Dasbach - Gedanken über
einen Ultramontanen, in: Soziale Fragen und Kirche im Saarrevier. Beiträge zur Sozialpolitik
und Katholizismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (hrsg. von Peter Neumann)
Saarbrücken 1984 S. 79-108; Rivinius, Karl Josef, Die sozialpolitische und volkswirtschaft-
liche Tätigkeit von Georg Friedrich Dasbach 1846-1907, ebenda S. 109-182.
15
scher Vereine33 und auch der Barbara-Bruderschaften34 verdienten mehr Beachtung
als bisher. Die Anfänge der Sozialdemokratie haben Klaus Michael Mallmann und
Gerd Bungert aufgehellt.35 Die Geschichte der liberalen Parteien an der Saar harrt
noch der Aufarbeitung.
Eine der Bellot’schen Arbeit vergleichbar breite Darstellung der politischen Entwick-
lung der Westpfalz in der wilhelminischen Ära fehlt. Die Reichstagswahlen in den drei
Wahlkreisen Kaiserslautern-Kirchheimbolanden, Zweibrücken-Pirmasens und Hom-
burg-Kusel behandelt Ernst Otto Bräunche,36 Fritz Jacoby bereitet eine zusammenfas-
sende Darstellung vor.37
Wirtschaftsgeschichte
Eine umfangreiche saarländische Wirtschaftsgeschichte, die alle Industriezweige,
Energiewirtschaft, Handel, Handwerk und Kreditwesen darstellt und in die allgemei-
ne Entwicklung des Deutschen Kaiserreiches einbettet, liegt bisher nicht vor. Gertrud
Milkereit hat in dem 3. Band der Rheinischen Geschichte das Saarrevier in ihren
Beitrag „Wirtschafts- und Sozialentwicklung der südlichen Rheinlande seit 1815“
einbezogen.38 In Anbetracht des handbuchartigen Charakters des Werkes mußte sie
sich auf die Verarbeitung der vorhandenen Literatur beschränken. Die Fakten und
Daten über die Saarwirtschaft in der uns interessierenden Zeit sind mit denen anderer
Teile der südlichen Rheinprovinz, der Pfalz und Rheinhessens verwoben, so daß ein
Überblick über die spezifische Entwicklung im hiesigen Revier nicht zustande
gekommen ist.
33 Das Buch von Gerhard Bungert und Charly Lehnert, Vereine im Saarland, Saarbrücken
1988, unternimmt erstmals den Versuch einer Geschichte des saarländischen Vereinswesens,
legt aber das Schwergewicht auf das 20. Jh., für die Entstehung des hiesigen Vereinswesens im
19. Jh. läßt es viele Wünsche und Fragen offen.
34 Grundhöfer, Hermann-Joseph, Glück auf in Christo Jesu. Zur Gründung der St. Barba-
ra-Bruderschaften im Saarland, in: Saarheimat 32, 1988, S. 13-15.
35 Bungert, Gerhard - Mallmann, Klaus-Michael, August Bebel und das Saarrevier. Aus
bisher unbekannten Briefen des ersten Vorsitzenden der Sozialdemokraten, in: Arbeitnehmer
25, 1977 S. 369-372; Mallmann, Klaus-Michael, Die Anfänge der Sozialdemokratie im
Saarrevier, in: ZGSaargegend 28, 1980 S. 128-148; derselbe, „Dies Gebiet ist bis jetzt noch
eine vollständige terra incognita“. Die verspätete SPD im Saarrevier, in: Mall-
mann-Paul-Schock-Klimmt (wie Anm. 12) S. 65-70; vgl. auch die Quellenpublikation von
Günther Bers, Die Sozialdemokratische Partei im Agitationsbezirk obere Rheinprovinz
1897-1918. Rechenschaftsberichte u. Parteitagsprotokolle, Teil I (1897-1905), Köln 1973.
36 Bräunche, Ernst Otto, Parteien und Reichstagswahlen in der Westpfalz zur Zeit der
Reichsgründung, in: Jb. f. Gesch. von Stadt und Landkreis Kaiserslautern 26/27, 1988/89
S. 251-266 in Anlehnung an seine größere Arbeit „Parteien und Reichstagswahlen in der
Rheinpfalz von der Reichsgründung 1871 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914“,
Speyer 1982 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaf-
ten 68).
37 Im Rahmen der „Geschichtlichen Landeskunde des Saarlandes“ Bd. 3, deren Herausgabe von
mir in den Mitteilungen des Hist. Vereins für die Saargegend (Neue Folge) vorbereitet
wird..
38 Milkereit, Gertrud, Wirtschafts- und Sozialentwicklung der südlichen Rheinlande seit 1815,
in: Rheinische Geschichte hrsg. von Franz Petri und Georg Droege, Band 3: Wirtschaft und
Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1979, S. 193-327.
16
Eine Auflistung der zu Beginn unseres Untersuchungszeitraumes bestehenden Einzel-
firmen, Gesellschaften und Genossenschaften im Bezirk der sich damals noch auf den
Kreis Saarbrücken beschränkenden Handelskammer Saarbrücken edierte Hanns Klein
und kommentierte sie mit firmengeschichtlichen Angaben.39 Die für die letzten Jahre
vor Kriegsausbruch vorliegenden imponierenden Zahlen über Beschäftigte und Pro-
duktion der Saarwirtschaft dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der
Aufstieg in dem vorausgegangenen knappen Jahrhundert nicht geradlinig, sondern
wellenförmig mit Höhen und Tiefen vollzogen hatte. Verlauf und Auswirkungen der
Gründerkrise auf den fiskalischen Bergbau an der Saar hat Ernst Klein behandelt.40
Paul Thomes wird dieses Thema im Rahmen der Tagung noch einmal aufgreifen.41
Die Aufarbeitung der Geschichte einzelner Zweige der Saarindustrie scheint mehr die
Forschung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts interessiert zu haben als unsere
Zeit. Deshalb wird hier oft auf ältere Arbeiten zu verweisen sein. Einen guten
Überblick über die Saarindustrie geben immer noch die verschiedenen Beiträge in dem
von Overbeck und Sante 1934 herausgegebenen Saar-Atlas,42 wenn man die aus der
politischen Situation des Abstimmungskampfes resultierenden Passagen abstrahiert.
Es ist erstaunlich, wie wenige Autoren seitdem wirtschaftsgeschichtliche Themen aus
dem uns interessierenden Zeitraum anhand neu erschlossener Quellen bearbeitet
haben.
Die noch von dem preußischen Bergfiskus angeregten oder in Auftrag gegebenen
Arbeiten43 über die Saargruben bieten für die Betriebsorganisation, die Geschichte der
einzelnen Produktionsanlagen, ihre technische Ausrüstung, die Arbeitsverhältnisse44
und für manche soziale Einrichtungen45 gute Grundlagen. Ernst Klein, der langjährige
Inhaber des Lehrstuhles für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität des
Saarlandes, und seine Schüler haben Detailfragen der Betriebsorganisation46 und
39 Klein, Hanns, Ein Verzeichnis der Industrie-, Gewerbe- und Handelsbetriebe, Einzelfirmen,
Gesellschaften und Genossenschaften des Handelskammerbezirks Saarbrücken vom Jahre
1871, in: ZGSaargegend 21, 1973, S. 93-140.
40 Klein, Ernst, Der Steinkohlenbergbau an der Saar während der 70er Jahre des 19. Jahrhun-
derts, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im Wandel. Festschrift für Wilhelm Abel zum
70. Geburtstag, Hannover 1974, Bd. 3 S. 753-774; ders., Der Saarbergbau vor hundert
Jahren, in: Saarbrücker Hefte 43, 1976 S. 5-17.
41 Vgl. S. 115-132.
42 Saar-Atlas im Auftrag der Saar-Forschungsgemeinschaft, bearbeitet und herausgegeben von
Hermann Overbeck und Georg Wilhelm Sante“ in Verbindung mit Hermann Aubin, Otto
Maull und Franz Steinbach, Gotha 1934; vgl. auch Overbeck, Hermann, Bergbau und
Industrie an der Saar, Gotha 1934.
43 Hasslacher, Anton, Der Steinkohlenbergbau des Preußischen Staates in der Umgebung von
Saarbrücken, II. Teil: Geschichtliche Entwicklung, Berlin 1904.
44 Herbig, E., Der Arbeiterersatz des staatlichen Steinkohlenbergbaus bei Saarbrücken, in:
Glückauf 46, 1910, S. 1381-1401; Müller, E., Der Steinkohlenbergbau des preußischen
Staates in der Umgebung von Saarbrücken, IV. Teil: Die Entwicklung der Arbeiterverhältnis-
se auf den staatlichen Steinkohlenbergwerken v. J. 1816 bis zum J. 1903, Berlin 1904.
45 Die Wohlfahrtseinrichtungen für die Arbeiter auf den Gruben der königlichen Bergwerksdi-
rektion zu Saarbrücken, Berlin 1904; Junghann, Heinrich, Das Schlafhaus- und Einliegerwe-
sen im Bezirk der Kgl. Bergwerksdirektion Saarbrücken, in: Ztschr. f. d. Berg-, Hütten- und
Salinenwesen 60, 1912 S. 401-429.
46 Klein, Emst, Organisation und Funktion der preußischen Bergbehörden an der Saar
(1815-1920), in: ZGSaargegend 33, 1985, S. 61-112.
17
bergmännischer Vereine,47 vor allem aber die Aufarbeitung der Geschichte zweier
Bergwerke48 beigesteuert. Dazu kommen Darstellungen über einzelne Bergwerke aus
anderer Feder.49
Es ist bekannt, daß der preußische und auch der bayerische Staat Eigentümer der
Steinkohlengruben im Saarrevier waren und daß sie konsequent die Beteiligung von
privaten Unternehmen an der Kohleförderung im Saarrevier ablehnten. Nur am
westlichen und östlichen Rande gab es die Privatgruben Hostenbach50 und Franken-
holz.51 Um so mehr war die Saarwirtschaft vom Fiskus abhängig. Seine Förder- und
Absatzpolitik wird unterschiedlich beurteilt. Fritz Hellwig spricht zwar die Nöte der
saarländischen Hütten an, sieht aber in der Einschränkung der Kohleförderung und in
der Bevorzugung des Absatzes außerhalb des Reviers ein Mittel, die Industrialisierung
der Saargegend vor einem zu raschen Tempo zu bewahren und den eigenen Betrieb
sich organisch entwickeln zu lassen, wodurch die saarländische Industrielandschaft
von all den ungesunden und unsozialen Begleiterscheinungen anderer Industriegebiete
freigehalten worden sei.52 Andere, wie Wilhelm Born53 und neuerdings wieder Rolf
Latz,54 betonen mehr die schädliche Auswirkung dieser Politik auf die heimische
Eisenindustrie, deren Vertreter immer wieder bei dem preußischen Handelsministe-
rium gegen die ihrer Ansicht nach unzureichenden Fördermengen der staatlichen
Gruben und gegen das Preisdiktat der Bergwerksdirektion, das sich aus ihrer
Monopolstellung ergab, vorstellig wurden. Der Erwerb von Beteiligungen an Kohlen-
gruben im Aachener und im rheinisch-westfälischen Revier brachte keine durchgrei-
fende Änderung, zumal ja der Einsatz der dortigen Kohlen in den Saarhütten hohe
Transportkosten verursachte.
47 Klein, Emst, Die Gründung der bergmännischen Konsumvereine an der Saar (1867-1869),
in: Der Anschnitt 30, 1978 S. 20-31, Mallmann, Klaus-Michael, „Saufkasinos“ und Kon-
sumvereine. Zur Genossenschaftsbewegung der Saarbergleute 1890-1894, in: Der
Anschnitt 32, 1980 S. 89-92; Thomes, Paul, Die Kooperation zwischen der Bergwerksdirek-
tion Saarbrücken und den öffentlichen bzw. genossenschaftlichen Spar- und Darlehenskassen
im Arbeitereinzugsgebiet des Steinkohlenreviers an der Saar (1883-1914), in: ZGSaargegend
32, 1984 S. 50-63.
48 Klein, Ernst, Geschichte der saarländischen Steinkohlengrube Sulzbach-Altenwald
(1841-1932), Saarbrücken 1987 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische
Landesgeschichte und Volksforschung 16); Eschner-Becker, Stienke, Die Grube Dudweiler
und die Berginspektion IV (1816-1919). Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Staats-
bergbaues an der Saar, phil. Diss., Saarbrücken 1988.
49 100 Jahre Grube Camphausen 1871-1971, Camphausen (1971) hrsg. vom Festausschuß;
Groß, Werner, Geschichte der Grube Camphausen, in: Saarbrücker Bergmannskalender 1972
S. 50-61; 250 Jahre Bergbau im Grubenfeld Ensdorf, hrsg. von Saarbergwerke Aktiengesell-
schaft, Saarbrücken 1980; Serwe, Hans-Jürgen, Die Grubeninspektion III Von der Heydt im
Direktionsbezirk Saarbrücken Teil 1, in: Saarbrücker Hefte 51, 1980 S. 5-52.
50 Stilz, Margot, Kohlefördern im Wadgasser Land. Eine Sozialgeschichte des Hostenbacher
Bergbaus, in: Gemeinde Wadgassen ’77; Schöpferisches Wirken im Bisttal hrsg. vom Bürger-
meister der Gde. Wadgassen (Dillingen 1977).
51 Die Frankenholzer Bergwerksgesellschaft wurde von Advokat August Ferdinand Culmann
gegründet, 1840 die Schürfrechte erworben und 1879 der erste Schacht abgeteuft, abgebaut
wurden Gas- und Flammkohle, i. J. 1911 waren hier 2 092 Arbeiter und „Beamte“ beschäftigt
(Adreßbuch Westpfalz (wie Anm. 18) 1911, S. 59-64.
52 Wie Anm. 17 S. 20 f.
53 Born, Wilhelm, Die wirtschaftliche Entwicklung der Saargroßeisenindustrie seit der Mitte des
19. Jhs., Dissertation Tübingen 1914, Druck Berlin 1919, S. 37-41.
54 Latz, RolfE., Die saarländische Schwerindustrie und ihre Nachbargebiete (1878-1938).
Technische Entwicklung, wirtschaftliche und soziale Bedeutung, Saarbrücken 1985.
18
Unbeantwortet in der Literatur bleibt die Frage nach Rentabilität und Gewinn des
staatlichen Bergbaus, nach dem Verhältnis zwischen Erträgen, laufenden Kosten und
Investitionen. Die in den staatlichen Archiven in Düsseldorf,55 Merseburg56 und
Saarbrücken57 verwahrten Aktenbestände dürften eine Beantwortung zulassen.
Für die bayerischen Steinkohlengruben in der Westpfalz hegt keine größere Betrach-
tung vor.58 Über das Bergwerk St. Ingbert sind wir dank der Arbeiten Wolfgang
Krämers59 besser unterrichtet als über die Bexbacher Grube. Auch hier steht eine
Auswertung der Ministerialakten60 noch aus.
Eine umfassende Darstellung der Koksherstellung hierzulande fehlt. Sie zeigt in dem
uns interessierenden Zeitabschnitt eine schwerpunktmäßige Verlagerung von den
Gruben und den privaten Kokereien zu den Eisenhütten. Sie suchte nach neuen
Wegen, um aus der Saarkohle durch besondere Verfahren, wie Beimengung von
Kohle aus anderen Revieren oder Stampfen des Kohlenstaubes, einen Hochofenkoks
befriedigender Qualität zu erhalten. Otto Johannsen hat in seiner Geschichte der
Kokerei Altenwald interessantes Material zusammengetragen.61
Für die Geschichte der saarländischen Hütten liegen die älteren Untersuchungen von
Julius Kollmann,62 Wilhelm Born63 und Hermann Müller,64 ausführliche Firmenge-
schichten für die Werke Dillingen,65 Neunkirchen,66 Völklingen,67 Burbach,68 Hal-
55 Bestand Oberbergamt Bonn.
56 Bestand Rep. 120 Preußisches Ministerium für Handel und Gewerbe, vgl. dazu das Speziali-
nventar von Herbert Buck, Zur Geschichte der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
in Preußen 1810-1933, 4 Bände, Berlin 1960-70. Die Registratur der Abt. für Bergwerks-,
Hütten- und Salinenwesen ist nicht in das Spezialinventar von Buck einbezogen, sie bildet den
Bestand Rep. 121.
57 Vornehmlich der Bestand Bergwerksdirektion Saarbrücken, früher LHA Koblenz Best. 564.
58 Das Schwergewicht des Buches von Anton Bockhardt, Der Steinkohlenbergbau der Pfalz
während der Jahre 1821-1880, bearbeitet, ergänzt und hrsg. von Wilfried Rosenberger, Bad
Kreuznach 1974, liegt vor unserem Betrachtungszeitraum.
59 Krämer, Wolfgang, Geschichte der Stadt St. Ingbert von den Anfängen bis zum Ende des
Zweiten Weltkrieges, eine Heimatkunde aufgrund archivalischer Quellen, 2. Aufl. St. Ingbert
1955, Bd. 2.
60 Verwahrt im HStA München Abt. II.
61 Die Kokerei Altenwald und ihre Vorläufer, in: 50 Jahre Röchling Völklingen (wie Anm. 67)
S. 127-151; Ress, Franz Michael, Geschichte der Kokereitechnik, Essen 1957, erwähnt
punktuell saarländische Kokereien (S. 182, 263, 268-270, 335, 443, 533, 564, 582).
62 Kollmann, Julius, Die Großindustrie des Saargebietes. Eine zusammenhängende Darstellung
der geschichtlichen und technischen Entwicklung bis auf den gegenwärtigen Stand, Stuttgart
1911.
63 Vgl. Anm. 53.
64 Müller, Hermann, Die Übererzeugung im Saarländer Hüttengewerbe von 1856 bis 1913,
Jena 1935.
65 Ham, Hermann van, Beiträge zur Geschichte der Aktiengesellschaft der Dillinger Hüttenwer-
ke 1685-1935, Saarlautern 1935.
66 Fünfviertel Jahrhundert Neunkircher Eisenwerk und Gebr. Stumm, Mannheim 1935.
67 Nutzinger, Richard - Boehmer, Hans - Johannsen, Otto, 50 Jahre Röchling Völklingen.
Die Entwicklung eines rheinischen Industrie-Unternehmens, Saarbrücken-Völklingen 1931.
68 Die Burbacher Hütte 1856-1906. Denkschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der
Hütte am 22. Juni 1906, Saarlouis o. J,
19
berg69 und St. Ingbert70 vor, daneben einige reich ausgestattete illustrierte Festschrif-
ten.71 Die Firmengeschichten haben trotz ihres mehr oder weniger deutlich panegyri-
schen Charakters doch ihren Wert, weil ihre Autoren Materialien auswerten und
verwenden konnten, die uns heute nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie sind daher zu
Sekundärquellen aufgerückt.
In den 1860er Jahren stellte sich für die saarländische Eisenindustrie besonders
dringend die Frage der Erzversorgung, nachdem die heimischen Lagerstätten, die das
Entstehen einer Eisenindustrie an den rechten Nebenflüssen der Saar ermöglicht
hatten, so gut wie erschöpft waren. Geographisch am nächsten lagen die Minet-
te-Vorkommen in Lothringen und Luxemburg.72 Es waren phosphorhaltige Eisener-
ze, die sich in den im rheinisch-westfälischen Industriegebiet für die Erzeugung von
Qualitätsstahl üblich gewordenen Verfahren nach Bessemer (seit 1855) und Martin
(seit 1865) nicht verarbeiten ließen.73 Dennoch wirkte Carl Ferdinand Stumm, der
größte Eisenhüttenunternehmer des Saarreviers, im Frühjahr 1871 auf Bismarck ein,
mehr Eisenerzfelder als zunächst vorgesehen in das Reichsland Elsaß-Lothringen
einzubeziehen.74 Als die englischen Hütteningenieure S. G. Thomas und G. C.
Gilchrist 1877 ein Windfrischverfahren in basisch ausgefütterten Konvertern, soge-
nannten „Thomasbirnen“, entwickelt hatten, erkannte Stumm alsbald die Tragweite
dieser Erfindung, erwarb von dem Hörder Bergwerksverein und den Rheinischen
Stahlwerken, die inzwischen die deutschen Patente erworben hatten, die Lizenz und
begann in Neunkirchen das erste Thomas-Stahlwerk an der Saar zu bauen, das Ende
1881 seinen Betrieb aufnahm. Sein lothringischer Konkurrent De Wendel hatte bereits
im Jahre zuvor (1880) in Hayange die gleiche Innovation eingeführt.75 Nachdem
somit die technischen Möglichkeiten bestanden, phosphorhaltige Minette-Erze zu
einem Qualitätsstahl zu verarbeiten, richtete sich die Unternehmenspolitik der saar-
ländischen Hüttenherren auf die lothringischen Erzlagerstätten diesseits und jenseits
der damaligen Reichsgrenze.76 In einer ersten Stufe versuchten sie, Konzessionen an
69 Kloevekorn, Fritz, 200 Jahre Haibergerhütte 1756-1956, Saarbrücken 1956.
70 Krämer, Wolfgang, Geschichte des Eisenwerkes St. Ingbert mit besonderer Berücksichtigung
der Frühzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der pfälzisch-saarländischen Eisenverhüttung, Speyer
1933 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 22);
Cloer, Bruno und Kaiser-Cloer, Ulrike, Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in der Pfalz
im 18. und 19. Jahrhundert, Mannheim 1984 (Mannheimer Geographische Arbeiten 18)
bringen für die Geschichte des St. Ingberter Werkes nichts Neues.
71 Z. B, 300 Jahre Aktiengesellschaft der Dillinger Hüttenwerke. Ein Rückblick 1685-1985,
Dillingen 1985.
72 Bariéty, Jacques, Le rôle de la minette dans la sidérurgie allemande et la restructuration de la
sidérurgie allemande après le traité de Versailles, in: Travaux et Recherches 1972, (Centre de
Recherches Relations Internationales de l’Université de Metz 3), Metz 1973 S. 233-277.
73 Für die technologische Seite ist immer noch nützlich Beck, Ludwig, die Geschichte des Eisens
in technischer und kulturgeschichtlicher Beziehung, 5. Abteilung: Das 19. Jh. von 1860 bis
zum Schluß, Braunschweig 1903.
74 Walter, Heinz, Das lothringische Erzgebiet als Kriegsziel der deutschen Großbourgeoisie.
Materialien über die sozialökonomischen Hintergründe der Annexion Elsaß-Lothringens, in:
Z. f. Geschichtswissenschaft 19, 1971, S. 34-64.
75 Moine, Jean-François, Ingénieurs de mines et industrie, métallurgique: Alfred Braconnier et
l’adoption de procédé Thomas par la sidérurgie lorraine, in: Annales de l’Est 1985
S. 83-118.
76 Brenneur, Pascal, Intérêts français et intérêts étrangers sur le bassin de Briey: La Société des
mines de Sainte-Pierremont, in: Annales de l’Est 1987 S. 23-39.
20
den lothringischen Erzfeldern diesseits und jenseits der Reichslandgrenzen zu erwer-
ben. In einer zweiten Stufe verlegten sie die Roheisenerzeugung nach dort, meist in
eigens dafür neu errichtete Hütten. In einer dritten Stufe erfolgten Fusionen mit
lothringischen oder luxemburgischen Werken. Die Einführung des Flußstahlverfah-
rens veranlaßte wieder die Verhüttung von Minette in den Saarhütten.
Gegenüber der Behandlung der Probleme der Minetteverhüttung treten in den
Firmengeschichten andere Innovationen zurück, wie z. B. die Vergrößerung der
Kapazität der Hochöfen, die Einführung von Verfahren zur Erzeugung eines hoch-
wertigen Qualitätsstahles im Siemens-Martin-Verfahren oder im Elektrolichtbogen-
ofen und die gegen Ende des Jahrhunderts beginnende Ersetzung der Dampfmaschi-
ne77 durch Großgasmotoren.
Enge Wechselbeziehungen bestanden zwischen den Eisenhütten und der Industrie der
Steine und Erden. Der Verhüttungsprozeß selbst verlangte, spätestens seit der
Einführung des Thomasverfahrens, größere Mengen Kalk. Er wurde zunächst von
Kleinbetrieben in den beiden Muschelkalklandschaften des Saargaues und Bliesgaues
geliefert.78 Bald nach der Jahrhundertwende gingen die Hütten daran, eigene große
Kalkwerke anzulegen, Neunkirchen in Gersheim und Blickweiler (1904), Haiberg in
Ormesheim (1908), Völklingen zunächst in Lothringen, 1913 dann in Überherrn.79
Der Bedarf der Hütten, des Baugewerbes und der Landwirtschaft nach Kalk konnte
nicht mit der Produktion aus den alten einfachen Feldöfen gedeckt werden, die nach
dem Meilerprinzip arbeiteten, sondern auch hier brachten Innovationen leistungsfähi-
gere Systeme (Kalkschachtofen, Ringofen, Etagenofen und Drehofen).
Zur Ausmauerung von Hochöfen und Kokskammern entstand Bedarf an hochtempe-
raturbeständigen Steinen. Sie wurden schon seit Anfang der 1850er Jahre von der
Fabrik Schenkelberger in Dudweiler-Jägersfreude, seit 1874 auch von den Rheini-
schen Chamotte- und Dinaswerken in Ottweiler und Homburg geliefert.
Der Aufschwung von Bergbau und Industrie sowie die großen öffentlichen und
privaten Bauvorhaben ließen auch neue Ziegeleien, jedoch keinen Großbetrieb,
entstehen, ihr Niedergang setzte schon im ersten Drittel des 20. Jhs. ein.
Die Herstellung von Hochofenzement und von Schlackensteinen begann auf den
Saarhütten zögernd in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg, erreichte aber erst
in den 1920er und 1930er Jahren ihren Höhepunkt.80
Im Bereich der feinkeramischen Industrie erfolgte in unserem Berichtszeitraum die
Konzentration in Händen der Firma Villeroy & Boch an den drei Standorten
77 Herrmann, Hans-Walter, Der Siegeszug der Dampfmaschine in der Saarindustrie, in:
ZGSaargegend 29, 1981 S. 165-216.
78 Über das Kalkwerk der Gebr. Bier in Kerprichhemmersdorf (1902-1917) vgl. Prediger (wie
Anm. 88) S. 94-106. In Lautzkirchen betrieben die Pfälzer Zement- und Kalkwerke ein Werk
(Adreßbuch Westpfalz 1911/12 (wie Anm. 18) S. 54).
79 Johannsen, Otto, Kalkversorgung, in: 50 Jahre Röchling (wie Anm. 67) S. 238 ff.
80 Allgemein dazu vgl. Bomke, K., Die wirtschaftlichen und technischen Beziehungen zwischen
Kohle und Zement. Ein Beitrag zur energiewirtschaftlichen Rationalisierung der Zementindu-
strie, Mannheim 1955.
21
Wallerfangen, Merzig und Mettlach. Die Produktionspalette wurde von dem seit
längerem hergestellten Geschirr auf Baukeramik ausgedehnt. Das Unternehmen hat
leider noch nicht die seiner überregionalen Bedeutung entsprechende Darstellung
seiner Geschichte erfahren.81
Die Geschichte der eisenverarbeitenden Industrie der Saar bleibt noch zu schreiben.
Wenn auch seit der Mitte des 19. Jhs. eine Reihe von Eisengießereien, Röhrenwerken,
Maschinenfabriken, Drahtseil- und Drahtgewebefabriken, Emaillier- und Stanzwer-
ken, Unternehmen des Förderanlagen-, Brücken- und sonstigen Stahlhochbaues, des
Waggonbaues und der Schraubenherstellung in Saarbrücken, St. Johann, St. Ingbert,
Homburg, Bous, Fraulautern, Beckingen und Dudweiler entstanden,82 so blieb doch
der Umfang der eisenverarbeitenden Industrie im Verhältnis zur eisenschaffenden
geringer als in anderen deutschen Industrierevieren.83 Darin liegt eine bis in die
Gegenwart fortwirkende Strukturschwäche der Saarindustrie. Angelastet wird diese
schwächere Ausbildung der weiterverarbeitenden Eisenwerke der unzureichenden
Kohleförderung des Bergfiskus, der den sich neu ansiedelnden Fabriken keine
ausreichende Versorgung mit Koks garantieren konnte.
Eine systematische Darstellung anderer Zweige der Saarindustrie findet sich nur noch
für die Glasindustrie84 und die Unternehmungen der Familie Adt,85 sonst ist auf die
zerstreuten und sehr ungleich informierenden firmengeschichtlichen Abschnitte in
Adreßbüchern, Festschriften und Ortschroniken zu verweisen.86
Mit dem Einsatz der neuen Energien Gas und Strom entstand die Energiewirtschaft.
Während die Dissertation von Thomas Herzig87 eine vorzügliche Darstellung der
Elektrizitätsversorgung im Saarland bietet, die auch auf den Einzug der elektrischen
Energie in der Industrie, im sonstigen gewerblichen Verbrauch, im Verkehrswesen
(Straßenbahnen), in der Straßenbeleuchtung und in Privathaushalten eingeht, fehlt
81 Vgl. Abschnitte über die keramischen Werke bei Johann Heinrich Keil, Geschichte der Stadt
Merzig und des Merziger Landes, Merzig 1958 S. 163-171, und bei Theodor Liebertz,
Wallerfangen und seine Geschichte, Wallerfangen 1953 S. 325-340.
82 Kollmann (wie Anm. 62) geht auf die Röhrenwerke in Bous, Maschinenfabrik Erhardt &
Sehmer, Fabrik für Eisenhoch- und Brückenbau B. Seibert, Gesellschaft für Förderanlagen
Ernst Heckei ein. Firmengeschichten einiger weiterer Unternehmen in Handel und Industrie
(wie Anm. 86).
83 Hentschel, Volker, Metallverarbeitung und Maschinenbau, in: Gewerbe- und Industrieland-
schaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jh., hrsg. von Hans Pohl, Stuttgart 1986 S. 371-389,
zählt das Saarrevier nicht zu den Metallverarbeitungs- und Maschinenbaulandschaften,
allenfalls rangiere es unter den linksrheinischen Ausläufern der Maschinenbaulandschaft
Westdeutschlands.
84 Lauer, Walter, Die Glasindustrie im Saargebiet, Braunschweig 1922, Ergänzungsmöglichkei-
ten bieten die einschlägigen Akten im LA Saarbrücken, Bestand Landratsamt St. Ingbert.
85 Vgl. Anm. 107.
86 Handel und Industrie im Saargebiet, hrsg. vom Pestalozzi-Verlag Wilhelm Bredehorn,
Saarbrücken-Düsseldorf-Berlin 1924; Büch, Carl, Alte Wirtschaftsbetriebe im Gersweiler
Raum. Epoche einer aufblühenden Wirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert, Saarbrücken
1968; Werth, Peter, Die Lederfabrik „Richard & August Korn“ in der Talstraße, ihre
Gebäude und Gartenanlagen bis 1872, in: Saarbrücker Hefte 48, 1978 S. 5-16.
87 Herzig, Thomas, Geschichte der Elektrizitätsversorgung im Saarland unter besonderer
Berücksichtigung der Vereinigten Saar-Elektrizitäts-AG. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte
des Saarlandes, Saarbrücken 1987 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische
Landesgeschichte und Volksforschung 17).
22
jede vergleichbare Arbeit über Gaserzeugung und Gasversorgung. Einzelangaben sind
in Ortschroniken und Firmengeschichten verstreut. Eine zusammenfassende Darstel-
lung für das gesamte Industrierevier unter Offenlegung der unterschiedlichen Interes-
sen des Bergfiskus, der Eisenhütten, der Kommunalwirtschaft und der frühen privaten
Kokereien ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar.
Eine Geschichte der saarländischen Landwirtschaft im 19. Jahrhundert steht noch
aus, obwohl die Einwirkungen eines im Aufwind segelnden Industriereviers mit
seinem Bedarf an Arbeitskräften und Grundnahrungsmitteln auf seine agrarisch
strukturierte Randzone und sein Hinterland eigentlich das Interesse der Forschung
finden sollten. Alois Prediger hat in einer Untersuchung mit sozialgeographischer
Zielsetzung88 auf manche Erscheinungen, wie Abwerbung und Verteuerung von
Gesindearbeitskräften, Umschichtung von haupterwerblichen auf nebenerwerbliche
Landwirtschaftsbetriebe im Besitz von Arbeiterbauern, Lieferung von Nebenproduk-
ten der Stahlerzeugung als Kunstdünger, hingewiesen. Er beschreibt auch, wie nach
1890 allmählich der Weinbau an der Saar und der Nied vollständig zum Erliegen
kam.
Lückenhaft unterrichtet sind wir über die Entwicklung des Banken- und Sparkassen-
wesens. An der Wende der sechziger zu den siebziger Jahren besaß jeder der
preußischen Saarkreise seine eigene Sparkasse. Der Kreis Ottweiler war als letzter
1869 hinzugekommen. Für die auf den preußischen Staatsgruben tätigen Arbeiter war
im Jahre 1835 auf Anregungen des Bergwerksdirektors Leopold Sello eine bergmänni-
sche Sparkasse als früher Typ einer Betriebssparkasse entstanden, aber 1867 einge-
gangen.89 Im Zusammenhang mit der Geschichte der Kreissparkasse Saarbrücken hat
Paul Thomes90 auch Fragen der anderen Kreissparkassen in dem preußischen Saarge-
biet, zu denen später noch die Sparkasse der Stadt Saarbrücken und die Sparkassen
Völklingen und Neunkirchen traten, behandelt. Für einige von ihnen liegen Festschrif-
ten vor.91 Unter dem Aufschwung des Genossenschaftswesens, dessen Entwicklung im
Saarrevier Philipp Fabry ausführlich dargestellt hat,92 kamen gegen Ende des Jahrhun-
derts die Volksbanken hinzu. Einige von ihnen haben ihre Entwicklung in Festschrif-
88 Prediger, Alois, Neuerung und Erhaltung im ländlichen Raum (1830-1970). Eine sozialgeo-
graphische Untersuchung im Stadt-Umland-Bereich westlich von Saarlouis, Saarbrücken 1986
(Arbeiten aus dem Geographischen Institut der Universität des Saarlandes 30). Die basische
Ausfütterung der Thomaskonverter wurde gemahlen unter der Bezeichnung „Thomasmehl“
vom Neunkircher Eisenwerk erstmals 1886 als Düngemittel auf den Markt gebracht (Prediger
S. 97).
89 Klein, Ernst, Die Bergmännische Sparkasse an der Saar (1835-1867), in: Bankhistorisches
Archiv 2, 1976 Heft 1 S. 1-13.
90 Thomes, Paul, Die Kreissparkasse Saarbrücken (1854-1914). Ein Beitrag zur Geschichte der
öffentlichen Sparkassen Preußens, phil. Diss. Saarbrücken 1984.
91 100 Jahre Kreissparkasse Merzig 1857-1957, Merzig 1957; 100 Jahre Kreissparkasse Ottwei-
ler 1869-1969, Ottweiler 1969; 100 Jahre Kreissparkasse St. Wendel - 125 Jahre Kreis
St. Wendel, St. Wendel 1959.
92 Fabry, Philipp W., Bewährung im Grenzland. Genossenschaftsarbeit an der Saar von 1860
bis zur Gegenwart, hrsg. vom Saarländischen Genossenschaftsverband, Neuwied 1986.
23
ten unterschiedlicher Qualität dokumentiert.93 Auch die aus der Initiative des Trierer
Zentrumspolitikers Dasbachs entstandene Landesgenossenschaftsbank Trier unter-
hielt eine Zweigniederlassung im Saarrevier.94 In der Westpfalz entstanden Sparkassen
später als im preußischen Teil des Reviers.94a Die 1886 gegründete Pfälzische
Hypothekenbank dehnte ihre Darlehensvergaben im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens
nur zögernd auf die westpfälzischen Bezirksämter aus.95 Älter sind hier die Vorschuß-
vereine in Zweibrücken seit 1865, Blieskastel und St. Ingbert, beide seit 1868, in
Homburg seit 1882.96
Spärlich unterrichtet sind wir über die Privatbanken. Nur für das Bankhaus der
Saarlouiser Brüder Leopold und Myrtil Lazard liegt eine Aufarbeitung von Manfred
Pohl in Form einer Saarbrücker Dissertation vor.97 Während die beiden Brüder von
vornherein eine Bankgründung planten und durchführten, entwickelten sich die
anderen Saarbrücker Privatbanken98 aus Handelshäusern.
Die drei größten waren
- Gebr. Haldy, Bankgeschäft und Kohlengroßhandlung mit Filialen in Straßburg,
Mülhausen, Colmar, Frankfurt/Main, Paris und Charleroi,
- Bankhaus Gebr. Schlachter, 1887 von Grohe-Henrich übernommen,
- Gebr. Röchling Bank mit Filialen in Sulzbach, St. Wendel, Merzig, Neunkirchen,
Saarlouis, Völklingen, Zweibrücken und Birkenfeld.
Für die Westpfalz war das Zweibrücker Bankhaus Henigst, Cullmann & Co. wichtig,
das später an die Creditdepositenbank überging und 1904 mit der Rheinischen
Kreditbank Mannheim fusionierte.99
Wenn man bedenkt, daß neben der Familie Röchling auch die Familie Haldy zeitweise
im Hüttenwesen engagiert war und eine Kokerei betrieb, daß zu den Kommanditisten
der Grohe-Henrich Bank die Familie Stumm und die Firma Gebr. Stumm gehörten,
93 Aspekte bankwirtschaftlicher Forschung und Praxis. 100 Jahre genossenschaftl. Zentralban-
ken in Südwestdeutschland, hrsg. vom Helmut Guthardt, Frankfurt 1985; Die Saar Bank
eGmbH, Saarbrücken 6. 9. 1896 gegründet als Gersweiler-Spar- und Darlehenskasse eGmbH
S. 130-140; 90 Jahre Volksbank e. G. Nonnweiler (Nonnweiler 1980); 75 Jahre Volksbank
Wadgassen e. G., hrsg. von der Volksbank Wadgassen, Wadgassen 1980; Festveranstaltung
75 Jahre Volksbank Neunkirchen e. G., Neunkirchen 1981; 100 [Hundert] Jahre Volksbank
St. Ingbert, 1867-1967. (Hrsg.: Volksbank St. Ingbert 1967). 60 S., III.
94 Später Centralgenossenschaftsbank AG, Saarbrücken (wie Anm. 86) S. 139.
94aThomes, Paul, Sparkassen beiderseits der Grenze: Die bayerische Pfalz und das preußische
Saarrevier, in: Zeitschr. für bayerische Sparkassengeschichte 1988, Heft 2, S. 71-94; ders.,
Sparkassen und Kreditgenossenschaften in der bayerischen Pfalz und im preußischen Regie-
rungsbezirk Trier bis zum Ersten Weltkrieg, in: ebenda, S. 95-114.
95 Kermann, Joachim, Die Kreditverhältnisse in der Pfalz im 19. Jahrhundert unter besonderer
Berücksichtigung des Hypothekenkredits und der Anfänge der Pfälzischen Hypothekenbank,
in: Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Pfälzischen Hypothekenbank 1886-1986 Teil II,
Speyer 1986 S. 169-226.
96 Vgl. die entsprechenden Hinweise im Adreßbuch Westpfalz 1911/12 (wie Anm. 18) S. 65 f.
97 Pohl, Manfred, Die Geschichte der saarländischen Kreditbank Aktiengesellschaft, Saarbrük-
ken 1972 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und
Volksforschung 5).
98 Einige Daten bei Pohl (wie Anm. 97) S. 12 f., weiterhin Handel und Industrie (wie Anm. 86)
S. 129 f., 133, 137.
99 Adreßbuch Westpfalz 1911/1912 (wie Anm. 18) S. 78.
24
daß in Kaiserslautern eine Privatbank Böcking, Karcher 8c Cie bestand, dann werden
Verbindungen zwischen den großen Eisenhüttenfamilien und den heimischen Privat-
banken in Ansätzen erkennbar. Ob es freilich in Anbetracht der stark reduzierten
Quellenlage heute möglich sein wird, diese Verbindungen transparenter zu machen,
erscheint mir fraglich. Die Klärung dieser Frage könnte auch Licht werfen auf den
Finanzierungsmodus der großen Innovationen in den Hüttenwerken.
Abgesehen von einer kurzlebigen Filiale der Kölner Bank ließen sich Großbanken erst
nach der Jahrhundertwende im Saarrevier nieder, zuerst die Bergisch-Märkische Bank
durch Übernahme des Bankhauses Lazard im Jahre 1905, dann einige Jahre später die
Disconto-Gesellschaft100 und die Internationale Bank Luxemburg. Eine Agentur der
königlich preußischen Bank bestand in Saarbrücken seit 1859, sie wurde zu einer
Reichsbanknebenstelle ausgebaut, später wurden auch Reichsbanknebenstellen in
St. Ingbert und in Zweibrücken (1883) eingerichtet.101
Geleitet wurde die Saarwirtschaft damals noch von einem bodenständigen Unterneh-
mertum, selbst in der Großindustrie hatten erst wenige Firmen den Übergang zur
Anonymität der Aktiengesellschaft vollzogen.102 Die Namen der vier großen Eisenhüt-
tenfamilien Stumm, Röchling,103 Böcking104 und Krämer1043 und der Keramikfabri-
kanten Boch105 und Villeroy106 sind noch heute geläufig. Weniger bekannt sind die in
anderen Industriezweigen, im Handel und Kreditwesen engagierten Familien
Adt,107 Haldy, Karcher,108 Raspiller,109 Reppert,110 Rexroth, Schmidtborn111 und
100 Pohl (wie Anm. 97).
101 Adreßbuch Westpfalz (wie Anm. 18). S. 59-64.
102 Als älteste Aktiengesellschaft an der Saar gilt die Dillinger Hütte (seit 1809). Das St. Ingberter
Eisenwerk wurde 1889 von einer Kommanditgesellschaft in eine AG umgewandelt, die
Burbacher Hütte 1911 unter gleichzeitiger Fusion mit den luxemburgischen Hütten in Eich
und Düdelingen zu den Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange ( = ARBED).
103 Zur Familiengeschichte Hans-Lothar Freiherr von Gemmingen-Hornberg und Friedrich
Wilhelm Euler, Dr. med. Christian Röchling 1772-1855 und Charlotte Wagner 1793-1870,
Ahnen und Nachkommen, Heidelberg 1973; vgl. auch Alexander Tille, Das Haus Röchling
und seine Unternehmungen, Saarbrücken 1907. In der Saarbrücker Zeitung habe ich eine
Artikelserie „Die Röchlings - Aufstieg und Abschied einer Familie“ veröffentlicht (SZ Nr. 29,
30, 32-36, 38-44 v. 3.-21. 2. 1978), die sich als Zusammenfassung bisher in der Literatur
verstreuter Angaben versteht.
104 Böcking, E., Geschlechtsregister der Familie Böcking, Köln 1894; Böcking, Herbert W.,
Abentheuer, Beiträge zur Geschichte des Ortes und seiner Eisenhütte, 1961 besonders
S. 108-117; Fritz Hellwig, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 2 S. 368-371.
104aHellwig, Fritz, Kraemer, Eisenindustrielle, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 12, 1980
S. 632-636.
105Grüner, Erhard, Geschichte der Familie Boch, Saarbrücken 1968; Neue Deutsche Bio-
graphie Bd. 2 S. 339 f.
106Braux, G. de, Les familles Noël du Lys et Villeroy, Généalogies, Nancy-Orléans 1892.
107 Wilmin, Henri, Die Familie Adt und ihre Industriebetriebe, Bad Orb 1979; Adt, Hans, Aus
meinem Leben und aus der Geschichte der Firma Gebr. Adt, Bad Orb 1978.
108Hellwig, Fritz, Karcher, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 11, S. 142-148; Karcher,
Georges E. und Kirchner, Fritz, Die Familie Karcher aus dem Saarland, eine Stammfolge,
Saarbrücken 1979 (Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Familienkunde 10. Sonder-
band).
109 Neutzling, Walter, Die Glasmacherfamilie Raspiller - Sonderband 21 der Mitteilungen der
Arbeitsgemeinschaft für saarländische Familienkunde.
110Rixecker, Albrecht, Die Glasmacherfamilie Reppert im Elsaß und an der Saar, in:
Saarländische Familienkunde 3, 1970, S. 219-225 und 248-255.
111 Euler, Friedrich Wilhelm, Die Familie Schmidtborn, in: ZGSaargegend 19, 1971,
S. 478-496.
25
Vopelius.112 Die herausragende Persönlichkeit jener Zeit war zweifellos Carl Ferdi-
nand Stumm, der im Jahre 1888 von Kaiser Friedrich III. in den Adelsstand erhoben
wurde.113 Wenn auch wegen seiner Sozialpolitik des patriarchalischen Systems schon
von Zeitgenossen angegriffen und später scharf verurteilt,114 bleibt er doch der
herausragende Politiker und Wirtschaftsführer des Saarreviers im Deutschen Kaiser-
reich. Nicht zuletzt kennzeichnet die Apostrophierung des gesamten Reviers als
Königreich Stumm seine Macht und seinen Einfluß. Er ist der einzige saarländische
Wirtschaftsführer, dessen Leben und Wirken bisher eine monographische Darstellung
gefunden hat.115 Von einigen anderen Unternehmerpersönlichkeiten liegen bio-
graphische Skizzen in Form von Aufsätzen vor: Karl Röchling,116 Hermann Röch-
ling,117 Rudolph Böcking,118 Eugen Anton von Boch.119 Hinzu kommen die Lebens-
bilder von Männern in führender, aber nicht selbständiger Stellung im Saarbergbau120
und der Eisenindustrie und schließlich mit Alexander Tille121 eine Persönlichkeit, die
als Geschäftsführer der Saarbrücker Handelskammer und wirtschaftlicher Vereine
Wirtschaftspolitik an der Saar machte. Das Beziehungsgeflecht der saarländischen
Unternehmerfamilien untereinander und von ihnen zu führenden Familien anderer
Industriereviere und zu hohen preußischen Beamten und Militärs ist noch lange nicht
aufgehellt, Ansätze bieten Fritz Hellwig122 und Philipp Adolf Fürst123 und eine von
mir vorgelegte Studie über die wirtschaftlichen Führungskräfte der ersten Jahrhun-
112Die Arbeit von Walter Lauer, Geschichte der Familie Vopelius und ihrer industriellen
Unternehmungen, 1. Teil 1446-1854, Jena 1936, reicht nur bis 1854.
113 Adelserhebungen: Karl Ferdinand Freiherr von Stumm am 5. 5. 1889, seine Enkel Günther
Carl Gustav und Gustav Theodor Rudolf Braun von Stumm am 10. 2. 1902; ferner Anton
Eugen von Boch am 10. 8. 1892, Georg Friedrich von Rexroth am 2. 3. 1914, Georg
Richard von Vopelius am 15. 8. 1908 (Ablichtungen der Adelsbriefe im LA Saarbrücken).
114Horch, Hans, Herr und Knecht im Hause Stumm, in: Richtig daheim waren wir nie (wie
Anm. 12) S. 55-60.
115 Hellwig, Fritz, Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg. 1836-1901, Saarbrücken
1936; neuerdings von demselben Autor Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, in:
Saarländische Lebensbilder Bd. 3, 1986 S. 153-198.
U6Nutzinger, Richard, Karl Röchling, Saarbrücken 1927; Jaeger, Hans, Karl Röchling, in:
Saarländische Lebensbilder Bd. 2, 1984 S. 201-220.
117Fuchs, Konrad, Hermann Röchling, in: Saarländische Lebensbilder Bd. 2, 1984
S. 221-251.
118 Van Ham, Hermann, Rudolph Böcking 1843-1918 (Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsmo-
nographien Bd. 1, Heft 2) 1931.
119 Thomas, Thérèse, Eugen-Anton von Boch, in: Saarländische Lebensbilder Bd. 2, 1984
S. 185-199.
120Faus, Fritz, Männer im Saarbergbau, in: Saarbrücker Bergmannskalender 1967 S. 89-93,
1968 S. 92-95, 1969 S. 84-86.
121 Hellwig, Friedrich, Zum 75. Todestag von Alexander Tille, in: Saarheimat 32, 1988
S. 9-11, darauf die Entgegnung von Joachim Heinz, ebenda S. 276. - Inzwischen liegt eine
ausführliche Biographie von Fritz Hellwig (nicht identisch mit dem obigen) vor: Alexander
Tille (1866-1912), in: Saarländische Lebensbilder Bd. 4, hrsg. von Peter Neumann, Saar-
brücken 1989 S. 155-190.
122Hellwig, Fritz, Unternehmer und Unternehmensform im saarländischen Industriegebiet, in:
Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 158, 1943 S. 402-430.
123 Fürst, Philipp, Deutsche Industriekapitäne an der Saar und ihre Versippung, in: Mitteilun-
gen der westdeutschen Gesellschaft für Familienkde 8, 1935 Sp. 281-287.
26
derthälfte.124 Auszuleuchten wären auch die Aktivitäten saarländischer Unternehmer
in der regionalen und überregionalen Verbandsarbeit, im Rheinischen Provinzialland-
tag und Preußischen Landtag.
Der jüdische Anteil am saarländischen Wirtschaftsleben wird von Albert Marx125
weder für die Zeit des Kaiserreiches noch für einen anderen Abschnitt der saarländi-
schen Geschichte ausführlich beschrieben. Während mir in der Industrie für die Zeit
vor 1914 Beteiligungen nur an Brauereien126 bekannt wurden und sie sich im
Bankgeschäft auf das genannte Haus Lazard beschränkten, war der Anteil im Handel,
vor allem in der Textil- und Lederbranche,127 recht stark. In der Saarbrücker
Bahnhofstraße war eine Reihe größerer jüdischer Stoffhäuser und Konfektionsgeschäf-
te ansässig, als ältestes und größtes die Firma J. Levy Söhne mit Zweigniederlassungen
in Saargemünd, Forbach, Völklingen und Luxemburg. In der Bahnhofstraße richtete
Wronker das erste Warenhaus ein, das spätere PK. Auch in anderen saarländischen
Städten waren in dieser Branche Juden engagiert.
Für die Haltung gegenüber den Juden, vier Jahrzehnte nach ihrer rechtlichen
Gleichstellung, erscheint mir ein Bericht des Saarbrücker Landrates von Richthofen
vom September 1883 nach der Selbstauflösung der Saarbrücker Handelskammer
bezeichnend. Da die alten Mitglieder bei Wiederwahl die Annahme des Amtes
ablehnen würden, sei damit zu rechnen, „daß fast ausschließlich Juden und Elemente,
deren Fernhaltung von der gedachten Körperschaft ebenso im Interesse des Staates wie
des gediegenen Handelsstandes liegt, in die Kammer gewählt würden.“128 Von den
Neuerscheinungen, die durch das Gedenken an die Pogrome vom November 1938
ausgelöst wurden, gehen einige auf jüdisches Leben im wilhelminischen Kaiserreich
ein.129
124Herrmann, Hans-Walter, Die wirtschaftlichen Führungskräfte im Saarland in der Zeit der
Frühindustrialisierung 1790-1850, in: Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und
Neuzeit 1350-1850 Teil I. Büdinger Vorträge 1968-1969, hrsg. von Herbert Helbig, Limburg
1973, S.281-309.
125 Marx, Albert, Die Geschichte der Juden an der Saar vom Ancien Régime bis zum Zweiten
Weltkrieg, phil. Diss., Saarbrücken 1985, eine erweiterte Fassung wurde schon für Herbst
1988 erwartet.
126 Anteil an der Hansa-Brauerei in Geislautern, Leopold Nathan entwickelte hier ein besonderes
Schnellgärungsverfahren.
127 Vgl. die kurzen firmengeschichtlichen Angaben in Handel und Industrie (wie Anm. 86)
S. 121, 143, 146, 185.
128Hellwig (wie Anm. 17) S. 51.
129 Geschichte der Juden im Saar-Pfalz-Kreis ( = Saarpfalz, Blätter für Geschichte und Volkskun-
de, Sonderheft 1989), insbesondere S. 57 f., 59-65; Michael Landau (Hrsg.), Damit es nicht
vergessen wird. Beiträge zur Geschichte der Synagogengemeinden des Kreises St. Wendel,
St. Wendel 1988; Zur Geschichte der Juden in Ottweiler, Hrsg.: Jungsozialisten in der SPD,
Ortsverein Ottweiler 1988. - Vgl. auch einige Angaben zu Juden in der Westpfalz bei
Wilhelm Kreutz, Die Entwicklung der Berufs- und Sozialstruktur der Pfälzischen Juden
(1818-1933), in: Alfred Hans Kuby (Hrsg.), Juden in der Provinz. Beiträge zur Geschichte
der Juden in der Pfalz zwischen Emanzipation und Vernichtung, Neustadt 1988, S. 9-32.
27
Sozialgeschichte
Viel stärker als mit wirtschaftsgeschichtlichen Fragen hat sich die saarländische
Forschung in den beiden letzten Jahrzehnten mit sozialgeschichtlichen Themen befaßt.
An einen breiten Leserkreis wendet sich der von Klaus Michael Mallmann, Gerhard
Paul, Ralph Schock und Reinhard Klimmt herausgegebene Sammelband „Richtig
daheim waren wir nie“.129a Seine einzelnen Beiträge aus dem hier interessierenden
Zeitabschnitt behandeln unter bewußtem Vermeiden fachwissenschaftlicher Diktion
und leider auch unter Verzicht auf Quellenangaben vornehmlich sozialgeschichtliche
Phänomene des Reviers.
Die sozialgeschichtliche Forschung bedarf zuverlässiger statistischer Daten zur Bevöl-
kerungsstruktur. Wolfgang Läufer,130 Jürgen Karbach und Dieter Bettinger131 haben
Material, vor allem zur Einwohnerzahl, zur Siedlungsdichte und zur Verteilung der
Konfessionen, bezogen auf Gemeinden und Kreise, zusammengestellt. Klaus Fehn132
hat auf weitere einschlägige Quellengruppen aufmerksam gemacht: Melderegister,
Wählerlisten, Schulakten, Personenstandsregister, Kirchenbücher, Grundsteuerak-
ten.
Trotz des starken Bevölkerungszustroms ins Revier hielt auch im letzten Drittel des
19. Jhs. die Auswanderung an, sie wurde von Josef Mergen in ihrem Umfang, ihren
Motiven und ihren Zielländern in nicht ganz befriedigendem Maße beschrieben.133
Seine vor fast fünfundzwanzig Jahren erstellten Namenslisten von Auswanderern, die
erst kürzlich veröffentlicht wurden, lassen sich aus ihm nicht bekannten, teilweise erst
später zugänglich gewordenen Quellen ergänzen.134
Hans Horch135 hat in seiner Dissertation „Der Wandel der Gesellschafts- und
Herrschaftsstrukturen in der Saarregion während der Industrialisierung 1740-1914“
versucht, das Gerüst eines typischen Modells der ökonomisch-sozialen Entwicklung
zu konstruieren, die den zentralen ideologischen, rechtlichen und politischen Ver-
schiebungen der Industrialisierungsphase zugrundelag, und hat auf der Basis eines
129ißerlin-Bonn 1987.
130Läufer, Wolfgang, Bevölkerungs- und siedlungsgeschichtliche Aspekte der Industrialisierung
an der Saar, in: ZGSaargegend 29, 1981, S. 122-164; ders., Eine Region der Bewegung.
Bevölkerung und Siedlung im Prozeß der Industrialisierung, in: Richtig daheim. . .,
S. 21-26.
131 Karbach, Jürgen, Bevölkerungszahlen des Saarlandes 1800-1910, in: ZGSaargegend 34/35
1986/87 S. 186-275; Bettinger, Dieter Robert, Die Verschiebung der Konfessionsverhält-
nisse im Saarland, in: Die Evangelische Kirche an der Saar (wie Anm. 24) S. 202-220.
132Fehn, Klaus, Ansätze zur Erfassung der Bevölkerungs- und Sozialgeschichte des saarländi-
schen Bergbau- und Industriegebietes im 19. und frühen 20. Jh., in: Jb. westd. Landesgesch.
3, 1977 S. 419-440.
133 Mergen, Josef, Die Auswanderungen aus den ehemals preußischen Teilen des Saarlandes im
19. Jh., 2 Bde., Saarbrücken 1973 und 1987 (Veröffentlichungen des Instituts für Landes-
kunde des Saarlandes 20 und 28).
134 Inventar der Quellen zur Geschichte der Auswanderung 1500-1914 in den staatlichen
Archiven von Rheinland-Pfalz und dem Saarland, bearbeitet von Peter Brommer, Karl Heinz
Debus und Hans-Walter Herrmann, Koblenz 1976 (Veröffentlichungen der Landesarchiv-
verwaltung Rheinland-Pfalz 27).
135Horch, Hans, Der Wandel der Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der Saarregion
während der Industrialisierung (1740-1914) (Wissenschaftliche Reihe: Soziologie) St. Ingbert
1985.
28
solchen Modells, ausgehend vom Endpunkt der entwickelten kapitalistischen Indu-
striegesellschaft, die zu ihr führende soziale Entwicklung als Vorgeschichte darge-
stellt. Er hat sich bewußt auf die Literatur und auf gedruckte Quellen beschränkt,
weil er nach seinen eigenen Worten (S. 28) nicht historische Forschung als seine
Aufgabe ansah, sondern die gesellschaftstheoretische Interpretation des vorhandenen
historischen Wissens. Eine Überprüfung seiner Ergebnisse, die er selbst teilweise als
„kühne Hypothesen“ anspricht, anhand des vorhandenen ungedruckten Materials und
die eingehende Auseinandersetzung mit ihm erscheint mir für die künftige sozialge-
schichtliche Forschung unerläßlich. Dabei wird jedem, der sich mit dieser Zeit befaßt,
sein umsichtig zusammengetragenes Literaturverzeichnis zustatten kommen.
Bei dem derzeitigen Forschungsstand steht unter allen Berufsständen der Bergmann
auf den preußisch-fiskalischen Gruben des Reviers im Vordergrund. Bei der Bestim-
mung der Faktoren zur Ausbildung eines saarländischen Arbeiterstandes mit eigenen
Wesensmerkmalen hat Maria Zenner136 vorgeschlagen zu untersuchen, ob aus dem
frühen saarländischen Kohle- und Erzabbau, besonders des 18. Jhs., Elemente einer
bergbaulichen Lebenssicht und eines bergmännischen Standesbewußtseins übernom-
men wurden. Prägend wirkte gewiß die Siedlungspolitik des preußischen Bergfiskus,
die Klaus Fehn in einer Monographie noch einmal ausführlich beschrieb.137 Durch die
Gewährung von Prämien und Darlehen begünstigte der Fiskus die Bildung von
Kleineigentum, bestehend aus Haus und kleinem Grundbesitz. Als Zweck und
Ergebnis dieser Siedlungspolitik wird immer wieder, noch vor den lohnpolitischen
Absichten, die Verringerung der Mobilität der Arbeiterschaft durch ihre Bindung an
Kleingrundbesitz genannt. „Bodenverwurzelt und betriebsverbunden“ charakterisiert
Fritz Hellwig den Saar-Arbeiter.138 Aber niemand hat m. W. bisher untersucht, wie es
mit der Fluktuation der Bergleute stand, ob wirklich das langjährige Anfahren auf ein-
und derselben Grube die Regel war. Die im Landesarchiv Saarbrücken verwahrten
Stammbücher der preußischen Staatsgruben aus dem letzten Jahrzehnt vor Kriegsaus-
bruch würden zumindestens für diese Zeit eine auf quantifizierende Untersuchungs-
methoden gestützte Aussage erlauben.
Die Baugestalt des Arbeiterhauses bzw. Arbeiterbauernhauses ist seit kurzem auch in
das Blickfeld von Denkmalpflegern und Architekten gerückt,139 nicht zuletzt, weil die
Erhaltung seines ursprünglichen Aussehens durch einen Wettbewerb gefördert wird.
136Zenner, Maria, Probleme des Übergangs von der Agrar- zur Industrie- und Arbeiterkultur
im Saarland, in: Soziale Frage und Kirche (wie Anm. 32) S. 65-78.
137Fehn, Klaus, Preußische Siedlungspolitik im Saarländischen Bergbaurevier (1816-1919),
Saarbrücken 1981 (Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde im Saarland 31).
138 Hellwig (wie Anm. 17) S. 70.
139Slotta, Rainer, Fördertum und Bergmannshaus, Saarbrücken 1979; Kirsch, Karl - Birtel,
Rudolf, Saarländische Arbeiterhausfibel. Anregungen und Hinweise für die Restaurierung
saarländischer Arbeiterhäuser, hrsg. im Rahmen des Wettbewerbs „Saarländische Arbeiter-
häuser - Zeugnisse unserer Industriekultur“, Staatl. Konservatoramt des Saarlandes mit
Unterstützung durch die saarländischen Sparkassen und durch die Landesbausparkasse,
Saarbrücken 1986; Bausen, Ernst Johannes, Geschichte des Bergarbeiterwohnungsbaus als
Rahmenbedingung für das Saarbrücker Prämienhaus in der Zeit des preußischen Bergfiskus
von 1816 bis 1919, ing. Diss., Technische Hochschule Aachen 1986.
29
Im Herbst 1989 legten Klaus-Michael Mallmann und Horst Steffens eine Sozialge-
schichte des Saarbergarbeiters von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der
saarländischen Sonderentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg vor.140 Die Darstel-
lung des 19. Jahrhunderts (S. 25-121) wollen sie als „bilanzierende Zusammenfas-
sung“ verstanden wissen, neben ihr behalten die früheren Monographien der beiden
Autoren ihren Wert. Horst Steffens141 hatte schon früher die Erfahrungen der
Arbeitswelt des Bergmannes auf den fiskalischen Gruben im preußischen Teil des
Reviers im einzelnen beschrieben und in den alltäglichen Lebenszusammenhang
eingebettet. Seine Schilderung eines Arbeitstages beschränkt sich nicht auf die
Zeitspanne zwischen Einfahrt und Ausfahrt, sondern er bezieht die familiäre Situa-
tion, die Erfahrungen und Kommunikationsmöglichkeiten auf dem Arbeitsweg, im
Vereinsleben und bei anderen geselligen Zusammenkünften mit ein, immer unter dem
Aspekt der individuellen und/oder kollektiven Verarbeitung der obrigkeitlichen
Bevormundung. Für ihn ist der Bergmann „nicht fügsamer und williger Arbeiter,
sondern er war findig in der Suche nach Nischen und Freiräumen, hartnäckig in der
Verteidigung von Gewohnheiten, disziplinlos im Umgang mit Vorschriften, beden-
kenlos im Ausnutzen von Vorteilen, solidarisch in der Bedrohung, kooperativ in der
Arbeit, oft mißtrauisch gegen Kollegen und renitent gegen Beamte.“
Die fiskalischen Steiger des Saarbergbaues hat Helmuth Trischler in seine Untersu-
chung einbezogen.142 Dem für die Herausbildung des bergmännischen Standesbe-
wußtsein relevanten Uniformwesen widmete Karl Heinz Ruth eine volkstümlich
gehaltene Beschreibung.143
In den meisten sozialgeschichtlichen Untersuchungen wird das Wirken der Kirche
gegenüber der Arbeiterschaft angesprochen,144 sowohl im unmittelbaren Tätigwerden
als auf dem Weg über den Bergfiskus als Arbeitgeber, der sich anscheinend im letzten
Viertel des 19. Jhs. die tatkräftige Förderung der Seelsorge seiner katholischen und
protestantischen Arbeiter weniger angelegen sein ließ als in den vorhergehenden
Jahrzehnten.145
Die verhältnismäßig gute Kenntnis der Lebensumstände der Arbeiter auf den preußi-
schen Fiskalgruben verleitet dazu, die für sie gültigen Aussagen auf den saarländischen
140 Mallmann, Klaus-Michael, - Steffens, Horst, Lohn der Mühen. Geschichte der Bergarbei-
ter an der Saar, München 1989.
141 Steffens, Horst, Arbeitstag, Arbeitszumutungen und Widerstand. Bergmännische Arbeitser-
fahrungen an der Saar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialge-
schichte 21, 1981 S. 1-54.
142 Trischler, Helmuth, Steiger im deutschen Bergbau. Zur Sozialgeschichte der technischen
Angestellten 1815-1945, München 1988.
143 Ruth, Karl-Heinz, Bergmannsuniformen an der Saar, Saarbrücken 1986.
144 Vgl. die Aufsatzsammlung unter dem Titel „Soziale Frage und Kirche im Saarrevier“ (wie
Anm. 32); Saarn, Rudolf, Die evangelische Kirche an der Saar in den Jahrzehnten sozialer
Veränderungen nach 1850, in: Die evangelische Kirche an der Saar (wie Anm. 24)
S. 229-246; Jacoby, Fritz, Katholische soziale Bestrebungen in der Westpfalz im 19. und
frühen 20. Jh., in: Archiv f. mittelrh. Kirchengeschichte 37, 1985 S. 97-114; Mallmann,
Klaus-Michael, „Aus des Tages Lasten machen sie ein Kreuz des Herrn. . .?“ Bergarbeiter,
Religion und sozialer Protest im Saarrevier des 19. Jahrhunderts, in: Volksreligiosität in der
modernen Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfgang Schieder, Göttingen 1986, S. 152-184.
145Klein, Ernst, Bergfiskus und Kirche an der Saar im 19. Jh., in: ZGSaargegend 23/24,
1975/76 S. 157-193.
30
Arbeiter allgemein zu übertragen. Dies erscheint mir unzulässig, ehe nicht Detailunter-
suchungen für die Bergleute auf den bayerischen Fiskalgruben und den beiden
Privatgruben und für die Arbeiter in den Eisenwerken, Glashütten und im Baugewer-
be vorliegen. Hier eröffnet sich für künftige sozialgeschichtliche Arbeiten ein weites
Feld.
Während, wie schon gesagt, aufgrund der verhältnismäßig günstigen Quellenlage, die
Forschung ein facettenreiches Bild von dem Arbeiter auf den preußischen Staatsgru-
ben des Reviers entworfen hat, fehlen vergleichbare Untersuchungen über die beiden
nächst größeren Gruppen, die Hüttenarbeiter und die Bauarbeiter.
Die Verbreitung industrieller Frauen- und Kinderarbeit hierzulande ist noch nicht
planmäßig untersucht worden.146 Doch scheint sie schon wegen der besonders
schweren körperlichen Bedingungen in dem vornehmlich montanindustriell struktu-
rierten Revier nicht stark verbreitet gewesen zu sein und in dem letzten Drittel des
19. Jhs. noch abgenommen zu haben, bis dann im Ersten Weltkrieg Frauen auch in
der Schwerindustrie Arbeitsplätze ausfüllen mußten. Die Rolle der Arbeiterfrau in
Haushalt und Familie, bei der Bestellung von Garten und Feld und der Versorgung
des Viehs wird zur Zeit von verschiedenen Seiten her angegangen, vorab veröffentlicht
ist eine knappe Zusammenfassung.147
Die Anfänge der Selbstorganisation der Arbeiterschaft in Gewerkschaften und die
ersten Versuche ihrer Emanzipation aus dem patriarchalischen System behandeln
vornehmlich Klaus Michael Mallmann148 und Horst Steffens,149 wobei die Rechts-
schutzbewegung der Saarbergleute und die große Streikwelle von 1889 bis 1892 im
Mittelpunkt stehen. Mallmann hat das Thema in einigen kleineren Arbeiten variiert
und um die Schilderung einzelner Erscheinungen, darunter die Ausbreitung in die
Westpfalz, ergänzt. Er schrieb auch die Biographie der führenden Persönlichkeit der
Rechtsschutzbewegung: Nikolaus Warken150 und des jüngeren Gewerkschafters Julius
146Kermann, Joachim, Vorschriften zur Einschränkung der industriellen Kinderarbeit in
Bayern und ihre Handhabung in der Pfalz. Ein Beitrag zur Entwicklung der bayerischen
Arbeitsschutzgesetzgebung im 19. Jh., in: Jb. f. westdt. Landesgesch. 2, 1976 S. 311-374,
geht auf die tatsächliche Kinderarbeit nicht ein. Einzelangaben, vornehmlich zur Frauenar-
beit, finden sich an verschiedenen Stellen in dem Sammelwerk „Industriekultur“ (wie
Anm. 157) z. B. S. 79 f.
147Hoherz, Hilde, „Krystallisationspunkt allen Glücks“. Frauenarbeit in der Ära Stumm, in:
Industriekultur (wie Anm. 157) S. 193-205.
148 Mallmann, Klaus-Michael, Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar
(1848-1904), Saarbrücken 1981; ders., Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung in der
bayerischen Saarpfalz, in: Saarheimat 23, 1979 S. 177-182; ders., Kulturkampf, katholischer
Klerus und Bergarbeiterbewegung an der Saar, in: Der Anschnitt 33, 1981 S. 110-116; ders.,
„Einer für alle, alle für einen?“ Die große Streikzeit 1889-1893, in: Gerhard Bungert -
Klaus-Michael Mallmann - Gerd Schuster, Der Weg zur Einheit, Stationen der Bergarbei-
terbewegung an der Saar, Bochum 1981 S. 5-17; ders., „Haltet fest wie der Baum die Äst“.
Zur Rolle der Frauen in der Bergarbeiterbewegung 1892/93, in: Saarheimat 24, 1980
S. 89-92,
149 Steffens, Horst, Arbeiterwohnverhältnisse und Arbeitskampf. Das Beispiel der Saarbergleute
in der großen Streikzeit 1889-1893, in: Klaus Tenfelde - Heinrich Volkmann, Streik. Zur
Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München
1981 S. 124-142; ders., Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhalten der Bergar-
beiter an der Saar im 19. Jahrhundert, Weingarten 1987.
150Mallmann, Klaus-Michael, Nikolaus Warken, in: Saarländische Lebensbilder Bd. 1, 1982
S. 127-152.
31
Schwarz (1880-1949).151 Er und andere Autoren haben im regionalen Feld gezeigt,
wie es die katholische Kirche verstand, dem sozialen Protest sowohl ein Ventil in einer
gesteigerten Religiosität als auch eine gewerkschaftliche Organisation in enger Verbin-
dung mit der Zentrumspartei zu geben. Wie von einer völlig anders gearteten
Ausgangsposition her mindestens Teile der protestantischen Arbeiterschaft trotz ihrer
Konfession den Weg in die Gewerkschaften fanden, behandelt er in diesem Band.
Wie nach dem Scheitern der Rechtsschutzbewegung zunächst zögernd, dann immer
stärker von verschiedenen Seiten aus die Organisation der Arbeiterschaft erfolgte und
sich in neuen Streiks manifestierte, wobei dem Hüttenarbeiterstreik in Burbach 1906
als erstem Hieb gegen das „saarabische System der Hüttenindustrie“ besondere
Bedeutung zukommt,152 haben verschiedene Autoren in kleineren Beiträgen angespro-
chen.153 Michael Sander154 hat mehrfach das Spannungsverhältnis zwischen den
katholischen Arbeitervereinen der Berliner Richtung, die von dem Trierer Bischof
Korum und der Dasbach-Presse unterstützt wurden, und den interkonfessionellen
christlichen Gewerkschaften, für die sich der Saarbrücker Zentrumspolitiker Muth
und die „Saarpost“ engagierten, beschrieben und erläutert. Alle diese Ansätze lassen
die Fortsetzung der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung im Revier im Anschluß
an Mallmanns Dissertation nur um so wünschenswerter werden. Dabei wäre Horchs
Vorgabe zu prüfen, daß hierzulande „die Ansätze kollektiver und konfliktatorischer
Interessenvertretung der Arbeiterschaft“ nur in sehr kümmerlicher Form entwickelt
gewesen seien, und auch die dafür von ihm genannten Faktoren155 - höherer
Zentralisationsgrad des Kapitales und des ökonomischen Staatseinflusses als in
anderen Teilen des Deutschen Reiches, ein geschickt ausgeklügeltes und besser
durchorganisiertes Herrschaftssystem der hiesigen Arbeitgeber und daraus resultieren-
de größere Schwierigkeiten für die politische und gewerkschaftliche Arbeit und
unterwürfiges Verhalten der Arbeiter, wie auch mancher gewerkschaftlichen Agitato-
ren156 die einzigen oder mindestens die bestimmenden Faktoren waren.
Ein rundes Jahr nach der Dillinger Tagung ist unter der Herausgeberschaft Richards
van Dülmen in der von Hermann Glaser gegründeten Reihe „Industriekultur deut-
151 Ders., Julius Schwarz (1880-1949), ebenda Bd. 4, 1989 S. 191-221.
152Bungert, Gerhard - Mallmann, Klaus-Michael, Burbach 1906: Der erste Hüttenstreik an
der Saar, in: Arbeitnehmer 1977 S. 337-340.
153 Bungert, Gerhard - Mallmann, Klaus-Michael, 100 Jahre Sozialistengesetz „Hinter jedem
Streik lauert die Hydra der Revolution.“ Was damals im Saarrevier geschah, in: Arbeitnehmer
26, 1978 S. 412-416; Handfest, Karl, Zur frühen Geschichte der Gewerkschaften an der
Saar. Hauptamtliche Gewerkschaftskarriere von Hans Böckler begann im Saarland, in:
Saarheimat 18, 1974 S. 108-115; Heitzer, Horstwalter, Die christliche Bergarbeiterbewe-
gung im Saarrevier von 1904 bis zum Ersten Weltkrieg, in: Soziale Frage und Kirche (wie
Anm. 32); 100 Jahre Ortsverein Saarbrücken. Verband der Deutschen Buchdrucker J. V.
Graphik Saar, IG Druck und Papier (Saarbrücken 1967); Bungert, Gerhard - Mallmann,
Klaus-Michael, Die Arbeitersportbewegung im Saarland. Zur Ertüchtigung - auch politisch,
in: Arbeitnehmer 1978 S. 50-52.
1S4Sander, Michael, Katholische Arbeitervereine Berliner Richtung, in: Archiv für mittelrhein.
Kirchengesch. 37, 1985 S. 115-135; ders., Katholische Geistlichkeit und Arbeiterorganisa-
tion, in: Soziale Frage und Kirche (wie Anm. 32) S. 273-302; ders., Zwischen Kirche, Streik
und Zentrum. Der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter im Krisenjahr 1912, in: Richtig
daheim (wie Anm. 12) S. 87-90.
155 Horch (wie Anm. 135) S. 14.
156 Namentlich nennt er Otto Hue und Heinrich Imbusch.
32
scher Städte und Regionen“ ein Sammelband über Leben und Arbeit im Saarrevier
zwischen 1840 und 1914 erschienen.157 Der Herausgeber verfolgte damit das Ziel, die
bis in die Gegenwart fortwirkenden Entstehungsvoraussetzungen und die entscheiden-
den soziokulturellen Formungsprozesse nicht nur zu beschreiben, sondern an exem-
plarischen Phänomenen und Prozessen zu analysieren und durch reiche Bebilderung
zu veranschaulichen. Unter „Industriekultur“ versteht er die Lebensformen, die durch
die Industrialisierung direkt oder indirekt hervorgebracht wurden oder entscheidend
von ihr geprägt sind. Die Beiträge von zwanzig Autoren/innen betreffen die gesell-
schaftliche Entwicklung kurz vor der Industrialisierung, Entstehung und Verdichtung
des Verkehrsnetzes, Schaffung neuer Arbeitswelten und Betriebe, Entstehung von
Industriedörfern und Verstädterung, Bildung neuer sozialer Klassen (Bergarbeiter,
Hüttenarbeiter, Beamte, Unternehmer) und deren sozioökonomische Lage, Lebens-
weise und soziale Identität, Aufgaben, Rolle und Probleme der Frauen, häuslicher
Lebensbereich und Familienleben, Entstehung moderner Krankenhäuser, Armut,
Schulsystem und Schulalltag, Aufblühen des Vereinswesens und neue Festkultur und
die Attraktivität der katholischen Kirche für den Arbeiter in seiner weitgehend
protestantisch dominierten Arbeitswelt. Je nach dem Forschungsstand konnten die
Autoren ein Resümee des bisherigen Forschungsstandes geben oder machten erste
Schritte in Neuland. Die Begrenzung ihrer Beiträge auf 10 bis 17 Seiten, einschließlich
der Bilder, verlangte eine Beschränkung auf das Ansprechen einzelner Phänomene und
ihre Veranschaulichung durch Einzelfälle und ließ keinen Raum für eine breite
Darlegung mit einem größeren wissenschaftlichen Anmerkungsapparat. Dieser Ver-
such einer Zwischenbilanz verdeutlicht dem kritischen Leser die großen Forschungs-
defizite, wird aber dem interessierten Laien einen ersten Überblick geben. Freilich
liegen noch zu wenige ähnlich ausgerichtete Aufarbeitungen anderer Industrieregionen
vor, um durch Vergleich spezifisch saarländische Entwicklungsprozesse und Verhal-
tensmuster herauszuschälen.
Eine fast gleichzeitig erschienene Veröffentlichung von Armin Schmidt158 legt den
Schwerpunkt auf die Industriearchäologie, indem sie wichtige Industriedenkmäler des
Saarreviers anhand einzelner Vorarbeiten anderer Autoren, vor allem aber des
Staatlichen Konservatoramtes, vorstellt und die Bauten in ihren technik- und wirt-
schaftsgeschichtlichen Kontext einzubetten versucht. Auch dieser Versuch ist zu
begrüßen, aber auch sein Charakter als Zwischenbilanz ist zu betonen.
Verkehrsstruktur, Versorgungseinrichtungen, Fürsorgewesen
Die Eröffnung neuer Strecken der Staatsbahnen innerhalb des Reviers,159 der Bau von
Klein- und Straßenbahnen, die meist in kommunaler Regie oder mindestens unter
157van Dülmen, Richard (Hrsg.), Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeit in einer
Industrieregion 1840-1914, unter Mitwirkung zahlreicher Autoren, München 1989.
158 Schmitt, Armin, Denkmäler saarländischer Industriekultur. Wegweiser zur Industriestraße
Saar-Lor-Lux. Edition Saar, Saarbrücken 1989, zweisprachige illustrierte Ausgabe, hrsg. vom
Staatlichen Konservatoramt Saarbrücken in Abstimmung mit dem Landesdenkmalrat für das
Saarland.
139 Auflistung der Strecken bei Kurt Hoppstätter (wie Anm. 1).
33
kommunaler Beteiligung gebaut und betrieben wurden, verbesserten die Verkehrs-
struktur des Reviers und erlaubten den Arbeitern, die bisher die Woche über in
Schlafhäusern oder Schlafstellen in der Nähe ihres Arbeitsplatzes gewohnt hatten,
täglich nach Hause zurückzukehren.
Den Anfang machte 1891 die Stadt St. Johann mit der Linie nach Luisenthal. Es
folgten bei gleichzeitigem Ausbau des innerstädtischen Netzes noch vor Kriegsaus-
bruch die Strecken nach Gersweiler und Friedrichsthal. Eine Verbesserung der
Betriebsstruktur ergab sich durch die Gründung der Gesellschaft für Straßenbahnen
im Saartal A. G. im Jahre 1912, an der die junge Großstadt mit 51 % die
Aktienmehrheit besaß.160 Die Linie St. Johann - Brebach - Ensheim und Ormesheim
wurde durch die 1913 gegründete Saarbrücker Klein- und Straßenbahn A. G.
betrieben, eine Linie von Malstatt über Riegelsberg nach Heusweiler seit 1907 durch
die Gemeinde Güchenbach.161
Von Saarlouis aus wurden zwischen 1894 und 1898 städtische Kleinbahnen nach
Felsberg, Wallerfangen und Ensdorf gebaut. In den letzten Jahren vor dem Krieg
(1910-1913) wurden sie ergänzt und erweitert durch elektrische Kreisbahnen nach
Dillingen-Nalbach, Schwalbach, Saarwellingen, Bous und Wadgassen. Die Mer-
zig-Büschfelder-Eisenbahn verband seit 1903 das Hochwaldvorland mit dem Saar-
tal.162 Die Gemeinde Neunkirchen eröffnete 1907 eine Straßenbahn nach Wiebelskir-
chen163 und zwei Jahre später (1909) die Gemeinde Völklingen die Bahn in den
Warndt mit den Endpunkten Ludweiler und Großrosseln. Anschluß- und Umsteige-
möglichkeiten zwischen der Neunkircher, der Saarbrücker und der Völklinger Stra-
ßenbahn ergaben sich erst in den zwanziger Jahren nach Verlängerung der Strecken.
Die vorliegenden Veröffentlichungen beschränken sich meist auf die Beschreibung des
Netzes und des Wagenparkes. Die Rolle der Bahnen innerhalb der Kommunalwirt-
schaft, die Fragen der Rentabilität und der Förderung durch Bergfiskus oder private
Großunternehmer werden allenfalls gestreift.164
Über das Aussehen einer Industriesiedlung gibt August Becker in seinem bekannten
Werk „Die Pfalz und die Pfälzer“ 1857 eine anschauliche Schilderung aus dem
Sulzbachtal: Das schwarze Tal, welches dort die Grenze bildet, ist das schmutzigste
und kotigste, das man treffen kann, aber auch eines der gewerbsamsten. Da liegen
mehrere Glashütten nebeneinander; darunter die Hütte „Marienthal“ teils auf bayeri-
schem, teils auf preußischem Gebiet, indem der durch ihr Gebäude fließende Bach die
160 75 Jahre Gesellschaft für Straßenbahnen im Saartal AG - Saarbrücken 1892-1967, hrsg. von
der Gesellschaft für Straßenbahnen im Saartal AG, Saarbrücken, Scheidt/Saar 1967.
161 Bost, Alois Paul, Aus der Verkehrsgeschichte, in: Ortschronik Riegelsberg. Entstehung und
Entwicklung einer modernen Wohngemeinde, Riegelsberg 1980, S. 365-375.
162 Festschrift der Merzig-Büschfelder Eisenbahn, hrsg. von der Betriebsdirektion der Mer-
zig-Büschfelder Eisenbahn GmbH, Merzig 1953; Festschrift anläßlich des 75jährigen Beste-
hens der Merzig-Büschfelder Eisenbahn GmbH, hrsg. von Merzig-Büschfelder Eisenbahn,
Merzig 1978.
163 Krajewski, Bernhard, Die Straßenbahn, in: Neunkirchen (Saar) Stadt des Eisens und der
Kohle. Ein Buch vom Werden und Wesen einer Industriestadt, Neunkirchen 1955
S. 360-365.
164 Fragen der Elektrizitätsversorgung behandelt Herzig (wie Anm. 87).
34
Grenze bildet. Durch den schwarzen fußhohen Kot watet man an zahllosen Fabrikge-
bäuden, Arbeiterwohnungen und 'Wirtshäusern vorüber bis nach dem preußischen
Ort Sulzbach, wo die Industrie an allen Ecken und Enden ihren Wohnsitz aufgeschla-
gen hat. Der Ort ist bei unverstopfter Nase leicht zu finden, denn es befindet sich hier
eine Salmiak- und Berlinerblaufabrik und faulende Tierleichname und Äser füllen die
Luft mit mephitischen Dünsten. Den Bach entlang kommt man nach Duttweiler,
einem preußischen Flecken, wo der modernen Göttin Industrie aus den Alaunfabriken
stinkende Opferdünste aufsteigend65
Straßenpflasterung, Beseitigung der Dungstätten vor den Häusern, Kanalisation,
Wasserleitung, Straßenbeleuchtung sollten hier in einem Zeitraum von mehreren
Jahrzehnten Abhilfe schaffen. In der Literatur findet die Verbesserung der hygieni-
schen und sanitären Verhältnisse wenig Beachtung. Es fehlen nicht nur die Ansätze
einer flächenhaften Betrachtung dieser Verhältnisse im Revier, sondern auch die
einzelnen Stadtgeschichten und Ortschroniken bleiben in ihren Angaben dürftig und
pauschalierend. Öfter wird von der Verbesserung der Trinkwasserversorgung gespro-
chen, dabei aber nicht unterschieden zwischen der Vergrößerung der Zahl der
öffentlichen Lauf- oder Druckbrunnen, die durch ein Leitungsnetz gespeist wurden,
und der uns heute geläufigen Hausanschlüsse. Es scheint, daß die Versorgung der
einzelnen Häuser durch ein Leitungsnetz erst im letzten Jahrzehnt des 19.Jhs.
einsetzte und daß, abgesehen von einigen Städten, die Kanalisation in den Industrie-
gemeinden erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts üblich wurde.
Parallel mit der Verbesserung des Trinkwassers lief die Bekämpfung von Seuchen und
ansteckenden Krankheiten, wie sie als Typhus und Cholera, Diphterie und Scharlach
in unserem Zeitraum wiederholt auftraten. Daneben forderte die Tuberkulose ihre
Opfer, allein im Kreise Saarlouis in den Jahren 1906 und 1907 190 Menschen.166
Neben dem Ausbau der schon früher bestehenden Dienststellen der Kreisdesinfektoren
entstanden im Zentrum des Reviers ein staatliches bakteriologisches Untersuchungs-
amt, das 1912 zum königlichen Institut für Hygiene und Infektionskrankheiten167
ausgebaut wurde, und ein Nahrungsmitteluntersuchungsamt.168 Die Zahl der Kran-
kenhäuser stieg dank der Initiative von Kommunen, Kirchen, Krankenkassen und
Großbetrieben. Der Beitrag von Paul Thomes169 in dem Sammelband „Industriekul-
tur“ geht über erste Ansätze nicht hinaus. Aus meiner Kenntnis der Quellenlage dürfte
sich Bau, Trägerschaft, Kapazität, Ausrüstung mit Geräten und Apparaten, Speziali-
sierung und Ärzteschaft der einzelnen Krankenhäuser darstellen lassen, aber nicht
Fakten der Behandlung wie durchschnittliche Bettenbelegung, Verweildauer von
Kranken, zahlenmäßiges Verhältnis zwischen Patienten und Pflegepersonal, Heilerfol-
ge.
16'1 Becker, August, Die Pfalz und die Pfälzer, 1857, 2. Auflage Neustadt S. 698.
166 Einige Angaben zu Krankheiten und Seuchen bei Anton Delges, Vom Medizinalwesen, in:
Heimatkundliches Jahrbuch des Landkreises Saarlouis 1966, S. 386-390.
167 Ruppersberg (wie Anm. 176) Bd. 3, 2 S. 458.
168 Ebenda S. 458.
169 Thomes, Paul, Verwaltete Krankheit. Die Entstehung des modernen Krankenhauses, in:
Industriekultur an der Saar (wie Anm. 157) S. 160-172.
35
Ähnlich dürfte die Quellenlage für die Aufarbeitung der Armen- und Jugendfürsorge
sein. Die von den verschiedenen Trägern aus dem kommunalen, kirchlichen und
privaten Bereich praktizierten Formen der Fürsorge sind durchweg zu fassen, aber nur
selten der Umfang der Betreuten und die Effizienz ihrer Betreuung.
Erfreulicherweise werden in den letzten beiden Jahrzehnten das 19. und frühe 20. Jh.
in den Ortschroniken und Dorfbüchern stärker als früher beachtet. Daher finden sich
zu den von mir angesprochenen Forschungsfeldern Einzelangaben in der ortskundli-
chen Literatur.170 Von den Städten haben Dillingen,171 Dudweiler,172 Neunkirchen,173
Saarlouis,174 St. Wendel1743 und Sulzbach175 Darstellungen gefunden, die neue stadt-
geschichtliche Betrachtungsweisen berücksichtigen oder mindestens dafür Material
bereitstellen. Eine den heutigen wissenschaftlichen Fragestellungen Rechnung tragen-
de Geschichte der Landeshauptstadt Saarbrücken176 ist noch nicht in Sicht.
Mein Überblick über den Forschungsstand hat gezeigt, daß ein Zeitabschnitt saarlän-
discher Geschichte, in dem wichtige, bis in die Gegenwart wirkende Weichenstellun-
gen erfolgten, nicht in befriedigendem Maße aufgearbeitet ist. Zum Abbau dieser
Defizite anzuregen und beizutragen sollte Zweck der Dillinger Tagung sein.
III. Saarbrücken — südwestdeutsches Oberzentrum?
Der wirtschaftliche Aufschwung und das starke Anwachsen der Bevölkerung gaben
dem Saarrevier ein Eigengewicht innerhalb des preußischen Regierungsbezirkes Trier,
zeitigten eine gewisse Sogwirkung auf die angrenzenden nicht-preußischen Gebiete
und statteten die 1909 aus der Vereinigung von Saarbrücken, St. Johann und
170 Vgl. die Sammelrezension von Jürgen Karbach, Saarländische Ortschroniken 1970-1982.
Bestandsaufnahme, in: ZGSaargegend 31, 1983 S. 158-176.
171Lehnert, Alois, Geschichte der Stadt Diliingen/Saar, Dillingen 1968.
172Dudweiler 977-1977. Herausgeber: Landeshauptstadt Saarbrücken, Stadtbezirk Dudweiler
Saarbrücken 1977.
173Frühauf, Helmut, Eisenindustrie und Steinkohlenbergbau im Raum Neunkirchen/Saar,
Trier 1980 (= Forschung zur deutschen Landeskunde 117).
174 Geschichte der Kreisstadt Saarlouis, Bd. 4: Saarlouis 1680-1980 (bearbeitet) von Rudolf
Kretschmer, Saarlouis 1982.
174aKretschmer, Rudolf, Geschichte der Stadt St. Wendel 1914-1986, St. Wendel 1986,
3 Bde.
175Reitz, Hans-Günter, Sulzbach, Sozialgeographische Struktur einer ehemaligen Bergbaustadt
im Saarland, Saarbrücken 1975 (Veröffentlichungen des Instituts für Landeskunde des
Saarlandes 22).
176Ruppersberg, Albert, Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken, III. Teil 2. Bd.:
Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann von 1815 bis 1909, der Stadt
Malstatt-Burbach und der vereinigten Stadt Saarbrücken bis zum Jahre 1914, 2, Aufl.
Saarbrücken 1914, Nachdruck 1979, handelt über das Schulwesen und die Einrichtungen der
Gesundheits- und Armenpflege, vgl. auch die Festschrift 25 Jahre Stadt Saarbrücken, hrsg.
von H. Krueckemeyer, Saarbrücken 1924. Der Schwerpunkt der Beiträge in der Festschrift
„Saarbrücken 1909-1959. 50 Jahre Großstadt“, hrsg. vom Kulturdezernat der Stadt Saar-
brücken, Schriftleitung Karl Schwingel, Saarbrücken 1959, liegt auf der Zeit nach 1918.
Ferner: Saarbrücken - Wirtschaftszentrum an der Grenze, hrsg. von der Sparkasse der Stadt
Saarbrücken, Saarbrücken 1960. Da4:üeue Buch „Saarbrücken. Stationen auf dem Weg zur
Großstadt“ wendet sich an einen breiten Leserkreis und bringt für die Zeit vor 1918 keine
neuen Aufschlüsse.
36
Malstatt-Burbach entstandene Großstadt177 mit zentralörtlichen Funktionen aus, die
in die benachbarten bayerischen, lothringischen und birkenfeldischen Gebiete hinein-
wirkten. Dies möchte ich zum Abschluß veranschaulichen.
Im Bereich der inneren Verwaltung blieb Trier bis zur Abtrennung der Saarkreise im
Jahre 1920 der Sitz des für das Saarrevier zuständigen Regierungspräsidenten, aber
einzelne Sonderverwaltungen, deren Geschäftsbereich über einen Landkreis hinaus-
ging, saßen in Saarbrücken (Hochbauamt, Bauamt für Gerichtsneubauten, Wasser-
bauamt, 2 Gewerbeinspektionen). Bei der reichseinheitlichen Neuordnung des
Gerichtswesens war die Zuständigkeit des Landgerichtes Saarbrücken über die Kreise
Saarbrücken, Saarlouis, Ottweiler und St. Wendel hinaus auf das oldenburgische
Fürstentum Birkenfeld ausgedehnt worden.178 Die im Zuge der Neuorganisation der
Verwaltung der preußischen Staatsbahnen in St. Johann 1895 errichtete Königliche
Eisenbahndirektion verwaltete ein Netz, das von der pfalz-bayerischen Grenze bis
nach Kirn an der Nahe, Hermeskeil im Hunsrück, Koblenz und Andernach reichte.
Von den links der Saar gelegenen Bahnen unterstand ihr allerdings nur die Strecke
Trier-Perl,179 die übrigen Bahnen gehörten zum Bereich der elsaß-lothringischen
Bahnen,
Deutlicher als im administrativen Bereich werden Sogwirkung oder Expansion im
Bereich wirtschaftlicher und berufsständischer Interessenvertretungen. Hier wurde
auch der Name gefunden für den neuen weiteren Bereich, der sich um das Saarrevier
gruppierte: Südwestdeutsch. Zum ersten Mal begegnet dieser Begriff, als im Jahre
1882 auf Betreiben Carl Ferdinand Stumms die Südwestliche Gruppe des Vereins
deutscher Eisen- und Stahlindustrieller als Vertretung gemeinsamer Interessen der
Eisenindustrie an der Saar, in Lothringen und der Westpfalz gegenüber Rhein und
Ruhr gegründet wurde.180 Sie umfaßte den Regierungsbezirk Trier, Lothringen,
Luxemburg, das Fürstentum Birkenfeld und die bayerischen Bezirksämter Homburg,
St. Ingbert und Zweibrücken. Sie gab ein eigenes Organ heraus, das zunächst schlicht
„Saarbrücker Gewerbeblatt für Industrie, Handel und Verkehr“ hieß, seit 1906 aber
zu der „Südwestdeutschen Wirtschaftszeitung“ ausgebaut wurde, der die vom Arbeit-
geberverband der Saarindustrie herausgegebene Wochenschrift „Südwestdeutsche
Wirtschaftskorrespondenz“ und die beiden Schriftenreihen „Südwestdeutsche Wirt-
schaftsfragen“ und „Südwestdeutsche Flugschriften“ zur Seite traten. Einen kleineren
Einzugsbereich hatte die in Saarbrücken ansässige Südwestdeutsche Eisenberufsgenos-
senschaft. Sie umfaßte 1891 die beiden Regierungsbezirke Trier und Lothringen und
177Zur Städtevereinigung vgl. ausführlich die Darstellung bei Ruppersberg (wie Anm. 176)
Bd. 3, 2 S. 221-271; Hanns Klein, Geschichte des Landkreises Saarbrücken 1815-1965, in:
Grenze als Schicksal - 150 Jahre Landkreis Saarbrücken, hrsg. von der Kreisverwaltung,
Schriftleitung Paul Keuth, Saarbrücken 1966 S. 80.
178Herrmann, Hans-Walter, Die Errichtung des Landgerichts Saarbrücken und die Ausdeh-
nung seiner Zuständigkeit auf das Saarindustrierevier, in: 150 Jahre Landgericht Saarbrücken
(wie Anm. 22) S. 13 f.
179Zimmer, Engelbert, Die Saarbrücker Eisenbahnverwaltung im Wandel der Zeit 1847-1957,
Saarbrücken 1959 (Sondernummer „Die Schiene - Mitteilungen für den saarländischen
Eisenbahner“) S. 37 f.
180Tille, Alexander, Die wirtschaftlichen Vereine der Saarindustrie bis zum Tode des Freiherrn
von Stumm-Halberg, Südwestdeutsche Flugschriften Heft 4, Saarbrücken 1907; vgl. auch
Hellwig (wie Anm. 17) S. 55 f. und Bariety (wie Anm. 72) S. 243.
37
die beiden bayerischen Bezirksämter Homburg und Zweibrücken.181 Im letzten
Jahrzehnt vor Kriegsausbruch führten einige in Saarbrücken ansässige Verbände und
Firmen sowie dort erscheinende Zeitschriften den geographischen Terminus „Süd-
westdeutsch“ in ihrem Namen:182
- Südwestdeutsche Immobilien- und Handelsgesellschaft
- Südwestdeutsche Stahlindustrie GmbH
- Südwestdeutscher Verband zur Wahrung der Interessen der Betriebskrankenkas-
sen
- Südwestdeutscher Verkehrsverband183
- Südwestdeutsche Eisenbahn-Verkehrszeitung184
- Südwestdeutsche Industriezeitung185
- Südwestdeutschland - Amtliche Zeitschrift des Südwestdeutschen Verkehrsverban-
des186
Nicht alle der in Saarbrücken ansässigen Einrichtungen und Verbände, deren
Einzugsbereich über die preußischen Saarkreise hinausging, firmierten unter „Süd-
westdeutsch“. Auch dafür einige Beispiele. Saarbrücken war Sitz der Kanzlei der
Vereinigung der Südwestpreußischen Handelskammern.187 Die 1900 eingerichtete
Handwerkskammer Saarbrücken war zuständig für den gesamten Regierungsbezirk
Trier und das Fürstentum Birkenfeld.188 Denselben Einzugsbereich hatten der Bezirks-
verein Saarbrücken des Deutschen Buchdruckervereins und der Zweigverband des
Mosel-, Saar- und Nahetales im Zentralverband deutscher Bäckerinnungen sowie der
Bezirksverband Saar-Mosel des Verbandes deutscher Färbereien und chemischer
Waschanstalten. Der Zentralverband christlicher Bauhandwerker und Bauhilfsarbei-
ter und der Verband der Bergarbeiter Deutschlands unterhielten in Saarbrücken für
Pfalz, Saargebiet und Lothringen ein zuständiges Bezirksbüro. Der Mitgliederkreis des
ebenfalls in Saarbrücken eingetragenen Saar-Mosel-Vereins zur Förderung des Klein-
wohnungswesens reichte bis Metz, Trier und Birkenfeld. Dem Arbeitgeberverband für
das Gipser-, Verputzer- und Stukkateurhandwerk gehörten die Leiter der Betriebe in
181 Die konstituierende Generalversammlung fand am 23. Juni 1885 stau (Hellwig, wie
Anm. 17 S. 60 ff.), Sitz war Saarbrücken, ein Organisationsplan von 1891 im LA Saarbrük-
ken Best. Landratsamt Saarbrücken Nr. 491. Gleichzeitig bemühten sich die Firmen der Glas-
und Keramikindustrie, die Genehmigung für eine besondere Berufsgenossenschaft der Süd-
westdeutschen Glas- und Porzellanindustrie zu erhalten. In der deutschen Glasindustrie war
die Stellung der Saarwerke stark genug, um den Plan durchzusetzen, er scheiterte daran, daß
das gleiche nicht in der Keramikindustrie gelang (Hellwig, a. a. O.).
182 Vgl. dazu Adreßbuch Saarbrücken 1911, S. 37, 46, 469, 875.
183 Seine Gründung entsprang einer Anregung des Verkehrsvereins Saarbrücken, die Gründungs-
versammlung fand am 12. April 1913 in Saarbrücken statt, der Mitgliederkreis reichte bis
nach Saargemünd, Baumholder und in die Westpfalz.
184 Druck Sc Verlag Gebr. Neher, Saarbrücken (Adreßbuch 1911 S. 46).
185 „Südwestdeutsche Industriezeitung. Zeitschrift und Anzeiger für die Berg-, Hütten-, Metall-
und Maschinenindustrie“, Verlag C. H. Scheur, Saarbrücken (Adreßbuch 1911 S. 46.
186 „Südwestdeutschland. Amtliche Zeitschrift des Südwestdeutschen Verkehrs-Verbandes Saar,
Blies und Nahe und des Verkehrsvereins Saarbrücken« Nr. 1 Juli 1913, Verlagsort Saarbrük-
ken.
187 Adreßbuch 1911, S. 38.
188 Gesetz betr. die Abänderung der Gewerbeordnung vom 26. 7. 1897 § 103 Errichtung von
Handwerkskammern (RGBl. 1897 S. 685 f.).
38
den Saarkreisen, den Kreisen Saargemünd und Kreuznach und im Fürstentum
Birkenfeld an.189
Saarbrücken war nach Straßburg, Köln und Mainz die viertgrößte Stadt auf dem
linken Rheinufer mit 105 089 Einwohnern im Jahre 1910.190 Wilfried Loth charakte-
risiert die Stadt in ihrer Verbindung von preußisch-neudeutschem Prunk und industri-
eller Leistungsfähigkeit als geradezu ein Modell des kaiserlichen Deutschlands.191 Sie
schien sich anzuschicken, das Oberzentrum für einen Bereich zu werden, der nicht nur
die preußischen Saarkreise, sondern auch die preußischen und oldenburgischen
Gebiete an Nahe und Glan und im Hochwald, die Westpfalz und mindestens das
östliche Lothringen umfaßte.
Noch einmal zeigte sich Saarbrückens zentrale Stellung, als im November 1918 die
Arbeiter- und Soldatenräte von Forbach, St. Avold und Oberhomburg, von Freuden-
burg im Kreise Saarburg und des Fürstentumes Birkenfeld sich dem Saarbrücker Rat
unterstellten.192 Damit zeichnete sich auch im politischen Bereich das Gewicht der
Saarmetropole ab. Wenige Monate später setzte eine Entwicklung ein, die die
Industriestandorte und die zugehörigen Arbeiterwohngebiete zu einer Verwaltungs-
einheit zusammenschloß unter Aufhebung der bisher vorhandenen preußisch-bayeri-
schen Grenze und die die Stadt Saarbrücken auf das „Saargebiet“ mit einem neuen,
nun um die ehemals bayerischen Teile erweiterten geographischen Begriffsinhalt
beschränkte. „Südwestdeutsch“ fühlte man sich in Saarbrücken noch in den 1920er
Jahren.193 In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts hat sich diese Bezeichnung
verlagert. Die nicht amtliche Bezeichnung „Südweststaat“ für das aus der Vereinigung
der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern entstandene
Bundesland und der Name der in Baden-Baden ansässigen Rundfunkanstalt als
Südwestfunk kennzeichnen die geographischen Vorstellungen, die sich heute mit
„südwestdeutsch“ verbinden.
So fällt das Ende unseres Untersuchungszeitraumes zusammen mit dem Zerfall der
von hier einst ausgegangenen südwestdeutschen Ambitionen und mit dem Beginn der
rauhen, oft existenzbedrohenden saarländischen Wirklichkeit.
189 Nachweise in dem Adreßbuch 1911 S. 41, 43, ferner LA Saarbrücken Best. 564 Nr. 62
S. 112.
190Vergleichszahlen bei Hans-Walter Herrmann, Zum 50jährigen Bestehen der Großstadt
Saarbrücken, in: Saarbrücker Hefte 9, 1959 S. 22.
191 Loth, Wilfried, Preußens Bastion im Westen. Wie Saarbrücken Großstadt wurde, in: Richtig
daheim waren wir nie (wie Anm. 12) S. 77-81.
192 Im November 1918 scheint das Wort „Saargebiet“ noch nicht die Westpfalz mitumfaßt zu
haben, vgl. „Arbeiter- und Soldatenrat für die Saargegend“; Hanns Klein, Geschichte des
Landkreises Saarbrücken 1815-1965 (wie Anm. 177), S. 85.
193 „Südwestdeutsche Heimatblätter. Beiträge zur Heimatforschung in der südwestdeutschen
Grenzmark“, hrsg. von Adolf Raskin, 1. Folge 1928, Saarbrücken, Gebr. Hofer.
39
Michael Sander
Gewerkschaftsbewegung im Montanrevier - Arbeiter und ihre
Organisation an der Saar*
Einleitung
In seiner 1987 unter dem Titel „Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhal-
ten der Bergarbeiter an der Saar im 19. Jahrhundert“ erschienenen Dissertation nennt
Horst Steffens zwei Beobachtungen über die Arbeiterverhältnisse an der Saar, die ihn
zu seiner Arbeit angeregt hätten. Er schreibt: „Im Rahmen eines Forschungsprojektes
über ,Basisprozesse und Organisationsprobleme1 deutscher Handwerker und Arbeiter-
bewegungen fiel uns bei der Lektüre eines langjährigen Standardwerkes zur deutschen
Arbeiterbewegung auf, daß zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts kein
anderes deutsches Bergbaugebiet einen so hohen Organisationsgrad der Bergarbeiter
verzeichnete wie das Saarrevier.“
Dieser Beobachtung widersprach die folgende: „Mit Ausnahme des Jahres 1892
verzeichnete die erwähnte Statistik bei Dieter Fricke ausschließlich ,Fehlanzeige1
bezüglich der gewerkschaftlichen Organisation der Saarbergarbeiter. Während überall
im Kaiserreich die Gewerkschaften einen manchmal enormen Mitgliederzuwachs
verzeichneten, schien der Organisationsgrad im Bergrevier an der Saar von ca. 75 %
schon einige Jahre später auf ,Null‘ zurückzugehen und bis 1913 dort zu verhar-
ren.“1
Wenn auch die Widersprüchlichkeit der Entwicklung an der Saar richtig erkannt ist,
beruht die zweite Aussage auf einer Fehlinterpretation der Zahlen, die die General-
kommission der Gewerkschaften Deutschlands in den Protokollen der Gewerkschafts-
kongresse veröffentlicht hatte und die Dieter Fricke in sein in Ost-Berlin erschienenes
Handbuch „Die deutsche Arbeiterbewegung 1869 bis 1914“ übernommen hat.2
Während für 1892 die Mitgliederzahlen von regionalen Bergarbeiterverbänden ange-
geben sind, handelt es sich für die folgenden Jahre um die Mitgliederzahlen des
nationalen Bergarbeiterverbandes. Für diese Zeit kann man daher gar nicht auf die
Stärke einer Organisation an der Saar schließen.
Außerdem beruht diese Aussage auf einem Irrtum, der bis vor mehreren Jahren in der
Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung weit verbreitet war: nämlich der
Gleichsetzung von Arbeiterbewegung und sozialdemokratischer Bewegung. Bei den
Bergarbeitern an der Saar hatte sich jedoch vor dem 1. Weltkrieg der Gewerkverein
christlicher Bergarbeiter durchgesetzt.
* Inzwischen ist eine Darstellung der Bergarbeiterbewegung an der Saar erschienen, deren
Ergebnisse nicht mehr eingearbeitet werden konnten: Klaus-Michael Mall mann - Horst
Steffens, Lohn der Mühen. Geschichte der Bergarbeiter an der Saar, München 1989.
1 Horst Steffens, Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhalten der Bergarbeiter an
der Saar im 19. Jahrhundert. Weingarten 1987 ( = Sozialgeschichtliche Bibliothek im Drumlin
Verlag. Hg. v. Dieter u. Ruth Groh), S. 17.
2 Dieter Fricke, Die deutsche Arbeiterbewegung 1869 bis 1914. Ein Handbuch über ihre
Organisation und Tätigkeit im Klassenkampf. Berlin 1976, S. 696.
40
Da es bisher keine zusammenfassende Darstellung der Gewerkschaftverhältnisse an
der Saar vor dem 1. Weltkrieg gibt, soll der Versuch unternommen werden, einen
Überblick zu geben über die hier zwischen 1890 und dem Ausbruch des 1. Weltkrie-
ges 1914 tätigen Gewerkschaften und ihre organisatorischen Erfolge und Mißerfolge.
Ausgangspunkt meiner Darstellung wird eine Schilderung der wirtschaftlichen und
regionalen Struktur des Saargebietes sein mit einer Zuordnung der Arbeiter zu
einzelnen Wirtschaftsbranchen; denn danach unterschied sich die gewerkschaftliche
Entwicklung immer sehr stark. Nach einer nur kurzen zusammenfassenden Schilde-
rung der Streikbewegung der Bergarbeiter von 1889 bis 1893, der Geschichte des
Rechtsschutzvereins und seines Scheiterns, werde ich auf die einzelnen Gewerkschafts-
einrichtungen und gewerkschaftsähnlichen Bewegungen eingehen. Die zeitliche Folge
und die Bedeutung der einzelnen Branchen für das Montanrevier werden dabei der
Gliederung dienen. Soweit es die Forschungslage erlaubt, werde ich einzelne Verglei-
che mit den anderen Schwerindustriegebieten Deutschlands an der Ruhr und in
Oberschlesien ziehen,3 um die Besonderheit oder die Normalität der Entwicklung an
der Saar festzustellen. Ein systematischer Vergleich kann dabei noch nicht geleistet
werden. Vor allem fehlen für die Frage, ob und welche Gewerkschaften unter welchen
Bedingungen erfolgreich waren, noch regionale Untersuchungen, die verallgemeinern-
de Aussagen erlaubten.
Die wirtschaftliche und soziale Struktur des Saargebietes in der Zeit der
Hochindustrialisierung
Der Steinkohlenbergbau und die Eisen- und Stahlindustrie waren die wichtigsten
Industriezweige in der ersten Phase der industriellen Revolution. Die Kohle war der
Hauptenergieträger für die übrige industrielle Produktion und für den Verkehr, der
Stahl war der wichtigste Werkstoff. Beide Industriezweige waren vor allem in
3 Schwerindustriegebieten konzentriert: dem Ruhrgebiet, dem oberschlesischen Indu-
strierevier und dem Saargebiet. Ihr Größenverhältnis ergibt sich aus der Zahl der im
Steinkohlenbergbau beschäftigten Personen im Jahre 1913: an der Saar waren es
73 243 Personen, in Oberschlesien 126 710 und an der Ruhr einschließlich des linken
Niederrheins 410 385 Personen.4
3 Vgl. zu Oberschlesien: Lawrence Schofer, The formation of a modern labor Force. Upper
Silesia, 1865-1914. Berkeley 1975 (Deutsche Ausgabe: Dortmund 1983); zum Ruhrgebiet:
Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in
Rheinland-Westfalen, Hg. v. Jürgen Reulecke. Wuppertal 1974; Glück auf, Kameraden! Die
Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland. Hg. v. Hans Mommsen und Ulrich
Borsdorf. Köln 1979; Arbeiterbewegung und industrieller Wandel. Studien zu gewerkschaft-
lichen Organisationsproblemen im Reich und an der Ruhr. Hg. v. Hans Mommsen.
Wuppertal 1980; Max Jürgen Koch, Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebiet zur Zeit
Wilhelms II (1889-1914). Düsseldorf 1954 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus
und der politischen Parteien. Heft 5), David F. Crew, Bochum. Sozialgeschichte einer
Industriestadt 1860-1914. Frankfurt/M 1980 (= Sozialgeschichtliche Bibliothek. Hg. v.
Dieter Groh); S. H. F. Hickey, Workers in imperial Germany. The miners of the Ruhr.
Oxford 1985 (= Oxford Historical Monographs); Ulrich Feige, Bergarbeiterschaft zwischen
Tradition und Emanzipation. Das Verhältnis von Bergleuten und Gewerkschaften zu Unter-
nehmern und Staat im westlichen Ruhrgebiet um 1900. Düsseldorf 1986 (= Düsseldorfer
Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens. Bd. 18).
4 Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im Preußischen Staate 62, 1914,
S. 118.
41
An der Saar lebte der weitaus größte Teil der Bevölkerung vom Steinkohlenbergbau.
1913 beschäftigten die staatlichen preußischen Bergwerke 51 025 Personen auf
12 Berginspektionen.5 Auf den kleineren Gruben - den Privatgruben Hostenbach und
Frankenholz und den bayerischen Staatsgruben St. Ingbert und Bexbach - waren
insgesamt 5 099 Personen tätig.6 Im Gegensatz zu den übrigen Gruben waren die
lothringischen Privatgruben der de Wendel, der Saar-und-Mosel-Bergwerksgesell-
schaft der Stinnes-Gruppe und von La Houve im Aufschwung begriffen. Ihre
Arbeiterzahl war von 5 747 im Jahre 1900 auf 16 333 1913 angestiegen, ihr Anteil an
der Bergarbeiterschaft an der Saar von 11 % auf 23 %.7 Durch ihre Suche nach neuen
Arbeitern hatten sie das Monopol des preußischen Bergfiskus auf dem Arbeitsmarkt
gebrochen. Zwar bestanden zwischen verschiedenen Arbeitgebern Absprachen, sich
keine Arbeiter abzuwerben und auch keine ehemaligen Arbeiter eines anderen
Arbeitgebers einzustellen, aber in der Realität waren die Marktkräfte stärker und
beeinflußten seit 1910 auch die Lohnpolitik des preußischen Bergfiskus.8
Die großen Hüttenwerke in Dillingen, Völklingen, Burbach, Brebach und Neunkir-
chen beschäftigten 25 302 Arbeiter.9 Daneben gab es noch ein Eisenwerk in St. Ing-
bert und einige Werke in Lothringen. Zwischen Berg- und Hüttenarbeitern gab es
kaum Fluktuation, da auch die Söhne meist den Beruf ihres Vaters anstrebten.10
Faßt man 11 preußische, bayerische und lothringische Kreise zusammen, so gab es
nach der Gewerbezählung von 1907 noch folgende wichtige Branchen: Mit 17 737
Arbeitern beschäftigte das Baugewerbe die drittgrößte Arbeiterzahl. Daneben gab es
weiterverarbeitende Industrie: Metallindustrie mit 13 974 Arbeitern, Maschinenbau
mit 7 775 Arbeitern und die Industrie der Steine und Erden ohne Glas- und
Keramikindustrie mit 8 265 Arbeitern. Die keramische Industrie mit ihren 6 800
Arbeitern lag mit den Werken von Villeroy & Boch, vor allem in Mettlach und
Merzig, und den Firmen in Saargemünd etwas am Rande des Industriegebietes,
während die Glasindustrie mit 6 143 Arbeitern auch im Kern des Saargebietes
vertreten war.11
In den Saarstädten spielte neben der weiterverarbeitenden Industrie vor allem das
Handwerk eine Rolle. Die Städte Saarbrücken und St. Johann bildeten das Dienstlei-
stungszentrum des gesamten Saargebietes.
5 Ebda., S. 113.
6 Privatgrube Hostenbach: 1 030 beschäftigte Personen, ebda., S. 113; Steinkohlengruben im
Regierungsbezirk der Pfalz (Staatsgruben St. Ingbert und Mittelbexbach, Privatgrube Franken-
holz und 2 kleine Gruben ohne Motoren): 4 069 Arbeiter, Jahresbericht der Gewerbeauf-
sichtsbeamten 1913, S. 2363.
7 1913: 16 333 Arbeiter und 489 Beamten, ebda., 1913, S. 26 145; 1900: René Haby, Les
Houillères lorraines et leur région. Paris 1968, Bd. II, Doc. 28a.
8 Vgl. LA Saarbrücken Best. 564 Nr. 119: Abgang der Bergarbeiter zu fremden Bergbaubezir-
ken bezw. Werken 1909-1918.
9 Jahresbericht der Gewerbeaufsichtsbeamten 1913, S. 1 575.
10 Alexander von Brandt, Zur sozialen Entwicklung im Saargebiet. Leipzig 1904, S. 142.
11 Berechnet nach: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 219. Es wurden die in den verschiedenen
Gewerbegruppen bzw. mehreren Gewerbearten beschäftigten Arbeiter für die folgenden Kreise
bzw. Bezirksämter zusammengezählt: Saarbrücken, Ottweiler, Saarlouis, Merzig, St. Wendel,
St. Ingbert, Homburg, Zweibrücken, Forbach, Saargemünd und Bolchen.
42
Die Grenzen zwischen Preußen, Bayern und Elsaß-Lothringen waren 1871 in ihrer
Bedeutung nicht auf die Ebene von reinen Verwaltungsgrenzen abgesunken. Vor
allem die Grenze zu Elsaß-Lothringen behielt einen besonderen Charakter.12 Sie war
von West nach Ost viel weniger durchlässig als umgekehrt. So rekrutierte der
preußische Bergfiskus keine Arbeiter aus Lothringen - aber aus der bayerischen Pfalz
-,13 während viele Arbeiter aus dem Warndt auf den lothringischen Privatgruben
arbeiteten. Streikbewegungen auf diesen Gruben wurden von den Verwaltungsbehör-
den der angrenzenden preußischen Kreise sehr aufmerksam und mißtrauisch beobach-
tet.14
Die preußisch-bayerische Grenze hatte auch eine politische Bedeutung. Die bayerische
politische Kultur war liberaler, das dortige Vereins- und Versammlungsrecht war
freiheitlicher, so daß Schnappach und St. Ingbert beliebte Versammlungsorte für die
Arbeiterbewegung wurden.15
Streikbewegung und Organisation 1889 bis 189316
Als am 23. Mai 1889 die Bergleute an der Saar dem Vorbild ihrer Kollegen an der
Ruhr folgten und ihre Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen mit
einem Streik durchzusetzen versuchten, waren die Leiter der preußischen Bergwerke
völlig überrascht, da nach ihrer Ansicht Beschwerden über zu niedrige Löhne, über
die Gedingefeststellung oder über zu lange Schichtdauer in den vorhergehenden
Jahren in nennenswertem Umfange niemals erhoben worden waren.17
Daher sah man in einer Verhetzung der Arbeiter die Hauptursache der Streikbewe-
gung. Wenn man jedoch bedenkt, daß seit den Zeiten des Kulturkampfes ein Teil der
im Saarbezirk vertretenen Presse eine gegnerische Haltung der staatlichen Bergverwal-
tung gegenüber eingenommen und deren Maßnahmen planmäßig einer abfälligen
Kritik unterzogen hatte, und daß mit Aufhebung des Sozialistengesetzes (- was erst
am 1. Oktober 1890 geschah - M. S.) der von Westfalen aus betriebenen Agitation
freier Spielraum gelassen wurde, kann es nicht wundernehmen, daß die von außen
herangetragene Bewegung auf einen fruchtbaren Boden fiel. Hierzu kam noch, daß die
12 Vgl. François Roth, Espace sarrois et Lorraine, relations et convergences 1815-1925, in:
Probleme von Grenzregionen: Das Beispiel SAAR-LOR-LUX-Raum. Beiträge zum For-
schungsschwerpunkt der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes. Hg. v.
Wolfgang Bücher und Peter Robert Franke. Saarbrücken (1987), S. 67-84.
13 Die Belegschaft des Saarbrücker Bergwerksdirektionsbezirks nach dem Ergebnisse der statisti-
schen Erhebungen vom 1. Dezember 1910. Neunkirchen 1911, S. 54.
14 Vgl. LHA Koblenz Best. 442 Nr. 6215: Lohnbewegung unter den Bergarbeitern des Saarre-
viers - Arbeiterbewegung überhaupt 1899.
15 Mallmann spricht von dem „beliebten Versammlungsort Schnappach“, Mallmann, Bergar-
beiterbewegung, (s. Anm. 16) S. 138. Vgl. auch die Tatsache, daß sich Hans Böckler zuerst in
St. Ingbert niedergelassen hat, unten Anm, 44.
16 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar
(1848-1904). Saarbrücken 1981 (= Veröffentlichungen der Kommission für saarländische
Landesgeschichte und Volksforschung. XII); Steffens, (s. Anm. 1).
17 E(rich) Müller, Die Entwicklung der Arbeiterverhältnisse auf den staatlichen Steinkohlen-
bergwerken vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1903. Berlin 1904 ( = Der Steinkohlenbergbau des
Preussischen Staates in der Umgebung von Saarbrücken. VI. Teil), S. 49.
43
sichtbaren Erfolge des westfälischen Streiks, der anfangs die Unterstützung fast der
gesamten bürgerlichen Presse fand, den Bergmann an der Saar mit überspannten
Hoffnungen erfüllen mußte.17a
Die Streikbewegung war also notwendig gewesen, da die Bergverwaltung die herr-
schenden Mißstände nicht sehen wollte. Die Beschwerden in der katholischen Presse
wurden nicht ernst genommen, und die Arbeiter hatten keine Artikulationsmöglich-
keiten bei der herrschenden strengen militärischen Zucht.
Um das Bewußtsein von notwendigen Verbesserungen bei der Bergverwaltung zu
erhalten, die noch nicht erfüllten Forderungen durchzusetzen, die Einhaltung der
gegebenen Zusagen zu überwachen und neue Mißstände anzuprangern, mußten die
Arbeiter sich eine feste Organisation geben. Im Juli 1889 gründete das Streikkomitee
in Bildstock den Rechtsschutzverein für die bergmännische Bevölkerung des Ober-
bergamtsbezirks Bonn.
In den folgenden Jahren geriet der Rechtsschutzverein zwischen die Fronten. Zur
Durchsetzung der nur zu einem geringen Teil erfüllten Forderungen der Bergarbeiter
kam es - teilweise gegen den Willen der Führer des Rechtsschutzvereins - zu weiteren
Streiks. Dies und der Verlust von Berührungsängsten gegenüber der Sozialdemokratie
führte dazu, daß die katholischen bürgerlichen Kreise, die den Rechtsschutzverein
anfangs unterstützt hatten, sich zurückzogen und den Verein zu bekämpfen began-
nen. Dies führte zu Spaltungen in der Führerschaft. Während die staatlichen Repres-
sionsmaßnahmen, wie Verurteilung der Führer wegen Beleidigung zu Gefängnisstra-
fen, den Verein nicht treffen konnten, führten Ungeschicklichkeiten in Finanzfragen
und möglicherweise auch Veruntreuungen zu einem Mißtrauen der Mitglieder. Deren
Zahl begann abzubröckeln.
Außerdem endete die Bereitschaft der Bergverwaltung, mit der Vereinsführung zu
verhandeln. Sie schwenkte auf die Taktik der privaten Schwerindustrie ein, die jedes
Gespräch mit den Führern von Arbeiterorganisationen ablehnte.
Die Einführung einer neuen Arbeitsordnung führte dann am Jahresende 1892 zu
einem neuen Konflikt. Geschlossen wie niemals vorher trat die Belegschaft in den
Streik. Aber die Konjukturlage ließ dies für die Bergverwaltung nur von Nutzen sein,
denn sie hatte schon vorher wegen des Absatzmangels die Entlassung von 2 000
Bergleuten erwogen. Nun konnte sie diese Auseinandersetzung sowohl zu einer
konjunkturell erwünschten Belegschaftsverringerung ausnutzen als auch zu einer
Zerschlagung der unerwünschten Arbeiterorganisation. 491 Mann wurden für immer
und 1 966 Arbeiter auf unbestimmte Zeit von der Bergverwaltung entlassen.18 Dieser
Schock verhinderte für das nächste Jahrzehnt jede gewerkschaftliche Organisation der
Saarbergleute. Und auch danach mußte jeder Organisationsversuch von außen in die
Bergarbeiterschaft des Saarreviers hineingetragen werden, da die Angst der Arbeiter
vor neuen Repressionen groß war.
i7aEbenda.
18 Ebda., S. 66.
44
Organisation der Arbeiterschaft durch den katholischen Klerus
Als erster versuchte der katholische Klerus nach der Zerschlagung des Rechtsschutz-
vereins die Arbeiterschaft an der Saar zu organisieren. Bereits nach 2 Jahren gründete
der Dudweiler Pfarrer Oesterling am 3. Februar 1895 den Verband der katholischen
Berg- und Hüttenarbeitervereine im Saarrevier, der 1899 62 Vereine mit 9 372
Mitgliedern umfaßte.19 Obwohl der Verband auch die eigenen materiellen Interessen
der Mitglieder unter Wahrung eines friedlichen Verhältnisses mit den Arbeitgebern
und unter Berücksichtigung der Interessen dieser zu vertreten versprach,20 ist über
gewerkschaftsähnliche Aktivitäten dieses Verbandes noch nichts bekannt.
Erfolgreich war erst ein weiterer Organisationsversuch des katholischen Klerus.21
Dieser hatte seinen Ursprung in der Entwicklung an der Ruhr. Hier war 1894 als erste
christliche Gewerkschaft der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands
gegründet worden. Diese neue Organisationsform wurde von den katholischen
Arbeitervereinen der Erzdiözese Köln unterstützt. Auf deren Delegiertenversammlung
1898 in Essen wurden Thesen formuliert, die zur theoretischen Grundlage der
christlichen Gewerkschaftsbewegung werden sollten, die aber auch das Mißtrauen der
katholischen Bischöfe weckten. Man hatte die Zusammenfassung aller Arbeiter in
paritätischen Gewerkschaften, also eine Einheitsgewerkschaft gefordert.22 In den
christlichen Gewerkschaften sah man bereits solche paritätischen Gewerkschaften
verwirklicht, da sie interkonfessionell und politisch neutral sein wollten. Ein Zusam-
mengehen mit den freien Gewerkschaften wurde für den Fall nicht ausgeschlossen,
daß diese sich auf den Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung stellten und sich
vom sozialdemokratischen Gedankengut lösten.
Daraufhin erließ der preußische Episkopat das sogenannte „Fuldaer Pastorale“ vom
22. August 1900. Darin lehnten die Bischöfe die christliche Gewerkschaftsbewegung
ab, ohne sie ausdrücklich zu nennen, und forderten statt dessen berufliche Fachabtei-
lungen innerhalb der katholischen Arbeitervereine.23
Solche Fachabteilungen existierten jedoch entgegen der Aussagen des Pastorale noch
gar nicht. Vielmehr bemühte sich erst im Laufe der kommenden Jahre eine Berliner
Gruppe katholischer Intellektueller zusammen mit Fürstbischof Kopp von Breslau und
Bischof Korum von Trier diese zu schaffen. Die Initiative ging dabei letztlich von
19 Vgl, Michael Sander, Katholische Geistlichkeit und Arbeiterorganisation. 2 Gutachten aus
dem Saarrevier und die Vorgeschichte des „Fuldaer Pastorale“ von 1900, in: Soziale Frage und
Kirche im Saarrevier. Beiträge zu Sozialpolitik und Katholizismus im späten 19. und frühen
20. Jahrhundert. Saarbrücken 1984, S. 273-302, hier: S. 285 f.
20 Statuten des Verbandes der katholischen Berg- und Hüttenarbeiter-Vereine im Saarrevier,
Saarlouis 1894, § 2 (Bistums-Archiv Trier Best. 108 Nr. 460).
21 Vgl. Michael Sander, Katholische Arbeitervereine Berliner Richtung, in: Archiv für mittel-
rhein. Kirchengeschichte, 37, 1985, S. 115-135.
22 Christliche Gewerkvereine. Ihre Notwendigkeit, Aufgabe und Tätigkeit. Auszug aus den
Verhandlungen des 4. Delegiertentages der katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese Köln
^ zu Essen (Ruhr) am 28. Oktober 1898. M. Gladbach 18992, S. 37 f.
23 Texte zur katholischen Soziallehre, Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere
kirchliche Dokumente. Mit einer Einführung von Oswald von Neil-Breuning SJ. Hg. v.
Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) Deutschlands. Kevelaer
19825, S. 71-80.
45
Trier aus. Der katholische Arbeiterverein dieser Stadt trat am 26. März 1902 dem
Verband der katholischen Arbeitervereine Nord- und Ostdeutschlands bei und
beantragte auf dem nächsten Delegiertentag eine obligatorische Gliederung aller
katholischen Arbeitervereine in berufliche Fachabteilungen zur Wahrnehmung
gewerkschaftlicher Aufgaben. Nur gegen Widerstände wurde diese Regelung durchge-
setzt. Der Verband, der sein Zentrum in der Diözese Breslau, vor allem in Berlin,
hatte und der auch das Oberschlesische Industriegebiet umfaßte, dehnte sich auf die
Diözese Trier aus und nannte sich Verband katholischer Arbeitervereine Deutschlands
(Sitz Berlin), wovon sich die Kurzbezeichnung „Berliner“ für seine Anhänger ableite-
te.
Gleichzeitig wurde seit 1902 in der Diözese Trier und vor allem im Saargebiet die
Gründung katholischer Arbeitervereine betrieben und für den Anschluß an den
Berliner Verband geworben. Bereits am 1. August 1903 umfaßte der Verbandsbezirk
Saar 43 Vereine mit 9 000 Mitgliedern, im 1. Halbjahr 1907 waren es 121 Vereine
mit 19 763 Mitgliedern. Nach einer Ausgliederung von eigenen Verbandsbezirken für
Merzig und Lothringen stagnierte die Mitgliederzahl für die Saar bei 16 000 in über
80 Vereinen.24
Die Fachabteilungen sollten der wirtschaftlichen Interessenvertretung der Arbeiter
dienen. Sie waren aber fest in die Arbeitervereine integriert, so daß die Geistlichen, die
als Präsides an deren Spitze standen, immer die Kontrolle behielten, obwohl die
Fachabteilungen von Arbeitern geführt wurden. Die Fachabteilungen führten Tarif-
verhandlungen, lehnten aber praktisch den Streik ab. 1908 bestanden an der Saar
82 Fachabteilungen, von denen 65 solche von Berg- und Hüttenarbeitern waren.24
Von ihren Gegnern wurde die organisatorische Existenz und eine praktische Tätigkeit
dieser Fachabteilungen bestritten. Bei den Knappschaftsältesten- und Sicherheitsmän-
nerwahlen auf den preußischen Staatsgruben erzielten die Berliner jeweils ca. 20 %
der Sitze.25 Für Rechtsschutz und Agitationen wurden 1904 in Malstatt, 1907 in
Neunkirchen, 1908 in Merzig und 1909 in Saargemünd Arbeitersekretariate einge-
richtet. In Neunkirchen wurde der 23jährige Bergmann Bartholomäus Koßmann
Arbeitersekretär, der als Reichstagsabgeordneter 1912, Mitglied der Regierungskom-
mission bis 1935 und Mitbegründer der CVP nach 1945 noch eine politische Rolle
spielen sollte.26
Der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands27
Nach der Zerschlagung des Rechtsschutzvereins dauerte es zehn Jahre, bis eine
Gewerkschaft aus einem anderen Bergbaurevier an der Saar eingeführt wurde. Zwar
24 Sander, Katholische Arbeitervereine (s. Anm. 21) S. 130.
25 Ebda., S. 131 f.
26 Ebda., S. 131.
27 Horstwalter Heitzer, Die christliche Bergarbeiterbewegung im Saarrevier von 1904 bis zum
Ersten Weltkrieg, in: Soziale Frage und Kirche im Saarrevier (s. Anm. 19) S. 233-271;
Michael Schneider, Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933. Bonn 1982 (= For-
schungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe: Politik- und Gesellschaftsgeschichte.
Bd. 10); Peter Kiefer, Die Organisationsbestrebungen der Saarbergleute, ihre Ursachen und
Wirkungen auf dem Bereich des Saarbrücker Bergbaues und ihre Berechtigung, Diss. Straß-
burg 1912.
46
existierte der sozialdemokratische „Alte Verband“ weiter, aber seine Mitglieder
mußten sich tarnen. Obwohl die Bergwerksdirektion später über längere Zeit hin
keine repressiven Maßnahmen gegen Mitglieder ergriff, blieb der Alte Verband auf
kleine Gruppen in einzelnen Orten beschränkt. Auch in Lothringen gelang ihm kein
Durchbruch, obwohl die meisten der angeblich 2 168 Mitglieder 1913 dort arbeite-
ten.28
Die ersten Versuche des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter, an der Saar Mitglie-
der zu gewinnen, erfolgten außerhalb des preußischen Gebietes. Am 13. August 1899
fand während eines Streikes auf der Grube Kleinrosseln eine Versammlung mit dem
Führer des Gewerkvereins August Brust statt,29 1900 entstand für kurze Zeit eine
Zahlstelle in Mittelbexbach,30 und Mitte 1902 fanden mehrere Versammlungen
wieder mit August Brust im pfälzischen Saargebiet statt.31 Jedesmal wurde zuerst zur
Gründung eines regionalen Verbandes aufgefordert, wogegen sich jeweils erfolgreich
Stimmen erhoben, die für den Anschluß an den reichsweiten Gewerkverein eintraten.
Alle genannten Versuche blieben auf längere Sicht erfolglos. Die Angst der Bergleute
war noch zu groß, und die ausgewählten Vertrauensleute erwiesen sich als nicht
geeignet.
Eine erfolgreiche Einführung des Gewerkvereins im Saarrevier mußte von preußi-
schem Gebiet und von den Arbeitern der preußischen Staatsgruben ausgehen. Aber
erst am 1. Mai 1904 veranstaltete die Gewerkvereinsleitung Bergarbeiterversammlun-
gen in Püttlingen, Altenkessel, Dudweiler und Altenwald, an denen der Gewerk-
schaftssekretär Johann Effert von der Ruhr und der Generalsekretär des Gesamtver-
bandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands Adam Stegerwald teilnahmen
und die zur Einführung des Gewerkvereins an der Saar führten. Ursache für den
späten Zeitpunkt war der Widerstand des Bischofs Korum und eines Teiles der
katholischen Geistlichkeit, die ja die katholischen Fachabteilungen unterstützten, und
die Gewerkschaftsfeindschaft der preußischen Bergwerksdirektion. Deren Flaltung
war durch die Beleidigungsprozesse ihres Vorsitzenden Ewald Hilger gegen den
katholischen Redakteur Lehnen und den sozialdemokratischen Bergmann Krämer, in
denen es diesen gelungen war, die politischen Unterdrückungsmaßnahmen der
Bergverwaltung zu belegen, in ein Zwielicht geraten. Noch vor dem Ausscheiden
Hilgers 1905 entschied wohl der preußische Handelsminister Möller, eine Einführung
28 Julius Schwarz,, Das Saargebiet, sein Bergbau und seine Sozialpolitik. Kämpfe der Bergarbei-
ter und des Verbandes der Bergarbeiter. Gewidmet der 25. General-Versammlung des
Verbandes der Bergarbeiter 1926 in Saarbrücken. (Saarbrücken 1926), S. 122. Diese Zahlen
stimmen nicht überein mit denen der Generalkommission (vgl. Anm. 67).
29 Bericht Bürgermeister Ludweiler vom 14. August 1899, LHA Koblenz Best. 442 Nr. 4157,
S. 229 ff.; zur weiteren Entwicklung vgl, Bericht Landrat Saarbrücken an Reg-Präs. Trier vom
21. September 1899, ebda., S. 309 ff.
30 Peter Kiefer, 25 Jahre Gewerkverein christlicher Bergarbeiter im Saarrevier. Saarbrücken
1929, S. 23 f.
31 Berichte in LA Speyer Best. H 35 Nr. 177; vgl. Fritz Jacoby, Katholische soziale Bestrebun-
gen in der Westpfalz im 19. und im frühen 20. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrhein.
Kirchengeschichte 37, 1985 S. 109.
47
des Gewerkvereins zu dulden.32 Zur gleichen Zeit bereitete auch die Generalkommis-
sion der freien Gewerkschaften die Einrichtung eines Arbeitersekretariates an der Saar
vor, die am 1. Juli 1904 erfolgte.33
Die gewerkschaftliche Organisation der Bergarbeiter war nun nicht mehr aufzuhalten.
Schon in seinem Bericht über das 3. Vierteljahr 1904 stellte der Regierungspräsident
von Trier fest, daß die christlichen Gewerkschaften „mit Erfolg“ unter den Arbeitern
an der Saar Fuß zu fassen suchten.34 Die Mitgliederzahl des Gewerkvereins betrug
1909 11 916 und 1911 15 648 Mitglieder.35
Daß die Gewerkschaftsbewegung aber noch nicht so gefestigt war, daß sie von
größeren Krisen verschont geblieben wäre, zeigten die Jahre 1910 bis 1913.36 Die
Absatzkriese, in die der preußische Saarbergbau geriet, ließ die Belegschaftszahl
sinken und die Löhne stagnieren. Hinzu kam eine Teurerungswelle. Diese Entwick-
lung führte zu einer Austrittswelle beim Gewerkverein.
Die Reichstagswahlen von 1912 verschärften diese Mitgliederkrise noch. An der Saar,
wo der preußische Staat der größte Arbeitgeber war und wo dessen Eingriffe in die
Wahlfreiheit eine große Rolle spielten, war eine politische Neutralität der Gewerk-
schaften, wie sie im Programm der christlichen Gewerkschaften stand und wegen der
konfessionellen Gegensätze notwendig war, fast nicht zu verwirklichen. Das Zentrum
galt traditionell als Arbeiterpartei, war aber für evangelische Arbeiter nur schwer zu
wählen. Die nationalliberale Partei suchte vor allem in der Frage der Haltung zu den
Gewerkschaften Abstand von den Arbeitgebern zu gewinnen, um evangelische Arbei-
ter als Wähler zu behalten, nachdem die früheren Wahlbeeinflussungen nicht mehr so
leicht durchgeführt werden konnten.
Das Zentrum stellte im Wahlkreis Saarbrücken den Bergmann Sauermann auf, der
Gewerkvereinsmitglied war und einen Wahlkreis von der Ruhr im preußischen
Abgeordnetenhaus vertrat, und im Wahlkreis Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim den
Arbeitersekretär des Berliner Verbandes Koßmann. Koßmann wurde gewählt, Sauer-
mann unterlag in der Stichwahl dem nationalliberalen Parteiführer Bassermann, den
die Sozialdemokraten unterstützt hatten,37
Die Kandidatenaufstellung und vor allem das Wahlergebnis verschärften die Krise des
Gewerkvereins. Teils herrschte - bei den evangelischen Arbeitern - Unzufriedenheit
32 Zwar konnten bisher weder im Landesarchiv Saarbrücken noch im Landeshauptarchiv
Koblenz entsprechende Erlasse oder Berichte gefunden werden, aber die öffentliche Meinung
sah es so. Vgl. Saar- und Blieszeitung Nr. 117 (1. Blatt) vom 19. Mai 1906, LHA Koblenz
Best. 442 Nr. 3783, S. 187.
33 Vgl. Anm. 66.
34 Zeitungsbericht des Reg-Präs. Trier über das III. Vierteljahr 1904. LHA Koblenz Best. 442
Nr. 9052.
35 Kiefer, Organisationsbestrebungen (s. Anm. 27 S. 226 f).
36 Vgl. Michael Sander, Zwischen Kirche, Streik und Zentrum. Der Gewerkverein christlicher
Bergarbeiter im Krisenjahr 1912, in: Richtig daheim waren wir nie. Entdeckungsreisen ins
Saarrevier 1815-1955. Hg. v. Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul, Ralph Schock und
Reinhard Klimmt. Berlin und Bonn 1987, S. 87-90.
37 Josef Beilot, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft
(1815-1918), Bonn 1954 (= Rheinisches Archiv Bd. 45), S. 232-236.
48
über das parteipolitische Engagement, teils - bei den katholischen Arbeitern - über
den Mißerfolg dieses Einsatzes.
Ein Vergleich der Einnahmen des Gewerkvereins von 1910 und 1912 zeigt den
starken Rückgang der Mitgliederzahl. Im gesamten Saarrevier gingen die Einnahmen
um 32 % zurück, im Bezirk Saarbrücken um 45 %, im Bezirk Fraulautern um 35 %,
im Bezirk Illingen um 22% und im Bezirk Neunkirchen nur um 13%. In den
Hochburgen war der Verlust am stärksten, so in den 3 Zahlstellen von Dudweder und
Sulzbach zwischen 70 % und 80 %.38 Diese Entwicklung zwang den Gewerkverein zu
Aktivitäten.
Im März 1912 fand an der Ruhr ein Massenstreik der Bergarbeiter statt, der erstmals
aus einer Lohnbewegung von Gewerkschaften hervorging.39 Allein der Gewerkverein
wandte sich gegen den Streik und forderte sogar den Staat zum Schutz der Arbeitswil-
ligen auf. Offiziell gab man die geringen Erfolgsaussichten als Grund für die
Ablehnung an, aber man fürchtete auch die Rivalität und organisatorische Stärke des
konkurrierenden sozialdemokratischen „Alten Verbandes“. Außerdem wußte man in
der Leitung des Gewerkvereins, daß in Rom eine Entscheidung des Papstes über die
Zulässigkeit christlicher Gewerkschaften bevorstand, und daher war es nützlich, sich
vor Kirche und Staat von der sozialdemokratischen Gewerkschaft abzugrenzen.
An der Saar war auch eine Rivalität zwischen Arbeiterorganisationen vorhanden: hier
tobte der „Gewerkschaftsstreit“ zwischen den christlichen Gewerkschaften und den
Berliner Fachabteilungen. Als nun im November 1912 die Bergwerksdirektion eine
neue Arbeitsordnung vorlegte, die Verschlechterungen enthielt, begann der Gewerk-
verein, der ja in einer Krise mit Mitgliederverlusten steckte, eine Bewegung, die bis zu
der Ausrufung eines Streiks für den Januar 1913 führte. Die Berliner kämpften gegen
den Streik.40 Die Fronten waren die gleichen wie an der Ruhr, nur der Gewerkverein
hatte seine Rolle getauscht.
Alle politischen Kräfte versuchten in Verhandlungen den Streik zu verhindern. Als der
Gewerkvereins-Führung das Verhandlungsergebnis ausreichend erschien, gelang es ihr
nur noch mit Mühe unter den Delegierten eine Mehrheit für die Aussetzung des
Streiks zu erreichen. Dieses Abbrechen der Bewegung führte zu einem neuerlichen
Mitgliederverlust. Der Verhandlungserfolg war nur dadurch möglich geworden, daß
die Bergverwaltung die Arbeiterführer in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete akzeptier-
te, sonst wäre nicht mit ihnen verhandelt worden.
38 Berechnet nach: Bericht über die Einnahmen und Ausgaben der Zahlstellen des Jahres 1910
und Aufstellung der von denselben bezogenen Unterstützungen. Essen o.J.; Bericht über die
Einnahmen und Ausgaben der Zahlstellen und Einzelmitglieder, sowie Aufstellung der von der
Hauptkasse bezogenen Unterstützungen und Geschäftsbericht des Gewerkvereins christlicher
Bergarbeiter Deutschlands für das Jahr 1912. o.O. o.J.
39 Albin Gladen, Die Streiks der Bergarbeiter im Ruhrgebiet in den Jahren 1889, 1905 und
1912, in: Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr (s. Anm. 3) S. 111-148.
40 Heinrich Imbusch, Die Saarbergarbeiter-Bewegung 1912/13. Köln 1913; Dechant Backes,
Memorandum zur Bergarbeiterstreikbewegung im Saarrevier 1912-13. Neunkirchen o.J.
49
Die Gewerkschaften in der Eisen- und Stahlindustrie
Im Bergbau des Deutschen Reiches war zwar der Organisationsgrad mit etwa 20 %
nicht sehr hoch,41 aber die Streikbewegungen der Jahre 1889, 1905 und 1912 hatten
eine hohe Kampfbereitschaft der Bergarbeiter in allen Steinkohlenrevieren bewiesen.
Anders war es in der Eisen- und Stahlindustrie.42 Hier gelang es den Gewerkschaften
aller Richtungen kaum Anhänger zu gewinnen. 1913 waren nur 1 % der Mitglieder
des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes Hütten- oder Walzwerksarbeiter.43 Zu
Massenstreiks kam es vor dem 1. Weltkrieg nie, und die Fälle, daß eine Hütte als
ganzes bestreikt worden wäre, waren sehr selten. Einer dieser Fälle ereignete sich an
der Saar.
Im November 1903 schickte der sozialdemokratische Deutsche Metallarbeiterverband
Hans Böckler,44 den DGB-Vorsitzenden von 1949 bis 1951, als Agitator an die Saar.
Wegen der liberaleren bayerischen Vereinsgesetzgebung ließ er sich zuerst in St. Ing-
bert nieder. Bis zum Juni 1907 arbeitete er an der Saar. 1908 wies der DMV hier
407 Mitglieder auf, von denen sicher keine auf den Saarhütten arbeiteten.45
Der Christliche Metallarbeiter-Verband, der ebenfalls 1903 eine erste Zahlstelle in
St. Johann errichtete, schien da erfolgreicher zu sein.46 Im März 1904 wurde in
Malstatt-Burbach eine Zahlstelle eingerichtet, und im Januar 1906 kam der Gewerk-
schaftssekretär Wernerus aus Aachen an die Saar. Der CMV gewann Anhänger unter
den Arbeitern der Burbacher Hütte. Als die Hütte gegen die Ausbreitung einer
Gewerkschaft unter ihren Arbeitern mit Entlassungen vorging, kam es im Juni 1906
zu einem Streik, der schließlich die gesamte Belegschaft erfaßte.47
Der Streik schien zuerst ein Erfolg für den CMV gewesen zu sein, da die Hütte in
einigen Punkten nachgab und die Streikenden nicht gemaßregelt wurden. Politiker
hatten sich eingeschaltet. Der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Boltz hatte
41 Mitgliederzahlen von Gewerkschaften im Deutschen Reich:
1912
77 967
114 062
21,3
1913
63 129
101 986
18,3 %
Gewerkverein christlicher Bergarbeiter
Alter Verband
% der 1907 im Bergbau hauptberuflich Erwerbstätigen 21,3 %
Mitgliederzahlen nach Schneider (s. Anm. 27) S. 66.
42 Vgl. Elisabeth Domansky-Davidsohn, Der Großbetrieb als Organisationsproblem des
Deutschen Metallarbeiter-Verbandes vor dem Ersten Weltkrieg, in: Arbeiterbewegung und
industrieller Wandel (s. Anm. 3) S. 95-116; David F. Crew, Berufliche Lage und Protestver-
halten Bochumer Bergleute und Metallarbeiter im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Glück
auf, Kameraden! (s. Anm. 3), S. 71-88; Karl Alfred Gabel, Kämpfe und Werden der
Hüttenarbeiter-Organisationen an der Saar. Saarbrücken (1921).
43 Domansky-Davidsohn, (s. Anm. 42) S. 99.
44 Ulrich Borsdorf, Hans Böckler. Arbeit und Leben eines Gewerkschafters von 1875 bis 1945.
Mit einem Vorwort von Heinz Oskar Vetter. Köln 1982 (= Schriftenreihe der Hans-Böck-
ler-Stiftung. 10), S. 79-105.
45 S. Anm. 67.
46 Bezirkskartell der christlichen Gewerkschaften an der Saar, Jahresbericht 1910. (Saarbrücken
1911), S. 83-94; Gabel (s. Anm. 42) S. 135-150.
47 Vgl. Gerhard Bungert und Klaus-Michael Mallmann, Burbach 1906: Der erste Hüttenstreik
an der Saar, in: Arbeitnehmer 25/1977, S. 337-340.
50
vermittelt und ein Recht auf gewerkschaftliche Organisation eingeräumt. Alexander
Tille, Geschäftsführer der Saarbrücker Handelskammer und sozialdarwinistischer
Arbeitgeberideologe, wurde wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Äußerungen aus
der nationalliberalen Partei ausgeschlossen.48 Der Regierungspräsident erwartete nach
dem Ende des Streiks eine weitere Verbreitung des Christlichen Metallarbeiter-Ver-
bandes.49
Der CMV konnte sich aber nur kurze Zeit seines scheinbaren Erfolges freuen. Schon
am 25. März 1906 war der „Burbacher Hüttenverein“ gegründet worden, ein gelber
Werkverein, der alle Differenzen zwischen Hüttenverwaltung und Hüttenleuten auf
friedlichem Wege auszugleichen beabsichtigte.50 Bei einem geringen Beitrag gewährte
er verschiedene Unterstützungen, später wurden die Dienstaltersprämien nur noch an
Werkvereinsmitglieder gewährt. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft schloß die
im Hüttenverein aus. Bereits Ende 1906 waren bei einer Belegschaft von 4 960 Mann
2 274 Mitglieder im Burbacher Hüttenverein, 1912 waren es 86,5 % der Belegschaft.
Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges gab es auf allen Saarhütten außer in Dillingen
gelbe Werkvereine, die insgesamt etwa 12 000 Mitglieder hatten.51
Die übrigen Branchen und die freien Gewerkschaften
Freie Gewerkschaften und Sozialdemokratische Partei waren die Zweige einer Arbei-
terbewegung, so daß sich für die Frühzeit oft nicht unterscheiden läßt, ob gewerk-
schaftliche oder Parteiagitatoren tätig wurden. An der Saar waren erstmals 1877
Sozialdemokraten aufgetreten.52 Dies hatte zu dem „Sozialistengesetz der Saarindus-
trie“ geführt: die Arbeitgeber unter Einschluß des preußischen Bergfiskus hatten
beschlossen, alle sozialdemokratisch gesinnten Arbeiter sofort zu entlassen.
In den 80er Jahren führte eine freie Hilfskasse der Metallarbeiter die sozialdemokra-
tische Tradition weiter, aber bis wieder Sozialisten an der Saar offen aktiv werden
konnten, dauerte es bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes am 1. Oktober 1890.
Auch die Streikbewegung der Bergarbeiter 1889 bis 1893 brachte der SPD und den
Freien Gewerkschaften trotz verschiedener Anstrengungen keine dauernden Erfolge.
In den 1890er Jahren entstanden lediglich Zahlstellen freier Gewerkschaften in den
Saarstädten. Meist handelte es sich um Handwerker. Durch ihre Wanderschaft hatten
sie neue Erfahrungen gewonnen, und manche hatten sich der Sozialdemokratie
angeschlossen. Bereits 1894 klagte ein Arbeitgeber aus Saarbrücken, daß es kaum
48 Beilot, (s. Anm. 37) S. 220.
49 Bericht Reg-Präs. Trier an Minister des Innern, Minister für Handel und Gewerbe und
Oberpräsident Koblenz vom 12. Juni 1906, LHA Koblenz Best. 442 Nr. 3753.
so Kalender für das Jahr 1913 des Bezirksverbandes der Werkvereine im Saargebiete, zit. nach
Gabel, (s. Anm. 42) S. 162.
51 Gabel, (s. Anm. 42) S. 162-175.
52 Vgl. Mallmann, Bergarbeiterbewegung (s. Anm. 16) S. 62-85; Klaus-Michael Mallmann,
Die Anfänge der Sozialdemokratie im Saarrevier, in: Zeiischr. für die Geschichte der
Saargegend 28/1980, S. 128-148; ders., „Dies Gebiet ist bis jetzt noch eine vollständige terra
incognita“. Die verspätete SPD im Saarrevier, in: Richtig daheim waren wir me (s. Anm. 36)
S. 65-70.
51
mehr Gesellen gebe, die keine Sozialdemokraten seien.53 Erfolgreiche Gründungen
waren die Zahlstellen folgender Verbände:
1890 Deutscher Schneider- und Schneiderinnen-Verband,54
1891 Deutscher Tischler-Verband und Deutscher Schuhmacher-Verband,55
1892 Deutscher Maurer-Verband.56
1893 existierte ein Malerverein in den Saar Städten.57
1894 gründete der Verband der deutschen Buchdrucker einen Ortsverein in Neunkir-
chen.58
1899 entstand in St. Johann ein Zweigverein des Verbandes der Bäcker und Berufsge-
nossen Deutschlands.59
Im Juli 1899 schlossen sich 6 Zahlstellen zu einem Gewerkschaftskartell St. Jo-
hann-Saarbrücken zusammen.60
Im selben Jahr diskutierte der 3. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands über die
Einrichtung von Arbeitersekretariaten, vor allem in den „großindustriellen Bezirken“,
wie man die Schwerindustriegebiete nannte.61 62 Der Bergarbeiterführer Otto Hue trat
für diese Lösung ein: Aus dem Ruhrrevier mit etwa ISO 000 Metallarbeitern finden
Sie nicht einen einzigen Delegierten hier auf dem Kongreß. Das ist ein Beweis für die
Rückständigkeit der Organisation und, daß entschiedene Schritte getan werden
müssen, wenn wir diese großindustriellen Gebiete nicht dem Zentrum überlassen
wollen.61
Im Jahre 1900 wurde in Oberschlesien ein Arbeitersekretariat eingerichtet.63 An der
Saar forderte die seit 1899 in Lothringen entstandene Bergarbeiterbewegung eine
solche Einrichtung. Ein entsprechender Antrag des Vorstandes des Alten Verbandes
auf dem 4. Gewerkschaftskongreß 1902 wurde der Generalkommission zur Erwä-
gung überwiesen.64 Die Tatsache, daß die Zentralverbände noch nicht bereit waren,
53 Bericht Landrat Saarbrücken an Reg-Präs. Trier vom 29. Januar 1894, LHA Koblenz
Best. 442 Nr. 4408.
54 Mallmann, Bergarbeiterbewegung (s. Anm. 16) S. 155.
55 Ebda., S. 156.
56 Ebda., S. 157.
57 Bericht Landrat Saarbrücken an Reg-Präs. Trier vom 27. November 1893, LHA Koblenz
Best. 442 Nr. 4408.
58 Reg-Präs. Trier an Landrat Ottweiler vom 14. Dezember 1894, LHA Koblenz Best. 442
Nr. 4371.
59 Gründungsversammlung am 8. Oktober 1899, Stadt-Archiv Saarbrücken, Best. Alt-Saarbrük-
ken, Nr. 233.
60 Bericht Landrat Saarbrücken an Reg-Präs. Trier vom 21. September 1899, LHA Koblenz
Best. 442 Nr. 4157, S. 318.
61 Protokoll der Verhandlungen des dritten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands.
Abgehalten zu Frankfurt a. M.-Bockenheim vom 8. bis 13. Mai 1899. Hamburg o.J.,
S. 171-181.
62 Ebda., S. 178.
63 Protokoll der Verhandlungen des vierten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands.
Abgehalten zu Stuttgart im Gewerkschaftshause vom 16. bis 21. Juni 1902. Hamburg o.J.,
S. 27.
64 Ebda., S. 165.
52
an der Saar in ein Arbeitersekretariat zu investieren, führte zu einem starken
Mitgliederverlust beim Alten Verband in Lothringen.65
Es dauerte bis zum 1. Juli 1904, daß ein Arbeitersekretariat in St. Johann eingerichtet
wurde, dessen Kosten von der Generalkommission getragen wurden und zu dem der
Alte Verband, der Keramikarbeiter- und der Glasarbeiter-Verband feste Beiträge
leisteten. Gleichzeitig wurde eine Agitationskommission für das Saargebiet gegrün-
det.66
Die Zahl der Gewerkschaftsverbände,67 die eine Zahlstelle an der Saar besaßen, stieg
von 10 im Jahre 1902 mit 513 Mitgliedern auf 20 im Jahre 1905 mit 1 341
Mitgliedern und 28 im Jahre 1908 mit 3 835 Mitgliedern. In diesem Jahr hatten
bereits 10 Verbände über 100 Mitglieder, nämlich die Maurer 1 571, die Metallarbei-
ter 407, die Bergarbeiter 276, die Maler 213, die Holzarbeiter 200, die Glasarbeiter
177, die Buchdrucker 148, die Schneider 145, die Bäcker 142 und die Zimmerer 117
Mitglieder.
Auf dem 8. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands 1911 wurde folgende Bilanz
gezogen:68 In Elsaß-Lothringen und im Saargebiet ist sehr steiniger Boden zu
beackern. Unternehmer, Kirche und Verwaltungsbehörden wirken zusammen, um die
Fortentwicklung unserer Gewerkschaften zu hemmen. Während der verflossenen
Geschäftsperiode bestand die Tätigkeit der in diesen Bezirken tätigen Angestellten in
der Hauptsache darin, die vorhandenen Organisationen zu erhalten und zu festigen.
Dies ist gelungen und sind seit dem Eintritt einer besseren Konjunktur wieder
erfreuliche Fortschritte zu verzeichnen. Man ließ sich seinen Optimismus nicht
nehmen. Trotz weiterer Bemühungen gelang den freien Gewerkschaften an der Saar
vor dem 1. Weltkrieg jedoch kein Durchbruch mehr.
Den Zustand der sozialdemokratischen Bewegung an der Saar vor dem 1. Weltkrieg
belegen am besten die Wahlergebnisse der Reichstagswahl von 1912.69 Während auf
Reichsebene die SPD 35% der Stimmen gewann und mit 112 Abgeordneten die
stärkste Fraktion stellte, gewann sie im Reichstagswahlkreis Saarbrücken 7,8 %, in
Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim 4 % und in Saarburg-Merzig-Saarlouis 3,7 %. Mit
13 % wies die Großstadt Saarbrücken den zweitniedrigsten Prozentsatz aller deut-
schen Großstädte auf: nur in Posen hatte die SPD prozentual weniger Stimmen.
Jenseits der preußischen Grenze sahen die Ergebnisse anders aus: im Wahlkreis
Zweibrücken-Pirmasens mit St. Ingbert erhielt die SPD 26 % und in Kusel-Homburg
17 %. Im lothringischen Wahlkreis Forbach-Saargemünd waren es 22 %.
65 Bericht Landrat Saarbrücken an Reg-Präs. Trier vom 29. Januar 1901, LHA Koblenz
Best. 442 Nr. 4157, S. 551 f.
66 Protokoll der Verhandlungen des fünften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands.
Abgehalten zu Köln a. Rh. vom 22. bis 27. Mai 1905. Berlin o.J., S. 64 und 91.
67 Zahlen für 1902 und 1905: ebda., S. 84; Zahlen für 1908: Protokoll der Verhandlungen des
sechsten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Hamburg vom 22. bis
27. Juni 1908. Berlin o.J., S. 90 f.
68 Protokoll der Verhandlungen des achten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands.
Abgehalten zu Dresden vom 26. Juni bis 1. Juli 1911. Berlin o.J., S. 102.
69 Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 250.
53
Obwohl die Wahlbeeinflussung abgenommen hatte nach den politischen Prozessen
von 1903 und 1904 und durch die Einführung der Wahlkabinen und -urnen 1903,
hatte die SPD im preußischen Teil des Saargebietes keine größeren Erfolge erzielen
können. Karl Rohe hat das verspätete Eindringen der SPD in das Ruhrrevier
statistisch nachgewiesen.70 Er hält die Saar für ein wichtiges Vergleichsgebiet zur
Entwicklung an der Ruhr. Hier ist die Durchsetzung der SPD nämlich noch weiter
verspätet: Erst im Laufe des 1. Weltkrieges dringen freie Gewerkschaften und SPD an
der Saar vor und gewinnen eine Anhängerschaft, wie man sie in einem Schwert ndu-
striegebiet erwarten würde. Rohe hält zur Begründung weniger die Tatsache für
erklärungsbedürftig, daß das Zentrum die Partei der katholischen Arbeiter blieb, als
die, daß zahlreiche evangelische Arbeiter weiterhin nationalliberal oder freikonserva-
tiv wählten.
Zusammenfassung
Der plötzliche Ausbruch der Streikbewegung der Bergarbeiter an der Saar im Mai
1889 überraschte die Zeitgenossen und ließ sie eine Frage stellen, die Horst Steffens
folgendermaßen formulierte: „Wie kam, so müssen wir uns fragen, eine Arbeiter-
schaft, deren Bodenständigkeit, Religiosität, Arbeitswille, Königstreue, Vaterlandslie-
be und Schicksalsergebenheit in regierungsamtlichen, bergoffiziellen und volkskundli-
chen Veröffentlichungen gleichermaßen gerühmt wie bewundert wurde, dazu, sich in
so umfassender und militanter Weise gegen die herrschende Dreifaltigkeit von
staatlicher Administration, lokaler Behörde und geistlichen Ratgebern zu erheben?“71
In dieser Bewegung zeigte sich ein Selbstbewußtsein der Arbeiterschaft, das bei
äußerer Anpassung seine Interessen auf vielfältige Weise durchzusetzen wußte, aber
auch gegebenenfalls zur Rebellion bereit war.72
So bewirkte die Zerschlagung des Rechtsschutzvereins 1893 zwar eine 10jährige
Periode der Resignation der Arbeiterschaft, und aus den eigenen Reihen gab es keine
Initiative mehr zur Schaffung einer Arbeiterorganisation, aber als 1904 der Gewerk-
verein christlicher Bergarbeiter an der Saar Mitglieder zu werben begann, gelang ihm
der Durchbruch in relativ kurzer Zeit. Und dies geschah trotz der Gegnerschaft des
Trierer Bischofs und eines Teiles der katholischen Geistlichen und der Existenz der
von diesen geförderten katholischen Fachabteilungen, die nur Scheingewerkschaften
waren. Die christlichen Gewerkschaften waren schließlich erfolgreicher als ihre
Gegner im katholischen Lager und trugen durch ihren Widerstand gegen klerikale
Bevormundung zur Emanzipation der Arbeiter an der Saar bei.
70 Karl Rohe, Die „verspätete“ Region. Thesen und Hypothesen zur Wahlentwicklung im
Ruhrgebiet vor 1914, in: Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß.
Hg. v. Peter Steinbach. Stuttgart 1982 (= Geschichte und Theorie der Politik: Unterreihe A,
Geschichte, Bd. 5), S. 231-252.
71 Steffens (s. Anm. 1 S. 106).
72 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Gerhard Paul und Ralph Schock, Die saarländische Sphinx.
Lesarten einer Regionalgeschichte, in: Richtig daheim waren wir nie (s. Anm. 36)
S. 264-272.
54
Der Vergleich der Streikbewegungen von 1912 an der Ruhr und an der Saar zeigte,
daß eine Konkurrenz von zwei Gewerkschaftsorganisationen in der Auseinanderset-
zung mit einem Arbeitgeber zu ähnlichem Verhalten der konkurrierenden Organisa-
tionen führt. Der Gewerkverein geriet jedoch dadurch in Argumentationsnöte, daß er
in den beiden Revieren jeweils entgegengesetzte Positionen vertrat.
Der Streik der Burbacher Hüttenleute zur Durchsetzung der Organisationsfreiheit - in
einer Branche, in der es noch kaum Gewerkschaftsmitglieder in anderen Revieren gab
und wo Massenstreiks eine große Seltenheit bildeten - zeigt, daß die Arbeiter in
Saarabien, wie Friedrich Naumann formuliert hatte,73 nicht so rückständig waren,
wie oft behauptet wurde. Die Arbeiter scheiterten zwar schließlich, da sich die gelbe
Werkvereinsbewegung unter der Kontrolle der Arbeitgeber und aufgrund ihrer
finanziellen Wohltaten durchsetzte, aber es zeigte sich, daß eine Organisation der
Arbeiter notwendig geworden war.
Die Werkvereinsbewegung74 war vor dem 1. Weltkrieg zu einem gefährlichen Gegner
für die Gewerkschaften geworden. 1913 stand sie mit 279 810 Mitgliedern nach den
Freien Gewerkschaften mit 2 525 042 Mitgliedern und den Christlichen Gewerkschaf-
ten mit 341 735 Mitgliedern an der 3. Stelle. Sie war vor allem in Großbetrieben
vertreten, in der Montanindustrie, aber auch in der modernen Elektro- und chemi-
schen Industrie und im Maschinenbau. Gerade gegenüber den mächtigsten und im
Montanbereich den reaktionärsten Unternehmern war die Gewerkschaftsbewegung
am schwächsten, und die Werkvereinsbewegung war im Wachstum begriffen. Die
Organisation war für die Arbeiter das wichtigste Instrument zur Durchsetzung ihrer
Interessen sowohl als Arbeitnehmer als auch als Staatsbürger in ihrem Kampf um eine
Verbesserung der materiellen und ideellen Lebensverhältnisse. Arbeitgeber, die eine
gewerkschaftliche Organisation ihrer Arbeiter verhindern wollten, mußten diese selbst
organisieren, ihnen einen Verein anbieten, den sie mit verschiedenen Mitteln unter
Kontrolle hielten.
Eine Konsequenz aus dieser Lage war die Entscheidung des preußischen Handelsmi-
nisters, die Mitgliedschaft der Bergarbeiter im Staatsbergbau an der Saar in einer
christlichen Gewerkschaft zuzulassen. Die Alternative wäre die Gründung eines
nationalen Werkvereins gewesen, der aber durch Prämien und andere Vergünstigun-
gen für den Staat sehr teuer geworden wäre. Die christliche Gewerkschaft glaubte
man unter Kontrolle halten zu können.75 Die Mitgliedschaft in einer freien Gewerk-
schaft verbot man nicht ausdrücklich, um sie nicht in den Untergrund zu zwingen,
73 Vgl. Mallmann, Bergarbeiterbewegung (s. Anm. 16) S. 317.
74 Vgl. Klaus Mattheier, Die Gelben. Nationale Arbeiter zwischen Wirtschaftsfrieden und
Streik. Düsseldorf 1973 (= Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien),
Zahlen: S. 129.
1 Bericht der Bergwerksdirektion Saarbrücken vom 20. Februar 1913, Zentrales STA der DDR,
Abt. II Merseburg, Rep. 120 BB, Abt. VII, Fach 1, Nr. 14 adh. 13, zit. nach: Klaus Saul,
Staat, Industrie und Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur Innen- und Sozialpolitik des
Wilhelminischen Deutschland 1903-1914. Düsseldorf 1974 (= Studien zur modernen
Geschichte, Bd. 16), S. 184 f.
55
sondern man beobachtete aufmerksam ihre Entwicklung, um durch Entlassungen
eingreifen zu können, wenn es notwendig erschien.76
Damit blieben die freien Gewerkschaften auf die Handwerksberufe und das Bauge-
werbe beschränkt. Ihr Zentrum waren die Saarstädte und in geringerem Maße
Neunkirchen. Aber wie die Wahlergebnisse zeigten, blieb die sozialdemokratische
Bewegung im preußischen Saargebiet weit hinter vergleichbaren Gebieten zurück. In
katholischen Gebieten hatte sie es überall schwer. Die Unterdrückung durch Arbeitge-
ber und Staat war an der Saar besonders ausgeprägt, sie gab es aber auch jenseits der
preußischen Landesgrenzen. Einer Erklärung bedarf auch das günstige Wahlergebnis
der Nationalliberalen, zu dem evangelische Arbeiter beigetragen haben müssen. Hier
sind noch viele Fragen offen, und bis zur theoretischen Erklärung der Verhältnisse an
der Saar vor dem 1. Weltkrieg bedarf es noch umfangreicher Forschungsarbeiten.
Der 1. Weltkrieg brachte neue existentielle Erfahrungen für die Arbeiter von der Saar.
Während die SPD und die freien Gewerkschaften im preußischen Saargebiet bisher auf
die beweglicheren Arbeiterschichten beschränkt geblieben waren, gelang es ihnen jetzt
auch die Berg- und Hüttenarbeiter zu überzeugen und zu gewinnen.
76 Bericht der Bergwerksdirektion Saarbrücken vom 24. November 1910, LHA Koblenz
Best. 442 Nr. 3785.
56
Klaus-Michael Mallmann
Zwischen Machtanbetung und Revolte - Protestanten und
Proletarisierung an der Saar
Man muß nicht unbedingt ein tiefgläubiger Mensch sein, um Religion und Kirche
gerade auch im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Industrialisierung und Demokrati-
sierung, der Entstehung von Nationalstaaten und der Bildung neuer Klassengesell-
schaften, große historische Potenz zuzubilligen. Zweifellos veränderten die neuen
Problemfelder dieses Jahrhunderts den Stellenwert der Religion, bedingte der Zusam-
menbruch der adligen Reichskirche im Gefolge der Französischen Revolution einen
fundamentalen Struktur- und Bedeutungswandel der Kirchen in Staat und Gesell-
schaft, ohne indes ein postreligiöses Zeitalter einzuläuten und den Glauben zu einer
schwindenden Größe zu machen. Die für Bayern, Württemberg, Rheinland-Westfalen
und das Saarrevier vorliegenden Studien über den religiösen Mentalitätswandei der
Bevölkerung im 19. Jahrhundert stimmen darin überein, daß die Modernisierung
insbesondere in den Unterschichten Ängste freisetzte und Orientierungskrisen provo-
zierte, die vorrangig mit Hilfe der Religion bewältigt wurden und keineswegs
unmittelbar in einer Entkirchlichung mündeten.1 Gleichwohl verlief dieser Prozeß
vielschichtig: Er war abhängig von der jeweiligen Konfession und dem sozialen Status
ihrer Mitglieder, den konkreten religiösen Konfrontationslinien und kirchenamtlichen
Entscheidungen, dem spezifischen Stadium der Industrialisierung, Proletarisierung
und Klassenbildung, beeinflußt von ökonomischen Wechsellagen und kulturellen
Traditionen, von aktuellen politischen Streitfragen und langfristigen gesellschaftlichen
Veränderungen. Kurzum: man tut gut daran, räumlich und zeitlich genau zu
differenzieren.
Diese Notwendigkeit entspringt nicht nur allgemeiner methodischer Reflexion, sie
drängt sich geradezu auf, wenn wir uns unserem Thema prima facie nähern und dabei
über einen ebenso überraschenden wie erklärungsbedürftigen Widerspruch stolpern,
der bislang kaum irgendwo bemerkt, geschweige denn analysiert wurde: Während des
19. Jahrhunderts bildeten die Protestanten gewissermaßen die Herrenschicht der
Region. Sie stellten die Unternehmer und die Spitzen des Bergfiskus, sie dominierten
in Bürgertum und Beamtenschaft, bildeten die Wählergemeinde der Nationalliberalen,
1 Vgl, Fintan Michael Phayer, Religion und das Gewöhnliche Volk in Bayern in der Zeit von
1750-1850, München 1970; Werner K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft.
Institutioneile Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts,
Göttingen 1982; David Blackbourn, Class, Religion and Local Politics in Wilhelmine
Germany: the Center Party in Württemberg before 1914, New Haven-London 1980;
Jonathan Sperber, Populär Catholicism in Nineteenth Century Germany. Society, Religion
and Politics in Rhineland-Westphalia 1830-1880, Princeton 1984; Klaus-Michael Mall-
mann, „Aus des Tages Last machen sie ein Kreuz des Herrn . . .“? Bergarbeiter, Religion und
sozialer Protest im Saarrevier des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Volksreli-
giosität in der modernen Sozialgeschichte, Göttingen 1986, S. 152-184; als jüngster For-
schungsbericht Michael Klöcker, Katholizismus und Protestantismus im 19./20. Jahrhun-
dert, in: Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988), S. 469-488.
57
waren staatstragend, hurrapatriotisch und strukturkonservativ. Dies galt in gleichem
Maße auch für die evangelischen Arbeiter, die selbst in der „großen Streikzeit“
1889-1893 mit wenigen Ausnahmen völlig passiv blieben und unbeirrbare Königs-
treue demonstrierten. Unmittelbar nach der Jahrhundertwende jedoch zerfiel dieser
bislang monolithische Block nach klassenmäßigen Gesichtspunkten: Der sich allmäh-
lich vergrößernde Anhang der freien Gewerkschaften und der SPD rekrutierte sich vor
1914 fast ausschließlich aus Protestanten. Dieser Trend setzte sich nach 1918 mit
noch größerem Tempo fort: Die Hochburgen von SPD und KPD lagen in den
20er Jahren ausnahmslos in dominant evangelischen bzw. konfessionell stark durch-
mischten Orten. Gemeinden mit klarer katholischer Mehrheit hingegen blieben
durchgängig - sieht man von Dillingen in den frühen 20er Jahren ab - Bastionen des
Zentrums und der christlichen Gewerkschaften. Binnen einer Generation hatte sich
damit in weiten Teilen der protestantischen Arbeiterschaft ein grundlegender Wandel
der Orientierungs- und Verhaltensmuster vollzogen. Die Verhältnisse des ^.Jahr-
hunderts waren in doppelter Weise auf den Kopf gestellt worden: Die katholischen
Arbeiter, die vor 1900 die Rebellen gewesen waren, bildeten nunmehr das konserva-
tive, beharrende Element, während sich die einstmals extrem obrigkeitsloyalen
Protestanten in klassenbewußte Proleten verwandelt hatten.2
Dieses Fragezeichen aufwerfende, zwischen Machtanbetung und Revolte oszillierende
Verhalten der evangelischen Arbeiter soll im folgenden in einigen Grundlinien
dargestellt und analysiert werden. Dabei geht es wohlgemerkt nicht primär um die
kirchenhistorische Fragestellung nach der Entwicklung der Lehrmeinungen zur „sozia-
len Frage“, sondern um eine sozialhistorische Perspektive, die das religiöse Handeln
von einzelnen Menschen und Gruppen in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit thema-
tisiert, das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft hinterfragt, Religion in ihrer
sozialen Interdependenz begreift, sie in ständiger Wechselbeziehung mit anderen
gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereichen interpretiert.3
Grundlegend für das Verständnis von Religion im Saarrevier ist der säkulare Prozeß
der Konfessionsverschiebung, meines Erachtens neben dem der spezifischen Klassen-
bildung der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der sozialen Vorgänge des vergan-
2 Ausführlich zur Sozialgeschichte des Saarreviers im 20. Jahrhundert Klaus-Michael Mall-
mann/Horst Steffens, Lohn der Mühen. Geschichte der Bergarbeiter an der Saar, München
1989, S. 98-275.
3 Grundlegend zu einem sozialhistorischen Ansatz in der Erforschung von Religion Richard van
Dülmen, Religionsgeschichte in der historischen Sozialforschung, in: Geschichte und Gesell-
schaft 6 (1980), S. 36-59; Rudolf von Thadden, Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschich-
te, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 598-614; Wolfgang Schieder, Religion in der
Sozialgeschichte, in: ders./Volker Sellin (Hrsg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwick-
lungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 3, Göttingen 1987, S. 9-31;
zusammenfassend aus religionssoziologischer Perspektive Michael N. Ebertz/Franz Schul-
theis, Populäre Religiosität, in: dies. (Hrsg.), Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur
Soziologie populärer Religiosität aus 14 Ländern, München 1986, S. 11-52.
58
genen Jahrhunderts.4 Die Grafschaft Nassau-Saarbrücken, in der 1575 das lutherische
Bekenntnis offiziell eingeführt worden war,5 war nach ihrem Aufgehen im preußi-
schen Staatsverband der einzige überwiegend protestantische Teil des Regierungsbe-
zirks Trier. Der gemeinsame Glaube verknüpfte den größten Teil der Bevölkerung mit
der neuen Hegemonialmacht und seinem Herrscherhaus und dämpfte 1848/49 die
revolutionäre Bewegung, da die aus konfessionellen Gegensätzen resultierenden
Konflikte weitgehend entfielen.6 Bereits ein Jahrzehnt später konnte davon keine Rede
mehr sein: Die protestantische Enklave im preußischen Südwestzipfel entwickelte sich
auf Grund ihrer Kohlenvorkommen zum Kern des entstehenden Saarreviers. Da die
einheimische Bevölkerung im relativ dünn besiedelten Saarkohlenwald die Arbeits-
kräftenachfrage der expandierenden Industrie immer weniger befriedigen konnte,
entstand eine gewaltige Sogwirkung auf die umliegenden Landschaften, die sukzessive
ihren Bevölkerungsüberschuß an das Industriegebiet abgaben. Diese regionale Binnen-
wanderung stellte die bisherigen Konfessionsverhältnisse auf den Kopf: Seit Mitte der
50er Jahre besaß das Revier eine katholische Bevölkerungsmehrheit; 1910 standen
sich in den Kreisen Saarbrücken und Ottweiler 63,0 % Katholiken und 33,7 %
Protestanten gegenüber.7 In der Belegschaft der preußischen Saargruben - dem mit
Abstand größten Arbeitgeber - spiegelte sich diese Verteilung noch deutlicher wider:
1875 waren hier 17 318 katholische Bergarbeiter und 6 069 Protestanten beschäftigt
- ein Verhältnis 3:1, das bis zum 1. Weltkrieg konstant blieb und sich den in
20er Jahren unseres Jahrhunderts sogar noch mehr zugunsten der Katholiken ver-
schob.8
4 Zu den Grundlinien einer Gesellschaftsgeschichte des Saarreviers im 19. Jahrhundert
Klaus-Michael Mallmann, Die heilige Borussia. Das Saarrevier als preußische Industriekolo-
nie, in: ders./Gerhard Paul/Ralph Schock/Reinhard Klimmt (Hrsg.), Richtig daheim waren
wir nie. Entdeckungsreisen ins Saarrevier 1815-1955, 2. Aufl. Berlin-Bonn 1988, S. 16-21; zu
den Grundlinien einer regionalen Religionsgeschichte in sozialhistorischer Perspektive ders.,
Die neue Attraktivität des Himmels. Kirche, Religion und industrielle Modernisierung, in:
Richard van Dülmen (Hrsg.), Industriekultur an der Saar. Leben und Arbeit in einer
Industrieregion 1840-1914, München 1989, S. 248-257; zur überragenden Bedeutung kultu-
reller Faktoren bei der Überformung des industriellen Konflikts und der daraus resultierenden
Verschiebung der Konfliktlinien ders., Erfahrungsräume und Deutungswelten. Klassenbil-
dung, Fragmentierung und Bergarbeiterbewegung in Deutschland 1871-1914, in: Klaus
Tenfelde (Hrsg.), Sozialgeschichte des Bergbaus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1991,
S. 557-572.
5 Vgl. Hans-Walter Herrmann, Die Reformation in Nassau-Saarbrücken und die nassau-saar-
brückische Landeskirche bis 1635, in: Die Evangelische Kirche an der Saar - gestern und
heute, Saarbrücken 1975, S. 42-111.
6 Richard Noack, Die Revolutionsbewegung von 1848/49 in der Saargegend, in: Mitteilungen
des Historischen Vereins für die Saargegend, Bd. 18, Saarbrücken 1929, S. 158.
7 Vgl. Dieter Robert Bettinger, Die Verschiebung der Konfessionsverhältnisse im Saarland, in:
Die Evangelische Kirche an der Saar, S. 202-220; Wolfgang Läufer, Bevölkerungs- und
siedlungsgeschichtliche Aspekte der Industrialisierung an der Saar, in: Zeitschrift für die
Geschichte der Saargegend 29 (1981), S. 122-164, bes. S. 154-157; Klaus Fehn, Räumliche
Bevölkerungsbewegung im saarländischen Bergbau- und Industriegebiet während des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts, in: Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in München 59
(1974), S. 57-73.
8 Die Arbeiterbelegschaft der Königlichen Steinkohlengruben bei Saarbrücken nach dem Ergeb-
nis der statistischen Erhebungen am 1. Dezember 1875, Saarbrücken 1876, S. 2; für den
Zeitraum 1910-1931 Francis Roy, Der saarländische Bergmann, Saarbrücken 1955, S. 114.
59
Die katholischen Arbeiter kamen als Fremdkörper in eine protestantisch dominierte
bürgerliche Welt, die sie keineswegs mit offenen Armen empfing, die für sie die
untersten sozialen Positionen bereithielt, sie als mittellose Arbeiter und als Katholiken
eher widerwillig duldete denn willkommen hieß. Es war durchaus typisch, daß der
evangelische Pfarrer Petersen aus St. Johann bereits 1856 vor einer uns überfluthen-
den katholischen Bevölkerung warnte, die ein besonders unsittliches und leibliches
Proletariat aufweise.9 Die katholischen Zu Wanderer trafen auf ein protestanisches
Bürgertum, das sich aus den Kaufmannsfamilien des 18. Jahrhunderts rekrutierte oder
in Napoleonischer Zeit zugezogen war, auf eine protestantische Mittelschicht aus
Händlern und Handwerkern, auf eine protestantische Staatsbürokratie, deren Spitzen
vorrangig aus den altpreußischen Landesteilen stammten und nicht zuletzt auf eine
protestantische Bergbeamtenschaft. Noch 1903 befanden sich unter den 70 Beamten
der Saarbrücker Bergwerksdirektion nur 3 Katholiken, die Direktoren aller 11 Bergin-
spektionen waren evangelisch; erst in den mittleren und unteren Werksbeamtenrängen
- Steigern, Grubenhütern, Kohlenmessern - kamen Katholiken zum Zuge, obwohl
auch hier die Protestanten deutlich überwogen.10 Den Prozeß der allseitigen Diszipli-
nierung, dem die katholischen Zuwanderer unterworfen wurden, erlebten sie auch als
Sieg der protestantischen Arbeitsethik, die preußische Erziehungsdiktatur auf den
Gruben und Hütten als Triumph eines fremden, in den damaligen Kategorien häufig
als feindlich begriffenen Glaubens. Die sozialen und kulturellen Unterschiede deckten
sich in ihrer Erfahrungswelt mit den konfessionellen; der politische Gegensatz
zwischen Zentrum und Liberalismus trat bald schon als vierte Widerspruchsebene
hinzu.
Gleichwohl traf die Proletarisierung nicht nur Katholiken, verlief der Prozeß der
Konfessionsverschiebung keineswegs lückenlos und gleichmäßig: Während die
Zuwanderer aus dem Westen und Norden - den ehedem kurtrierischen und lothrin-
gischen Gebieten - durchgängig Katholiken waren, stammte der Zuzug von Osten
vorrangig aus evangelischen Landstrichen, insbesondere aus dem ehemaligen Herzog-
tum Pfalz-Zweibrücken. Da sie sich vor allem im angrenzenden oberen Revier
ansiedelten, behielten hier wichtige Industrieorte eine konfessionelle Parität bzw. eine
starke protestantische Minderheit, im Fall von Wiebelskirchen sogar eine deutliche
evangelische Dominanz.11 Mehr noch: diese Gruppe von Zuwanderern wurde von
dem eigentümlichen System sozialer Sortierung mit seiner Übereinstimmung von
Klassenbarrieren und Konfessionsgrenzen nicht betroffen. Ihr sozialer Status ähnelte
dem der katholischen Zuwanderer. Dennoch paßten auch sie sich bis zur Jahrhundert-
9 Pfarrer Petersen/St. Johann an Oberpräsident v. 29.7.1856, LHA Koblenz Best. 403/
Nr. 8164, S. 5; zu den konfessionellen Antagonismen im zeitgenössischen England vgl. Hugh
McLeod, Religion and the Working Class in Nineteenth Century Britain, Basingstoke 1984,
S. 36-43.
10 Zahlenangaben in: Der Prozeß Hilger-Krämer vor der Strafkammer Trier, Trier 1905,
S. 175.
11 Zu Neunkirchen vgl. Bernhard Krajewski/Leo Ehlen (Hrsg.), Neunkirchen (Saar). Stadt der
Kohle und des Eisens, Neunkirchen 1955, S. 159 ff., 187; zu Wiebelskirchen (Hermann
Offermann:) Bürgerbuch enthaltend eine Darstellung über die Entwicklung der Gemeinden
der Bürgermeisterei Wiebelskirchen während der Jahre 1894 bis 1910 nebst einem Rückblick
auf deren Vergangenheit, Neunkirchen 1911, S. 18.
60
wende nahtlos in das geschilderte Konfliktschema ein. Obwohl auch sie der Proletari-
sierung unterworfen waren, fühlten sie sich im Kaiserreich aufgehobener als ihre
katholischen Arbeitskollegen, war ihr Einverständnis mit der Macht weitaus stärker
entwickelt.
Dieses höhere Maß an Integration entsprang keineswegs einer größeren Sensibilität
des Protestantismus für die „soziale Frage“: Die mit dem Mainzer Bischof Wilhelm
Emanuel Freiherr v. Ketteier einsetzende Öffnung der katholischen Kirche hin zu
oppositionellen Strömungen aus den Unterschichten12 besaß im deutschen Protestan-
tismus keine Entsprechung.13 Johann Hinrich Wicherns Konzept der „Inneren Mis-
sion“ blieb der Tradition der Diakonie verhaftet, Fragen des Wahl- oder Arbeitsrechts
etwa kamen ihm nicht in den Sinn.14 Victor Aimé Hubers Appell an die Besitzenden,
sich durch die Gründung von Konsum- und Siedlungsgenossenschaften an die Spitze
einer Aktion der Selbsthilfe stellen, verhallte ungehört.15 Adolf Stoecker löste sich
zwar von den Vorstellungen caritativer Sozialarbeit und forderte statt dessen Sozial-
politik, zweifelhafte Popularität gewann er jedoch durch seinen Antisemitismus.16
Dominant blieb indes die Position, daß sozialpolitische Aktion ein Widerspruch gegen
den Grundgedanken der Kirche sei. Wer da meint, hieß es noch 1887, daß die Kirche
auch der sozialen Frage gegenüber eine andere Aufgabe habe als Predigt und
Seelsorge, der ist auf dem Römischen Irrweg.17 Dieser traditionellen Maxime, die
gesellschaftliche Konflikte zu Fragen persönlicher zwischenmenschlicher Verhältnisse
reduzierte, war auch der Gersweiler Pfarrer Adolf Fauth verpflichtet, der innerhalb
der Saarbrücker Synode jahrzehntelang als Spezialist für die „soziale Frage“ fungierte.
Seine zahlreichen und erbaulichen Betrachtungen im „Evangelischen Wochenblatt“
warnten vor der Mischehe, vor Vergnügungssucht, Borgwirtschaft und Sozialdemo-
12 Vgl. seine berühmte Rede „Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion
und Sittlichkeit“ auf der Liebfrauenheide bei Offenbach am 25. 7. 1869, abgedruckt bei Ernst
Heinen, Staatliche Macht und Katholizismus in Deutschland, Bd. 2, Paderborn 1979,
S. 120-136; systematisierend Franz Josef Stegmann, Geschichte der sozialen Ideen im
deutschen Katholizismus, in: Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in
Deutschland, München-Wien 1969, S. 325-560.
13 Zusammenfassende Analyse bei Friedrich Karrenberg, Geschichte der sozialen Ideen im
deutschen Protestantismus, in: Grebing, Geschichte, S. 561-694; vgl. Erkki Kouri, Der
deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870-1919. Zur Sozialpolitik im Bildungsbür-
gertum, Berlin-New York 1984; Hugh McLeod, Protestantism and the Working Class in
Imperial Germany, in: European Studies Review 12 (1982), S. 323-344; zur neopietistischen
Ausnahme von der Regel Josef Mooser, Religion und sozialer Protest. Erweckungsbewegung
und ländliche Unterschichten im Vormärz am Beispiel von Minden-Ravensberg, in: Heinrich
Volkmann/Jürgen Bergmann (Hrsg.), Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und
kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1984,
S. 304-324; die wichtigsten kirchenoffiziellen Verlautbarungen 1871-1914 sind abgedruckt
bei Günter Brakeimann, Kirche, soziale Frage und Sozialismus, Bd. 1, Gütersloh 1977.
14 Vgl, William O. Shanahan, Der deutsche Protestantismus vor der sozialen Frage 1815-1871,
München 1962.
15 Vgl. Ingwer Paulsen, Victor Aimé Huber als Sozialpolitiker, 2. Auf]. Berlin 1956.
16 Vgl, Günter Brakelmann/Martin Greschat/Werner jochmann, Protestantismus und
Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982; Helmut Berding, Moderner
Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt 1988, S. 87-99.
17 Gerhard Uhlhorn, Katholizismus und Protestantismus gegenüber der sozialen Frage, Göttin-
gen 1887, S. 35 f.
61
kratie, lobten das eheliche Glück, die Sparsamkeit und den sozialen Sinn des
Herrscherhauses.18
Das höhere Maß an Integration gerade auch der protestantischen Unterschichten
scheint vorrangig den aus der Konfessionsverschiebung resultierenden Wahrneh-
mungsformen und Lagerbildungen entsprungen zu sein, die jahrzehntelang ein prole-
tarisches Selbstverständnis blockierten und dem preußischen Staat eine spezifische
Loyalitätsbasis in der evangelischen Arbeiterschaft Zuwachsen ließen. Sie beruhte im
wesentlichen auf der quer zu den Klassengrenzen verlaufenden Dynamik zwischen den
beiden Konfessionen: Die Katholiken bildeten nunmehr zwar zahlenmäßig die Mehr-
heit, aber die Protestanten waren politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich domi-
nant. Diese sich gegenseitig begrenzenden Majoritätsverhältnisse brachten es mit sich,
daß beide Lager sich jeweils partiell als Minorität empfanden und ein Gefühl ständiger
Bedrohung entwickelten. Die Protestanten sahen sich plötzlich von Katholiken
umzingelt, die Katholiken erlebten sich als einer evangelischen Oberschicht unterwor-
fen. Diese negative Bezogenheit mit den ihr innewohnenden Momenten der latenten
Spannung und der argwöhnischen Beobachtung, der Sensibilisierung durch Abgren-
zung und der scharfen Scheidung von In-Group und Out-Group führte zur Intensivie-
rung der jeweiligen Eigenheiten und zu den bis heute sprichwörtlichen Reibereien
zwischen „Blooköpp“ und „Schwarzen“, die mit der Störung der Ottweiler Fronleich-
namsprozession 1853 begannen,19 im Kulturkampf kulminierten und in der gesamten
Wilhelminischen Ära mehr oder minder manifest auftraten.
Die dem Saarrevier im 19. Jahrhundert eigentümliche Übereinstimmung sozialer
Schranken und konfessioneller Grenzen erlaubte es, die Widersprüche der Klassenge-
sellschaft in hohem Maß entlang der religiösen Differenzen zu interpretieren und
häufig in den Formen des Glaubenskampfes auszutragen. Diese Verschiebung der
Konfliktlinien behinderte einerseits die Bildung von Gewerkschaften, die Katholiken
und Protestanten unterschiedslos organisierten, machte Kirche und Gemeinde für die
Katholiken zu Gegenpolen von Betrieb und Herrschaft und ließ die Arbeiterbewegung
zunächst als katholische Bewegung in Erscheinung treten. Andererseits machte die
katholische Übervölkerung den Protestantismus an der Saar zur Oberschichtreligion,
erleichterte den Protestanten die Identifikation mit den herrschenden Machtverhältnis-
sen und erzeugte bei ihnen das Selbstwertgefühl einer staats- und zivilisationstragen-
den Leistungs- und Bildungselite.
Dieser Konsens, der Bürgertum und Beamtenschaft zusammenschweißte, zur Erosion
der liberalen Verfassungsbewegung beitrug und die Borussifizierung der Region
beförderte,20 bezog auch die evangelischen Unterschichten - nach allem, was wir
wissen - bruchlos mit ein: Die alteingesessenen, zur protestantischen „Ureinwohner-
18 Vgl. Hans-Klaus Heinz, Pfarrer Adolf Fauth als Volksschriftsteller, in: Kurt Groth (Hrsg.),
200 Jahre Evangelische Kirche Gersweiler 1784-1984. Beiträge zur Geschichte der evangeli-
schen Kirchengemeinde Gersweiler, o.O. 1984, S. 156-179; Rudolf Saam, Die evangelische
Kirche an der Saar in den Jahrzehnten sozialer Veränderungen nach 1850, in: Die Evangeli-
sche Kirche an der Saar, S. 229-246.
19 Berichte LHA Koblenz Best. 442/Nr. 6474 und 3603.
20 Für das Saarbrücker Bürgertum vgl. Wilfried Loth, 75 Jahre Großstadt Saarbrücken, in:
Saarheimat 28 (1984), S. 112-114.
62
schaft“ zählenden Arbeiter waren ohnehin im Vergleich zu den Zuwanderern privile-
gierter und häufiger auch qualifizierter. Die Tatsache, daß sie in den meisten Fällen
Land besaßen, das im Zeichen des knapper werdenden Bodens im Revier in seinem
Wert ständig stieg, machte sie relativ wohlhabend. Falls sie Hauseigentümer waren,
traten sie überdies den Zu Wanderern als Vermieter entgegen und profitierten an der
Wohnungsnot.21 Vielfach konnten sie auf familiär tradiertes Produktionswissen
zurückgreifen und mit dem Anwachsen der Betriebe zu Vorarbeitern, Meistern oder
Steigern aufrücken. Der soziale Aufstieg, in Reichweite und Umfang ohnehin begrenzt
durch die sich verfestigende Klassengesellschaft, vollzog sich vorrangig entlang der
Bruchlinien religiöser Imparität: In der evangelischen Bergmannsfamilie ist es der
höchste Stolz, wenn ein Sohn es zum Beamten bringt, während auf der anderen Seite
die katholische Familie den höchsten Wert darauf legt, wenn der Sohn es zum
Geistlichen bringt, typisierte Ewald Hilger, der Vorsitzende der Bergwerksdirektion,
1903 die regionalen Königswege gesellschaftlicher Mobilität.22 Die mit dem Argument
der Tüchtigkeit begründete Praxis der Begünstigung von Protestanten, mit der sich der
preußische Staat in der gesamten Rheinprovinz über alle Fragen der religiösen Parität
hinwegsetzte,23 scheint insbesondere für die zuwandernden Protestanten attraktiv
gewesen zu sein. Es läßt sich vermuten, daß diese Chance sozialen Aufstiegs Loyalität
erkaufte und die Distanz zur katholischen Arbeiterschaft noch verstärkte. Das im
landesherrlichen Kirchenregiment symbolisierte Bündnis von Thron und Altar, das
gemeinhin für die „schnell zunehmende Entkirchlichung und Entchristlichung der
Industriezentren“ verantwortlich gemacht wird,24 scheint angesichts der spezifischen
Bedingungen des Saarreviers über Jahrzehnte hinweg gerade kein Hemmschuh für die
Integration der evangelischen Unterschichten gewesen zu sein, sondern wesentliche
Elemente sozialer Einbindung bereitgestellt zu haben.
Vor allem der Kulturkampf25 wurde zum Katalysator des Unterschiedsbewußtseins
und des untergründigen Religionskriegs. Er scheint die Protestanten - ungeachtet
ihres differierenden sozialen Status - noch stärker zusammengerückt und bei ihnen
das Elitebewußtsein ebenso gestärkt zu haben wie umgekehrt das Unterschichtenbe-
wußtsein bei den Katholiken. Die Siege über Österreich 1866 und über Frankreich
1871 wurden als später Sieg über den Katholizismus gefeiert, schufen ein neues
protestantisches Nationalbewußtsein und forcierten über den Kampftopos des „Ultra-
21 Vgl. Hans Horch, Der Wandel der Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der Saarre-
gion während der Industrialisierung (1740-1914), St. Ingbert 1985, S. 399 f.
22 Beleidigungsklage Nr. III der Königlichen Bergwerksdirektion zu Saarbrücken gegen den
Redakteur Ludwig Lehnen von der „Neunkirchener Zeitung“, St. Johann-Saarbrücken o.J.
(1904), S. 125.
23 Justus Hashagen, Der rheinische Protestantismus und die Entwicklung der rheinischen
Kultur, Essen 1924, S. 112.
24 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 3. Auf!. Göttingen 1977, S. 119;
ähnlich Gerhard A. Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom
Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin-Bonn 1980, S. 28 f.
25 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Volksfrömmigkeit, Proletarisierung und preußischer Obrig-
keitsstaat. Sozialgeschichtliche Aspekte des Kulturkampfes im Saarrevier, in: Soziale Frage
und Kirche im Saarrevier. Beiträge zu Sozialpolitik und Katholizismus im späten 19. und
frühen 20. Jahrhundert, Saarbrücken 1984, S. 183-232.
63
montanismus“ den antirömischen Affekt. Während die Begriffe „deutsch“ und „prote-
stantisch“ miteinander verschmolzen, erschien das parallel dazu formulierte päpstliche
Unfehlbarkeitsdogma als externer Angriff auf die im Nationalstaat kulminierende
Spur Gottes von 1517 bis 1871, auf das von Priesterherrschaft befreite heilige
evangelische Reich deutscher Nation, wie Hofprediger Stoecker befand.26 Diese
etatistisch-nationalistische Sichtweise, mit der sich liberale Abwehr von Aberglauben
und Fortschrittsfeindlichkeit verbanden,27 erhielt im Saarrevier besondere Nahrung
durch die virulente Wundergläubigkeit der katholischen Unterschichten und die
permanenten Zusammenstöße mit der Staatsgewalt, insbesondere seit der angeblichen
Marienerscheinung von Marpingen im Juli 1876.28 29 Das „Evangelische Wochenblatt“
fühlte sich an den finstern heidnischen Fetischdienst erinnert und zollte dem harten
Durchgreifen von Seiten des Staates uneingeschränkten Beifall: Man sucht durch die
Marpinger Wunder die Macht und Herrlichkeit der römischen Kirche zu fördern. Es
soll ein zweites Lourdes in Deutschland gegründet werden. Und diese Gründung wäre
gelungen, wenn die Behörden die Bewegung nicht im Zaume gehalten hätten.19
Selbst in der „großen Streikzeit“ 1889-1893 - gewissermaßen die empirische Nagel-
probe meiner These - hielt das Bündnis zwischen evangelischen Arbeitern, Bürgertum
und Beamtenschaft: Nach seinen Statuten verstand sich der Rechtsschutzverein der
Bergarbeiter zwar als überkonfessionelle Gewerkschaft, faktisch handelte es sich indes
um eine katholische Gründung, in der Protestanten nie eine nennenswerte Rolle
spielten.30 Die evangelische Geistlichkeit, die den Verband von vornherein als äußerst
schlaue ultramontane Macherei attackierte,31 setzte ihm seit Herbst 1889 Evangeli-
sche Arbeitervereine mit eindeutig wirtschaftsfriedlicher Zielsetzung entgegen, die sich
immer mehr als Instrumente zur Erhaltung des sozialen Status quo begriffen.32 Der
damit errichtete Wall gegen das Eindringen gewerkschaftlicher Gedanken in die
26 Zit. bei Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung,
2. Aufl. Hamburg 1935, S. 28.
27 Vgl. Ernst Walter Zeeden, Die katholische Kirche in der Sicht des deutschen Protestantismus
im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 72 (1953), S. 433-456, bes. S. 454; für Bayern
Blessing, Staat und Kirche, S. 195-202.
28 Vgl. Gottfried Korff, Kulturkampf und Volksfrömmigkeit, in: Schieder: Volksreligiosität,
S. 137-151; Klaus-Michael Mallmann, „Maria hilf, vernichte unsere Feinde“. Die Mariener-
scheinung von Marpingen 1876, in: ders./Paul/Schock/Klimmt, S. 48-50.
29 Evangelisches Wochenblatt v. 20. 5. (Nr. 20) und 10. 6. 1877 (Nr. 23).
30 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar
(1848-1904), Saarbrücken 1981, S. 120-130.
31 Evangelisches Wochenblatt v. 22. 9. 1889 (Nr. 38).
32 Vgl. Mallmann, Anfänge, S. 131-135, 175, 278; zur Entwicklung in der bayerischen
Saarpfalz Heinz Friedei, Der Beginn der christlichen Arbeiterbewegung in Kaiserslautern und
der übrigen Pfalz, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und Religiöse Volkskunde 42
(1975), S. 71-78 sowie Hans Dieter Denk, Die christliche Arbeiterbewegung in Bayern bis
zum Ersten Weltkrieg, Mainz 1980, S. 35-46; den fundiertesten Gesamtüberblick bietet
immer noch Bruno Feyerabend, Die evangelischen Arbeitervereine. Eine Untersuchung über
ihre religiösen, geistigen, gesellschaftlichen und politischen Grundlagen und über ihre
Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg, Diss. Frankfurt 1955 sowie neuerdings Klaus Martin
Hofmann, Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1882-1914, Bielefeld 1988; vorzüglich
in konfessionell vergleichender Perspektive Josef Mooser, Arbeiter, Bürger und Priester in
den konfessionellen Arbeitervereinen im deutschen Kaiserreich, 1880-1914, in: Jürgen Kocka
(Hrsg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäi-
schen Vergleich, München 1986, S. 79-105.
64
evangelische Arbeiterschaft hielt auch im letzten Massenstreik um die Jahreswende
1892/93, dem gewaltigsten Ausstand im Saarrevier des 19. Jahrhunderts. Auf einer
Konferenz der Saarbrücker Synode konnte es Pfarrer Fauth mit dem Hinweis
bewenden lassen, daß bei der geistigen Unreife eines großen Teils der Arbeiterbevöl-
kerung . . . eine starke Hand über ihnen sein müsse.33
Die Jahre zwischen der Niederwerfung des Rechtsschutzvereins 1893 und Stumms
Tod 1901 brachten jedoch erstmals auch die evangelischen Geistlichen in Konflikt mit
dem herrschenden System: Stumm, der in dieser Zeit bei Hofe größten Einfluß
ausübte, setzte auf eine derart rigorose Anwendung der Praktiken des Sozialistengeset-
zes, daß er selbst Reformströmungen im protestantischen Bürgertum bedrohte und zu
kriminalisieren trachtete. Selbst die Professoren der historischen Schule der deutschen
Nationalökonomie - Namen wie Lujo Brentano, Gustav Schmoller, Adolph Wagner
- wurden von ihm als Wegbereiter der Sozialdemokratie attacktiert. Es war keine
Übertreibung, als die Saarbrücker Synode 1896 erklärte: Fast scheint es, als ob die
alten Gegner der Mittelparteien (Ultramontane, Freisinnige, Sozialdemokraten) aus-
gestorben seien, so ausschließlich werden wir angegriffen und bekämpft.34 Als die
Evangelischen Arbeitervereine 1894 ein Auskunftsbüro für Rechtsfragen gründeten,
drohten die wirtschaftlichen Vereine der Saarindustriellen am 4. Januar 1895 mit der
Anwendung ihres gerade eben erneut bekräftigten Sozialistengesetzes. Erst als der
Verbandsvorstand erklärte, keinen Gewerkverein ins Leben rufen zu wollen, nahm
man den Beschluß zurück.35 Doch der Konflikt war damit nur vertagt: Nachdem
Pfarrer Friedrich Naumann, Herausgeber der Zeitschrift „Die Hilfe“ und führender
Kopf der Christlich-Sozialen,36 im Oktober 1895 vor dem Saarbrücker Handwerker-
verein einen Vortrag gehalten hatte, brach Stumm den „Patriotenkrieg“ vom Zaun.37 38
Ich bin kein persönlicher Feind des Herrn Freiherrn von Stumm, erklärte 1896
Superintendent Zillessen, aber allerdings ein Feind seines Systems, das sich mir je
länger je mehr als ein System der brutalen Gewalt unter völliger Nichtachtung des
unveräußerlichen Rechts jeder anderen Persönlichkeit enthüllt hat.3i Naumann prägte
33 Adolf Fauth, Was ist seitens des Pfarramtes zu thun, um das weitere Umsichgreifen der
Sozialdemokratie in unseren Gemeinden mit Erfolg zu bekämpfen? Referat erstattet in einer
Pfarrkonferenz im Aufträge des sozialen Komitees der Kreissynode Saarbrücken, Neunkirchen
o.J. (1893), S. 16; vgl. als wichtige Lokalstudie Eckehart Lorenz, Protestantische Reaktionen
auf die Entwicklung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Mannheim 1890-1933, in: Archiv
f. Sozialgeschichte 16 (1976), S. 371-416.
34 Freiherr v. Stumm-Halberg und die evangelischen Geistlichen im Saargebiet. Ein Beitrag zur
Zeitgeschichte, hrsg. im Auftrag der Saarbrücker evangelischen Pfarrkonferenz, Göttingen
1896, S. 28.
35 Ebd., S. 37-43; Landrat Saarbrücken an Regierungspräsident v. 28. 2. 1895, LHA Koblenz
Best. 442/Nr. 4371, S. 356-362, bes. S. 358 ff.
36 Vgl. Werner Conze, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der
nationalsozialen Zeit (1895-1903), in: Walter Hubatsch (Hrsg.), Schicksalswege deutscher
Vergangenheit. Festschrift für Siegfried A. Kaehler, Düsseldorf 1950, S. 355-386; Dieter
Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896-1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipoliti-
schen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München-Wien 1972.
3' Vgl.Fritz Hellwig, Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg 1836-1901, Heidel-
berg-Saarbrücken 1936, S. 539-552; Josef Bellot, Hundert Jahre politisches Leben an der
Saar unter preußischer Herrschaft (1815-1918), Bonn 1954, S. 194 ff.
38 Freiherr v. Stumm-Halberg und die evangelischen Geistlichen im Saargebiet, S. 49.
65
den Begriff „Saarabien“, der Paschawirtschaft, Unterwerfung und Rechtlosigkeit
miteinander verknüpfte, das Herrschaftssystem des Reviers in die Nähe des orientali-
schen Despotismus rückte und für die Region vor 1914 sprichwörtlich wurde.
Es läßt sich vermuten, daß dieser Konflikt, der auf der Ebene der Meinungsführer des
öffentlichen Lebens ausgefochten wurde und erstmals zu einer Distanzierung der
regionalen Repräsentanten des Protestantismus von Stumms Omnipotenzanspruch
führte, auch in den evangelischen Unterschichten aufmerksam verfolgt wurde und
bisherige Loyalitäten lockerte. Wilhelm II. trug sein’ Teil dazu bei, als er im Februar
1896 ein Telegramm an Stumm veröffentlichen ließ: Christlich-sozial ist Unsinn, hieß
es da. Die Herren Fastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die
Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen, dieweil sie das gar
nichts angeht.39
Das Eindringen des überkonfessionellen Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter ins
Saarrevier seit 190440 machte den gewerkschaftlichen Gedanken unter den evangeli-
schen Arbeitern erstmals hoffähig und rückte das Problem der insbesondere auf den
Hütten völlig unterdrückten Koalitionsfreiheit in den Mittelpunkt. Gleichzeitig diffe-
renzierten sich die Positionen sowohl innerhalb der Pastorenschaft als auch unter den
protestantischen Arbeitern: Während etwa Philipp Bleek, gerade als Vikar in Mal-
statt-Burbach angestellt, 1907 die „gelben“ Werkvereine verurteilte und Gewerkschaf-
ten empfahl,41 attackierte Pfarrer Nold, der Vorsitzende des Saarverbandes der
Evangelischen Arbeitervereine, die christlichen Gewerkschaften als trojanisches Pferd
des Zentrums und bekannte, daß er die ultramontane Gefahr für schlimmer halte als
die sozialdemokratische,42 Die Evangelischen Arbeitervereine des Reviers, die bis
1914 auf immerhin 7 199 Mitglieder anwuchsen, lehnten 1906 den kollektiven
Beitritt zu den christlichen Gewerkschaften als unevangelischen Zwang ab43 und
kooperierten bis 1918 lebhaft mit den „gelben“ Werkvereinen der Saarhütten.44
39 Zit. bei Fritz Fischer, Der deutsche Protestantismus und die Politik im 19. Jahrhundert, in:
Historische Zeitschrift 171 (1951), S. 509; vgl. Klaus Erich Pollmann, Landesherrliches
Kirchenregiment und Soziale Frage. Der evangelische Oberkirchenrat der altpreußischen
Landeskirche und die sozialpolitische Bewegung der Geistlichen nach 1890, Berlin 1973.
40 Vgl. Michael Schneider , Die Christlichen Gewerkschaften 1894-1933, Bonn 1982, S. 55-74;
Horstwalter Heitzer, Die christliche Bergarbeiterbewegung im Saarrevier von 1904 bis zum
Ersten Weltkrieg, in: Soziale Frage und Kirche im Saarrevier, S. 233-271.
41 Gewerkschaftliche Nachrichten v. 5. 10. 1907, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3790,
S. 107-113.
42 Dto. v. 15. 1. 1906, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3792, S. 183; als Beispiel für das sich
erweiternde Spektrum vgl. Günter Brakeimann, Evangelische Pfarrer im Konfliktfeld des
Ruhrbergarbeiterstreiks von 1905, in: Jürgen Reulecke/Wolfhard Weber (Hrsg.), Fabrik,
Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal
1978. S. 297-314.
43 Resolution abgedruckt bei Peter Kiefer, Die Organisationsbestrebungen der Saarbergleute,
ihre Ursachen und Wirkungen auf dem Bereich des Saarbrücker Bergbaues und ihre Berechti-
gung, Diss. Straßburg 1912, S. 109 f.
44 Jahresbericht über die evangelische Arbeitervereinssache. Erstattet in der Delegiertenversamm-
lung zu Saarbrücken am 4. Juli 1914 von Pfarrer Lic. Rudolf Francke, Kassel 1914, S. 96,
120; zu den „gelben“ Werkvereinen vgl. Karl Alfred Gabel, Kämpfe und Werden der
Hüttenarbeiterorganisationen im Saargebiet, Saarbrücken 1921, S. 162-175; Klaus J. Matt-
heier, Die Gelben. Nationale Arbeiter zwischen Wirtschaftsfrieden und Streik, Düsseldorf
1973.
66
Während sich hier die traditionelle Position fortsetzte,organisierten sich trotz der
anhaltenden konfessionellen Gegnerschaft nicht wenige evangelische Bergleute im
Gewerkverein. Da sie jedoch keinen Moment daran dachten, deswegen auch das
Zentrum als katholische Partei zu wählen, sondern nach wie vor für die Nationallibe-
ralen votierten, gerieten sie bald schon in eine doppelte Zwickmühle: Einerseits war
damit der Dauerkonflikt mit den überwiegend katholischen Gewerkvereinsmitgliedern
vorprogrammiert, für die die Nationalliberalen als Partei des Kulturkampfs zentrale
Gegner blieben, die es zu schlagen galt, um den Kandidaten des Zentrums den Sieg zu
ermöglichen und von ihrer Gewerkschaft trotz deren proklamierter politischer Neu-
tralität wie selbstverständlich erwarteten, daß sie sie darin unterstütze. Andererseits
prallte das frisch erwachte proletarische Selbstbewußtsein der evangelischen Arbeiter
auf den Machtanspruch der gleichfalls dominant nationalliberalen Schwerindustriel-
len: Bei der Reichstagswahl am 25. Januar 1907 hatten sie deren Kandidaten erneut
gegen das Zentrum zum Gewinn der Mandate verholfen, nachdem ihnen die
Respektierung des Koalitionsrechts zugesagt worden war. Doch das Wahlkampfver-
sprechen blieb bloße Absichtserklärung zur Mehrheitsbeschaffung. Als die evangeli-
schen Knappschaftsältesten, Arbeiterausschußmitglieder und Zahlstellenleiter darauf-
hin mit dem Antrag, die Gründer und Protektoren der Gelben im Saarrevier aus der
Nationalliberalen Partei auszuschließen, auf deren Delegiertentag im Oktober 1907
scheiterten, kam es zum Bruch und zur öffentlichen Distanzierung.45
Mit dieser Vertrauenskrise, in der das Klasseninteresse erstmals traditionelle poli-
tisch-konfessionelle Optionen zurücktreten ließ, geriet nicht nur die „saarabische“
Wahlarithmetik ins Wanken; auch für die SPD und den freigewerkschaftlichen
Bergarbeiterverband - beides fast noch Sekten46 - eröffnete sich damit die Chance,
das entstandene Vakuum zu füllen. Neunkirchen und Wiebelskirchen waren auf
Grund ihrer konfessionellen Konstellation für diesen Durchbruch geradezu prädesti-
niert. Seit 1906 warb der spätere Bezirksleiter Ludwig Hetterich - ein aus dem
westpfälzischen Breitenbach stammender evangelischer Bergmann, der wegen des
Besuchs einer SPD-Versammlung entlassen worden war - in beiden Orten eifrig für
den „Alten Verband“. Noch im Oktober bildete sich in Neunkirchen ein freies
Gewerkschaftskartell, am 23. Februar 1907 ein Sozialdemokratischer Verein für den
Wahlkreis.47 Zum größten Teil (sind) es Evangelische, stellte Bartholomäus Koß-
mann, frischgebackener Sekretär der katholischen Arbeitervereine, im Sommer 1908
fest und fügte hinzu: Ein Hauptnest dieser Art (ist) Wiebelskirchen,48
45 Vgl. Klaus Saul, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur Innen- und
Sozialpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903-1914, Düsseldorf 1974, S. 174 f.
46 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, „Dies Gebiet ist bis jetzt noch eine vollständige terra
incognita“. Die verspätete SPD im Saarrevier, in: ders./Paul/Schock/Klimmt, S. 65-70; Karl
Handfest, Zur frühen Geschichte der Gewerkschaften an der Saar, in: Saarheimat 18 (1974),
S. 108-115.
47 Polizei Neunkirchen an Bürgermeister v. 15. 10. 1906 und 25. 2. 1907, LHA Koblenz
Best. 442/Nr. 3760, S. 385-394, 700-704.
48 Gewerkschaftliche Nachrichten v. 22. 7. 1908, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3791, S. 175; zu
den aus Wiebelskirchen stammenden Julius Schwarz und Jakob Frank, den Köpfen des
Bergarbeiterverbandes in den 1920er Jahren, vgl. Klaus-Michael Mallmann, Julius Schwarz,
in: Peter Neumann (Hrsg.), Saarländische Lebensbilder, Bd. 4, Saarbrücken 1989,
S. 191-221; ders./Gerhard Paul, Das zersplitterte Nein. Saarländer gegen Hitler, Bonn
1989, S. 68-73.
67
Eine Fülle von Entwicklungslinien und Strukturmomenten kreuzte sich in diesem
Prozeß: Vor allem scheinen viele evangelische Bergleute nunmehr ihre Existenz als
proletarisches Schicksal angenommen zu haben. Die Hoffnung auf den kleinen
Aufstieg hatte sich nicht realisiert, die vermeintlich größere Nähe zur Macht nicht
ausgezahlt; die Gewinne im sozialen Roulettespiel mit der religiösen Imparität fielen
geringer aus als erwartet. Sie erlebten und definierten sich jetzt primär als Arbeiter,
andere Zugehörigkeiten traten zurück. Diese über Generationen hinweg vollzogene
Akzeptanz ließ sie zwar im katholischen Kollegen nunmehr den Klassengenossen
sehen, es blieben jedoch Vorbehalt und Distanz gegenüber allen Organisationen und
Bestrebungen, die im Verdacht standen, den „Ultramontanismus“ zu fördern. Die
christlichen Gewerkschaften boten den Protestanten zwar eine gewerkschaftliche
Plattform, manchem indes scheinen sie als suspekte, dem katholischen Dunstkreis
entstammende Zwitterorganisation erschienen zu sein. Bergrat Cleff, der Vorsitzende
der Bergwerksdirektion, der 1910 berichtete, daß die sozialdemokratische Bewegung
im evangelischen Wiebelskirchen ihren stärksten Stützpunkt in unserer Belegschaft
hat, stellte fest, daß sich der Bergarbeiterverband sowohl aus Arbeitern rekrutiere, die
durch die schärfer gewordenen Agitationsmethoden des christlichen Gewerkvereins
auf radikalere Töne wohl vorbereitet sind, als auch durch solche, die aus politischen
und kirchlichen Gründen in den vorhandenen Organisationen kein Betätigungsfeld
fänden49 - Protestanten eben, die sich nicht vor den Zentrumskarren spannen lassen
wollten, die den Glaubenskampf leid waren und darum der freigewerkschaftlichen
Bekundung, daß Religion bei ihnen „Privatsache“ sei, vertrauten, falls sie nicht
ohnehin bereits ihrer Kirche den Rücken gekehrt hatten. Überdies lagerten vielfältige
Möglichkeiten der Koexistenz im christlichen Liebesgebot, das - transponiert in die
politische und wirtschaftliche Sphäre - die Einforderung von Gerechtigkeit durchaus
legitimierte. Die Agitatoren des Bergarbeiterverbandes knüpften geschickt daran an,
indem sie immer wieder darauf hinwiesen, daß ihre Gewerkschaft unermüdlich daran
arbeitet, die erste Bitte unseres Vaterunsers , Unser Brot gib uns heute‘ in die Tat
umzusetzen und das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zu verwirkli-
chen.50
Nicht zuletzt scheint auch die innere Struktur des evangelischen Glaubens diesen
Prozeß begünstigt, jedenfalls nicht verhindert zu haben: Im Gegensatz zum Katholizis-
mus als handfester Religion der Reliquien und Rituale war der Protestantismus weit
stärker Gewissenschristentum. Während der katholische Pfarrer mittels des Sakra-
ments der Gnade über das Seelenheil entschied und Opposition zu ihm bedeutete, mit
seinen Schuldgefühlen alleingelassen zu werden, fehlten hier die durch den Priester
personal vermittelten Entlastungsmechanismen, entfielen die pastorale Schlüsselge-
walt und die daraus resultierende „Kardinaltugend“ der „formalen Gehorsamsdemut“,
um mit Max Weber zu sprechen.51 Dem evangelischen Christen war die in der Formel
49 Bergwerksdirektion an Handelsminister v. 24. 10. 1910, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3789,
S. 743.
50 Polizei Neunkirchen an Bürgermeister v. 12. 11. 1906, LHA Koblenz Best. 442/Nr. 3760,
S. 543.
51 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von
Johannes Winckelmann, Bd. 1, Köln-Berlin 1964, S. 437.
68
„Ego te absolvo“ liegende Macht ebenso fremd wie das dem Institut katholischer
„Anstaltsgnade“ entstammende Arsenal kirchlicher Zwangsmittel. Die mit der prote-
stantischen Ethik ausgebildete Eigenverantwortlichkeit, die „Nötigung, die certitudo
salutatis selbst, aus eigener Kraft zu erringen“,52 zielte statt dessen auf ein Gewissen,
„das nicht länger von der Kirche verwaltet wurde, sondern vom einzelnen Menschen
ausgebildet werden mußte“.53 Dieser religiöse Subjektivismus und die fehlende
priesterliche Heilsvermittlung machten den Protestanten unmittelbar zu Gott, sie
öffneten ihn aber auch leichter und schneller für neue Entwicklungen.
Fragt man abschließend erneut nach der Bedeutung von Religion im Kontext der
Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, dann muß auch dem Protestantismus an der Saar
ein hoher Stellenwert zugesprochen werden. Der Glaube als Instrument der Lebens-
deutung und Weltorientierung blieb auch in der evangelischen Bevölkerung -
unabhängig von ihrem differierenden sozialen Status - im 19. Jahrhundert existent
und stabil. Von einer Entwicklung wie etwa in den protestantischen Industriestädten
des Bergischen Landes - Barmen, Elberfeld, Remscheid, Solingen die bereits lange
vor 1900 Hochburgen der SPD wurden, kann an der Saar keine Rede sein. Allerdings
müssen im Vergleich zur virulenten Frömmigkeit der Katholiken deutliche Unterschie-
de konstatiert werden: Es war weniger die aus den Ängsten der Industrialisierung
erwachsende neue Attraktivität des Himmels, weniger ein Verständnis des Glaubens
als Medium des Trostes, der Kompensation und der imaginären Erlösung, die dem
Protestantismus seine revierspezifische Stabilität verliehen. Sie entsprang in starkem
Maß der religiös überhöhten Zugehörigkeit zum preußisch-deutschen Machtkartell,
wobei die gemeinsame Konfession nicht nur als zentrales Bindeglied diente, sondern
auch einen Wertekanon bereitstellte, der den Anforderungen der säkularen Umwäl-
zungen entsprach. Daß sich vor 1900 keinerlei Erosionen und Richtungskonflikte
innerhalb dieser klassenübergreifenden Allianz zeigten, hing nicht nur damit zusam-
men, daß die Protestanten - global gesprochen - auf der Gewinnerseite der
Industrialisierung zuhause waren. Die erstaunliche Stabilität beruhte auch auf inneren
Voraussetzungen, erwuchs aus dem mit der Reformation geborenen neuen Gottes-
und Weltverständnis:54 Der kollektive Tugendhimmel war - im Vergleich zum
Katholizismus - weitaus säkularisierter. Er implizierte nicht nur eine aus dem
Bündnis von Thron und Altar resultierende Obrigkeitsverehrung, er legitimierte auch
eine heilsversprechende Arbeitswütigkeit, machte Beruf zur zentralen identitätsstiften-
den Kategorie, enthielt die Bereitschaft zu Askese und Disziplinierung, leitete eine
Entzauberung der Welt ein, öffnete sich für Aufklärung, Modernisierung und
Fortschritt.55 Dieser spezifisch protestantischen Weltfrömmigkeit entsprach auf
S2Ebd., S. 436.
53 Richard van Dülmen, Reformation und Neuzeit. Ein Versuch, in: Zeitschrift für historische
Forschung 14 (1987), S. 20.
54 Vgl. ebd., S. 16 ff.; Hugh McLeod, Church and Class. Some international Comparisons, in:
Kocka, Arbeiter und Bürger, S. 106-111.
55 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 3. Aufl. Tübingen 1934, S. 1-206;
Richard van Dülmen, Protestantismus und Katholizismus. Max Webers These im Licht der
neueren Sozialgeschichte, in: Christian Gneuss/Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein
Symposion, München 1988, S. 88-101.
69
Grund der beschriebenen Konstellationen gerade im Saarrevier eine besondere Affini-
tät zu den Institutionen staatlicher und wirtschaftlicher Macht, die ein nicht unbe-
trächtliches Maß sozialer Kohärenz erzeugte und jene starke Vernetzung und Milieu-
dichte ersetzte, die dem Katholizismus seit dem Kulturkampf eigentümlich waren. Die
geringere subkulturelle Verankerung rächte sich erst, als nach 1900 die Herrschafts-
praktiken und mit ihnen zunehmend auch die Institutionen der Macht in eine
Legitimitätskrise gerieten. Mit der heraufziehenden „saarabischen“ Götterdämmerung
begann auch hier jener Prozeß der Entkirchlichung, der in anderen industrialisierten
Regionen bereits weit stärker fortgeschritten war.56
56 Vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch: Deutschland 1870-1918, München 1988,
S. 118-123; Jochen-Christoph Kaiser, Sozialdemokratie und „praktische“ Religionskritik.
Das Beispiel der Kirchenaustrittsbewegung 1878-1914, in: Archiv f. Sozialgeschichte 22
(1982), S. 263-298; Richard J. Evans, Religion and Society in Modern Germany, in: ders.,
Rethinking German History. Nineteenth-Century Germany and the Origins of the Third
Reich, London-Boston-Sydney-Wellington 1987, S. 125-155; in vergleichender Perspektive
Hugh McLeod, The Déchristianisation of the Working Class in Western Europe 1850-1900,
in: Social Compass 27 (1980), S. 191-214.
70
Richard van Dülmen
Arbeiterkultur im Saarrevier — Aspekte und Probleme
I.
Die Frage nach der Arbeiter- und Industriekultur an der Saar hat hierzulande einen
fast exotisch-modischen Reiz. Während in der übrigen Bundesrepublik ihre Aufarbei-
tung bereits eine lange Tradition kennt und seit 10-15 Jahren großes Interesse und
breite Förderung findet, blieb bis vor kurzem das Interesse im Saarland gering. Die
Beschäftigung mit der Arbeiterschaft, ihrer Entstehung und Geschichte reicht zwar
weit zurück bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, doch im Vordergrund standen
die Probleme der ökonomischen Lage sowie der Organisation der Arbeiter, weniger
die ihres Alltages, ihrer Lebensweise, kurz ihrer Kultur, die überhaupt spät entdeckt
wurde. Unter Arbeiterkultur verstehen wir heute nicht mehr die Kultur der Arbeiter-
bewegung im Sinne ihrer ideologischen, literarischen und künstlerischen Leistungen,
auch nicht eine sozialistische Kultur - frühere Forschungen hatten die kulturellen
Tätigkeiten von Arbeiterpartei und -Organisation zu rasch zur Kultur der Arbeiter
selbst erklärt sondern die Kultur der Arbeiter, der Arbeiterschaft als sozialer
Gruppe bzw. Klasse im kulturellen Umfeld der entstehenden bürgerlichen Gesell-
schaft, egal, ob sie organisiert war oder nicht, sozialistisch dachte oder nicht. Mit
dieser Ausweitung erfuhr der Begriff der Arbeiterkultur zugleich auch eine inhaltliche
Neubestimmung. Nicht mehr allein intellektuelle und künstlerische Objektivationen
bildeten ihr Zentrum, unter Arbeiterkultur wird nun der ganze Zusammenhang von
Interessenartikulation, aktiver Gestaltung des Alltags verstanden, der über die
Arbeitswelt hinausweisend die spezifische Lebensweise einer neuen sozialen Gruppe
umfaßt. Anthropologische und alltagsgeschichtliche Fragestellungen bestimmen die
Erforschung der Arbeiterschaft. G. A. Ritter bezeichnete Arbeiterkultur als den
„Gesamtzusammenhang einer schichtenspezifischen Lebensweise, die ihren Ausdruck
nicht nur und nicht vor allem in künstlerischen Manifestationen der Arbeiterschaft
und ihren Bildungsbestrebungen, sondern in sozialem und politischem Verhalten, in
Wertvorstellungen und eigenen Institutionen findet.“ Die Arbeiterkultur bildet dabei
keine starre Größe; zwar entwickelt sie sich als ,Teilkultur‘ in der entstehenden
Industriegesellschaft, zeitigte aber trotz aller Abhängigkeit sowohl von der traditionel-
len wie der bürgerlichen Welt ein beachtliches Maß an Eigenständigkeit, vor allem seit
der Jahrhundertwende.
Während mittlerweile dieser neue Begriff Arbeiterkultur überall in der Forschung
eingebürgert ist, findet der jüngere Begriff Industriekultur in der Forschung bisher
wenig Verbreitung, er ist in starkem Maße von Ausstellungsprojekten geprägt. Die
Skepsis gegenüber diesem Begriff liegt wohl einmal begründet in seiner relativen
Unschärfe, was aber bei der Verwendung keinen unbedingten Nachteil bedeuten
muß, zum anderen handelt es sich um einen epochalen Begriff, der nicht nur die
Kultur der Arbeiter umfaßt, sondern die Kultur einer Epoche, die dominant durch die
71
Industrialisierung geprägt ist. Insofern sind die Bezugspunkte von Arbeiter- und
Industriekultur unterschiedlich. Handelt es sich bei der Arbeiterkultur um eine
schichtenspezifische Kultur, die das Denken, Verhalten und Handeln einer Großgrup-
pe betrifft, umschreibt die Industriekultur eine schichtenübergreifende, primär durch
Industrialisierung bedingte Kultur, die sowohl das Fabriksystem wie die Organisation
der Gesellschaft, die Kultur der Bourgeoisie und der Führungsschicht wie die
politische Ordnung umfaßt. Noch aber ist die Diskussion so in Fluß, daß wir hier
nicht abschließend die ,Industriekultur4 definieren können. Nicht primär dieser
Akzent, sondern die Komplexität des Themas zwingt mich zu einer Beschränkung der
Fragestellung auf die saarländische Arbeiterkultur, die ja ein Produkt der Industriali-
sierung des Saarraumes war.
Über den Industrialisierungsprozeß an der Saar ist bisher beachtlich viel geforscht
worden, wobei insbesondere an die Forschung der 20er Jahre erinnert werden muß.
Sie war in mancher Hinsicht methodisch vorbildlich, und ihr intellektueller Stand
wurde lange nicht mehr erreicht. Zwar wurde allgemein die Untersuchung der
Arbeiterschaft selbst damals nicht ausgeklammert, aber nach 1945 sank das Interesse
gleichsam auf den Nullpunkt und blieb dort selbst über die 70er Jahre hinaus, als
schon längst die neue Sozialgeschichte sich intensiv der Erforschung der Arbeiterbe-
wegung zuwandte. Dies betrifft sowohl die Erforschung einzelner Betriebe und
Industrieregionen im allgemeinen wie auch die Erarbeitung der organisierten Arbeiter-
bewegung, vor allem aber die Arbeiterkultur im besonderen, obwohl lange bekannt
war, daß der saarländische Fall eine Besonderheit darstellt. So kam es, daß in der
allgemeinen Diskussion über die Formierung der Arbeiterklasse, die Entwicklung
einer sozialistischen Kultur und die Rolle der Arbeiterschaft in der bürgerlichen
Öffentlichkeit saarländischer Erfahrungen und Besonderheiten nicht berücksichtigt
wurden; dies ist umso bedauerlicher, da keine geschlossene regionale Gesellschaft so
stark von der Industrialisierung und der Arbeiterkultur wie die saarländische Bevölke-
rung geprägt wurde. Das Fehlen von Studien hat allerdings nicht nur einen Grund im
schwachen bzw. mangelnden Interesse, sondern auch in der komplexen Quellensitua-
tion, die nicht gerade zur Aufarbeitung einlädt, vor allem wegen der Schwierigkeit,
narrative Quellen zum Arbeiterleben, insbesondere Äußerungen von Arbeitern selbst,
ausfindig zu machen. Amtliche Quellen eignen sich nur bedingt zur Erschließung der
Welt der Arbeiter. Einen ersten Vorstoß unternahm 1977 Peter Blickle mit seiner
Studie über die „Lage der Dudweiler Arbeiter im 19. Jahrhundert“; dann folgte 1981
Klaus-Michael Mallmann mit seiner Arbeit über die „Anfänge der Bergarbeiterbewe-
gung an der Saar (1848-1914)“ sowie Hans Horch mit seinem „Wandel der Gesell-
schafts- und Herrschaftsstrukturen in der Saarregion während der Industrialisierung
(1740-1914)“ und schließlich 1987 Horst Steffens mit seiner Untersuchung über
„Autorität und Revolte. Alltagsleben und Streikverhalten der Bergarbeiter an der Saar
im 19. Jahrhundert“. Wenngleich Mallmanns Arbeit das grundlegende Buch zur
Arbeiterbewegung an der Saar wurde, wird die Arbeiterkultur im Saarrevier eigens
nur in der Dissertation von Steffens thematisiert, und zwar in dem zentralen
Abschnitt: „Arbeiterkultur: Zwischen obrigkeitlicher Bevormundung und kultureller
Identität“. Während Horch den Arbeiter mehr oder weniger schlicht zur Marionette
des Kapitals erklärt, ohne Eigenständigkeit und Kultur, der mehr reagiert als agiert,
72
und Mallmann die Formierung der Arbeiterschaft im Spannungsfeld von preußischer
Herrschaftsordnung und autoritärer Revolte ansiedelt, wobei sie ihre relative Eigen-
ständigkeit vor allem der kirchlichen Unterstützung verdankte, deckt Steffens bereits
von den Anfängen der Formierung einer Arbeiterschaft an eine starke Spur selbstän-
digen Handelns auf, das sich im Streik erstmals einen großen autonomen Freiraum
schuf, der, trotz der Niederlage, bedeutsame Wirkungen zeitigte. So plausibel beide
Positionen von ihren konträren Ansätzen her sind - Horch argumentiert aus einem
modifizierten, aber orthodoxen Marx-Verständnis, wohingegen sich Steffens dem
liberalen Marxisten Thompson verpflichtet weiß -, so verkennt Horch die Bedeutung
einer eigenständigen Organisierung der Interessen der Arbeiter selbst im Kapitalismus,
die empirisch nachweisbar ist, während Steffens die Freiräume der Arbeiter m. E. zu
hoch einschätzt, wobei ,eigensinniges4 Verhalten allzuschnell zu Formen sozialen
Protestes wird. Aber immerhin thematisiert Steffens nicht nur das Phänomen der
Arbeiterkultur, sondern weist unter Rezeption moderner Problemstellungen auf eine
Dimension, die für die Erarbeitung der Arbeiter- und Industriegeschichte von grund-
legender Bedeutung blieb, nämlich den Formierungsprozeß aus der Sicht der Arbeiter
selbst. Hier knüpft auch K.-M. Mallmanns letzte größere wegweisende Studie über
„Bergarbeiter, Religion und sozialer Protest im Saarrevier des 19. Jahrhunderts“ von
1986 an, in der er ein Problem angeht, das zentral für das Verstehen der Mentalität
der Arbeiterschaft im Saarrevier war, aber lange ausgeblendet wurde. Gemeint ist ihr
Verhältnis zur Religion, die Frömmigkeit und Kirchlichkeit der Arbeiter, die für den
einen Forscher lediglich Zeichen und Grund ihrer konservativen Gesinnung ist, für
den anderen aber das Medium darstellt, durch das der einzelne Arbeiter überhaupt
eine eigenständige ,Kultur1 entwickeln konnte. Mit den Arbeiten von Steffens und
Mallmann wurde damit nicht nur der Anschluß an die allgemeine bundesrepublikani-
sche sozialhistorische Diskussion wieder erreicht, sondern an diesen Ansätzen hat
jeder sich zu orientieren, der die Industriearbeiterschaft und ihre Kultur an der Saar
aufzuhellen bemüht ist.
Wenn ich im folgenden das Problem der Arbeiter- und Industriekultur an der Saar
aufgreife, so kann ich hier nur eine Problemskizze geben, die auf einige wichtige
Merkmale hinweist, wobei ich auch weniger neue Fakten bringen als einige ,neue‘
Perspektiven zur Diskussion stellen möchte. Da die Industriekultur, das muß ich
zunächst einschränkend bemerken, empirisch wie methodisch noch zu wenig aufgear-
beitet ist, werde ich das Phänomen der Arbeiterkultur ganz in den Vordergrund
stellen; da außerdem die Hüttenarbeiter im Saarland überhaupt noch keine Untersu-
chung erfahren haben, beschränke ich mich zudem nur auf die Bergarbeiter, die auch
stets mit gutem Grund im Zentrum der Forschung standen, denn sie prägten das Land
dominant. Schließlich, da die Sichtung des Quellenmaterials, das über das Leben der
Arbeiter selbst berichtet und aus dem wir allein erfahren, welche Alltagsprobleme sie
hatten, noch am Anfang steht, kann auch das Alltagsleben der Arbeiter bisher noch
kaum ausreichend beschrieben werden. Höchst aufschlußreich sind die bisher aufge-
tauchten Autobiographien. Die Lebenserinnerungen des Holzer Bergmanns Johann
Meiser, die einen einmaligen Einblick in die Lebenswelt eines frommen Bergmanns
bieten, sollten dringend veröffentlicht werden. Ausführlicher informiert sind wir über
den großen Bergarbeiterstreik und den Rechtsschutzverein, die allerdings auch für die
73
Erfahrungswelt der saarländischen Bergarbeiter von fundamentaler Bedeutung waren.
Insofern sind unserer Fragestellung klare Grenzen gesetzt.
II.
Will man den spezifischen Charakter der saarländischen Arbeiterbewegung, sowohl
die Mentalität und die Kultur der Arbeiter näher beschreiben und analysieren, so muß
man fünf Bedingungen und Entwicklungen bedenken, die das Leben und Denken der
Arbeiter maßgeblich bestimmten. Sie stehen mehr oder weniger konträr zur gängigen
Vorstellung eines Industrieproletariats.
1. Das Leben des Bergmanns, seine Kultur und Lebensweise waren zunächst und vor
allem geprägt durch seine Arbeit unter Tage, die den größten Teil seines Tages
beanspruchte, die Arbeitszeit im Dunkeln umfaßte bis zu 10-12 Stunden. Vielerlei
kennzeichnete diese Arbeit: einmal gab es im 19. Jahrhundert kaum eine Tätigkeit,
die als so gefährlich eingeschätzt wurde, wie der Bergbau. Trotz aller technischen
Vorkehrungen konnte die ständig drohende Gefahr nicht gebannt werden. Grubenun-
glücke gehörten zur alltäglichen Lebenserfahrung, worauf die Arbeiter zumeist
weniger mit Ängstlichkeit - das verbot das Standesethos - als mit einer gewissen
Apathie reagierten. Dann handelte es sich bei der Bergarbeit um ein schweres
Handwerk, zu dem nur wenig Werkzeuge nötig waren. Technische Erleichterungen
kamen erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf, bis dahin unterschied sich der
moderne Bergbau in der Zeit der Hochindustrialisierung nicht wesentlich von dem der
frühen Neuzeit. Für seine Erfahrungswelt entscheidend war, daß der Bergmann nicht
als einzelner seine Arbeit zugewiesen bekam und auch nicht in einer anonymen
Gruppe arbeitete, sondern in 8-10 Personen umfassenden Kameradschaften, die
zusammengesetzt waren aus Familienmitgliedern, aus miteinander Verwandten und
benachbarten Bergleuten. Nicht selten wurden die Kinder in den Beruf durch den
Vater eingeführt. Das minderte ein Konkurrenzverhalten, obwohl nach Akkord
gearbeitet wurde, stärkte im Gegenteil die Arbeitersolidarität, die für den politischen
Sozialisationsprozeß der Arbeiter im Saarrevier entscheidend wurde. Die ,Schutz-,
Lern-, Erfahrungs- und Leistungsgemeinschaft1 gewährte den Arbeitern eine gewisse
Autonomie gegenüber den Ansprüchen der Bergwerksverwaltung, die erst aufgebro-
chen wurde, als die Schießmeister ausgesondert wurden und der Strebbau eingeführt
wurde. Schließlich arbeiteten die Bergleute nicht nach einem individuellen Stunden-
lohn, sondern nach einer Art Gruppenakkord, dem Gedinge, das die Kameradschaft
vor der Schicht ausgehandelt hatte, wofür es allerdings bestimmte Normen gab. Es
forderte zwar den einzelnen zu einer bestimmten Arbeit auf, der Gewinn aber kam
allen Mitgliedern der Gruppe zugute. Durch diese Form der Zusammenarbeit waren
einmal der Verfleißigung durch den Druck der Bergwerksverwaltung enge Grenzen
gesetzt, der Arbeiter wurde nicht durch Dienstvorschriften erzogen, sondern durch die
Arbeit seiner Kollegen. Zum anderen erfuhr der einzelne Bergmann durch dieses
System einen Schutz vor individueller Ausbeutung. Sosehr allerdings durch das
Gedinge der autonome Handlungsspielraum vor Ort gestärkt wurde, minderte diese
Gruppensolidarität, die auf persönlichen Kontakten gründete, doch andererseits die
Aktionsmöglichkeiten der Bergleute über ihre Grube hinaus.
74
2. Der saarländische Arbeiter blieb bis ins frühe 20. Jahrhundert in einem beachtli-
chen Maße der agrarischen Welt, aus der er stammte, verhaftet. Zwar bildete den
Prototyp des saarländischen Bergmanns nicht der Arbeiterbauer, die saarländische
Arbeiterschaft war viel zu heterogen, als daß ein Typus vorherrschend blieb, sosehr
jeder Arbeiter allerdings Grund und Boden anstrebte. Zwei verschiedene Entwicklun-
gen überschnitten sich. Im Maße der Ausweitung des Bergbaus und der Industrialisie-
rung der Saarregion wurde die Arbeiterschaft zum einen nicht von fremden bzw.
auswärtigen Kräften ergänzt; sukzessive rekrutierte sie sich aus dem ländlichen
Umfeld, später vor allem aus dem Norden, das ein reines Agrarland war mit starkem
Nebenerwerbszwang. Zum anderen vollzog sich die Formierung einer relativ einheit-
lichen Lohnarbeiterschaft in drei Phasen. Betrieb man den Bergbau anfangs von der
alten Wohnstätte her, ohne sich zu scheuen, alltäglich lange Wegstrecken auf sich zu
nehmen, so ging später eine steigende Schicht dazu über, während der Woche sich an
der Arbeitsstelle eine Untermiete zu suchen oder sich im Schlafhaus einzuquartieren
und nur das Wochenende daheim zu verbringen; die letzte Phase ist dadurch geprägt,
daß die Arbeiterfamilie in die neu gegründeten Kolonien umzog bzw. in Bergwerksor-
ten ein Haus baute. Zwar löste sich dadurch die traditionell agrarische Bindung -
allerdings mit unterschiedlicher Intensität -, aber stets lebte der Bergmann mit seiner
Familie nicht nur von seinem Lohn; für den alltäglichen Lebensunterhalt ebenso
wichtig war der kleine landwirtschaftliche Betrieb mit der Haltung von Kleinvieh und
einem Garten, für den zumeist die Ehefrau verantwortlich war. Die Grenzen zwischen
einer landwirtschaftlichen Tätigkeit mit bergmännischem ‘Nebenerwerb4 und einer
bergmännischen Tätigkeit mit agrarischer Nebentätigkeit waren fließend. Deswegen
war der Bergmann nicht völlig auf den Bergmannslohn angewiesen sowie auf Gedeih
und Verderb der Politik der Bergwerksdirektion unterworfen. Auch er erlebte den
Übergang zur ausschließlich industriellen Arbeit nicht als sozialen Bruch in seinem
Leben, wie die Arbeiter z. B. in anderen deutschen Regionen. Er war und blieb lange
den verschiedenen Welten verbunden. Wie stark in diesem relativ gleitenden Über-
gang auch die Einbindung in die traditionelle agrarische Kultur und Werkwelt
erhalten blieb, ist nicht genau abzuschätzen. Was jedenfalls die alltäglichen Gewohn-
heiten des Arbeiters betraf, so unterschied sich sein Verhalten letztlich nicht wesent-
lich von dem der bäuerlichen bzw. dörflichen Bevölkerung; hier liegt sicherlich ein
Grund, warum die Arbeiterschaft im Saarland im großen und ganzen in herkömmli-
chen Werten dachte, vor allem resistent war gegenüber neuen politischen und sozialen
Ideen. In den noch lange den bäuerlich-dörflichen Charakter bewahrenden Industrie-
dörfern des Saarreviers konnte sich keine spezifisch industrie-proletarische Lebenskul-
tur entfalten. Die bodenständige, mehr oder weniger sozialkonservative Lebenseinstel-
lung der saarländischen Bergleute erfuhr eine Stärkung durch die Sozialpolitik der
preußischen Bergwerksverwaltung. 3
3. Obwohl die preußische Bergwerksverwaltung als staatliche Institution von kapita-
listischen Ausbeutungsinteressen geleitet war, betrieb sie doch eine beachtliche
Wohlfahrtspolitik, die bei aller Sicherung ihrer Herrschaftsinteressen zugleich auch
den materiellen und sozialen Bedürfnissen der Bergleute entgegenkam. Ohne Zweifel
bedeutete Sozialpolitik der Wirtschaftsunternehmen im 19. Jahrhundert niemals Stär-
kung sozialpolitischer Arbeiterinteressen, geschweige Förderung einer Emanzipation
75
von ökonomisch-herrschaftlicher Bevormundung. Im Gegenteil. Andererseits gab es
aber auch von seiten der Arbeiter keine Probleme, die sozialen Angebote anzunehmen.
Mit der Unterstützung der Knappschaftskasse und des Schulwesens sowie der
Organisierung großer Feste, vor allem der Förderung des Wohnungsbauwesens durch
das Prämienhaus verfolgte die Bergwerksdirektion bei aller paternalistischer Verbrä-
mung klare Unternehmerinteressen. Einmal wollte sie eine qualifizierte Arbeiterschaft
heranziehen, die den konstanten Ausbau und die Ausweitung des Bergbaus sächerstell-
te. Besonderes Engagement wurde besonders belohnt. Zweites Ziel war die Verhinde-
rung einer Proletarisierung der Arbeiterschaft, die - ein Schreckgespenst aller
Unternehmer - leicht anfällig machte für arbeitgeberfeindliche sozialistische Ideen.
Schließlich sah sich die preußische Bergwerksdirektion als Teil des preußischen
Obrigkeitsstaates mit seinem Anspruch auf fleißige und treue Untertanen, die das
allerdings nur sein konnten, wenn ihre materiellen Interessen so befriedigt wurden,
daß sie die Möglichkeit hatten, sich als preußische Bergleute und Bürger zu bekennen.
Obwohl die sozialen Maßnahmen nicht zu hoch veranschlagt werden dürfen — ein
dürftiger Lebensunterhalt konnte selten überschritten werden -, bewirkten die
preußischen Angebote doch eine starke Anpassung an die obrigkeitliche Ordnungs-
welt, die die Arbeiter bei aller Kritik, der sie im Streik Ausdruck gaben, niemals
grundsätzlich in Zweifel zogen. Eine durchgängige Proletarisierung wurde verhindert,
allerdings letztlich nur außerhalb der engen industrialisierten Zonen, und die Voraus-
setzungen für gewerkschaftliche, vor allem parteipolitische Aktivitäten im Sinne der
Sozialdemokratie beispielsweise wurden abgeblockt. Gerade die agrarisch-dörfliche
Einbindung wurde unterstützt. Der Bergmann war stolz auf sein Haus, auf die
Sozialleistungen seines preußischen Staates, nicht zuletzt fehlte kaum ein Bergmann
auf den Bergfesten, in die die Bergwerksverwaltung viel investierte. Staatstreue und
obrigkeitliches Denken ergaben sich von selbst, vor allem, wenn sie auch durch den
kirchlichen Glauben gestärkt wurden. 4
4. Die Lebenswelt des saarländischen Arbeiters war entgegen der allgemeinen Annah-
me, daß der Industrialisierung eine Säkularisierung der Gesellschaft folgte, maßgeb-
lich und bestimmend vom christlichen Glauben geprägt. Vor allem war es die
katholische Kirche, die unter den Bedingungen einer agrarisch-dörflichen Umwelt und
patriarchalischen Politik sowohl der preußischen Bergwerksdirektion wie der Großun-
ternehmer eine so große mentale Macht gewann, daß ohne ihre Zustimmung kaum
etwas unternommen werden konnte. Sie war eine Institution, die in besonderer Weise
den religiösen Bedürfnissen entgegenkam und den einzelnen Menschen in dieser
intensiven Umbruchphase einen Sinn vermittelte, der in die Erfahrungswelt der
Arbeiter paßte. Mit einem aktiven Gemeindeleben, mit intensiver Seelsorge und der
Gründung einer Bruderschaft speziell für Bergarbeiter, die sowohl religiös wie
gesellige Aufgaben erfüllen wollte, half die Kirche in beträchtlichem Maße den
Menschen, sich dem Industrialisierungsprozeß, der ja an sich ganz andere Lebensbe-
dingungen schuf als die alte Agrarwirtschaft, mental anzupassen, ohne durch ihn
zerrieben zu werden. Vor allem milderte sie mental und sozial den Bruch beim
Übergang von der agrarischen Lebenswelt zur industriellen Arbeit, sie stärkte die
Abwehrkräfte gegen eine Ausbeutung und kulturelle Unterdrückung von seiten der
preußisch-protestantischen Bergwerksdirektion und ihren Beamten, bzw. schuf wich-
76
tige Kompensationsmöglichkeiten zur Bewältigung des arbeitsamen Alltags. Schließ-
lich vermittelte die Kirche der Bergarbeiterschaft ein neues ständisches Gruppenbe-
wußtsein - sie anerkannte die Arbeiterschaft als Stand neben den Bauern und
Handwerkern -, das sich zwar nicht politisch artikulierte, aber ein starkes soziokul-
turelles Selbstwertgefühl schuf, das zwar auch der Staat förderte, aber mit seinen
antikatholischen Kampagnen in der Kulturkampfzeit wieder in Frage gestellt hatte. So
war es kein Wunder, daß der erste große Bergarbeiterstreik und die Gründung des
Rechtsschutzvereins im kirchlich abgeschützten Raum stattfanden. So sehr gerade die
Kirche den Aktionsraum schuf, in dem die ersten autonomen Arbeiterinteressen sich
artikulieren konnten, stärkte die lebendige Frömmigkeit und das starke Bekenntnis
zur katholischen Kirche zugleich traditionelle Verhaltensstrukturen, die eine Emanzi-
pationsmöglichkeit wieder abblockte. Insofern verzögerte die Kirche trotz aller
Abwehr von traditionalen Hemmnissen gegen den Industrialisierungsprozeß und der
Hilfeleistung bei der Anpassung an die moderne Welt die Entwicklung einer autono-
men Arbeiterkultur und -bewegung.
5. Dieser Prozeß der Integration der Arbeiterschaft in die Industriegesellschaft unter
Bewahrung einer bodenständigen, an dörflichen Werten orientierten, konservativen,
obrigkeitlich strukturierten Mentalität wurde schließlich mitermöglicht durch eine
relative Stabilität der Familienstrukturen. Neben der Kirche war die Familie der
zentrale Orientierungspunkt. Sie war entgegen der Behauptung von Horch kein Ort
emotionaler Intimität, der auf der strikten Trennung von Hausarbeit der Frau und
Erwerbsarbeit des Mannes gegründet war. Entsprechend der Herkunft der Bergarbei-
terfamilie kam sie eher einem traditionellen Familientyp nahe, der sich nicht wesent-
lich von der bäuerlichen Familie unterschied. Während der Mann zusehends aus einer
Nebenerwerbstätigkeit in eine neue Berufswelt überwechselt, ohne allerdings die
landwirtschaftlichen Tätigkeiten ganz aufzugeben - und dies nicht als Freizeitbe-
schäftigung, sondern als Beitrag zur Hauswirtschaft war die Frau nur in geringem
Maße außerhäuslich erwerbstätig, dafür unterstanden ihr die Haushaltsführung, die
Gartenarbeit, Kleinviehhaltung sowie die Kinderaufzucht. Aufgrund der langen
außerhäuslichen Arbeit der Männer spielte die Frau nicht nur die dominante Rolle im
Haushalt, sondern trug einen beträchtlichen Teil zur Haushaltsökonomie bei.
Auch wohnten die Kinder bis zu ihrer Verheiratung zumeist im elterlichen Hause, was
das Haushaltsbudget erhöhte. Neben der ökonomischen Seite ist die emotionale nicht
zu vergessen. Die meisten Saarländer waren verheiratet bzw. strebten eine Heirat an
und bekamen gerade dabei Unterstützung durch die Wohnungsbaupolitik der preußi-
schen Bergwerksdirektion. Sie hatten relativ viele Kinder, die, soweit es ging, den
Beruf des Vaters übernahmen, eine gewisse Zeit sogar mit ihm unter Tage zusammen-
arbeiteten. Tauffeiern, Erstkommunion bzw. Konfirmation sowie die Hochzeit spiel-
ten wie in der bäuerlichen und bürgerlichen Welt eine große Rolle, sie waren nicht nur
Zeichen der gesellschaftlichen Anerkennung im Dorf, dessen Wertewelt man sich
anpaßte, sondern ebenso Ausdruck eines starken Familienbewußtseins. Wenn man
zugleich bedenkt, daß man zwar hier und da nach der Geburt eines Kindes heiratete,
das Problem der Unehelichkeit aber so gut wie unbekannt war, d. h. die Zahl der
unehelichen Kinder im Vergleich zu anderen Industrieregionen erstaunlich gering war,
dann ist dies ein starkes Indiz dafür, wie fest die Familie in der Lebenswelt der
77
Arbeiter verankert war. Dies war sicherlich nicht nur Folge der Moralkampagnen der
Kirche, sondern einer fast ständisch geprägten, an traditioneller sozialer Ehre
orientierten Familienauffassung, die zusätzliche Stabilitäten in einem Leben zwischen
agrarischer Welt und industrieller Arbeit schuf.
III.
1. Wenn wir nach den sozialen Verhältnissen, der Lebensweise und der Kultur der
saarländischen Arbeiterschaft fragen, so müssen wir diese Lebenskontexte beachten:
das Leben der meisten Arbeiter vollzog sich in weitgehend autonomen Arbeitsgrup-
pen, in ländlich-dörflicher Umwelt, in patriarchalischen Flerrschaftsverhältnissen, in
einer christlichen Ordnungswelt und in stabilen Familienzusammenhängen; soweit vor
dem großen Streik überhaupt von einer geschlossenen Arbeiterschaft gesprochen
werden kann - denn ein spezifisches Klassenbewußtsein konnte sich kaum entfalten,
da am Arbeitsplatz unter Tage nur miteinander bekannte bzw. verwandte Arbeiter
zusammentrafen und die Arbeiter zu weit auseinander wohnten, als daß ein alltägli-
cher Erfahrungsaustausch über Arbeits- und Lohnprobleme möglich war und jede Art
von Interessenvertretung untersagt wurde -, lebte sie jedenfalls vereinzelt in einer
mehr oder weniger geschlossenen, stark traditionalistisch geprägten Welt, in der eine
letztlich herkömmlich-christliche Denkweise vorherrschte. Von kleinbürgerlichen und
konservativen Denkstrukturen zu sprechen, verbietet der Kontext, in dem die meisten
Arbeiter lebten. In der patriarchalischen Einbindung und der kirchlichen Bevormun-
dung sahen sie lange keine Probleme. Die Lebensverhältnisse waren zwar an sich
dürftig, aber wenn man die Löhne des Bergmanns sowie seiner älteren Söhne
zusammen mit den Zuerwerb sieht, den seine Frau bzw. er in seiner ,Freizeit*
aufbrachte, dann erreichte die Familie ein Einkommen, mit dem sie in der Gesellschaft
soziale Anerkennung finden konnte. Dank seines Fleißes, seiner Sparsamkeit und
geschickten Ausnutzung der Ressourcen und Auswertung nebenberuflicher Fertigkei-
ten konnte er ein ansehnliches Lebensziel erreichen, was allerdings nicht alle erreich-
ten. Sein Lebensstil unterschied sich dann nicht wesentlich von dem anderer kleinstäd-
tisch- dörflicher Gruppen, mit deren Stellung er konkurrierte und sich auch stets
verglich. Wenn immer hervorgehoben wurde und wird, daß der Arbeiter hilflos
ausbeuterischen Interessen einer patriarchalischen Unternehmerschaft und einer kleri-
kalen Bevormundung durch die Amtskirchen unterworfen war, so stimmt dies ohne
Zweifel objektiv, aber subjektiv hatte er andere Probleme und dementsprechend auch
weniger Schwierigkeiten, mit den Gegebenheiten umzugehen, als die analysierende
Forschung wahrhaben will, die stets auf der Spur nach dem eigensinnigen, um seine
Autonomie kämpfenden Arbeiter ist. Galt es doch vor allem erst einmal, das
materielle Leben zu sichern und dann als Arbeiter soziale Anerkennungund Ansehen
zu finden, wobei er über die Wahl der Mittel nicht zu entscheiden hatte. Wenn ihm
der patriarchalische Unternehmer und die Amtskirchen dazu verhalfen, war er
durchaus zufrieden. Daß dabei kein klassenbewußter Arbeiter entstand, der um seine
sozialpolitische Mündigkeit bzw. Emanzipation kämpfte, kann ihm nicht zum Vor-
wurf gemacht werden. In einer Notstandswirtschaft erscheinen Emanzipationskämpfe
irreal. Der Wunsch der Arbeiter war es erst einmal, ebenso wie andere ein ehrenvolles
Leben zu führen mit wirtschaftlicher Auskömmlichkeit, gesichertem Arbeitsplatz,
78
sozialer Anerkennung im Dorf bzw. in der Kleinstadt und einer eigenen Familie mit
eigenem Haus und kleinem landwirtschaftlichem Betrieb. Zeit für andere Aufgaben
und Tätigkeiten gab es kaum. In der Grundstruktur ist diese Mentalität den Arbeitern
bis in den 1. Weltkrieg hinein zu eigen geblieben: eine eigene proletarische Kultur mit
gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen und politischen Ansprüchen konnte sich
unter diesen Umständen kaum entwickeln.
2. Trotz dieser Grundstruktur setzte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein
deutlich registrierbarer Wandel in der mentalen Einstellung, der Lebenserfahrung und
im politischen Bewußtsein der Arbeiter ein, der zwar nicht spektakulär, aber von
besonderer sozialer Relevanz war. Einen bedeutsamen Anstoß gab sicherlich der
Kulturkampf, der erstmals eine Kluft zwischen preußischem Herrschaftsanspruch und
katholischer Selbstbehauptung schuf, dann aber fand er seinen spezifischen Ausdruck
in dem Streik und der Gründung des Rechtsschutzvereins, die die Interessen aller
Arbeiter aufs stärkste tangierten.
Mit der konstanten Industrialisierung und dem Ausbau des Bergbaus hatte die
Arbeiterschaft in den 80er Jahren einen beträchtlichen sozialen Aufstieg erfahren. Mit
Unterstützung der Bergwerksverwaltung und der Kirchen hatte sie sich als neue
soziale Großgruppe mit eigenen Interessen eindeutig etabliert. Sie ließ sich zwar
weitgehend kritiklos bevormunden, solange damit Vorteile verbunden waren, doch
gab es keine Alternative zum Überleben. Eigene emanzipatorische Ansprüche waren
utopisch. Die Arbeiter partizipierten an den sozialen und kulturellen Angeboten des
Staates und der Kirche, sie reagierten im Sinne ihrer Interessen mehr oder weniger
passiv auf die preußisch-staatliche sowie kirchlich-katholische Hegemonie, ohne sie
aber als fremd zu erfahren. Im Gegenteil, sie bekannten sich zum preußischen Staat
und zur Kirche, ihr Patriotismus und Katholizismus waren keine Trugbilder. Eigene
Aktivitäten über die unmittelbare Lebenserhaltung hinaus aber kamen ihnen kaum in
den Sinn. Die stärksten Eigeninitiativen entfalteten sich deswegen im häuslichen
Bereich.
Mit und nach dem Streik aber, wenngleich er scheiterte, änderte sich erstmals die
Grundeinstellung zur Arbeitswelt und Öffentlichkeit: Einerseits setzte eine gewisse
Ernüchterung gegenüber der patriarchalischen Unternehmerschaft ein; ohne dabei
allerdings das ökonomische System selbst in Frage zu stellen, begann man, die
negativen Seiten dieses Herrschaftssystem zu durchschauen, rebellierte aber nicht
dagegen. Die Niederlage im Streik blieb lange allzu bewußt. Ebenso lockerte sich die
Bevormundung durch die Kleriker, ohne daß sich die Arbeiter deshalb von der Kirche
abwandten; sie wurden mündiger und distanzierten sich von den moralischen Normen
der Kirche. Andererseits erkannten die Arbeiter den Vorteil eigener Organisationen,
die Notwendigkeit, sich zur Durchsetzung von Interessen zusammenzuschließen. Dies
galt für den Arbeitsbereich wie für die Welt der ,Freizeit4, vor allem für die Kirche.
Man begann, die individuelle Lebensgestaltung selbst in die Hand zu nehmen. Sollte
man annehmen, daß nach dem Scheitern des Streiks eine Voraussetzung für radikale
Bewegungen geschaffen wurden, so zeigte sich davon keine Spur, es trat das Gegenteil
ein: Die Arbeiter arrangierten sich wieder mit der Bergwerksverwaltung, dafür
begannen sie allerdings, zugleich außerhalb von Haus und Betrieb eigene Interessen zu
79
artikulieren. So wenig diese Aktivitäten unmittelbare Arbeiterinteressen berührten,
muß das neue Engagement sozialgeschichtlich hoch eingeschätzt werden. Erstmals
begannen Arbeiter, den zahlreich entstehenden Vereinen beizutreten bzw. sogar
eigene zu gründen, die nicht mehr der Obhut der Kirche oder der Obrigkeit und deren
moralischen Ansprüchen unterstanden. Es überwogen die Konsum- und geselligen
Vereine.
Insgesamt heißt dies, daß nach der Streikerfahrung zwar keine eigentliche Politisie-
rung mit emanzipatorischem Anspruch einsetzte, aber der Arbeiter mit einem hohen
Einsatz eigene, neue Lebensbereiche und Freiräume neben der Arbeit und der Familie
entdeckte, die für seine politische Sozialisation langfristig wichtig wurden. Dabei darf
man freilich die einzelnen Leistungen nicht überbewerten, aber die Tatsache, daß
Arbeiter sich selbst zu organisieren begannen wie zuvor das Bürgertum, kann nicht
hoch genug eingeschätzt werden. Es war ein bedeutsamer Schritt, sein Leben selbst in
die Hand zu nehmen. Ohne diese Interessenartikulation wäre die rasche politische
Emanzipation nach dem Krieg nicht möglich gewesen.
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83
Franz J. Ronig
Der Kirchenbau im Saarland in der Zeit von 1870 bis 1918
(Nachschriftliches Resümee)
Zweifellos sind die Jahrzehnte von 1870 bis ca. 1918 in vielfacher Hinsicht - so auch
im Blick auf den Kirchenbau - interessant. Wir finden hier eine sehr hohe Zahl von
Neubauten, verglichen mit den Bauten in den Jahrzehnten vorher oder gar in den
Jahren des ersten Weltkrieges und der Zeit danach. Eine im Vorfeld dieses Vortrages
erstellte Statistik der im jeweiligen Jahr begonnenen Bauten (die selbstverständlich
noch keinen Anspruch auf Endgültigkeit haben kann) zeigt ein langsames Anwachsen
der Zahlen von 1870 bis 1887, dann ein steiles Emporschnellen 1888 (90). Von 1890
bis 1912 bleiben die Zahlen hoch (mit einigen tiefen Tälern; das Mittel müßte
angegeben werden!), um dann ab 1913 wieder abzufallen. Während 1914 noch
3 Kirchen begonnen werden, ist man 1915 bis 1920 auf dem Nullpunkt. Nur 1916
wurde eine neue Kirche in Angriff genommen. Der Unterschied in den Konfessionen
schlägt sich in der Statistik deutlich nieder: der weitaus größte Teil aller Umbauten
dient dem katholischen Kult.
Die Ursache dieses Aufsteigens der Kirchbauzahlen liegt im Anwachsen der Bevölke-
rung, was wieder seine Ursache in der industriellen Entwicklung hat. Hier sei auf die
einschlägigen Untersuchungen und auch die anderen Vorträge der Tagung hingewie-
sen.1
An einem ländlichen Beispiel, das durch andere städtischere noch weit übertroffen
wird, kann diese Entwicklung dargestellt werden: die Gemeinde Eppelborn wies 1828
1 482 Seelen auf, 1856: 2 147, 1882: 2 826 - was eine Verdoppelung bedeutet.2
Andere Orte entstanden quasi aus dem Nichts.
Über die Finanzierung der Kirchenbauten liegen noch nicht genügend Einzeluntersu-
chungen vor, so daß eine abschließende Beurteilung derzeit nicht möglich ist. Man
wird die vielen Pfarrarchive durcharbeiten (Rechnungen, Beschlüsse, Genehmigungen
etc.) und außerdem die lokalen Festschriften konsultieren müssen, die bibliographisch
nur schwer zu ermitteln sind, da sie fast ausnahmslos zur sogenannten „Grauen
Literatur“ gehören. Eine Erforschung dieser Sachlage ist ein ausgesprochenes Deside-
1 H. Klein, Die Saarlande im Zeitalter der Industrialisierung, in: Zeitschrift für die Geschichte
der Saargegend. 29, 1981, S. 93-121. - W. Läufer, Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichtli-
che Aspekte der Industrialisierung an der Saar, in: ebd. S. 122-164. - J. Karbach, Bevölke-
rungszahlen des Saarlandes 1800 bis 1910, in: ebd. 34/35, 1986/87, S. 186-275. -
W. E. Pinzka, Kirchenbau im Saarrevier, in: Saarheimat 1988, S. 272-275 (I); 1989,
S. 13-15 (II), S. 33-37 (III).
2 Die Pfarrei St. Sebastian Eppelborn. Erinnerungsschrift anläßlich der Renovierung der Pfarr-
kirche und der Weihe der neuen Orgel am 28. Oktober 1984. Hg. von der katholischen
Kirchengemeinde St. Sebastian Eppelborn 1984, S. 28-32. - Läufer (wie Anm. 1), S. 162:
Arbeitereinzugsgebiete, 6. Zeile.
2aPinzka (wie Anm. 1), passim.
84
rat. - Einiges läßt sich dennoch, vor allem im Hinblick auf die katholischen
Gemeinden sagen. Da es damals noch keine zentral erhobene Kirchensteuer gab, und
die Bistumsverwaltungen, auch der jeweilige „Bischöfliche Stuhl“ ausgesprochen arm
(!) waren, blieb die Finanzierung im wesentlichen an den Kirchengemeinden selbst
hängen.
KIRCHENBAUTEN im Saarland 1870-1918
In den früheren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab es noch die (Mit-)Finanzierung
des Kirchbaues durch die Zivilgemeinden. Nun aber mußten die im Vergleich zu
heutigen Bauten und der heutigen Finanzkraft der Bürger sehr hohen Summen durch
Umlagen auf die einzelnen Familien, durch Spenden und mitunter auch großzügige
Spenden besorgt werden. Auch konnten Grundstücksverkäufe mithelfen. Hand- und
Spanndienste auf freiwilliger Basis kamen dazu. Außerdem gab es die Möglichkeit,
mit kirchlicher und staatlicher Erlaubnis Kollektenreisen zu organisieren, wobei die
Kollektanten weit über Land gingen. Hin und wieder halfen der Bischof und der
Kaiser aus ihren Dispositionsfonds.
Mit der Frage nach der Architektenwahl berühren wir schon ein Thema, das im
eigentlichen Sinne kunsthistorische Erkenntnisse befördern kann. Auch auf diesem
Gebiet fehlen uns noch zusammenfassende Erkenntnisse, die statistisch dargestellt und
kunsthistorisch ausgewertet werden müssen. Aus dem vorliegenden Material läßt sich
aber schon sagen, daß die planenden Architekten sowohl solche waren, die aus dem
eigenen Lande kamen, als auch solche, die von auswärts berufen wurden. Unter der
autochthonen Architektur soll hier - stellvertretend für viele andere - Wilhelm
Hector genannt werden, der die meisten und z. T. auch respektabelsten Bauten
errichtete.
Wenn es um die Wahl auswärtiger Architekten ging, spielten neben Renommee und
persönlichen Bekanntschaften mitunter auch (quasi-)politische Gründe eine Rolle,
wenn man z. B. an die Rolle der bayerischen Verwaltung oder des „Bayerischen“
überhaupt im ehemals pfälzischen Teil des Saarlandes denkt; an die Rolle Preußens,
wenn man die damals nicht sehr großen Einflußmöglichkeiten der Bistumsleitungen in
Speyer und Trier beachtet, oder auch die Möglichkeiten des Herrn von Stumm in
Betracht zieht. - In diesem Zusammenhang des Kirchbaues ist auch die Bedeutung
85
des aus dem Elsaß kommenden Trierer Bischofs Michael Felix Korum3 (1881-1921)
nicht zu unterschätzen, mit dessen Amtsantritt der Kulturkampf praktisch zu Ende
war und - nach unserer Statistik - der Kirchenbau seinen Aufschwung nahm.
Kommen wir nun zu einigen Beispielen! Die Zeit des „dogmatischen Historismus“4
hatte schon die Zeit eines freier agierenden, aber noch aus dem Geist des Klassizismus
kommenden Früh-Historismus abgelöst; man denke an solche „dogmatischen“ Bauten
wie St* Clothilde zu Paris (1846-57)5 oder die Votivkirche in Wien von Heinrich von
Ferstel (1856-79)6. Dennoch war damals noch eine solch grazile Konzeption möglich
wie die evangelische Kirche in Homburg, die 1871-74 von dem Königlichen
Bezirksbaumeister Rau errichtet wurde.7
Die Außengliederung des Baukörpers ist durchaus noch als ein später Nachklang
klassizistischer Auffassung zu verstehen. Im Inneren der gotischen Halle (mit eingezo-
genem Altarraum) tragen die schlangen Bündelpfeiler aus Gußeisen - man denkt
unwillkürlich an die Auffassungen Schinkels - wesentlich zur Leichtigkeit und
Durchsichtigkeit des Raumes bei. 1970 wurde die Kirche „simplifizierend“ reno-
viert.
Mit der Erweiterung der kleinen barock-klassizistischen katholischen Saalkirche von
1760 St. Sebastian in Eppelborn treffen wir auf ein für diese Zeit bemerkenswertes
Beispiel vereinfachenden Bauens mit der Absicht, mit möglichst wenig Aufwand ans
Ziel zu kommen. Baumeister Carl Friedrich Müller, Fraulautern, fertigt 1876 die
Pläne, 1877 liegen sie bei der Regierung vor, 1879 -1880 wird gebaut.8 Über die
Finanzierung geben die Akten Auskunft: Vieles wurde in Eigenleistung erbracht.83
Dabei wird die Südseite der alten Saalkirche weggebrochen und eine dreischiffige
Stufenhalle mit Mitteltonne angebaut, deren Architrave von schlanken Gußeisensäu-
len (eher Stangen!) getragen werden; der Altarraum ist separat und schmäler
ausgewiesen. Neubau und Altbau bilden als Baukörper und als Raum eine gegliederte
Einheit. - 1912 wird die Kirche im Sinne des Neobarock umgebaut (s. u.).
3j. Treitz, Michael Felix Korum, Bischof von Trier 1840-1921. Ein Lebens- und Zeitbild.
München/Rom 1925. (Treitz widmet sich nicht dem unter Korum so groß aufblühenden
Kirchenbau.) - Handbuch des Bistums Trier. 20. Ausgabe. Bearbeitet vom Bistumsarchiv
Trier 1952, S. 48. - A. Thomas, Bischof Michael Felix Korum. 1840-1921. Festvortrag, als
Manuskript vervielfältigt.
4 Zu Begriff und Einteilung des Historismus im 19. Jahrhundert: A. Aman, Architektur, in:
Die Kunst des 19. Jahrhunderts. Propyläen Kunstgeschichte. Bd. 11, Berlin 1966, S. 170-185.
- R. Wagner-Rieger, Wiens Architektur im 19. Jahrhundert. Wien 1970: Kapitelüberschrif-
ten.
5 H.-R. Hitchcock, Architecture. Nineteenth and Twentieth Centuries. Harmondsworth
(1958), 3. Aufl. 1968, S. 108. - Wagner-Rieger (wie Anm. 4), S. 171, A. 25.
6 Propypläen-Kunstgeschichte (wie Anm. 4), S. 391. - Wagner-Rieger (wie Anm. 4),
S. 162 ff.
7 100 Jahre Protestantische Stadtkirche Homburg. Festschrift zum Jubiläum am 29. November
1974. Hg. von der Prot. Kirchengemeinde Homburg. M. Klewitz, Der evangelische Kirchen-
bau zwischen 1800 und 1945, in: Die evangelische Kirche an der Saar. Gestern und heute.
Saarbrücken 1975, S. 252. - G. Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Rhein-
land-Pfalz, Saarland. 2. Aufl. München 1984 (im folgenden: Dehio), S. 384. - B. H. Bonk-
hoff, Die Kirchen im Saar-Pfalz-Kreis. Saarbrücken 1987, S, 149 f, Abb. 148-150.
8 Handbuch (wie Anm. 3), S. 377. - Dehio, S. 260. - Eppelborn (wie Anm. 2).
8aEppelborn (wie Anm. 2), S. 48.
86
Die evangelische Kirche zu Brebach bei Saarbrücken, 1882 erbaut - vor einiger Zeit
wurde sie für profanen Gebrauch umgewidmet (und so gerettet) - ist ein Werk des
Hannoveraner Architekten Ferdinand Schorbach. Schorbach erbaute in der Nachfolge
des 1880 verstorbenen Edwin Oppler (Hannover) das Haiberger Schloß für Karl
Ferdinand Stumm. Die neue Kirche, von Stumm in Auftrag gegeben und wohl auch
finanziert, sollte sowohl für die Brebacher Arbeiter evangelischer Konfession als
Gottesdienstraum dienen als auch eine Beziehung zu Stumm und seinem Schloß
haben.9 Der einfache Klassizistische Saalraum möchte durch seine an der Straße
liegende Seitenfassade etwas vom Können des Architekten und vom Rang des
Bauherrn zeigen.
Wiederum ein Werk Ferdinand Schorbachs ist die katholische St. Marienkirche in
Neunkirchen, 1884-87 erbaut.10 (Abb. 1) Karl Ferdinand Stumm stiftete die Pläne,
die sein „Hausarchitekt“ entworfen hatte; außerdem versprach der evangelische
Stumm der katholischen Gemeinde 1881 eine stolze Beihilfe von 30 000,—Mk.
Schorbach hatte alternativ zwei Projekte geliefert. Die Zustimmung der Bischöflichen
Behörde in Trier wurde eingeholt; 1885 war die Kirche schon in Benutzung. Die
Bauleitung lag bei Johann Heinrich Kastenholz vom Büro Schorbach, der dann noch
weitere Kirchen erbaute (s. u.). - St. Marien ist eine dreischiffige neoromanische
Basilika mit halbkreisförmiger Apsis, mit einem großen Turm vor der Fassade und
zwei runden Flankierungstürmen neben der Apsis. Die Verwendung von rotem
Sandstein und der Einsatz von reicher Bauplastik steigern den künstlerischen Rang des
wohlproportionierten Baukörpers, der besonders im Chorbereich architektonisch
reich gegliedert ist.
Im Inneren ist der Raum im „gebundenen System“ der staufischen Romanik gehalten.
Die Pfeiler mit ihrem Schmuck und die Wandvorlagen bestimmen entscheidend den
Raum. 1984 konnte die originale Polychromie des Raumes weitgehend freigelegt und
restauriert resp. rekonstruiert werden, so daß die Malerei als integraler Bestand des
Raumes ihre künstlerisch-ästhetische Funktion nun wieder erfüllen kann.11
In Heiligenwald errichtete J. H. Kastenholz 1886-87 eine Katholische Notkirche,12
quasi ein „Nebenprodukt“ von Neunkirchen; 1927/28 wurde sie abgerissen. Nur
noch ein Photo erinnert an diesen einfachen, aber durch Strebepfeiler, Rundbogenfen-
ster, Blendbögen und verschiedenfarbige Steinmaterialien eindrucksvollen Bau.
Ebenfalls von J. H. Kastenholz wurde die (1958/59) abgerissene katholische Pfarrkir-
che Rosenkranzkönigin in Merchweiler 1890-91 erbaut. Auch hier unterrichten nur
noch Photos über die ehemalige Kirche:13 dem neugotischen Schiff von 6 Jochen war
9 Klewitz (wie Anm. 7), S. 253. - H. B. Busse, Die Marienkirche in Neunkirchen in
kunsthistorischer Sicht, in: Kirche aus lebendigen Steinen. Festschrift zum 100-jährigen
Bestehen der Pfarrkirche St. Marien, Neunkirchen, Hg. Katholische Kirchengemeinde St. Ma-
rien, Neunkirchen, 1986, S. 26-39, hier: S. 28.
10 Handbuch (wie Anm. 3), S. 634. - Busse (wie Anm. 9).
11 Busse (wie Anm. 9), S. 36 f.
12 Handbuch (wie Anm. 3), S. 631 (heutige Kirche). - Busse (wie Anm. 9), S. 30. Pinzka (wie
Anm. 1), II, S. 14.
13 Handbuch (wie Anm. 3), S. 815. - Busse (wie Anm. 9), S. 30.
87
ein Mittel-Turm vorangestellt, dessen kubische Untergeschosse ins Oktogon der
Glockenstube übergeleitet wurden.
Bei der katholischen Pfarrkirche St. Jakob in Saarbrücken kommt mit dem Pader-
borner Dombaumeister Arnold Güldenpfennig 1887 ein wieder auswärtiger Architekt
im Saargebiet zum Zuge. Die dreischiffige neogotische Hallenkirche mit dem mittig
vor dem Baukörper stehenden Turm ist sein Werk, während die Chorpartie 1906
durch den Saarbrücker Architekten Moritz Gombert erweitert wurde.14 15 (Abb. 2).
Mächtige Rundpfeiler trugen die gotischen Gewölbe. Im Inneren fehlen nun durch
Kriegseinwirkung Pfeiler und Gewölbe. Innerhalb der erhaltenen Außenmauern
wurde durch Aufbringung einer Flachdecke ein riesiger Saalraum geschaffen. -
Bemerkenswert ist die Stellung des durch seine Eckrundungen im Obergeschoß massiv
wirkenden Turmes: er steht mittig vor der Fassade, ohne auf die Ecksituation an einer
Straßenkreuzung Rücksicht zu nehmen, was dann im letzten Jahrzehnt des Jahrhun-
derts immer mehr Brauch wird. - Mit Güldenpfennig tritt ein eigener Stil auf, der sich
schon in der Wahl des Steinmaterials zeigt; Gombert hat sich dem in seiner
Erweiterung angepaßt.
Die evangelische Kirche zu Bexbach15 (1888-1889) zeigt eine Formensprache, wie
man sie im „preußischen“ Saarland schwerlich findet. Überhaupt sprechen die Kirchen
des Saar-Pfalz-Kreises insgesamt eine durchaus andere stilistische Sprache. Das hängt
damit zusammen, daß dieser Distrikt zur evangelischen Landeskirche in der Pfalz
resp. zum Bistum Speyer und ehemals zum Königreich Bayern gehört(e). So ist man in
der Wahl der Architekten anders orientiert. - Dies zeigt sich schon darin, daß der
Architekt für die evangelische Kirche zu Bexbach, Prof. Ludwig Levy, aus Karlsruhe
kommt. Der Baukörper bietet sich in einer fast skurrilen Mischung von Neoromanik
14 Handbuch (wie Anm. 3), S. 728. 100 Jahre Pfarrkirche St. Jakob Saarbrücken. 1887-1987.
Beiträge zur Geschichte von Kirche und Gemeinde. Hg. vom Kath. Pfarramt St. Jakob
Saarbrücken, 1987, S. 17-21. Die Abbildung auf S. 21 zeigt die Kirche vor der Veränderung
durch Gombert (ein seltenes Photo!). - Zu Arnold Güldenpfennig (1830-1908): Thieme-Bek-
ker, Künstlerlexikon XV, S. 198; Die Christliche Kunst II, 1905/06, S. 112-116. - Da über
den Saarbrücker Architekten Moritz Gombert bisher noch keine Daten im Zusammenhang
veröffentlicht zu sein scheinen, sei hier einiges niedergelegt. Die Informationen sind bezogen
aus dem Handbuch des Bistums Trier, das systematisch durchgesehen wurde. Außerdem
haben eine noch lebende Tochter von M. Gombert (Frau Hoferer) und ein noch lebender
Sohn, Dr. Hermann Gombert, Freiburg i. Br., wertvolle Daten beigesteuert. - Geboren
10. 5. 1874 in Fritzlar, gestorben 14. 5. 1954 in Saarbrücken. Moritz Gombert war Schüler
von Prof. Karl Schaefer (Karlsruhe), dann Architekt am Erzbischöflichen Bauamt in Karlsru-
he; selbständiger Architekt in Saarbrücken. Kirchen nach Plänen M. Gomberts: 1906/07
Saarbrücken St. Jakob, Erweiterung; 1910/11 Sulzbach-Altenwald; 1910 Sulzbach-Hühner-
feld; 1912 Stennweiler; 1912 Fischbach-Camphausen; 1926 Kirche und Kloster der Oblaten-
patres in Saarbrücken-Rotenbühl; 1927 Wahlen, Erweiterung; 1929 Kirche St. Antonius und
Franziskanerkloster in Saarbrücken-Rastpfuhl; 1936 Rentrisch. — Außerdem hat M. Gombert
viele Krankenhäuser für die Franziskanerinnen von Waldbreitbach gebaut: im Saarland, Trier,
Koblenz-Moselweiß, Neuwied, auf dem Hunsrück (?). - Die Erstfassung des Schaum-
berg-Denkmals ist ein Werk M. Gomberts. Pläne für den Wiederaufbau von Kloster (?) und
Kirche Himmerod.
15 Klewitz (wie Anm. 7), S. 253. - Dehio, S. 105. - B. H. Bonkhoff, Die Kirchen im
Saar-Pfalz-Kreis. Saarbrücken, 1987, S. 62 f. - Zu Architekt Ludwig Levy: Thieme-Becker
XXIII, S. 159 f., ferner: K. Nohlen, Baupolitik im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871-1918.
Die repräsentativen Staatsbauten um den ehemaligen Kaiserplatz in Straßburg. Berlin 1982,
siehe Register, besonders: S. 253 f.
88
Abb. 1
Kath. Pfarrkirche St. Marien in Neunkirchen, um 1900, {Amt f. kirchi. Denkmalpflege, Trier)
89
Abb. 2
Kath. Pfarrkirche St. Jakob in Alt-Saarbrücken, Entwurfszeichnung von Moritz Gombert für
den Umbau der Chorpartie, 1905/06, {Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
90
Pfarrkirche St. Peter-u.-Paul in Theley, Äußeres, (Amt f. kirchl, Denkmalpflege, Trier)
Abb. 3
Kath.
91
Abb. 4
Kath. Pfarrkirche St. Peter-u.-Paul in Theley, Inneres, (Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
92
Abb. 5
Ev. Johanniskirche in St. Johann, Außeres von Südosten, um 1900,
{Landesinstitut für Pädagogik und Medien, Saarbrücken)
93
Abb. 6
Ev. Johanniskirche in St. Johann, inneres, Blick nach Osten auf Altar, Kanzel und Orgelempore,
um 1910
(Foto Privatbesitz Joachim Güth)
94
Abb. 7
Kath. Pfarrkirche St. Ludwmus in Mettlach. Äußeres von Nordosten, um 1910 (?)
(Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
95
bb.
lth.Pfartecbe S, Urinus, МГисМпПедаЛи,и?7,
mt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
96
Abb. 9
Kath. Pfarrkirche St. Remigius in Bliesen, Äußeres von Norden, um 1910
(Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
97
Abb. 10
Kath. Pfarrkirche St. Remigius in Bliesen, Blick auf Vierung und Chor, 1987
(Photo Schäfer, Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
98
****
Abb. 11
Kath. Pfarrkirche St. Sebastian in Püttlingen, Inneres, Zustand vor 1928
(J. Kreutzer, Püttlingen, Photo aus Privatbesitz)
99
Abb. 12
Kath. Pfarrkirche Hl. Sakrament in Dillingen, Äußeres 1987
(Photo: Schäfer, Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
100
Abb. 13
Missionshaus in St. Wendel, Fassade der Kirche, ca. 1980,
(Landesinstitut f. Pädagogik und Medien, Saarbrücken)
101
4
Abb. 14
Ev. Kirche in Blieskastel, Zustand um 1985, (Photo: Stadt Blieskastel)
102
Abb. 15
Kath. Pfarrkirche St. Eligius in Völklingen, 1973, (Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
103
Abb. 16
Kath. Pfarrkirche St. Michael in Saarbrücken, von Südwesten, um 1930
(Amt f. kirchl. Denkmalpflege, Trier)
104
und Neogotik: die Seitenfront mit einer Folge aufgesetzter Giebel; merkwürdige
Annexe am Turm, die in ähnlicher Form an der evangelischen Kirche in Landswei-
ler-Reden ebenfalls Vorkommen. Das Innere ist durch die eingestellte Holzkonstruk-
tion einer umlaufenden Empore und die des Dachstuhles ein origineller wie anhei-
melnder Raum.
Bei der katholischen Liebfrauenkirche in Püttlingen16 (1888-89) lernen wir einen
neogotischen Bau des Trierer Dombaumeisters Reinhold Wirtz16 17 18 kennen. Die etwas
trockene Architektur hat durchaus ihre architektonischen Qualitäten. Der Bau wurde
1954 durch Dominikus Böhm auf eine originelle Weise erweitert.
Die katholische Pfarrkirche Herz Jesu in Kostenbachn dürfte der erste größere
Kirchenbau des produktiven Architekten Wilhelm Hector sein, der damals noch in
Saarlouis wohnte, später aber in Saarbrücken sein Atelier betrieb.19 Sie wurde in den
Jahren 1887-90 erbaut und 1966 durch Peter van Stipelen (Trier) erweitert. Hector
hatte damals noch nicht die Klarheit und Entschiedenheit seines späteren Stiles
gefunden; es ist ein merkwürdiges Schwanken zwischen einem nicht präzis auszuma-
chenden Barock und einer nicht genau definierten Neoromanik.
Der schaffensfreudige Mainzer Dombaumeister Ludwig Becker taucht im Saarland
erstmals mit seiner großen katholischen Pfarrkirche St. Josef in St. Ingbert auf,
1890-93 erbaut.20 Die Lage auf dem Hügel, die aufwendige Treppenanlage zur Straße
hin, der mächtige Turm verleihen dem Bau im Stadtbild und Stadtgefüge eine
besondere Note. Die dreiseitig geschlossenen Abschlüsse des „Querschiffs“ wie auch
die stark vereinfachten und „wie gesägt“ wirkenden Scheibenmaßwerke der Fenster
lassen den Bau härter erscheinen, als er (vor allem im Inneren) ist.
Das große Schiff ist eine Art gotischer Stufenhalle mit breitem Mittelschiff; die
Seitenschiffe sind fast auf Durchgänge reduziert. Im Bereich der Querarme erfährt der
Raum eine beachtliche Erweiterung, wo doch das Mittelschiff schon eine lichte Weite
von 13 m besitzt. Insgesamt wirkt der Raum mehr breit gelagert als aufragend. Die
Pfeilerabstände sind in der Längsrichtung sehr groß, was in Richtung auf eine
Raumvereinheitlichung wirkt; die Gestalt der Vierung mit den dreiseitig geschlossenen
Querarmen bewirkt in diesem Zusammenhang geradezu eine Zentralisierung. In
diesen Tendenzen wird man den Einfluß des Mainzer Prälaten Friedrich Schneider
sehen müssen, der sich (im Gegensatz zu August Reichensperger und der Kölner
Schule) seit 1888 für eine liturgisch motivierte Raumvereinheitlichung einsetzte: Sehen
und Hören sollten durch die Gestalt des Raumes und die Disposition verbessert
16 Handbuch des Bistums (wie Anm. 3), S. 838. - Neue Bauten im Bistum Trier. (Mono-
graphien des Bauwesens, Folge 17) Stuttgart 1961, S. 102. - Dominikus Böhm. Geleitwort
von Joseph Kardinal Höffner, Beiträge von August Hoff u. a. München/Zürich 1962,
S. 466-471 (mit Abb.), 525.
17 Zu Reinhold Wirtz: W. Weyres und A. Mann, Handbuch zur Rheinischen Baukunst des
19. Jahrhunderts. Köln 1968, S. 115.
18 Handbuch (wie Anm. 3), S. 845. - A. Peitz und F. Ronig, Kirchbauten im Bistum Trier
1960-1970, in: Das Münster, 22, 1969, S. 302. - Dehio, S. 514.
19 Zu Hector: H. B. Busse, Wilhelm Hector, in: Saarländische Lebensbilder. Bd. IV. Saarbrük-
ken 1989, S. 131-154. - H. B. Busse bereitet eine größere Monographie über Hector vor.
20 Dehio, S. 920. - Bonkhoff (wie Anm. 15), S. 224-226.
105
werden. Im Idealfalle sollte man von allen Plätzen der Kirche aus den Altar sehen
können.21 Die St. Josefs-Kirche in St. Ingbert ist eines der frühesten Beispiele für die
Realisierung dieser Forderungen. - Zum Glück hat diese Kirche ihre originale reiche
und qualitätvolle Ausstattung bewahren können.
Mit der katholischen Pfarrkirche St. Peter und St. Paul in Theley22 hat Wilhelm
Hector 1890-93 eine dreischiffige neogotische Hallenkirche von fast asketischer
Einfachheit, aber mit beachtlichen architektonischen Qualitäten geschaffen. Die in
Richtung auf den Chor voranschreitenden Scheidbögen sind so zurückhaltend konzi-
piert, daß sie - vom Gewölbe her betrachtet - die latente Tendenz zur Raumverein-
heitlichung kaum beeinträchtigen (Abb. 3 u. 4). (Die Kirche wurde 1966 von Toni
Laub, Saarwellingen, um niedrige seitliche Anbauten erweitert; das Herausbrechen
der Pfeiler wegen besserer Sichtmöglichkeiten wurde 1962 abgelehnt.)
Die evangelische Johanniskirche in Saarbrücken-St. Johann stellt einen Höhe-
punkt des saarländischen Kirchenbaues im Hinblick auf architektonische Qualität und
städtebauliche Konzeption dar. (Abb. 5 u. 6). Der Saarbrücker Architekt Heinrich
Güth hatte zwar nur den zweiten Preis im Architektenwettbewerb23 errungen, wurde
aber dennoch mit der Erbauung der Kirche (1894-98) betraut - wie sich zeigte, nicht
zu Unrecht. - In markanter städtebaulicher Situation im Hinblick auf die damals erst
noch zu erbauenden Straßenfluchten und das erst 1897-1900 errichtete Rathaus von
Georg Hauberisser konzipiert, folgt der Außenbau den Prinzipien der dogma-
tisch-doktrinären Neugotik, im Gesamt und im Detail von erstaunlicher Qualität;
alles ist in präzise behauenem Buntsandstein ausgeführt: das Schiff mit seinen vier
Wimpergen, die die Traufe im Verein mit den Fialen der Strebepfeiler übersteigen; der
hohe Turm vor der Mitte des Schiffes; das Querschiff mit den zweiachsig angeordne-
ten Fenstern und den reich gezierten Giebeln; die dreiseitig geschlossene Apsis. Das
Innere stellte sich bis zu seiner Umgestaltung durch H. O. Vogel (1966) als eine
typisch protestantische Saalkirche spätneugotischer Prägung dar; die Querhäuser
waren mit Emporen ausgebaut. Das so heftig diskutierte „Wiesbadener Programm“
von 1891 für die Raumgestalt und die Disposition der Hauptstücke wurde bei der
Ausstattung des Altarraumes nicht befolgt. Die (leider abgerissene) Empore für Chor
21 M. Bringmann, Studien zur neuromanischen Architektur in Deutschland. Diss. Heidelberg
1968, S. 39 f., 113-119. S. 119 und Anm. 481 äußert sich Bringmann dahingehend, daß man
aus dem Résumée zu Prälat Schneiders Bemühungen von einem mißglückten Versuch sprechen
müsse. Nun sind in der Tat die Vorschläge Schneiders (bei großen Kirchen) kaum wörtlich
übernommen worden; aber sie wirkten sich insgesamt mehr aus, als man wohl meinte - d. h.:
ihrem Sinne und ihrer Intention nach. Ludwig Becker hat sich in dem Aufsatz über seine
Kirchenplanung für Bad Homburg vor der Höhe (Zs. f. Chr. Kunst, 1891, Sp. 3-14, hier:
Sp. 5 f.) kritisch mit Schneiders Empfehlungen auseinandergesetzt. Seine beigegebenen Pläne
zeigen indessen das Eingehen auf Schneiders Ideen. Dieser hatte seine Vorstellungen im
1. Jahrgang der Zeitschrift für Christliche Kunst 1888 (Sp. 153-164) dargelegt und dabei auch
schon einen entsprechenden Grundriß aus der Feder Ludwig Beckers (!) abgebildet
(Sp. 159 f.).
22 Handbuch (wie Anm. 3), S. 898. - Busse (wie Anm. 19), S. 137.
23 Klewitz (wie Anm. 7), S. 254. - Dehio, S. 896. - Deutsche Konkurrenzen, hg. von
A. Neumeister und E. Haberle, Heft 4: Konkurrenzen für Breslau und St. Johann. Leipzig
1892. - A. Ruppersberg, Geschichte der evangelischen Gemeinde St. Johann zu Saarbrük-
ken. Saarbrücken 1927. - Bringmann (wie Anm. 21), S. 156.
106
und Orgel stand lettnerartig am Apsiseingang und füllte die ganze Apsis. Die Kanzel
war separat auf der rechten Seiten angeordnet.24
Bei der Planung der Herz-Jesu-Kirche in Landsweiler-Reden waren zunächst zwei
Architekten im Spiel: Wilhelm Hector und Lambert von Fisenne, wie eine neuere
Untersuchung gezeigt hat.25 Lambert von Fisenne hatte im fernen Gelsenkirchen sein
Büro. Es wird wohl die persönliche Bekanntschaft des Pfarrers Johann Schneider mit
Bauten Fisennes im Bereich der Ahr, wo Pfarrer Schneider vorher tätig war, gewesen
sein, wodurch die Verbindung zur Saar geknüpft wurde.26 Dies ist ein nicht
uninteressanter Vorgang, der zeigt, daß die Architektenwahl nicht von der Bischöfli-
chen Behörde gesteuert wurde, obwohl Bischof Korum in die Angelegenheit einge-
schaltet war.27 Die Pläne von Hector und Fisenne wurden der Bischöflichen Behörde
vorgelegt, die dann den Ausschlag zu Gunsten der Planung von Fisenne gab. Der
Trierer Dombaumeister Julius Wirtz (gest. 18 9 8)28 wird die Entscheidung mitbe-
stimmt haben. Die Kirche wurde 1897-1900 erbaut. Sie hat inzwischen eine eingehen-
de monographische Beschreibung erfahren.29
In Mettlach erbaute man 1899-1901 die neue Ludwinus-Kirche und löste damit den
klassizistischen Bau von Carl August von Cohausen (1842-46) ab.30 Ludwig Becker
aus Mainz war der Architekt der neuen Kirche.31 Der viertürmige neoromanische
Bau, dessen äußere Erscheinung durch die regelmäßig-unregelmäßige Verwendung
von Rotsandstein-Quadertechnik und eingefärbten Putzflächen mitbestimmt ist,
beherrscht Ortsbild und Landschaft. Im Gegensatz zu St. Ingbert hat Becker hier den
romanischen (Übergangs-)Stil angewendet. Die weiten Bogenstellungen und die
Schmalheit der Pfeiler lassen die drei Schiffe räumlich miteinander kommunizieren.32
Auch im Inneren bestimmt die rote Farbe des Natursandsteines das Erscheinungsbild
wesentlich mit. Dieser Einsatz des unbemalten Steinmaterials im Innern ist eine
Eigenart, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommt. - Eine reiche
Ausstattung an Altären und Reliefs zeichnet die Kirche aus. Besonders wichtig für
deren Schmuck sind indessen die für die Mettlacher Keramikindustrie (Villeroy und
Boch) so typischen Wand- und Bodenmosaike.33 (Abb. 7 u. 8).
24 Zum Wiesbadener Programm: Bringmann (wie Anm. 21), S. 128 f. - J. Bahns, Johannes
Otzen, 1839-1911. Beiträge zur Baukunst des 19. Jahrhunderts. (Materialien zur Kunst des
19. Jahrhunderts, Bd. 2.) München 1971, S. 38-45.
25 F.-O. Hahn, Die Herz-Jesu-Kirche des Architekten Lambert von Fisenne in Landsweiler-Re-
den. Ein Beitrag zur Bau- und Ortsgeschichte, in: Ars et Ecclesia. Festschrift für F. J. Ronig.
Trier 1989, S. 191-215.
26 Hahn (wie Anm. 25), S. 196 f.
27 Hahn (wie Anm. 25), S. 197.
28 Weyres-Mann (wie Anm. 17).
29 Wie Anm. 25.
30 F. Ronig, Der Kirchenbau des 19. Jahrhunderts im Bistum Trier, in: Kunst des 19. Jahrhun-
derts im Rheinland. 5 Bände. Hg. von E. Trier und W. Weyres. Bd. 1. Düsseldorf 1980,
Abb. 47, S. 226 u. 228.
31 Bringmann (wie Anm. 21), S. 96 f. - Ronig (wie Anm. 30), S. 256, Abb. 87, 88. - Dehio,
S. 678. - R. Junges, Die St. Ludwinuskirche von Mettlach. Ihre Mosaiken und sakralen
Kostbarkeiten. Mettlach 1986, S. 10.
32 Ronig (wie Anm. 30), S. 256.
33 Junges (wie Anm. 3l).
107
Die neogotische Pfarrkirche St. Johannes in Altenkessel (Plan: 1899, Bau: 1902-03)
ist, wie H. B. Busse dargelegt hat,34 ein wichtiges Beispiel für die zentralisierenden
Tendenzen in der Raumkonzeption auch katholischer Kirchen in den Jahren vor 1900
und um die Jahrhundertwende. Die schon genannten Ideen von Prälat Schneider
dürften auch beim Altenkesseler Plan - wenn auch ein wenig „gebremst“ - wirksam
geworden sein. Gerade die Tatsache, daß die Vierung 0,80 m länger als breit ist - ein
Maß, das in den Proportionen der Kirche grundgelegt ist (lichte Breite des gesamten
Schiffes: 19 m; lichte Mittelschiffsbreite: 9 m; Mittelschiffsbreite von Pfeilermitte zu
Pfeilermitte: 9,80 m; lichte Länge der Vierung: 9,80 m; alle Maße nach dem Plan von
1899) - unterstützt die Tendenz zu einer gewissen Zentralisierung. Im übrigen ist
St. Johann in Altenkessel ein vorzügliches Beispiel für Hectors Überlegung und
Präzision in der Planausarbeitung, seinen gezielten Einsatz der Materialien und seine
fast asketisch-sparsame Anwendung von Bauzier; letzteres war auch durch die
Auflage der Sparsamkeit diktiert. Die preußische Regierung gestattete der Kirchenge-
meinde - wie es in anderen Fällen auch hin und wieder geschah - eine Hauskollekte
im Bereich der Regierungsbezirke Trier, Köln und Koblenz. Die Kollektanten mußten
über Land ziehen, um für den Kirchenbau in jenen Orten zu sammeln, wo man mit
Spenden rechnen konnte.
In Bli esen bei St. Wendel erstellte 1903-04 der Düsseldorfer Architekt Josef Kleesat-
tel35 mit der St. Remigius-Kirche seinen einzigen Kirchenbau im Saarland: einen
monumentalen Bau im romanischen Stil. Die Hauptwirkung entfaltet der Bau zur
Straße hin mit seinem mächtigen Chorhaupt: die Hauptapsis wird von Nebenchören
und Nebenapsiden flankiert; neben den Nebenchören ragen an den Ostseiten des
ausladenden Querschiffes runde Treppentürme auf. Der ganze Bau ist mit Blendbögen
und Rundbogenfriesen gegliedert und geschmückt. (Abb. 9). - Die Scheidbögen des
Inneren sitzen auf Säulen mit Würfelkapitellen. Gotische Rippengewölbe decken das
Hauptschiff, Kreuzgratgewölbe die Seitenschiffe. - Finanziert wurde der Bau durch
Sammlungen in der Pfarrei, durch eine Anleihe, durch die Schenkung eines Steinbru-
ches und durch Hand- und Spanndienste. - Die 1986 wieder freigelegte und
restaurierte Ausmalung der Kirche in Ornament und Szenen ist das Werk des Malers
Heinrich Klein (und seines Bruders Ernst?) in Merzig, der sich nach den Angaben und
Vorlagen des Malermönches Pater Paulus Krebs in Beuron richtete. (Abb. 10). Man
vergleiche in diesem Zusammenhang das Apsisbild der Benediktinerinnenabteikirche
St. Hildegard in Eibingen; dort hat Pater Paulus im Sinne der Beuroner Schule
gearbeitet.36
34 H. B. Busse, Die Pfarrkirche Altenkessel in künstlerischer Sicht, in: 100 Jahre katholische
Pfarrgemeinde St. Johannes Altenkessel, 1885-1985. Festschrift. Hg. von der katholischen
Pfarrgemeinde Altenkessel. Saarbrücken 1985, S. 42-46. - Busse (wie Anm. 19), S. 147.
35 Handbuch (wie Anm. 3), S. 886. - J. Baus, Geschichte der kirchlichen Entwicklung in
Bliesen, in: Festbuch zum Bliesener Jugend- und Volksfest. . . 1950. - 75 Jahre Pfarrkirche
St. Remigius Bliesen. Hg. vom Pfarramt St. Remigius Bliesen. 1980. - Zur Restaurierung:
H. B. Busse, Bliesen, in: Jahresbericht 1987. Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte,
40, 1988, S. 494 f. - Zu Kleesattel: Thieme-Becker XX, S. 431; Kunst des ^.Jahrhun-
derts im Rheinland (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 536 f. (Kurzbiographien, von W. Bertz-Neuer-
burg).
36 Zu Pater Paulus Krebs: H. Siebenmorgen, Die Anfänge der „Beuroner Kunstschule“.
Sigmaringen 1983, S. 20, 181. - Eibingen: Dehio Hessen (1982), S. 189.
108
Die evangelische Kirche in Herrensohr bei Dudweiler wurde 1903-10 von Architekt
Eduard Arnold aus Aachen erbaut. Ein Umbau durch H. O. Vogel (Trier) teilte 1973
den Raum in Kirche und Pfarrheim.37 Das Kirchengebäude steht im Zusammenhang
jener neuen Romantik um die Jahrhundertwende, da man unsymmetrische Formen
pflegte und ein gewisses „dörfliches“ Erscheinungsbild selbst in Städten und Industrie-
revieren liebte.
Mit der St. Sebastians-Kirche in Püttlingen (1907-09) hat Wilhelm Hector die größte
seiner Kirchen im Saarland bauen können.38 Hier wurde ihm endlich die Gelegenheit
gegeben, einen aufwendigeren Bau zu realisieren; vielleicht waren auch die wirtschaft-
lichen Verhältnisse zu dieser Zeit in Püttlingen günstig. Es handelt sich um eine
Querschiffsbasilika mit Doppelturmfassade und einem dreiapsidialen Chorschluß. Bei
diesem Bau im romanischen Stil konnten sogar je eine Zwerggalerie an der Hauptapsis
und an der Fassade verwirklicht werden. Auch die Bauzier fand gebührend Raum. -
Das Innere überrascht durch seine Weite. (Abb. 11). Das gilt für die Breite des
Mittelschiffes, das gilt auch für die raumaufweitende Gestalt der Vierung und die
Einteilung der Gewölbejoche: im Chor und im Langhaus werden je zwei Seitenschiffs-
joche im Sinne des „gebundenen Systems“ von einem Mittelschifsgewölbejoch zusam-
mengefaßt. Dieses System wäre eigentlich noch ganz im Sinne der mittelalterlichen
Hochromanik zu verstehen; aber die Raumproportionen sind doch die des späten
19. Jahrhunderts! Bei einer Restaurierungsmaßnahme konnten die dekorativen Wand-
und Gewölbemalereien wieder hergestellt werden. Die Sebastianus-Kirche kann sich
rühmen, noch einen der wenigen neoromanischen Baldachinaltäre des Rheinlandes zu
besitzen.
Die Heilig-Sakrament-Kirche in Dillingen, geplant 1906-07, erbaut 1910-13 im
romanischen Stil, ist das bedeutendste Werk des Trierer Architekten Peter Marx.39 Sie
zählt zu den größten historistischen Kirchen der Diözese Trier. (Abb. 12). Nachdem
1906 W. Hector einen Plan eingereicht hatte,40 brachte der Wechsel im Pfarramte
auch einen Wechsel des Architekten mit sich: der neue Pfarrer Dr. Matthias Prior, bis
1907 Geheimsekretär bei Bischof Michael Felix Korum, hatte keinen Gefallen an
Hectors Plan und betraute 1908 Peter Marx,41 der ihm auch persönlich bekannt war,
mit der Neuplanung. Bischof Korum selbst legte den Grundstein (1911) und nahm
auch die Konsekration vor (1913). Die Fassade ist als Doppelturmfassade mit
37 R. Saam, Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde Herrensohr. Hg.: Evangelische
Kirchengemeinde Herrensohr, in: 75 Jahre Evangelische Kirchengemeinde Herrensohr. Dud-
weiler 1979.
38 Handbuch (wie Anm. 3), S. 837. - Busse (wie Anm. 19), S. 142, 149.
39 Handbuch (wie Anm. 3), S. 179. - Die neue Kirche in Dillingen/Saar, hg. von M. Prior, mit
einem Beitrag von Architekt Peter Marx. Dillingen 1913. - Handbuch (wie Anm. 3), S. 279.
Kirchenchronik anläßlich des 50. Jahrestages der Konsekration der katholischen Pfarrkirche
Hl. Sakrament Dillingen/Saar. Hg. vom Kath. Pfarramt. Dillingen 1963. - Ronig (wie
Anm. 30), S. 262 f., Abb. 99 f. - Kirchenführer Hl. Sakrament Dillingen/Saar von M. Kost-
ka. Dillingen 1987. - M. Kostka, Peter Marx, ein Trierer Kirchenbaumeister zwischen
Historismus und Moderne. Diplomarbeit an der Theologischen Fakultät Trier 1989, S. 11,
33 f., 79 f., Abb. 20-24.
40 Ronig (wie Anm. 30), S. 263.
41 Kostka, Marx (wie Anm. 39), S. 11, Anm. 20, 31.
109
vorspringendem Mittelteil, drei Portalen und reicher Gliederung gestaltet. Das drei-
schiffige basilikale Langhaus endet mit einer Dreiapsidenanlage (Kleeblattchor), die
von einem oktogonalen Vierungsturm gekrönt ist. Die Außenhaut der Kirche besteht
aus rotem Sandstein. Wie kaum sonst an einer historistischen Kirche kann man hier
die historischen Vorbilder bis ins Detail studieren; das kunsthistorisch aufgearbeitete
Repertoire der deutschen und französischen Romanik stand dem Architekten zur
Verfügung. Hier wird spürbar, wie die Publikationen aus dem Bereich der Architek-
tur- und Kunstgeschichte bis in die Ateliers der Architekten vorgedrungen waren und
dort in neue Architektur und neuen Schmuck umgesetzt wurden.42 Außerdem scheint
Marx in seinen frühen Jahren Kunstreisen gemacht zu haben.43 Nur einige Kostpro-
ben von Vergleichen seien hier gegeben. Die Türme setzen in einigen Details die
Westfassade der Kathedrale von Laon voraus, wobei die in Säulchen aufgelösten
Ecken dem Architekten auch aus Bamberg oder Naumburg bekannt gewesen sein
können. Die dreiseitige Eingangshalle erinnert an den Lettner von Gelnhausen. Das
Hauptrelief des Marienportals kopiert das entsprechende Relief auf der Nordseite der
Kathedrale von Reims: das Tympanon mit der thronenden Muttergottes und dem
Christusknaben (wohl von einem ehemaligen Bogengrab). Wenn Marx nicht eine
entsprechende Skizze an Ort und Stelle gemacht hat, dann kann er die Kenntnis (was
eher anzunehmen ist) aus einer Publikation wie den Bildmappen des Musée des
Sculptures Comparées (Trocadéro) in Paris erlangt haben, die von 1883 bis 1890
erschienen und in Trier vorhanden waren und noch sind (Stadtbibliothek). Dasselbe
Portal bietet im Türsturz zwei szenische Reliefs aus La Charité-sur-Loire: die
Dreikönigsanbetung und die Darstellung Jesu im Tempel. Die Rosetten im Türsturz
des Josefsportal gehen auf die Rosetten im Türsturz des Portals von Moissac zurück;
das ganze Portal von Moissac befindet sich ebenfalls im Trocadéro. Selbst solche
Details wie die mit Mäandern geschmückten Pilaster sind aus La Charité übernom-
men. Die großen Querhausapsiden mit ihren flachgedeckten Zwerggalerien, die, sich
verkröpfend, den Strebepfeilerquerschnitt nach oben fortsetzen, waren dem Künstler
durch die romanische Apsis der Trierer Simeonskirche (Porta Nigra) bekannt. Die
Scheitelkapelle am Chorumgang übernimmt in Gestalt und Dekor die entsprechende
Kapelle an der auvergnatischen Kirche in Issoire.44 Die formale Verbindung der
Konchen im Innern der Kirche ist aus St. Maria im Kapitol zu Köln übernommen.
Diese kleine Liste von Motivübernahmen möge genügen, um die eklektische Methode
42 Ronig (wie Anm. 30), S. 263.
43 Kostka, Marx (wie Anm. 39), S. 7.
44 G. Dehio und G. von Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes, historisch und
systematisch dargestellt. Stuttgart 1892, III, Taf. 254,1. - Man vergleiche außerdem noch bei
Dehio/Bezold: III, Taf. 264,3: Nevers, St. Etienne, Vierungsturm; HI, Taf. 280,2: Bamberg,
Dom, Turm mit Eckbaldachinen; III, Taf. 189,1: Semur, Kirche, Rosetten; III, Taf. 315,7:
Apt, Mäander; III, Taf. 320,8: Clermont-Ferrand, Notre-Dame, Giebel mit Ornamentik; IV,
Taf. 408: Laon, Kathedrale, Westfassade, Türme mit Eckbaldachinen. - Weitere Vorlagen
zu Dillingen finden sich in: Le Musée de Sculpture Comparée du Palais du Trocadéro.
Moulages et Sculptures. 4 Bde. Tafeln. Paris (1883? 1890?), I, Taf. 238: Reims, Kathedrale,
Nordquerschiffsfassade, Tympanon mit Maria. - C. Heideloff, Ornamentik des Mittelal-
ters. 200 Kupfertafeln mit erklärendem Text. Nürnberg (1838-1846 in einzelnen Lieferun-
gen), Taf. XII,la: Kapitell in Faurndau (Einzelmotive verwendet); im übrigen scheint Marx
das Werk von Heideloff weniger verwendet zu haben.
110
von Peter Marx’ Historismus zu demonstrieren. Ein ähnlich ergiebiges Objekt ist seine
Trierer St. Martinskirche. - Marx muß also einige Literatur über historische Kirchen
und deren Details besessen oder gekannt haben. Er besaß selbst das zehnbändige
Dictionnaire Raisonné . . . von Viollet-le-Duc und viele andere Werke der Kunstge-
schichte, wie jüngst gezeigt werden konnte.45 Das Standardwerk über die kirchliche
Baukunst des Abendlandes von Georg Dehio und Gustav von Bezold (1887) war und
ist in der Trierer Stadtbibliothek vorhanden.
Kirche und Missionshaus in St. Wendel sind im Hinblick auf ihre architektonische
Bedeutung bisher noch nie gewürdigt worden, obwohl sie so beherrschend in der
Landschaft liegen und zur Betrachtung geradezu herausfordern. Der Plan stammt von
dem Ordensmitglied der Steyler Missionare Pater Fraebel (S. V. D.). 1910 wurde der
Bauplan genehmigt, 1911 war die Kirche schon vollendet. Eine eigene Ziegelei
besorgte das Baumaterial. Ein Großteil der Arbeiten wurde im eigenen Anpacken
bewältigt.46 - Kirche und Missionshaus bilden eine architektonische Einheit: die
Kirche durchdringt mit ihrer basilikalen Fassade (Abb. 13) und dem Schiff die Mitte
der Fassade des Klosters, das sich nach hinten zu in V-förmig angeordneten Flügeln
verbreitert. Ein mächtiger quadratischer Vierungsturm bekrönt die ganze Anlage. Die
Apsis besitzt einen Umgang mit radialen Kapellen. Romanische Vorbilder sind für die
Konzeption der Kirche im Innern und Äußeren ausgewertet. Für das große Triumph-
kreuz im Chor stand das damals allgemein so hochgeschätzte Kreuz aus Wechselburg
samt der das Blut Christi auffangenden Adamsfigur Pate.
Die St. Mauritius-Pfarrkirche in Fremersdorf (1911-12) ist einer der letzten Bauten
Wilhelm Hectors: eine dreischiffige neoromanische Basilika mit Querschiff und
seitwärts stehendem Turm, in rustikalen Quadern aus Rotsandstein errichtet. Hector
konnte hier (nach Püttlingen) etwas aufwendiger als sonst bauen, und auch die
Bauzier durfte üppiger ausfallen. Das zeigt sich an der Zwerggalerie der Apsis, am
Portalschmuck der Westfassade wie auch im Inneren - bis hin zur Gestaltung der
Fußböden in kunstvoller Keramik und der Ausmalung, die 1987 freigelegt und
restauriert werden konnte.47
In einem Schlußkapitel sollen nun noch einige Bauten der späten historistischen Stile,
der Neo-Renaissance und des Neo-Barock, die sich zum Teil mit dem Jugendstil
mischen, vorgestellt werden. Während die Renaissance in ihrer kunsthistorischen
Wertung eigentlich nie ernstlich in Frage gestellt war, galt der Barock fast einhundert
Jahre nach seinem Ausklingen immer noch als verabscheuenswert. Erst langsam brach
sich eine neue Wertung Bahn. Aus dem Blickwinkel der romantischen und mittelalter-
lich orientierten christlichen Kunst des 19. Jahrhunderts galten beide jedoch als nicht
nachahmenswert.
45 Kostka (wie Anm. 39), S. 6 und Anm. 12.
46 P. H. Wesche, Das Missionshaus St. Wendel. Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum.
1898-1923. - 50 Jahre Missionshaus St. Wendel. 1948. - P. A. Selzer, St. Wendelin, Leben
und Verehrung ... 2. Aufl. Mödling 1962, S. 188 f., Abb. 18 f. — 75 Jahre Missionshaus
St. Wendel. 100 Jahre Steyler Missionsgesellschaft. St. Wendel 1975, S. 82-86.
47 Handbuch (wie Anm. 3), S. 570. - Ronig (wie Anm. 30), S. 252. - Busse (wie Anm. 19),
S. 142, 150. - Dehio, S. 291. - Zur Restaurierung: H. B. Busse, Fremersdorf, in: Jahresbe-
richte (wie Anm. 35), S. 499.
111
Die evangelische Kirche zu Saarlouis, 1906 von Carl Schlück aus Saarlouis erbaut,48
steht an einer Straßenkreuzung, seit einigen Jahren durch ein gegenüber errichtetes
16-geschossiges Hochhaus städtebaulich leider sehr herabgestuft. Architekt Schlück
hatte durch die seitliche Situierung des Turmes - ganz in der damaligen Art, Kirchen
an Straßenkreuzungen einzubinden - die Ecksituation geschickt betont. Stilistisch
greift der Bau Elemente der deutschen Renaissance auf, die zum Teil im Sinne des
Jugendstiles verarbeitet werden. Wie der Baukörper in seiner Kreuzform zentral
empfunden ist, so auch das Innere. Dieses wird bestimmt durch eine quadratische
Vierung als Zentralraum, deren großes und kuppeliges Kreuzrippengewölbe durch
seitliche schmale Quertonnen und durch weitere Kreuzgewölbe in der Längsachse
gestützt wird. In den kurzen Querarmen befinden sich Seitenemporen, in der
Längsachse die Anlage von Kanzelaltar mit Orgel- und Sängerempore im vorderen
Bereich und einer weiteren Gemeindeempore gegenüber.
Bei der Erbauung der evangelischen Kirche zu Blieskastel (1911-12) wirkte sich
wieder einmal die Zugehörigkeit zu Bayern aus: der Architekt Ludwig Wagner kam
aus München.49 Die städtebauliche und vor allem landschaftliche Situierung ist
hervorragend, die Zuwegung dadurch allerdings etwas schwierig. Die architektoni-
sche Konzeption nimmt wohl Bezug auf die barocke katholische Schloßkirche von
Blieskastel, was sich in der Wahl des Stiles und in der Gliederung der Wandflächen im
Innern und im Äußeren zeigt. Außen bestimmen glatte und gedoppelte Natursteinpi-
laster mit Putzflächen dazwischen die Wand, im Inneren sind es kannelierte Pilaster.
(Abb. 14).
Mit der katholischen Pfarrkirche St. Eligius in Völklingen, 1912-13 von Ludwig
Becker (Mainz) erbaut, erfährt der Neubarock seinen Höhepunkt im Saarland vor
dem ersten Weltkrieg. 1845-48 hatte man in Völklingen schon eine neue katholische
Kirche erbaut, einen einfachen Saalraum nach Plänen von Regierungsbaurat Hoff in
Trier.50 Sie wurde 1912 zugunsten des Neubaues abgerissen. 1912 wurde der
Grundstein zur jetzigen Kirche gelegt, 1913 konnte die neue Kirche nach einer
unvergleichlich kurzen Bauzeit schon konsekriert werden.51 Ludwig Becker hat einen
breit gelagerten, mit Korbbögen und Stichkappentonne gewölbten Raum konzipiert,
bei dem die ebenfalls durch Korbbögen geschiedenen Seitenschiffe niedrig gehalten
sind. Das nur wenig ausladende Querschiff besteht aus zwei Jochen mit hohen Bögen
und je einem schlanken Zwischenpfeiler (= „zweischiffig“ in der Querachse). Dieses
Raumsystem erlaubt es, mehr Gläubige in der Nähe von Altar und Kanzel zu
versammeln und durch die Höhe der Gewölbe am Erlebnis des Gesamtraumes zu
beteiligen. - Der Baukörper bindet sich mit seiner breiten Turmfront in die Bebauung
48 Festschrift 150 Jahre Evangelische Kirchengemeinde Saarlouis. 1967. - Klewitz (wie
Anm. 7), S. 255. - Dehio, S. 907.
49 Klewitz (wie Anm. 7), S. 256.
50 Handbuch (wie Anm. 3), S. 840. - H. Kuhn, Geschichte der Kirche und Pfarrei Völklingen,
in: Festschrift anläßlich der Restaurierung der St. Eligius-Kirche Völklingen. Hg.: Katholische
Kirchengemeinde St. Eligius Völklingen 1973, S. 89-91.
51 Kuhn (wie Anm. 50), S. 110-113. - Ronig (wie Anm. 30), S. 258-260, Abb. 91 f. - Dehio,
S. 1098 f.
112
der Straße ein: Turm und Vorhalle treten zwischen zwei symmetrisch konzipierten
Eckbauten ein wenig zurück und lassen so einen kleinen Vorhof entstehen. Der Turm
spielt für das Stadtbild Völklingens im Zusammenklang mit den Türmen von Rathaus
und evangelischer Kirche eine wichtige Rolle. (Abb. 15).
Zu den neobarocken Kirchen rechnet auch die 1913-14 von Peter Marx erbaute
St. Laurentius-Kirche zu Schwemlingen,52 Die Gemeinde selbst wünschte eine
Kirche im barocken Stil „ähnlich“ St. Paulin in Trier.53 An den einfachen Saalraum,
der durch eine Segmentbogentonne mit Stichkappen gewölbt und dessen Wände durch
kräftige Wandpfeiler mit Kapitellen wie in St. Paulin gegliedert sind, schließt sich der
eingezogene und hell belichtete Polygonalchor. Die Art, wie der Westturm teilweise in
den Baukörper der Kirche einbezogen ist und wie der Übergang vom Turm zum Schiff
mit geschweifter Mauerführung bewältigt wird, erinnert ebenfalls an die Trierer
Paulinuskirche. Beim Vergleich wird man jedoch sehr schnell bemerken, daß es sich
keinesfalls um eine Kopie, sondern um eine (eher etwas steife) Umsetzung handelt.
Das Obergeschoß des Turmes samt der welschen Haube erinnert an die fast
gleichzeitig von Marx erbaute Kirche in Hetzerath.54
Die schon am Anfang genannte Pfarrkirche St. Sebastian in Eppelborn wurde
zwischen 1908 und 1912 von Ernst Brand55 (Trier) umgebaut. Man war wohl mit der
schlichten und irgendwie stillosen Erweiterung nicht mehr zufrieden. Dazu kam, daß
die erst dreißig Jahre alten Decken bereits baufällig waren. Nach den Plänen Brands
nahm man die Decken und die gußeisernen Stützen weg und erbaute über dem
Mittelschiff eine Betontonne mit abgehängter Rabitztonne; schlanke quadratische
Pfeiler tragen über Rundbögen das Gewölbe; die Seitenschiffe besitzen Flachdecken.
Das Mittelschiff wurde „durch“ die alte, querliegende Kirche „hindurchgeführt“ und
endet seitdem mit einer neuen, leicht vor die Nordwand der alten Kirche gesetzten
Giebelfassade. So wurde die Kirche nun zur Straße hin orientiert. Eine opulente
Innenausmalung schloß sich 1911-12 an (Josef Renard, Kevelaer). - Für Eppelborn
ist die Finanzierung aus den Akten publiziert:56 um die Anleihe von 40 000,— RM
amortisieren zu können, wurde von allen steuerpflichtigen Pfarrmitgliedern eine
Zusatzsteuer erhoben.
Das letzte hier zu besprechende Kirchbauunternehmen soll das der St. Michaelskirche
zu Saarbrücken sein.57 (Abb. 16). Allerdings konnte nur noch die Planung vor dem
52 Ronig (wie Anm. 30), S. 265. - Kostka (wie Anm. 39), S. 12, 43 f.
53 Kostka (wie Anm. 39), S. 12.
54 Kostka (wie Anm. 39), S. 42 f.
55 Zu Ernst Brand (1868-1948): N. Irsch, Der Trierer Architekt Ernst Brand. Zum ersten
Jahrestag seines Todes am 2. Oktober 1949, in: Trierischer Volksfreund vom 5. 10. 1949.
Den dort genannten Werken ist Eppelborn zuzufügen. - Kurzbiographien (wie Anm. 35),
S. 527. - Literatur zu Eppelborn: siehe Anm. 2.
56 Erinnerungsschrift (wie Anm. 2), S. 64.
57 Handbuch (wie Anm. 3), S. 732. - N. Irsch, Aus der modernen Kirchenbaukunst in der
Diözese Trier, in: Festschrift zur Generalversammlung der Deutschen Gesellschaft für
Christliche Kunst in Trier vom 13.-20, Oktober 1929 (= Festnummer des Pastor Bonus, Zs.
für kirchliche Wissenschaft und Praxis, 40, 1929), S. 494-500, hier: S. 494 f. mit Abb. -
J. J. Morper, Katholische Kirchenbauten an der Saar. Saarbrücken 1935, S. 36-41, mit
3 Abb. - Ein halbes Jahrhundert Pfarrgemeinde St. Michael Saarbrücken 1924-1974, von
G. Meiser, S. 10-15. - St. Michael, Die Geschichte einer Saarbrücker Gemeinde in Bildern.
Saarbrücken 1984. - Dehio, S. 896.
113
ersten Weltkrieg realisiert werden. 1913 hatte ein Architekten Wettbewerb stattgefun-
den, der 173 Vorschläge einbrachte. Hans Herkommer aus Schwäbisch Gmünd
(später Stuttgart) erhielt den Zuschlag für sein mit dem Motto „Helden ruhen im
Park“ (eine Anspielung auf den auf dem Kirchbauplatz befindlichen Friedhof und das
Denkmal für die 1870 Gefallenen) bezeichneten Projekt.58 Der Ausbruch des ersten
Weltkrieges verhinderte zunächst den Bau; erst 1923-24 konnte der Plan in die
Wirklichkeit umgesetzt werden - mit einer gut zehnjährigen Verspätung. Aber die
Kirche galt dann immer noch als sehr modern! Nikolaus Irsch schrieb 1929 dazu:
„Die erste Großkirche im Zeitstil gewagt . . . Ein ebenso schöner wie kluger Bau;
denn er ging auf Vermittlung aus. Er brach allerdings mit allen ererbten Ornament-
formen und entwickelte neue Kleinlinien auf Grund des neuen Baustoffes; er wurde
daher als durchaus modern von den einen gepriesen, von den anderen abgelehnt.
Tatsächlich aber sprach in der Formung des Baukörpers die Tradition ... ein
entscheidendes Wort mit. Den auf Vergangenes eingestellten Beschauer nahm dies
unbewußt gefangen . . . Einen besseren, geschickteren Boten als diese Kirche hätte die
Zeitkunst wohl kaum in die Diözese entsenden können.“59 - An der Stelle einer jetzt
verfaßten Beschreibung lassen wir den Architekten, der sein Werk erläutert, selbst zu
Wort kommen:60 Die Kirche lagert am Ende einer sich in die Stadt hereinschiebenden
Anhöhe ... Im Stadtbild wirkt der Bau in verschiedenartigster Weise. Schlank und
schmal von Westen her; von Süden als eine langgelagerte, wuchtige Masse über dem
Häusermeer . . . Die Doppeltürme recken sich ... als zusammengehöriges, gedrunge-
nes Massiv empor . . . Die Grundgedanken des Entwurfes vom Jahre 1913 wurden
beibehalten: Doppeltürme an der Westwand, große, weitgespannte Halle als Mittel-
schiff, nischenförmige niedrige Seitenschiffe als Beicht- bzw. Andachtskapellen, sowie
dem Hauptgewölbe untergeordnete Querschiffe . . . Durch konzentrische Wiederho-
lung der Tonnengewölbe im Hauptschiff, Vorchor und Chor, sowie der Altarfenster-
rundung wird der Blick gezwungen, gleich beim Eintritt in die Kirche nach dem Altar
als dem religiösen und räumlichen Mittelpunkt der Kirche zu schauen. Alles lenkt hin
zur Gotteswohnung . . . Altar, Fenster und Engelsäulen bilden samt dem ganzen
Altarraum eine zusammengehörige Einheit... Da die Kirche St. Michael geweiht ist,
geht das Engelsmotiv durch die ganze Kirche ... - Im wesentlichen wurde der Plan
von 1913 unverändert ausgeführt. Aus Sparsamkeitsgründen verzichtete man in der
Notzeit auf den an der Südseite geplanten Kreuzgang. Die gegenüber der Planungszeit
veränderte stilistische Situation zeigt sich unter anderem in der „Bekrönung“ der
oberen Turmabschlüsse, wenn man sie mit der Planung von 1913 vergleicht.61
58 Ein halbes Jahrhundert (wie Anm. 57), S. 11. - Busse (wie Anm. 19), S. 131.
59 Irsch (wie Anm. 57), S. 494.
60 Nach Morper<2j (wie Anm. 57), S. 36 und 38.
61 St. Michael ... in Bildern (wie Anm. 57), Abb. S. 9. - Zu Hans Herkommer (1887-1956):
Thieme-Becker XVI, S. 478 f. - Vollmer II, S. 427. - Vollmer VI, S. 47. - Nachruf, in:
Das Münster Jg. 10, S. 63 f. - Zu Leben und Werk Herkommers: G. Merkle, Kirchenbau im
Wandel. Ruit bei Stuttgart 1973, S. 67-69, die Nummern auf S. 176 (Index).
114
Paul Thomes
Die Saarwirtschaft nach der Reichsgründung zwischen Boom
und Krise
Boom und Krise stehen als Schlagworte synonym für die wirtschaftliche Entwicklung
der ersten Jahre des jungen Deutschen Reiches. Einem kurzen, bis dahin beispiellosen
und gut zwei Jahre währenden Aufschwung folgte eine ebenso heftige Korrektur
verbunden mit einer merklichen Abkühlung der Konjunktur.
Dazu das bekannte Beispiel: Allein in Preußen schossen von Mitte 1870 bis 1874
nicht weniger als 857 Aktiengesellschaften mit einem Grundkapital von 3,3 Mrd.
Mark aus dem Boden, eine Summe, die zuvor in 45 Jahren zusammen nicht erreicht
worden war. Ende des Jahres 1874 befanden sich von diesen Gründungen 123 in
Liquidation; 37 hatten schon früher Bankrott gemacht.1
Und einige weitere Fakten: Die deutsche Steinkohlenförderung erhöhte sich zwischen
1870 und 1873 um 37,9 % von 26,4 auf 36,4 Mio. Tonnen. Die Roheisenerzeugung
stieg von 1,39 auf 2,24 Mio. Tonnen um 61,2% und blieb dennoch beträchtlich
hinter der Nachfrage zurück; denn der Verbrauch nahm um mehr als das Doppelte zu
von 1,40 auf 2,95 Mio. Tonnen; also eine Differenz von rund 700 000 Tonnen, die
sich entsprechend auf die Preise auswirken mußte. Entgegengesetzt verlief die
Entwicklung dann in der Folgezeit mit einem Verbrauchsrückgang um 50 % im
Vergleich der Jahre 1873 und 1879, während die Produktion bei geringfügigen
Schwankungen in etwa auf dem gleichen Niveau verharrte.2
Der Bedarf an Eisenbahnschienen wuchs zwischen 1871 und 1873 von 412 342 auf
546 140 Tonnen, um bis 1876 rapide um mehr als die Hälfte auf 247 235 Tonnen
abzusacken.3
Auf der Lohnskala lassen sich Boom und Krise ebenfalls deutlich fixieren. Die
durchschnittlichen Wochenreallöhne der Industriearbeiter erreichten, 1913 gleich 100
gesetzt, im Jahr 1872/73 79 Punkte, 1875 84 Punkte und 1880/81 nur noch
70 Punkte oder 83,3 % des Wertes von 1875.4
1 G. Stolper u. a., Deutsche Wirtschaft seit 1870, Tübingen 1964, S. 24 f.; 93 davon waren
Bergbau- und Hüttengesellschaften. Im Reich entstanden zwischen 1871 und 1874 1 018
Aktiengesellschaften. A. Spiethoff, Die wirtschaftlichen Wechsellagen, Bd. 2, Tübingen/
Zürich 1955, Tafel 2.
2 A. Spiethoff, Wechsellagen, Bd. 2, Tafeln 13 und 20. H. Mottek, Die Gründerkrise, in:
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, S. 53 ff., S. 92 und S. 106 zu den Erlösen, die
überproportional zurückgingen.
3 W. Feldenkirchen, Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets 1879-1914, Wiesbaden
1982, S. 36 Den höchsten Zuwachs an Schienenlänge gab es 1875 mit 2 436 km. Im
darauffolgenden Jahr betrug er nur noch 1 157 km. Das Streckennetz erweiterte sich von
21 169 km im Jahr 1871 auf 27 931 km 1875 und 33 711 km im Jahr 1880. Die verzögerte
Rückentwicklung wurde durch die langen Planungsvorlaufzeiten bedingt. H. Mottek, Grün-
derkrise, S. 93.
4 W. Zorn, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge der deutschen Reichsgrün-
dungszeit (1850-79), in: Historische Zeitschrift 197, 1963, S. 337. Vgl. auch W, G. Hoff-
mann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts,
Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 461 ff.
115
Diese Vergleiche ließen sich beliebig und in allen Wirtschaftssektoren fortsetzen, und
man erhielte im Trend immer mehr oder weniger das gleiche Ergebnis. Bevor auf die
spezielle Situation an der Saar eingegangen wird, seien die Ursachen dieser Entwick-
lung skizziert.
Häufig werden Gründerboom und Gründerkrise, der Name deutet ja schon darauf
hin, in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Reichsgründung gebracht; und
ganz ohne Zweifel setzten der Sieg über Frankreich sowie die Einigung im Verein mit
dem Bewußtsein um die neue politische Machtstellung eine Woge von Optimismus
frei, die auch auf die Wirtschaft übersprang. Dies nicht von ungefähr, denn die
Eingliederung Elsaß-Lothringens war volkswirtschaftlich gesehen ein Gewinn. Man
denke an die leistungsfähige Baumwollindustrie und die Erzvorkommen, die freilich
erst ein Jahrzehnt später durch das Thomasverfahren überragende Bedeutung gewan-
nen.5
Die französische Kriegsentschädigung von 5 Mrd. Franken oder 4 Mrd. Mark zeitigte
insofern positive Wirkung, als sie zu einem erheblichen Teil in die Schuldentilgung der
öffentlichen Haushalte floß. Anleihen wurden zurückbezahlt, d. h. Vermögenstitel
wurden liquide, und das Geld suchte nach anderweitigen Anlagemöglichkeiten. Selbst
unsoliden Unternehmensgründern fiel es in diesem Klima leicht, Geldgeber aufzutun.
Die Spekulation blühte, nicht zuletzt begünstigt durch die Liberalisierung des Aktien-
rechts, welche die bis 1870 geltende landesherrliche Konzessionierungspflicht für
Aktiengesellschaften aufhob.
Darüber hinaus fand ein weiteres Quantum dieser Gelder via Entschädigungen,
Pensionen und Bauvorhaben konsumptiv Verwendung und setzte ziemlich rasch eine
Nachfragebelebung in Gang, die gleichfalls stimulierend auf die Wirtschaft wirkte.
Schließlich als Ursache nicht zu vergessen, die Vollendung der im Zollverein begon-
nenen wirtschaftlichen Einigung und mit ihr die Vereinheitlichung der Währung in
Form der Mark sowie von Maßen und Gewichten.6
Überdies aber fiel die Reichsgründungszeit mit einer günstigen konjunkturellen
Großwetterlage zusammen, die spätestens seit 1869 zunächst den Investitionsgüterbe-
reich durch einen kräftigen Schub belebte, ein Moment, das nicht übersehen werden
sollte. Im Vergleich zum Vorjahr nahmen das Eisenbahnstreckennetz 1869 um 43 %
und der Roheisenverbrauch um rund 25 % zu.7
Insofern hemmte der Krieg erst einmal den wirtschaftlichen Aufschwung, staute ihn
auf, freilich nur, damit er sich 1871 ff. um so ungestümer vor dem wesentlich
5 Zur Wirtschaft Elsaß-Lothringens vgl. M. Schlenker (Hg.), Das Reichsland Elsaß-Lothrin-
gen 1871-1918, Frankfurt/M. 1931, Bd. 1. Die Kalivorkommen spielten erst seit 1904 eine
Rolle.
6 Zum Vorgehenden vgl. H. Bechtel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands;
F. W. Henning, Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914, Paderborn 19763,
S. 203 ff.; F. Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Nachdruck der 3. Auflage,
Berlin 1979, S. 503 ff.; H. Mottek, Gründerkrise, S. 54 ff.; G. Stolper, Deutsche Wirt-
schaft, S. 19 ff.; A. Sartorius von Waltershausen, Deutsche Wirtschaftsgeschichte,
S. 243 ff., 261 ff. 271 ff.
7 H. Mottek, Gründerkrise, S. 53; W. Zorn, Zusammenhänge, S. 324.
116
günstigeren politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Hintergrund fortsetzen
konnte.
Die Börse als empfindlichster Gradmesser zukünftiger Weichenstellungen reagierte
zuerst auf die sich abzeichnende Diskrepanz zwischen den hochgeschraubten Erwar-
tungen der Anleger und der wirtschaftlichen Realität. Dem Börsenkrach folgte fast
unumgänglich der Bankenkrach, beschleunigt noch durch ähnliche Tendenzen in
Großbritannien und den USA. Vermögensverluste drückten auf die Nachfrage, die
Investitionsbereitschaft sank. Als Ergebnis dieser Kettenreaktion mußten viele Betrie-
be schließen. Dem Boom folgte ein rund sechsjähriger Niedergang, der längste und
tiefste unter den neuzeitlichen Wechsellagen. Erst gegen Ende des Jahrzehnts faßte die
Wirtschaft wieder Tritt.8
Soweit zum gesamtwirtschaftlichen Kontext des Konjunkturzyklus, der im Norden
des Reiches mit dem Zentrum Berlin tendenziell ausgeprägtere Formen annahm als im
Süden. Damit ist schon angedeutet, die Konjunktur verlief in jenen Jahren beileibe
nicht einförmig, und dies nicht nur regional, sondern auch sektorai, wie im folgenden
am Beispiel des Saarreviers gezeigt werden soll.
Es liegt nahe, die Ausführungen mit dem Steinkohlenbergbau zu beginnen, dem
wichtigsten Arbeitgeber des Reviers. Der Bergbau wie die gesamte Industrie an der
Saar hatten seit den 50er Jahren bekanntlich enorm von der Eisenbahn profitiert, dem
Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts überhaupt, das bis dato unvorstellbare Maßstäbe
hinsichtlich Geschwindigkeit und Transportkapazität gesetzt hatte; profitiert in
zweierlei Hinsicht, sowohl als Transportmedium wie auch als wichtiger Bedarfsträ-
ger.
Von ähnlicher Bedeutung, was freilich oft verkannt wird, erwies sich der 1866
eröffnete Saarkanal, erleichterte er doch den Weg nach Süden beträchtlich gegen die
Konkurrenz von der Ruhr, aus Belgien und Nordfrankreich.9
So erhöhte sich die Förderung der Gruben in den 60er Jahren um 76 % auf rund
3,5 Mio. Tonnen p. a., die Belegschaft vermehrte sich um 73 % von 11 000 im Jahr
1859 auf circa 19 000.10
8 H. Bechtel, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 378 f.; H. Mottek, Gründerkrise,
S. 64 ff.; F. W. Henning, Industrialisierung, S. 207 ff.; A. Sartorius von Waltershausen,
Wirtschaftsgeschichte, S. 283 ff.; A. Spiethoff, Wechsellagen, Bd. 1, S. 121 f.
9 F. W, Henning, Industrialisierung, S. 112 ff., 149 f.; K. Harrer, Eisenbahnen an der Saar,
Düsseldorf 1984, S. 15 ff.; G. Linden, Der Steinkohlenbergbau an der Saar unter preußischer
Verwaltung (1815-1920), Graz 1961, S. III ff.:
1859 1869
Eisenbahnabsatz 885 0001 53,4 % 1 900 0001 57,1 %
Landabsatz 676 0001 40,8 % 805 0001 24,0 %
Wasserabsatz 96 000 1 5,8 % 638 0001 19,0 %
Die hohe Schiffsfrequenz auf dem Kanal läßt den Schluß zu, daß die Kapazität des Kanals
weitgehend ausgeschöpft war und einer weiteren Ausdehnung des Wasserabsatzes entgegen-
stand. O. Beck, Beschreibung des Regierungsbezirks Trier, Bd. 3, Trier 1871, S. 16.
10 G. Linden, Steinkohlenbergbau, S. III f.; parallel dazu stiegen die Überschüsse auf 7,1 Mio.
Mark. E. Klein, Der Steinkohlenbergbau an der Saar während der 70er Jahre des 19. Jahr-
hunderts, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel. Festschrift für
W. Abel zum 70. Geburtstag, Hannover 1974, Bd. III, S. 753-774.
117
Auch das Jahr 1870 ließ sich hervorragend an. Die Nachfrage war selbst während der
sonst schwachen Monate so gut, daß die Bergverwaltung von „glänzenden Resulta-
ten“ sprach und die Zukunft optimistisch beurteilte.11
Der Deutsch-Französische Krieg zerstörte diese Hoffnungen zunächst einmal. Die
Einberufung von 3 000 Bergleuten zum Militär, die Konfiszierung fast der gesamten
Transportkapazitäten, die Unterbrechung der Kanalschiffahrt und schließlich ein
Export-Verbot nach Frankreich, dem wichtigsten ausländischen Markt, mußten
deutliche Spuren hinterlassen. Wenn dennoch die Förderung gegenüber 1869 nur um
26 % zurückfiel, belegt dies in der Tat, wie gut die Vorkriegsgeschäfte gelaufen sein
müssen.12
Das für die Saar wohl entscheidendste Ergebnis des Krieges, die Verschiebung der
Grenze nach Westen, blieb für den Bergbau ohne wesentliche Folgen. In Lothringen
hatte Frankreich erst seit dem Verlust des Saarbeckens nach 1815 mit der Exploration
der Kohlenlager begonnen, der jedoch wegen schwieriger geologischer Verhältnisse
nur geringer Erfolg beschieden blieb. Ungeachtet aller politischen Spannungen
versorgten die preußischen Gruben den französischen Markt weiter mit Kohlen.
Zeitweise fand mehr als die Hälfte der Förderung dort ihre Verbraucher. 1869 waren
es 46 % und im ersten Kriegsjahr immerhin noch mehr als ein Drittel des Absatzes.13
Elsaß-Lothringen war als Markt also ohnehin erschlossen, und die vorübergehende
Stockung des Exports wurde überkompensiert durch die explodierende Inlandsnach-
frage. So lag die Förderung zwar 1871 noch knapp unter der Marke von 1868, doch
schon für das erste Normaljahr, 1872, verzeichnete die Statistik eine Steigerung um
fast ein Drittel auf den neuen Rekordwert von 4,1 Mio. Tonnen. Den vorläufigen
Höhepunkt markierten die Jahre 1875, 1876 und 1879 mit Produktionsziffern von
annähernd je 4,5 Mio. Tonnen.14
Also kein Einbruch im Bergbau, als vielmehr ein Atemholen auf hohem Niveau? Was
Produktion und Absatz angeht, lautet die Antwort ja.15 Ein Blick auf die Verkaufsge-
biete aber zeigt schon, daß das hohe Niveau nur durch Umschichtungen zu halten
war.
11 E. Klein, 70er Jahre, S. 753.
12 E. Klein, 70er Jahre, S. 754; B. Jordan, Die Absatzverhältnisse der Kgl. Saarbrücker
Steinkohlengruben in den letzten 30 Jahren, in: Zs. für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen
32, 1884, S. 570 f.
13 B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 573; K. Fuchs, Die Bemühungen der preußischen Bergver-
waltung um den Absatz der Steinkohlenförderung des Saarreviers 1815-1900, in: Zs. für die
Geschichte der Saargegend 13, 1963, S. 95, 113 f.; Das Reichsland Elsaß-Lothringen,
Frankfurt/M. 1931, Bd. 1, S. 85 ff., 114 ff.; A. Haßlacher, Das Industriegebiet an der Saar
und seine hauptsächlichsten Industriezweige, Saarbrücken 1912, S. 77 ff. P. Thomes, Wirt-
schaftliche Verflechtungen einer Grenzregion: Die Industrielandschaft Saar-Lor-Lux im
19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 14, 1988, S. 184 ff.
14 G. Linden, Steinkohlenbergbau, S. IV.
15 Ähnlich verlief die Entwicklung auch im Oberbergamtsbezirk Dortmund, also im Ruhrgebiet,
wo im Vergleich der Jahre 1872 und 1879 gar ein Plus von rund 42 % erzielt wurde. Der
Anstieg verlief kontinuierlicher, da die Region vom Krieg weniger betroffen als die Saar. Die
Zahlen spiegeln nicht zuletzt den vermehrten Energiebedarf durch den ständig expandierenden
Einsatz von Maschinen. C. L. Holtfrerich, Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkoh-
lenbergbaus im 19. Jahrhundert, Dortmund 1973, S. 17.
118
Der Absatz im Reich sank zwischen 1873 und 1878 von 3,44 Mio. Tonnen auf
3,02 Mio. Tonnen um 12,2 %. Dagegen schnellte der Export um 87 % in die Höhe,
von 617 000 Tonnen auf 1,16 Mio. Tonnen. Sein Segment am Gesamtergebnis
kletterte damit von 15,3 % auf 27,8 %. Verantwortlich dafür zeichneten die Norma-
lisierung des Handels mit Frankreich und eine kontinuierliche Ausdehnung auf dem
Schweizer Markt, wo 1878 immerhin 9,1 % der Saarkohlen abgesetzt wurden.16
Verschiebungen waren auch auf dem Binnenmarkt zu registrieren; besonders fühlbar
in Lothringen wegen der starken Konkurrenz von der Ruhr und aus Belgien sowie der
besonderen Situation der Eisenindustrie, von der unten zu sprechen sein wird: hier, in
der einstigen Domäne, zwischen 1872 mit 1,15 Mio. Tonnen und 1878 mit noch
870 000 Tonnen ein regelrechter Absatzeinbruch von 25 %. Der Verkauf in Preußen
ging im gleichen Zeitraum um 11,4 % von 1,23 Mio. Tonnen auf 1,09 Mio. Tonnen
zurück, während Süddeutschland mit konstant hohen Zahlen in der Größenordnung
Preußens als Markt behauptet werden konnte und zur Stütze des Inlandsabsatzes
avancierte. Dieses Ergebnis lag um fast 40 % über dem Niveau von 1869, und für
Preußen verblieb trotz des Rückganges immer noch ein Plus von rund 15 %.17
Gehen wir von der rein mengenmäßigen Betrachtung ab und wenden uns anderen
Indikatoren wie Preisen, Löhnen, Umsatz und Gewinn zu, wird der Konjunkturum-
schwung noch deutlicher.
Übertrifft die Nachfrage das Angebot, steigen bekanntlich die Preise; und der Bedarf
übertraf nach Kriegsende alle Erwartungen bei weitem, ohne daß die Förderung im
gleichen Umfang hätte angehoben werden können. So beklagte die Handelskammer
im Boomjahr 1872 „die für eines der reichsten Kohlengebiete des Königreichs Preußen
absurde Tatsache des Kohlenmangels“.18 Entsprechend verhielten sich die Preise. Sie
erhöhten sich zwischen August 1870 und dem Preisgipfel im Dezember 1873 um
durchschnittlich mehr als 100 %. Bezogen auf die mittleren Jahrespreise errechnet
sich für die gleiche Periode ein Plus von 113 %.19 Dabei bleibt zu beachten, daß die
Nachfrage vor dem Kulminationspunkt 1873 wesentlich von der Spekulation auf
weitere Preiserhöhungen getragen worden zu sein scheint, als viele Indikatoren schon
auf einen Abschwung der Konjunktur hindeuteten. „Namentlich entferntere Märkte
versahen sich aus Besorgnis noch weiter gehender Preissteigerungen mit Vorräten“,
und im Herbst 1873 war es gelungen, „bindende Verträge zu hohen Preisen für
längere Zeit abzuschließen“.20
16 G. Linden, Steinkohlenbergbau, S. IX und S. XIV; B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 564,
572; K. Fuchs, Bemühungen, S. 113 f.
Verkauf nach: 1872 1879
Frankreich 396 7501 9,9 % 755 140 t 17,4%
der Schweiz 178 4501 4,4 % 349 601 t 8,2 %
17 B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 573. Im Vergleich zwischen 1868 und 1872 hatte sich der
Absatz in Preußen von 827 068 t auf 1,23 Mio. t um 48 % erhöht und für Süddeutschland
von 738 615 t auf 1,02 Mio. t um 37,8 %.
18 B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 553 ff.; Jahresbericht der Handelskammer (im folgenden
JHK) 1871 und 1872, S. 12.
19 E. Klein, 70er Jahre, S. 755, geht auf die Entwicklung ausführlich ein. Die Preissteigerungen
beliefen sich für Stückkohlen plus 113 %, für Förderkohlen plus 118 % und für Grieskohlen
auf plus 92 %. Die Durchschnittspreise sind den JHK entnommen. Sie erhöhten sich von
8,84 Mark je t auf 18,79 Mark je t. Vgl. dazu auch B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 574.
20 E. Klein, 70er Jahre, S. 756; JHK 1873; B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 567.
119
Was die Preisfindung angeht, so hat Ernst Klein nachgewiesen, daß der Fiskus eine
eher defensive Strategie verfolgte, die im großen und ganzen darauf gerichtet war, den
angestammten Markt zu halten und eine möglichst gleichmäßige Auslastung der
Anlagen zu erreichen. So begründete der Fiskus die Preiserhöhung zu Ende des Jahres
1873 mit dem Argument, daß andernfalls „eine unsere näheren Abnehmer schädigen-
de Ausdehnung des Absatzgebietes“ unausweichlich würde.21
Mit der Ausweitung der Förderung und dem Preisauftrieb einher ging eine Verbesse-
rung der Erlöse. Sie verzweieinhalbfachten sich von rund 29 Mio. Mark im Jahr 1871
auf rund 70 Mio. Mark im Jahr 1873. Trotz einer gleichzeitigen überproportionalen
Aufblähung der Kosten, insbesondere bei den Betriebsmaterialien und durch vermehr-
te Investitionen, profitierte die Bergverwaltung ganz beträchtlich am Boom. Mit
39 Mio. Mark verblieben alleine 1873 mehr in den staatlichen Kassen als in den
Jahren 1870 bis 1872 zusammen.22
Naturgemäß trugen die Investitionen zu einer Steigerung der Produktivität bei, es
scheint aber auch gelungen, über eine geänderte Gedingeordnung die Arbeitsintensität
zu erhöhen. Das so erzielte Förderungsplus reichte freilich nicht aus, der Nachfrage
gerecht zu werden. Zusätzlich wuchs die Belegschaft zwischen 1869 und 1873 um
13,8 % auf rund 21 400 Mann.
Dagegen stieg die Lohnsumme um circa 50 %. Daraus resultierte für die Arbeiter ein
Lohnzuwachs von rund einem Drittel in 5 Jahren, nicht zuletzt bedingt durch den
bedeutenden Bedarf an Arbeitskräften, dem ja ein nicht beliebig zu vermehrendes
Potential gegenüberstand.23 Auch der Arbeitnehmer also profitierte vom Boom, zumal
die Lebenshaltungskosten eher mäßig anzogen, so daß real noch ein beachtlicher Rest
in den Taschen der Arbeiter verblieben sein dürfte.24
Wenn schon 1873 erste Warnsignale aufgeleuchtet hatten, so befand sich die
Eisenindustrie nicht viel später unversehens in der Krise. Den Bergbau traf dies
zunächst nur indirekt; der Verkauf der Förderung war größtenteils durch langfristige
Lieferverträge gesichert, wenngleich im Tagesgeschäft die Preise, zusätzlich durch eine
milde Witterung begünstigt, schon beträchtlich nachgaben.25
Der Trend hatte sich umgekehrt, und die Talfahrt der Preise sollte erst 1879 enden, in
etwa auf dem gleichen Level, von dem aus der Höhenflug begonnen worden war.
21 E. Klein, 70er Jahre, S. 754 ff.; zur Preisfestsetzung und zu den Lieferverträgen generell vgl.
B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 565 ff.
22 E. Klein, 70er Jahre, S. 756 f.; G. Linden, Steinkohlenbergbau, S. 82; Zs. für das Berg-,
Hütten- und Salinenwesen, der statistische Teil der entsprechenden Jahrgänge. Die angegebe-
nen Zahlen weichen unwesentlich voneinander ab. Im Vergleich der Jahre 1870 und 1873
stieg die Förderung um 56 %, die Kosten erhöhten sich um 90 %.
23 Die Jahresleistung pro Kopf der Belegschaft nahm zwischen 1869 und 1873 von 183 t auf
199 t zu, also um 8,7 %. Sie lag damit knapp unter dem Reichsdurchschnitt. E. Klein, 70er
Jahre, S. 756 f.; G. Linden, Steinkohlenbergbau, S. XVII; H. Mottek, Gründerkrise,
S. 100; E. Müller, Die Entwicklung der Arbeiterverhältnisse auf den staatlichen Steinkohlen-
bergwerken vom Jahre 1816 bis zum Jahre 1903, Berlin 1904, S. 153 f.
24 E. Müller, Arbeiterverhältnisse, S. 157 f. und Tafel 1. Der JHK von 1873 zeichnet dagegen
ein weniger positives Bild.
25 Vgl. dazu Anm. 19 und 20.
120
Dabei verfolgte der Fiskus die bekannte Preisstrategie, jetzt unter umgekehrten
Vorzeichen mit dem Ziel der Verteidigung des angestammten Kundenkreises. Der
Nachfragerückgang im Inland wurde wie erwähnt durch eine Forcierung des Exports
kompensiert, die freilich auch hier alleine über den Preis ging.26
Spielraum war ja aufgrund der üppigen Gewinnspanne durchaus vorhanden. Trotz
sinkender Erlöse stiegen die Löhne 1874 nochmals leicht an, und der Beschäftigtenzu-
wachs setzte sich gar bis 1876 fort. Dennoch erreichte der Reingewinn selbst 1877
noch fast den Wert von 1869, und auf der Ertragssohle 1878 betrug er noch über
5 Mio. Mark. Das waren zwar weniger als ein Siebtel des Rekordjahres, die Summe
entsprach aber einer Umsatzrendite von 15 %, ein beachtlicher Wert; dies übrigens
bei weiterhin hohen Investitionen, die ausschließlich aus den Erlösen finanziert
wurden.27
Es gelang dies über eine allmähliche Entlastung der Ausgabenseite um etwa 20 %,
und zwar durch folgende Maßnahmen:
-Reduzierung der Belegschaft von 1876 bis 1879 um 8,2% (an der Ruhr
-11,7%),
- Lohnsenkungen von rund 14 % (an der Ruhr -37 %),
- Einsparungen bei den Betriebsmaterialien und
- eine vornehmlich rationalisierungsbedingt leicht steigende Schichtleistung, bezogen
auf die Belegschaft unter Tage um 13,8 % (an der Ruhr + 26 %); sie bewegte sich
dennoch um circa 10 % unter dem Reichsdurchschnitt;
alles in allem also vornehmlich über eine Senkung der Lohnkosten.28
Ziehen wir Bilanz, so bleibt unter dem Strich ein Ergebnis, das es nicht rechtfertigt,
von einer auf den Boom folgenden Depression zu sprechen. Allenfalls kam es zu einer
heftigen Preiskrise, die aber nicht so dramatisch war, daß sie das Staatsunternehmen
in die roten Zahlen getrieben hätte. Dagegen konnte die Förderung sogar leicht
gesteigert werden. Zu Massenentlassungen kam es deshalb nicht; vielmehr standen
1879 noch fast 15 % mehr Beschäftigte im Dienst der Bergverwaltung als 1869, dem
letzten Normaljahr vor dem Krieg, und was die Löhne angeht, blieb dem Arbeiter für
den gleichen Zeitraum noch ein Mehr von circa 13 %; insgesamt gesehen also eher ein
sanfter Übergang aus der Hektik der Hochkonjunktur zu normalen Verhältnissen.
Schließlich sollte die im ehemals bayerischen Teil des heutigen Saarlandes ansässige
private Frankenholzer Bergwerksgesellschaft Erwähnung finden, die aufgrund der
guten wirtschaftlichen Perspektiven seit Beginn der 70er Jahre die Aufschließung der
26 Dazu ausführlich E. Klein, 70er Jahre, S. 758 ff.; K. Fuchs, Bemühungen, S. 114 ff.; JHK
1875 und 1876.
27 JHK 1874 ff.; E. Klein, 70er Jahre, S. 762; G. Linden, Steinkohlenbergbau, S. XVII;
E. Müller, Arbeiterverhältnisse, S. 153 f. Nach E. Klein bewegten sich die Investitionen um
1,5 Mio. Mark p. a.
28 H. Mottek, Gründerkrise, S. 100; E. Müller, Arbeiterverhältnisse, S. 154; C. L. Holtfre-
rich, Ruhrkohienbergbau, S. 52, 55 und 67 f. Innovationen, wie die Verbreitung der
zeitsparenden Seilfahrt, die eiserne Streckenzimmerung, die leistungsfähige Kettenförderung
im Stollen und ein intensiver Maschineneinsatz setzten Arbeitskräfte und -zeit für die
Gewinnung der Kohle vor Ort frei, wo bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Produktivitätsfort-
schritte zu erzielen waren.
121
dortigen Kohlenfelder betrieb. Die Eigner ließen sich durch die Krise nicht beirren und
überstanden auch die vergleichsweise lange Vorlaufsphase. 1879 mündeten die
Bohrungen in der Abteufung eines ersten Schachtes, aus dem erstmals 1882 mit einer
Belegschaft von 42 Mann 500 Tonnen Kohle gefördert wurden.29
Zum zweiten Standbein des Montansektors, der eisenschaffenden Industrie, fällt ein
Gesamturteil schwerer, weil wir es mit verschiedenen Unternehmensgruppen und
-formen mit einer recht unterschiedlichen Produktionspalette zu tun haben und weil
im Gegensatz zum staatlichen Bergbau lückenlose Zahlenreihen durchweg fehlen.
Von der Situation im Bergbau auf die Eisenindustrie zu schließen, bietet sich auf den
ersten Blick zwar an, erweist sich aber in der Praxis nicht ohne weiteres als
durchführbar. Zum einen entfiel nur ein Drittel des Absatzes von Kohlenprodukten,
vor allem aufgrund der unbefriedigenden Koksqualität, auf die Eisenindustrie, und
davon ging noch ein Teil nach Lothringen und in andere Reviere; zum anderen waren
die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu unterschiedlich.30
Der französische Markt, der bis 1870 fast 50 % der Saarkohle abnahm, erwies sich
wegen der lothringischen Eisenindustrie als wenig aufnahmefähig. Nach der Einglie-
derung bekam man in ihr gar einen weiteren potenten Mitbewerber auf dem
Binnenmarkt. Da sich die heimischen hochwertigen Erzlager erschöpft hatten, mußten
Erze teuer von Lahn, Sieg und Dill bezogen werden, wollte man sich nicht auf die
Herstellung qualitativ geringer Erzeugnisse aus der phosphorhaltigen und damit zur
Massenstahlerzeugung vorerst noch ungeeigneten Minette beschränken. Der zur
Beimischung im Hochofen unerläßliche Ruhrkoks verteuerte sich durch die Bahn-
fracht ebenfalls, und bei der Deckung ihres Brennstoffgrundbedarfs waren die Hütten
allein von Angebot und Preisgestaltung des hiesigen Staatsbergbaus abhängig. Die
bayerischen und die Privatgruben fielen wegen ihrer geringen Fördermenge nicht ins
Gewicht. Hohe Frachtraten belasteten schließlich auch die Fertigprodukte, bevor sie
zur Kundschaft gelangten.31
Erwies sich beim Bergbau die Randlage als Garant für eine starke Monopolstellung,
mußte sie die Konkurrenzfähigkeit der Eisenindustrie doch sehr hemmen. Diese
unvorteilhaften Rahmenbedingungen kamen in Zeiten hoher Nachfrage freilich nicht
zum Tragen; und in eben einem solchen Zyklus bewegte sich die Branche mit kurzen
Unterbrechungen seit den 50er Jahren, als insbesondere Eisenbahn- und Maschinen-
29 Zum Bergbau in der bayerischen Pfalz vgl. J. Kluding, Die geschichtliche Entwicklung des
Steinkohlenbergbaues in der Pfalz bis 1920, Reprint Landstuhl 1981. Vor dem Ersten
Weltkrieg war Frankenholz noch vor den staatlichen Gruben die größte Steinkohlengrube
Bayerns.
30 B. Jordan, Absatzverhältnisse, S. 565.
31 Vgl. zu dem gesamten Komplex: P. Berkenkopf, Die Entwicklung und die Lage der
lothringisch-luxemburgischen Großeisenindustrie seit dem Weltkriege, Jena 1925, S. 11 f.;
W. Born, Die Entwicklung der Saar-Großeisenindustrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts,
Berlin 1919, S. 30, 33 f., 37 ff. und 41 ff.; H. Müller, Die Übererzeugung im Saarländer
Hüttengewerbe von 1856 bis 1913, Jena 1935, S. 8 ff.; J. Kluding, Die geschichtliche
Entwicklung des Steinkohlenbergbaues in der Pfalz, S. 96 ff. und 164; W. Petto, Zur
Geschichte der Eisenindustrie im Schwarzwälder Hochwald und ihrer Unternehmerfamilien
von ihren Anfängen bis 1870, in: Zs. f. d. Gesch. d. Saargegend 17/18, 1969/70,
S. 112-170; Reichsland Elsaß-Lothringen, S. 169-181.
122
bau einen gewaltigen Bedarf anmeldeten. Zwischen 1850 und 1869 vervierfachte sich
der Eisenverbrauch der deutschen Staaten, und die Eisenerzeugung stieg annähernd
um das Siebenfache auf 1,4 Mio. Tonnen. Erstmals vermochte 1868/69 der gesamte
Binnenbedarf aus eigener Produktion gedeckt zu werden. Die Roheisenerzeugung der
preußischen Saarhütten wuchs sogar um mehr als das Achtfache auf fast 78 000
Tonnen. Absatz fanden die Produkte überwiegend in Süddeutschland.32
Aus den vom Bergbau her bekannten Ursachen führte der Krieg auch in der
Eisenindustrie zu beträchtlichen Produktionseinschränkungen und verzögerte die
Aufwärtsbewegung, verstärkt noch um eine empfindliche Störung des Minettebezuges
aus Frankreich.33 Die deutsche Einigung veränderte zwar wie angedeutet die Wettbe-
werbssituation entscheidend, wenngleich die Konsequenzen erst einige Jahre später
zutage traten. Denn zunächst einmal setzte sich der unterbrochene Aufschwung fort,
getragen von der Gründerwelle, von riesigen Eisenbahninvestitionen, Militäraufträ-
gen und intensiviert noch durch die während des Krieges aufgestaute Nachfrage.
Trotz enormer Steigerungsraten hielt die Produktion mit der Nachfrage nicht
Schritt.34
An der Saar waren die Kapazitäten voll ausgelastet. Die Zahl der Beschäftigten steig
kontinuierlich ebenso wie die Löhne, und die Hütten investierten beträchtlich in die
Erweiterung und Modernisierung ihrer Anlagen. Dazu ein paar konkrete Angaben:
In Neunkirchen erhöhte sich die Zahl der Arbeiter von 1869 bis 1874 um 650 oder
48 % auf 2 000. Eine neue Kokerei und Gießerei gingen in Betrieb.35 Die Burbacher
Hütte verdoppelte ihre Hochöfen auf vier, und neue Walzenstraßen, Puddel- sowie
Koksöfen kamen hinzu.36 Die Haiberger Hütte errichtete 1872 einen zweiten Hoch-
ofen. Der Absatz konnte von 1 400 Tonnen im Jahr 1869/70 auf 4 600 Tonnen im
Jahr 1872/73 ausgebaut werden.37 Das St. Ingberter Eisenwerk erbaute 1872 eine
neue Drahtstraße.38 Dillingen investierte schon seit 1865 in eine Hochofenanlage, die
1869 fertiggestellt war. Ein Jahr später folgte ein dampfbetriebenes Grobblechwalz-
werk.39 Alle Saarhütten setzten den teilweise schon vor 1871 begonnenen Ankauf von
Minettekonzessionen in Lothringen und Luxemburg fort.40
32 Dazu generell A. Spiethoff, Wechsellagen, Bd. 2, Tafeln 13, 14 und 20; für das Ruhrgebiet
W. Feldenkirchen, Eisenindustrie, S. 22 f.; für das Saarrevier W. Born, Groß-Eisenindu-
strie, S. 28 ff. und 36; JHK 1869; Die Burbacherhütte 1856-1906, Saarlouis 1906, S. 31 und
für die regen Aktivitäten jener Zeit, S. 33 ff.
33 JHK 1870. Burbach bezog 1868 rund ein Sechstel (392 400 t) der verarbeiteten Erze aus
Frankreich; W. Born, Groß-Eisenindustrie, S. 31 und 36. Uber den Saarkanal wurden 1866
bis 1868 circa 100 000 t an Erzen importiert; O. Beck, Trier, S. 15. P. Thomes, Verflech-
tungen, S. 188 ff.
34 F. W. Henning, Industrialisierung, S. 205 ff.; A. Spiethoff, Wechsellagen, Bd. 2, Ta-
feln 13, 14 und 20. Die Roheisenproduktion erhöhte sich von 1869 bis 1873 um 61 %, der
Verbrauch stieg dagegen um 115 %.
35 Fünfviertel Jahrhundert Neunkircher Eisenwerk und Gebrüder Stumm, Mannheim 1935,
S. 32 ff.; Neunkirchen (Saar), Stadt des Eisens und der Kohle, Neunkirchen 1955, S. 285 und
287 ff.
36 Burbach, S. 46 ff.; JHK 1872.
37 F. Kloevekorn, 200 Jahre Halbergerhütte 1756-1956, Saarbrücken 1956, S. 56 ff. und 64.
38 W. Krämer, 200 Jahre Eisenwerk St. Ingbert 1733-1933, Speyer 1933, S. 135.
39 H. von Ham, 250 Jahre Dillinger Hütte, Beiträge zur Geschichte der Aktiengesellschaft der
Dillinger Hütte 1685-1935, o. O., S. 166 und 169.
40 P. Thomes, Verflechtungen, S. 191 f.
123
Trotz dieser Investitionen, trotz höherer Gestehungskosten - erinnert sei an die
explodierenden Kohlenpreise - und trotz beachtlicher Lohnerhöhungen - bei der
Burbacher Hütte im Vergleich der Jahre 1869 und 1873 ein Plus von 39,2 % -
gestaltete sich die Ertragslage besser als nur befriedigend. Burbach verdiente bspw.
1872/73 mehr als die Hälfte des Grundkapitals und schüttete seinen Aktionären
25 % Dividende aus. Dillingen erwirtschaftete schon 1868/69 einen Reingewinn von
20 % des Aktienkapitals.41
Diese Ergebnisse beruhten auf Preissteigerungen, die während dieser Jahre scheinbar
mühelos durchsetzbar waren. Auch dazu ein Beispiel: Die Burbacher Hütte erlöste
1870 für 1 Tonne Roheisen 60 Mark, 1873 aber 170 Mark; Eisenträger kosteten je
Tonne 200 bzw. 360 Mark.42
Nur natürlich, daß solcherart Ergebnisse auch zu Neugründungen reizten. Den
Anfang machte 1871 die von belgischem Kapital kontrollierte Burbacher Hütte. Sie
errichtete in einem Joint Venture mit der Luxemburger Metz-Gruppe ein Werk in
Esch auf der Minette, ein zukunftsweisender Schritt, wie sich bald heraussteilen
sollte.43
Zwei Jahre später, auf dem Höhepunkt des Booms, brachten erfahrene Eisenhütten-
leute an der Saar die Zeichnung von 500 000 Taler Aktienkapital zusammen und
gründeten die „Völklinger Eisenhütten AG für Eisenindustrie“.44 Hätten sie geahnt,
wie sich die Situation nur wenige Monate später darstellte, hätten sie ihr Geld wohl
anders angelegt, denn schon im Herbst nahm der Auftragseingang dramatisch ab, und
ein Preisverfall größeren Ausmaßes setzte ein.
Eine Verkettung widriger Umstände hatte zu dem Einbruch geführt, von dem die Saar
wiederum besonders betroffen war. Weshalb? Nun, zunächst beschleunigte der
Börsenkrach vom Mai 1873 die wegen der vorangegangenen Übertreibungen ohnehin
fällige zyklische Korrektur, indem er die Industrie zu vorsichtigeren Dispositionen
veranlaßte. Überdies verschärfte die Aufhebung der Roheisenzölle und die Senkung
der Zölle auf sonstige Eisenwaren den Angebotsdruck noch durch vermehrte
Auslandsimporte, v. a. aus England.45
Spezifisch für die Saar erschwerend wirkten zwei weitere Ereignisse. Einerseits war zu
Anfang des Jahres 1873 die Regelung ausgelaufen, die es den lothringischen Hütten
ermöglicht hatte, für eine Übergangsfrist zum halben Zolltarif nach Frankreich, ihrem
angestammten Markt, zu exportieren. Da Frankreich eine Schutzzollpolitik verfolgte,
41 H. Müller, Übererzeugung, S, 96, 117, 124 und 134 f.; Burbach, S. 51 f.; H. von Ham,
Dillingen, S. 169.
42 H. Müller, Übererzeugung, S. 134 f.
43 Burbach, S. 42 ff.
44 R. Nutzinger u. a., 50 Jahre Röchling Völklingen, Saarbrücken/Völklingen 1931, S. 5 f.
und 13 f.; A. Tille, Das Haus Röchling und seine Unternehmungen, Saarbrücken 1907,
S. 192 f.
45 JHK 1873. Seit 1875/76 übertraf die deutsche Roheisenerzeugung den -verbrauch; A. Spiet-
hoff, Wechsellagen, Tafel 14. F. W. Henning, Industrialisierung, S. 214; F. Kloevekorn,
Haiberg, S. 61; H. Mottek, Gründerkrise, S. 62 ff.; zusätzlich sah sich die Ruhrindustrie
gezwungen, sich verstärkt nach Süddeutschland zu orientieren.
124
waren lothringische Eisenwaren dort jetzt nicht mehr konkurrenzfähig, und die
Betriebe mußten versuchen, ihre Produktion im Reich abzusetzen; und hier, was
naheliegt, vornehmlich in Süddeutschland, der bisherigen Domäne der Saarhütten.46
Andererseits setzte sich mit dem Bessemerverfahren seit den 60er Jahren in der
Stahlerzeugung eine Technologie durch, welche die Gewinnungsprozedur gegenüber
dem bis dahin üblichen, arbeitsintensiven Puddelverfahren von 24 Stunden auf
20 Minuten und die Verarbeitungskosten um 90 % reduzierte. Dieses Verfahren aber
blieb den Saarhütten wegen des hohen Phosphorgehalts der Minette verschlossen,
während der hochwertige Bessemerstahl das sogenannte Schweißeisen aus vielen
Marktsegmenten verdrängte.47 In der Konsequenz verloren die Saarhütten bspw. bis
Mitte der 70er Jahre fast alle Aufträge für Eisenbahnschienen, obwohl der Eisenbahn-
bau noch beträchtlich weiterexpandierte.48
Die oben erwähnte Erhöhung der Eisenbahntarife zum 1.8. 1874 tat ein übriges.49
Summa summarum hatte die Eisenindustrie im Gegensatz zum Bergbau nicht nur
einen starken Verbrauchsrückgang um rund 50 % zu verkraften.50 Vielmehr sah sie
wegen der ausländischen Zollbeschränkungen keine Möglichkeit, den Rückgang der
Binnennachfrage durch Forcierung des Exports zu kompensieren. Gleichzeitig mußte
sie sich einer starken inländischen Konkurrenz erwehren, schwere produktionstechni-
sche Nachteile auszugleichen suchen und stark beeinträchtigende Frachttarife in Kauf
nehmen. So konnte es nicht ausbleiben, daß der Nachfrage- und Preisrutsch trotz
fallender Selbstkosten zu Krisenerscheinungen führte.51
Die junge Völklinger Hütte überstand den Engpaß mangels fehlender Rücklagen
nicht. Sie wurde im Mai 1879, als das Konjunkturtal schon durchschritten war,
endgültig stillgelegt. Fast 400 Arbeiter verloren ihren Job.52 Der 1756 gegründeten
und seit 1868 von Rudolph Böcking groß ausgebauten Haiberger Hütte, schon
damals auf die Gießerei spezialisiert, wäre es sicher ähnlich ergangen, hätte Carl
46 H. Müller, Übererzeugung, S. 25 f.; Burbach, S. 40 ff. und 50; F. Kloevekorn, Haiberg,
S. 61. Die lothringischen Werke vermochten nicht zuletzt günstiger zu produzieren, weil sie
auf dem Erz saßen. Im Hochofen kommen auf 3 t Erz nur 1,2 t Koks. Reichsland, Bd. 1,
S. 177 f.
47 Burbach, S. 32; W. Feldenkirchen, Eisenindustrie, S. 31 und 39; R. Nutzinger u. a.,
Völklingen, S. 6; Neunkirchen, S. 38 f.
48 H. Müller, Übererzeugung, S. 113; Schienenproduktton der Burbacher Hütte 1871/72:
17 810 t, 1875/76: 4 303 t, 1876/77: 746 t. Das deutsche Streckennetz wuchs noch 1875 um
2 436 km. H. Mottek, Gründerkrise, S. 93.
49 JHK 1874-77; W. Born, Groß-Eisenindustrie, S. 33 f. Differentialtarife ermöglichten es der
französichen Konkurrenz, unter Umständen billiger ins Reich zu transportieren als die
Saarhütten. Der Frachtanteil an den Selbstkosten schwankte je nach Produkt zwischen 20 und
40 %. 1876 wurde der diskriminierende Frachtzuschlag für Erze und Fertigfabrikate wieder
aufgehoben. Vgl. dazu auch Anm. 63.
50 Nach A. Spiethoff, Wechsellagen, Tafel 13, sank der Pro-Kopf-Verbrauch an Eisen von
71,5 kg 1873 auf 34,5 kg 1879 oder in absoluten Zahlen von 2,95 auf 1,52 Mio. t. Die
Produktion fiel ungleich langsamer, von 2,24 auf 1,85 Mio. t in 1876, um 1879 wieder
2,22 Mio. t zu erreichen; Tafel 20.
51 H. Müller, Übererzeugung, S. 27 ff.
52 R. Nutzinger u. a., Völklingen, S. 6. Das Ausbleiben von Schienenaufträgen spielte dabei
eine entscheidende Rolle. Schweißeiserne Schwellen blieben das einzige absetzbare Massenpro-
dukt. A. Tille, Haus Röchling, S. 192 ff.
125
Ferdinand Stumm, Bückings Schwager, nicht im September 1875 das Werk übernom-
men und so das Überleben gesichert. Der Betrieb war in jenen Jahren zwar gut
ausgelastet; Aufträge kamen aber nur herein zu Preisen, die unter den Gestehungsko-
sten lagen. Französische Firmen dominierten, unterstützt durch staatliche Ausfuhrprä-
mien, den deutschen Röhrenmarkt.53
In einer ähnlichen Situation befanden sich auch die anderen Hütten; sie überlebten
aber aufgrund ihrer hohen Substanz die Durststrecke. Burbach profitierte dabei vom
Tochterwerk Esch als billigem Roheisenlieferanten, von seiner Spitzenposition in der
Trägerfabrikation und der schnellen Umstellung der Produktion von Eisenbahnschie-
nen auf Eisenbahnschwellen, Form- und Stabeisen sowie Draht.54 Dennoch stürzte
der Reingewinn von 3,4 Mio. Franken 1872/73 auf nur noch 550 000 Franken in
1876/77.55 Eingedenk der Rücklagen von 8 Mio. Franken, die ja auch Erträge
abwarfen, wird deutlich, daß der eigentliche Hüttenbetrieb in jenen Jahren gerade so
an den roten Zahlen vorbeigeschrammt sein muß.
Eine vergleichbare Strategie verfolgte Stumm. Er stellte die Produktion ebenfalls auf
Träger und Schwellen um und konnte so wenigstens einen Teil der Kapazitäten
auslasten. Ertragszahlen liegen nicht vor, doch lassen der Erwerb der Haiberger Hütte
1875 und ein im gleichen Jahr angelaufenes Investitionsprogramm vermuten, daß die
Krise das alte Unternehmen nicht an den Rand des Ruins getrieben hatte.56
Um Entlassungen kamen beide große Werke nicht herum. Burbach setzte zwischen
1874 und 1876 rund ein Drittel, Stumm bis 1877 circa 20 % der 1874 über 2 000
Beschäftigten frei. 1879 arbeiteten wieder rund 2 100 Mann, also mehr als 1874.57
Die verbliebene Belegschaft mußte Lohneinbußen hinnehmen, im Schnitt von um die
20 % gemessen am Höchststand. Im Vergleich zu 1869 lagen die Löhne aber selbst
1878 noch um 15 % besser.58
Die für Dillingen erhaltenen Angaben deuten auf eine relativ stabile Lage hin. Bis
1874 hielt sich die Zahl der Arbeiter konstant um 1 300, um seit 1876 sogar auf
knapp 1 500 zu steigen. Mit der Konstruktion einer Panzerplattenwalzstraße in den
53 Das Werk wurde als Kommanditgesellschaft unter der Firma „R. Böcking & Cie.“ fortgeführt.
Böcking behielt die Leitung und blieb auch finanziell an dem Unternehmen beteiligt. Die
Produktion erhöhte sich von 3 200 t 1872/73 auf über 9 700 t 1877/78. Die Zahl der
Beschäftigten verdoppelte sich in dieser Zeit. F. Kloevekorn, Haiberg, S. 57 f. und 61 f.
54 Burbach, S. 46 ff.; A, Haßlacher, Industriegebiet, S. 119 f.; JHK der entsprechenden Jahre.
In Esch arbeitete man mit dem besseren Ruhrkoks. Die Trägerproduktion stieg von 18 000 t
1871/72 auf 27 000 t 1878/79, die der Schwellen von 2 277 t 1871/72 auf 20 608 t
1877/78. Die Schienenproduktion wurde 1880 eingestellt. Für Form- und Stabeisen sowie
Schwellen syndizierte sich die Saarindustrie 1877 in einer Verkaufsvereinigung mit den
Konkurrenten an Rhein und Ruhr.
55 Burbach, S. 52. Das Kapital der AG betrug 6 Mio. Franken. Zwischen 1875 und 1879
wurden je 10 % Dividende gezahlt, was nur die Erträge aus den Rücklagen ermöglichten.
Dazu auch H. Müller, Übererzeugung, S. 123 f.
56 Neunkirchen, S. 37 ff. Die Schienenproduktion endete schon 1876. Die Hochofengruppe
wurde modernisiert und auf sechs Ofen erweitert. 1878 kam ein Walzwerk für Träger,
Schwellen und Universaleisen hinzu. Vgl. auch Neunkirchen, S. 287 f.
57 JHK 1874-79; Neunkirchen, S. 39.
58 H. Müller, Übererzeugung, S. 117. Durchschnittslohn pro Schicht: 1869: 2,65 Mark; 1874:
3,69 Mark; 1879: 3,05 Mark.
126
Jahren 1876/77 auch hier in der Flaute Investitionen zwecks Erweiterung des
Lieferprogramms, während sich die Dillinger Spezialität, nämlich Bleche, ohnehin
stetig im Markt behaupten konnte.59
Bilanzieren wir, so hatte die Eisenindustrie nicht nur herbe Preisrückgänge, sondern
auch starke Produktionseinschränkungen um 30 % und mehr zu verdauen. 1878
standen nach Haßlacher von 19 Hochöfen inclusive der Krämer’schen Werke in
St. Ingbert neun kalt. Mit rund 6 300 Beschäftigten arbeiteten circa 18 % weniger
Männer als auf dem Höhepunkt des Booms.60 Den ruinösen Wettbewerb überlebten
nur die alteingesessenen Unternehmungen; die beiden Neugründungen scheiterten
dagegen an ihrer zu dünnen Kapitaldecke.
Mit dem Jahr 1878 begannen sich die Perspektiven langsam wieder aufzuhellen.
Bedingt durch das niedrige Preisniveau fand Eisen verstärkt als Baumaterial Verwen-
dung. Die im Juli 1879 in Kraft tretenden Schutzzölle und eine starke amerikanische
Nachfrage nach Eisenbahnzubehör sorgten weiter für Entlastung, ehe das Thomas-
verfahren zu Beginn der 80er Jahre auch an der Saar die Basis für die Massenstahler-
zeugung schuf und so den Fortbestand der Eisenindustrie gewährleistete.61
Nebenbei sei erwähnt, daß in die zweite Hälfte der 70er Jahre, also in die
Stagnationsphase hinein, zwei wichtige Gründungen im Maschinenbau fallen:
1876 machten sich der vormalige Oberingenieur der Zweibrücker Maschinenfabrik
Dingler, Ludwig Erhardt, und Partner mit der Firma Erhardt & Sehmer in Schleif-
mühle selbständig. Ihre Erzeugnisse sollten bald Weltgeltung erlangen. Ein Jahr später
entstand in St. Johann durch Übernahme der Gießerei und Maschinenfabrik Kautz &
Westmeyer die Firma Dingler, Karcher & Co.62
Die Übersicht bliebe bruchstückhaft ohne einen Blick auf die traditionsreiche Glasin-
dustrie. Sie hatte gleichfalls von der Verbesserung der Verkehrsverhältnisse entschei-
dend profitiert. 1869/70 beschäftigten 13 Glashütten mehr als 2 000 Arbeiter. Nach
den kriegsbedingten Störungen fand auch die Glasindustrie schnell wieder zu dem
alten, von Wachstum geprägten Rhythmus. Bis 1873 wurde die Belegschaft um 21 %
aufgestockt und die Produktion entsprechend ausgeweitet. Allein in Friedrichsthal
entstanden drei neue Glashütten.63
59 H. von Ham, Dillingen, S. 182 ff.; A. Haßlacher, Industriegebiet, S. .117 und 20 f. Vor
allem Feinbleche und das verzinnte Weißblech blieben anhaltend gefragt.
60 JHK 1877 und 1878; A. Haßlacher, Industriegebiet, S. 117 f. Die Roheisenkapazitäten
waren 1877 in Burbach nur zu 50 % und in Neunkirchen nur zu 70 % ausgelastet.
61 JHK 1878-1880; W. Born,, Groß-Eisenindustrie, S. 35; H. Müller, Übererzeugung,
S. 95 ff. und 134 f. Eisen fand jetzt u. a. im Bergbau breite Verwendung. Vgl. dazu auch
Anm. 27. Die Zölle betrugen für Roheisen 10 Mark je t, für Fluß- und Schweißeisen 25 Mark
je t; das entsprach rund 20 % der Inlandspreise.
62 A. Haßlacher, Industriegebiet, S. 142 ff.; Handel und Industrie im Saargebiet, Saarbrücken/
Düsseldorf/Berlin 1924, S. 81 ff.; Maschinenfabrik Erhardt & Sehmer AG Saarbrücken
1876-1926. Zur 50. Wiederkehr ihres Gründungstages, Saarbrücken 1926.
63 Davon 10 auf preußischem Gebiet mit 1 710 Beschäftigten. In die 50er und 60er Jahre fielen
14 Neugründungen und die Schließung der alten, abgelegenen Hütten. Eisenbahn und Kanal
begünstigten sowohl den Rohstoffbezug als auch den Warenversand. JHK 1869, 1879 und
1873; O. Beck, S. 399 ff.; W. Lauer, Die Glasindustrie im Saargebiet, Braunschweig 1922,
S. 100 ff., 153 f. und 159.
127
Dennoch zeigte sich die Nachfrage zeitweise so bedeutend, daß Aufträge abgewiesen
werden mußten. Entsprechend gab der Markt auch Preiserhöhungen her, die aber
schon Ende 1873 wegen starker belgischer Konkurrenz zurückgenommen werden
mußten, um überhohe Lagerbestände zu vermeiden.64
Diese Tendenz setzte sich in den nächsten Jahren fort, wobei die schon erwähnten
1874er Eisenbahntariferhöhungen und der nachfolgende Tarifwirrwar die Situation
noch verschärften. Durch den Fortfall von Sonderfrachtkonditionen ging fast die
gesamte norddeutsche Kundschaft verloren. Aus Sicht der Industrie ebenfalls erschwe-
rend, weil kostensteigernd, wirkte das im gleichen Jahr erlassene Verbot der Feuer-
bzw. Nachtarbeit von Jugendlichen unter 16 Jahren. Es scheint, als ob die Hersteller
versuchten, die Gestehungskosten über hohe Produktionsziffern möglichst niedrig zu
halten. Jedenfalls blieben beträchtliche Warenmengen unverkauft, trotz erheblicher
Preisnachlässe und großzügiger Zahlungsbedingungen.65 Von rund 50 Öfen im Bezirk
der Handelskammer Saarbrücken waren 1878 nur 29 in Betrieb.66 Alles in allem
dürfte der Produktionsrückgang max. 20 % betragen haben, wobei die einzelnen
Zweige verschieden stark betroffen waren. Die Beschäftigtenzahl sank nur um 10 %
und erreichte schon 1879 wieder den Stand von 1873. Die Abkehr von der
Freihandelspolitik zeigte also auch hier Wirkung, wenngleich zunächst noch die
inländische Konkurrenz zu schaffen machte.67
Die Flaute verschonte die Glasindustrie nicht. Verschiedene Indikatoren deuten
allerdings darauf hin, daß die Branche das Tief relativ glimpflich überstand: Die
Betriebseinschränkungen hielten sich in Grenzen. Hohe Lagerbestände konnten
ebenso finanziert werden wie Investitionen, unter anderem in die Verbesserung der
Öfen. Der Handelskammer-Bericht von 1877 bezeichnete die Substanz der Hütten als
recht bedeutend und wenig geschwächt. Schließlich sahen sich die Flaschenglasherstel-
ler noch 1878 in einer Position, die einen Zollschutz nicht unbedingt erforderlich
machte.68
Der Versuch, die Auswirkungen des Konjunkturverlaufs in den wichtigsten Saar-Indu-
strie-Zweigen auf die mittelständische Industrie, auf Handel und Gewerbe zu kom-
64 W. Lauer, Glasindustrie, S. 103 f. und 152; JHK 1870-1873. Die Vorräte an Fensterglas
beliefen sich Ende 1873 auf ein Viertel der Jahresproduktion.
65 JHK 1874-1879. Die Preisnachlässe erreichten zeitweise Dimensionen von bis zu 60 %. Die
Fracht für 10 t Tafelglas auf der Strecke Saarbrücken-Leipzig, das waren 593 km, betrug
434,- Mark, für die Strecke Charleroi-Leipzig, das waren 864 km, aber nur 334,10 Mark;
also trotz einer um 45 % weiteren Strecke ein um 24 % günstigerer Frachttarif.
66 W. Lauer, Glasindustrie, S. 104. Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß auch im Boomjahr
1873 30 % der Öfen kalt blieben; JHK 1873.
67 JHK der betreffenden Jahre; W. Lauer, Glasindustrie, S. 104 und 135. Differierende Zahlen
und Maßeinheiten machen genaue Angaben unmöglich. Glasproduktion im Bereich der
Handelskammer Saarbrücken: 1876: 20 398 t; 1879; 17 601 t; 1880: 22 966 t. 1881 schlos-
sen sich die Hütten zu einem Verkaufssyndikat zusammen. Die St. Ingberter Aktienglashütte,
gegründet 1868, scheint während der Flaute ihren Betrieb eingestellt zu haben und 1879
wiedereröffnet worden zu sein; vgl. dazu W. Lauer, Glasindustrie, S. 102 und W. Krämer,
St. Ingbert und seine Vergangenheit, St. Ingbert 1925, S. 271.
68 JHK 1877, 1878 und 1880; Handel und Industrie, S. 27 f.; A. Haßlacher, Industriegebiet,
S. 152 f.; W. Lauer, Glasindustrie, S. 100, 105 und 152 f. Die Öfen wurden sukzessive von
Koks- auf Gasbefeuerung umgestellt. Konkrete Zahlen über die wirtschaftliche Situation der
Hütte liegen nicht vor.
128
mentieren, erweist sich als problematisch, denn diese Bereiche sind quellenmäßig nur
sehr lückenhaft erfaßt. Immerhin aber reichen die verfügbaren Daten aus, um sich
wenigstens ein ungefähres Bild zu machen.69
Die Hoffnungen auf eine Erweiterung des Absatzgebietes nach Elsaß-Lothringen
scheinen sich nicht erfüllt zu haben. Die boomende Großindustrie und die mit ihr
wachsende Bevölkerung boten jedoch ein weites Betätigungsfeld. Die im Handelsregi-
ster eingetragenen Einzelfirmen nahmen zw. 1870/71 und 1873/74 von 591 auf 738
um 25 %, die Personengesellschaften um 11 % von 119 auf 132 zu, eine Tendenz, die
sich auch für die folgenden Jahre bestätigt; in jener Zeit ein gleichmäßiges Wachstum
bis auf 918 bzw. 145 Unternehmungen im Jahr 1877/78 und damit nur wenig
langsamer als in der Periode bis 1873/74.
Demgegenüber zeichnen die Handelskammer-Berichte schon seit 1873/74 ein relativ
düsteres Bild, bedingt durch sinkende Nachfrage und Preise sowie eine mangelhafte
Zahlungsmoral. Der Kolonialwarenhandel soll sich schon 1874 auf das Allernotwen-
digste beschränkt haben, und auch die Tabakindustrie sowie der Manufakturwaren-
handel litten unter der stockenden Nachfrage, um nur zwei Bereiche herauszugrei-
fen.
Als Indizien für die gedrückte Konjunktur werden u. a. die zunehmenden Zwangsver-
steigerungen sowie der Import amerikanischen Schweinefleisches angeführt; letzteres
billiger als einheimische Erzeugnisse und allein deshalb noch für die von Lohnsenkun-
gen betroffenen Arbeiter erschwinglich. Dabei wurde der Kredit von Kaufleuten und
Krämern arg strapaziert. Kleinere Betriebe fallierten, weil sie sich nicht in der Lage
sahen, ihre Forderungen zu realisieren.
Kritisch erscheint die Lage vor allem im Jahr 1878/79, als sich Liquidationen und
Neueintragungen in etwa die Waage hielten.70
In ihrem 1879er Bericht bedauerte die Handelskammer, daß die „Wechselbeziehun-
gen“ zwischen Großindustrie, Kleingewerbe und Handel noch nicht durchgeschlagen
seien und „die eingetretenen Besserungen bei der Großindustrie noch nicht ausreich-
ten, die schweren Schädigungen der Vergangenheit auszugleichen“.
Der Überblick soll nicht enden, ohne das Kreditwesen gestreift zu haben, und zwar
wegen seiner Funktion als Gradmesser für die gesamtwirtschaftliche Lage.
Zur Beförderung des Zahlungsverkehrs hatte die Preußische Bank 1859 in Saarbrük-
ken bei der Bergwerksdirektion eine Agentur eröffnet, die entsprechend ihrer Zielset-
zung vornehmlich das Wechselgeschäft pflegte. Nach dem Krieg verzeichnete die Bank
eine starke Intensivierung der Geschäftstätigkeit. Die Zahl der Inkassowechsel ver-
doppelte sich bis 1873 ebenso wie das Volumen auf 8 490 Stück bzw. 10,2 Mio.
69 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die JHK der entsprechenden Jahre.
70 Bei den Einzelfirmen standen 29 Eintragungen 35 Löschungen gegenüber.
129
Mark. In den folgenden Jahren verlangsamte sich zwar der Anstieg, setzte sich aber
bis 1879 fort.71
Den beachtlichen Kreditbedarf der Wirtschaft, Zeichen für eine hohe Investitionsbe-
reitschaft, dokumentiert das Niveau der diskontierten Wechsel, Es erreichte 1873
36,8 Mio. Mark. Sechs Jahre später hatte sich das Volumen mehr als gedrittelt, auf
gerade 11,2 Mio. Mark. Der Wechselumsatz insgesamt reduzierte sich im gleichen
Zeitraum um rund die Hälfte;72 deutliche Hinweise auf die wirtschaftliche Abküh-
lung.
Die Informationen über die Privatbanken sind äußerst spärlich. Das 1872 in
Saarbrücken gegründete Bankhaus Lazard, Brach % Co. überstand die Durststrecke
einigermaßen unbeschadet, arbeitete stets mit Gewinn und wies nur 1879 einen
größeren Posten zweifelhafter Debitoren aus. An der Finanzierung industrieller
Neugründungen scheint es freilich nicht beteiligt gewesen zu sein.73
Das alteingesessene Saarbrücker Bank- und Handelshaus Gebrüder Haldy brachte
1881 immerhin die Mittel auf, das in Konkurs gegangene Völklinger Eisenwerk zu
ersteigern, dem es zuvor gegen hypothekarische Sicherheit Betriebsmittel vorgeschos-
sen hatte.74
Besser belegt ist der Geschäftsverlauf, weil öffentlich-rechtliche Institute, bei den
Sparkassen. Von den fünf seinerzeit auf preußischem Gebiet arbeitenden Kreisspar-
kassen mußte allein diejenige des hochindustrialisierten Kreises Saarbrücken im Jahr
1877 einen Rückgang des Einlagenbestandes, und zwar um circa 4 %, verkraften.
Verantwortlich dafür waren weniger die gegenüber dem Vorjahr um etwas mehr als
10 % geschrumpften Neueinlagen als vielmehr die um rund 40 % emporschnellenden
Abhebungen; Indiz dafür, daß die Sparer zur Bestreitung von Ausgaben verstärkt auf
ihre Rücklagen zurückgreifen mußten, ohne allerdings ihre Konten ganz aufzulösen;
denn gleichzeitig stieg die Zahl der Konten weiter an. Zu Liquiditätsengpässen kam es
nicht.75
Bei den übrigen vier Sparkassen läßt sich eine ähnliche Tendenz beobachten.
Gleichwohl zeigt sie sich weniger stark ausgeprägt und mündete in keinem Fall in ein
Sinken des Einlagenbestandes. Ein Vergleich der Jahre 1869 und 1879 ergibt ein
vielfaches Einlagenwachstum bei allen Instituten: in St. Wendel und Merzig um mehr
71 JHK 1871 ff.; M. Pohl, Die Geschichte der Saarländischen Kreditbank Aktiengesellschaft,
Saarbrücken 1978, S. 28 f.; 125 Jahre Währungsgeschichte an der Saar 1859-1984, Saarbrük-
ken 1984, S. 24 ff. Im Jahr 1871: 4 338 Wechsel mit einem Volumen von 4,5 Mio. Mark;
1873: 8 490 Wechsel mit einem Volumen von 10,2 Mio. M.; 1879: 12 323 Wechsel mit
einem Volumen von 15 Mio. M.
72 JHK 1871-1879; Wechselumsatz 1872: 32,7 Mio. M.; 1873: 47,1 Mio. M.; 1879: 26,4 Mio.
M.
73 M. Pohl, Saarländische Kreditbank, S. 25 f., 32.
74 A. Tille, Haus Röchling, S. 192-196; vgl. dazu auch Anm. 50.
75 P. Thomes, Die Kreissparkasse Saarbrücken (1854-1914), Saarbrücken 1984, S. 136 ff.
130
als das Siebenfache, in Saarlouis und Saarbrücken um mehr als das Dreifache.76 Das
Sparpotential war folglich längst nicht erschlossen. Darüber hinaus kann diese
Entwicklung als Beleg dafür herangezogen werden, daß die industrialisierten Gegen-
den stärker in den Konjunkturzyklus eingebunden waren als die noch mehr landwirt-
schaftlich geprägten.
Im Bayern zugehörigen Teil des heutigen Saarlandes fiel die erste Sparkassengründung
1874 in Homburg genau in den Umbruch. Sie machte vergleichsweise geringe
Fortschritte, was aber weniger an der wirtschaftlichen Situation als an der Organisa-
tion gelegen haben dürfte.77
Deutlicher spiegeln den Konjunkturverlauf die Bilanzen des ältesten genossenschaftli-
chen Kreditinstituts an der Saar, des 1862 gegründeten Bank-Vereins der Gewerbe-
treibenden des Kreises Saarbrücken, wider. Sein Umsatz verdreifachte sich zwischen
1872 und 1875 auf über 5 Mio. Mark, um sich bis 1878 wieder auf 3,5 Mio. Mark
zu verringern. Die Mitgliederzahl stieg von Ende 1871 bis 1875 von 299 auf 509 um
70,2 % und ermäßigte sich dann um 16 %. Extrem verlief die Gewinnentwicklung:
hier ein regelrechter Absturz von fast 17 000,— Mark oder 14,5 % des Geschäftska-
pitals 1875 auf nur noch 2 478,—M. im Jahr 1878; Indiz also für eine heftigere
Erschütterung im Gewerbe als nach den eben interpretierten Handelskammerberich-
ten anzunehmen? Immerhin ging der Verein 1879 in Konkurs wohl nicht, denn das
Institut war allem Anschein nach wirtschaftlich gesund. Die Ursachen für den
Rentabilitätsschwund und die Liquidation lagen vielmehr in Veruntreuungen des
Kassierers. Er hatte allzusehr seiner Spielleidenschaft gefrönt und mehr als 100 000
Mark aus der Kasse abgezweigt, um sie in Nizza und Monaco zu verspielen.78
Die ausgewählten Beispiele haben gezeigt, daß Aufschwung, Krise und Stockung als
die wesentlichen Merkmale von Konjunkturzyklen sich für die Wirtschaft des
Saarreviers eindeutig nach weisen lassen. Die politischen Ereignisse zu Beginn der 70er
Jahre trafen das Grenzland als Kampfgebiet besonders empfindlich. Entsprechend
kräftig wirkten nach der Normalisierung der Lage die schon 1869 spürbar geworde-
nen Auftriebskräfte. Die Reichsgründung gab die bekannten zusätzlichen Impulse,
wobei aus der Verschiebung der Grenze nach Westen zunächst keine Vorteile, wenn
nicht sogar Nachteile erwuchsen. Alle Bereiche der Wirtschaft erlebten einen nie
gekannten Aufschwung, verbunden mit einer regen Investitionstätigkeit.
Von einem Gründerboom aber sollte man, wenn überhaupt, nur sprechen in
Beziehung auf die Reichsgründung, nicht aber hinsichtlich der Zahl neuer Unterneh-
76 LHA Koblenz, 403, 10002 f. Einlagenbestände 1878/79 bzw. 1879: Kreissparkasse Merzig
301 148,- M. - hier stiegen die Einlagen im Jahr 1877 aufgrund einer Satzungsänderung trotz
der Stagnation um das Siebenfache; Kreissparkasse St. Wendel 825 414,- M.; Kreissparkasse
Ottweiler, gegründet 1869, 153 532,- M.; Kreissparkasse Saarlouis 309 234,- M.; Kreisspar-
kasse Saarbrücken 1,085 Mio. M.
77 Bezirkssparkasse Homburg-Saar 1874-1934, Homburg 1934, S. 5 f. 1879 hatten 92 Sparer
36 694 M. angelegt. Bis 1914 avancierte sie zur drittgrößten kommunalen Sparkasse der
bayerischen Pfalz.
78 JHK 1878 und 1879; Ph. W. Fabry, Bewährung im Grenzland. Genossenschaftsarbeit an der
Saar von 1860 bis zur Gegenwart, Saarbrücken 1986, S. 50 ff. Die Interpretation M. Pohls,
Die Saarländische Kreditbank, S. 14, geht in die Irre.
131
men in Form von Kapitalgesellschaften. Die Besitzverhältnisse im Bergbau und die
versiegenden heimischen Erzlager halfen dies zu verhindern. Insofern wurde das
Revier auch von der 1873er Börsen- und Bankenkrise nur indirekt betroffen, als sie
die Klimaänderung beschleunigte, die die Konjunktur in eine Stockungsphase einmün-
den ließ. Ihr konnte sich auch die Saarwirtschaft nicht entziehen.
Es wäre falsch, den Umbruch in ein Jahr datieren zu wollen. Vielmehr müssen wir
genau differenzieren, und zwar zunächst einmal branchenmäßig, dann aber auch
innerhalb der einzelnen Branchen selbst, wie die Beispiele für die Eisen- und
Glasindustrie gezeigt haben. Allen Sektoren gemein war ein herber Erlösrückgang,
während die eisenschaffende Industrie außerdem einen dramatischen Absatzeinbruch
zu verkraften hatte. Neben dem Bergbau scheinen die mittelständischen Unternehmen
das Tief am besten überstanden zu haben; darauf lassen jedenfalls die Eintragungen
im Handelsregister schließen. Den größten Schwierigkeiten, den Umbruch zu bewälti-
gen, standen naturgemäß die jungen Firmen gegenüber, und nicht wenige scheiterten
mangels Rücklagen an dieser Herausforderung.
Schmerzliche Erfahrungen mußten ebenfalls Teile der während des Booms aufgestock-
ten Belegschaften machen. Viele Arbeiter standen unversehens brotlos da, wenngleich
der Eisenbahnbau in gewissem Umfang Ersatzarbeitsplätze bot.79 Die vergleichsweise
stetige Entwicklung von Sparkassen und Genossenschaften deutet überdies darauf
hin, daß auch in jenen Jahren durchaus ein Sparpotential vorhanden war, das
erschlossen werden wollte.
So unvorstellbare Dimensionen der Aufschwung angenommen hatte, so hart, ja
vielleicht sogar brutal mußten die Zeitgenossen die im Grunde genommen nur
natürliche Korrektur der Überhitzung empfinden. Festzuhalten aber bleibt: das
Niveau sank von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen nicht unter den Ausgangspunkt
der Rallye, sondern stabilisierte sich oberhalb davon. Das gilt sowohl für die
Produktion und die Zahl der Unternehmen, als auch für Arbeitsplätze, Löhne und
Lebensstandard.
79 K. Harrer, Eisenbahnen an der Saar, Düsseldorf 1984, S. 36 ff.; K. Hoppstädter, Die
Entstehung der saarländischen Eisenbahnen, Saarbrücken 1961, S. 94 ff., 132 ff.
132
Konrad Fuchs
Ausbau und Funktionen des Eisenbahnnetzes im
lothringisch-saarländischen Industrierevier
I.
Als bedeutendes Kerngebiet der europäischen Montanindustrie, zu dem es sich im
Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelte, war das Saargebiet auf enge wirtschaftliche
Verbindungen mit sämtlichen Nachbargebieten angewiesen, denn der eigene Markt
vermochte nur einen geringen Teil der umfangreichen Produktion aufzunehmen. Von
dieser Tatsache her hat man die saarländische Verkehrspolitik im allgemeinen und die
lothringisch-saarländische im besonderen zu sehen. Maßgebend war sie selbstver-
ständlich nicht nur während des Betrachtungszeitraums, der wirtschaftlich so interes-
santen und wichtigen Epoche von 1871 bis 1918, sondern vorher ebenso wie nachher.
Dementsprechend kam es bereits 1847 zu einer wichtigen Entscheidung der preußi-
schen Regierung. An der Westgrenze des Landes wurde damals eine französische
Bahnlinie von Metz nach Forbach gebaut. Zur gleichen Zeit entstand in der
bayerischen Pfalz zwischen Ludwigshafen und Bexbach die Ludwigsbahn. Wenn
nunmehr auf dem preußischen Teil des Saargebiets ein lediglich 22 km langes
Verbindungsstück vom Endpunkt Bexbach zum Endpunkt Forbach gebaut wurde,
dann bestand eine durchgehende Schienenstraße von Frankreich zum Rhein. Von der
Bedeutung dieser Linie für den internationalen Verkehr einmal abgesehen, zog vor
allem die Saarwirtschaft aus der Eisenbahnverbindung, dem damals schnellsten und
zuverlässigsten Verkehrsmittel, Nutzen. Der preußische Staat als Eigentümer fast
sämtlicher Kohlengruben im Saarrevier hatte daher ein erhebliches Interesse, die
wirtschaftliche Entwicklung dieses vergleichsweise recht isolierten Produktionsgebie-
tes zu fördern. Dementsprechend entschied sich die preußische Administration im
Jahre 1847 für den Eisenbahnbau zwischen Bexbach und Forbach als staatliches
Unternehmen. Noch im gleichen Jahr wurde mit den Bauarbeiten begonnen.1
Bei der Betrachtung der verkehrspolitischen Problematik in der Frühzeit des Eisen-
bahnbaues darf ein elementares Moment nicht unberücksichtigt bleiben: die Konse-
quenz, die sich aus der Mechanisierung des Landverkehrs ergab, denn sie unterwarf
diesen der „VerregeJmäßigung“. Der bisherige Verkehr zu Lande nämlich war anders
als der zu Wasser das „schwächste Glied in der Kette der kapitalistischen Emanzipa-
tion von den Schranken der organischen Natur“. Denn der Landverkehr, weitgehend
abhängig vom Einsatz von Tieren und dem Zustand der Landstraßen, konnte über
einen recht begrenzten Umfang hinaus nicht gesteigert werden, trotz noch so großer
Anstrengungen, abgesehen davon, daß die Leistungssteigerungen mit erheblichen
Kostenerhöhungen verbunden waren; sie erwuchsen u. a. aus dem Gespann- und dem
Botenwechsel. Daher stellte Nicholas Wood 1832 fest: „Man hat die größten
1 Vgl. hierzu W. O. Henderson, Die Entstehung der preußischen Eisenbahnen 1815-1848, in:
Karl Erich Born (Hrsg.), Moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte, Köln, Berlin 1966,
S. 149.
133
Anstrengungen unternommen, um die Geschwindigkeit der Posten (die bis jetzt die
schnellste Art der Beförderung darstellen) zu beschleunigen, ohne daß man über
10 Meilen pro Stunde hinausgekommen ist; und auch das war nur möglich aufgrund
eines solchen Raubbaus an den Tieren,daß man nur mit großem Schmerz daran
denken kann. Auf der Liverpool-Eisenbahn hingegen erreicht man mit der größten
Leichtigkeit eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 Meilen.“12
Wie wichtig die Saarkohle für Lothringen bereits vor dem Bau der Strecke Metz-For-
bach und damit vor dem Eisenbahnzeitalter, durch das dem Massengut Steinkohle
eine ganz neue Dimension eröffnet wurde, war, geht daraus hervor, daß beispielswei-
se auf der Straße zwischen Metz und Nancy täglich nicht weniger als 46 Pferde für
den Steinkohlentransport von Saarbrücken aus eingesetzt wurden, ln einer aus dem
Jahre 1844 stammenden Darstellung wird berichtet, daß die Louisenthaler „Kohlen-
führer. . . hier größtenteils für Frankreich laden und über Burbach, Malstatt, St. Jo-
hann und Forbach ihre Ladungen nach den drei Bistümern Metz, Toul und Verdun,
nach Nancy, ja bis Vitry, Chaumont und Epinal fahren. In der Hauptstraße von
Saarbrücken (so wird weiter festgestellt) bilden solche Kohlenfuhren, mit einem bis
sechs Pferden bespannt, eine ununterbrochene Reihe. Sie kommen in der Regel leer
an, bringen aber auch manchmal Salz mit oder Chausseesteine von Spichern.“2
Wenngleich der Verkauf saarländischer Kohle nach Lothringen die Wirtschaftsbezie-
hungen zwischen den beiden benachbarten Räumen intensivierte und erhebliche
gegenseitige Abhängigkeiten schuf, so sollte doch erst der Eisenbahnbau Bindungen
schaffen, die maßgeblich dazu beitrugen, daß sich im saarländisch-lothringischen
Raum eines der bedeutendsten Industriereviere entwickelte. Zu betonen gilt es bei
dieser Feststellung, daß die Revierbildung durch zwei Ereignisse entscheidend geför-
dert wurde: einmal die Annexion Lothringens durch Deutschland 1871, sodann durch
die Erfindung des Thomasverfahrens 1879, das die Verarbeitung der lothringischen
Minette im Großen ermöglichte. Zwar verfügte Lothringen über eine reiche Landwirt-
schaft und Viehzucht sowie eine zwischen St.-Die und Nancy angesiedelte Textilindu-
strie. Doch sein bedeutendster Wirtschaftszweig sollte sich auf den Eisenerzlagern, die
sich in den Kalken der Moselhöhen von Nancy bis nach Luxemburg und Belgien
hinein finden, entwickeln. Weil die Erze stark phosphorhaltig sind, werden sie
Minette (= kleines Erz) genannt.3 Auf der Grundlage des Thomasverfahrens erfuhr
die deutsche Eisen- und Stahlindustrie einen beeindruckenden Ausbau. Er wurde zu
einer der wichtigsten Voraussetzungen für die rasante Entwicklung des Deutschen
Reiches zu einer der führenden Industriemächte. Dabei gilt es auch das Ausmaß der
lothringischen Erzvorkommen zu berücksichtigen; immerhin umfaßten die Eisenerz-
vorkommen Lothringens einen geschätzten Metallgehalt von 700 Millionen Ton-
nen.4
laNicholas Wood, Treatise on Rail-roads and Interior Communication in General, London
21832, S. XII; zit. bei Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Indu-
strialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München, Wien (1977), S. 14.
2 Zit. bei Kurt Hoppstätter, Die Entsteheung der Saarländischen Eisenbahnen (Veröffentli-
chungen des Instituts für Landeskunde des Saarlandes, 2), Saarbrücken 1961, S. 17.
3 Vgl. hierzu u. a. B. Cerf, Alsace-Lorraine since 1870 (1919).
4 Vgl. hierzu Gustav Stolper/Karl Häuser/Knut Borchardt, Deutsche Wirtschaftsgeschichte
seit 1870, Tübingen 21966, S. 24.
134
Die außergewöhnliche Bedeutung, die der Erwerb Lothringens für die deutsche
Wirtschaft besaß, läßt sich selbst anhand der Überzeugungskraft von Zahlen nur
schwer verdeutlichen. Gleichwohl soll auf sie nicht verzichtet werden, da ihre
Aussagekraft beeindruckend ist: Während die lothringische Erzbasis im Jahre 1871
den Abbau von lediglich knapp 400 000 Tonnen Erz gewährleistete, waren es im
Jahre 1917 beinahe 18 Millionen Tonnen, mithin die fünfundvierzigfache Menge.43
Man darf zweifelsfrei unterstellen, daß es auch ohne die Annexion Lothringens zu
einem wirtschaftlichen und damit auch verkehrsmäßigen Zusammenwachsen der
Industrie an der Saar und im lothringischen Raum gekommen wäre, denn die
saarländische Kohle und die lothringischen Erze drängten zueinander, da sie sich
optimal insofern ergänzten, als zwischen den beiden Lagerstätten eine Entfernung von
nur 70 km Luftlinie bestand.5
Die Intensität der wirtschaftlichen Verflechtungen von saarländischem Raum und
Lothringen bereits vor 1871 ergibt sich, von dem hierzu schon Gesagten einmal
abgesehen, auch aus den folgenden Tatsachen: Ende 1862 hatte der saarländische
Industrielle Karl Röchling gemeinsam mit der Firma Haldy eine Eisenhütte zu
Pont-ä-Mousson gegründet. Und während der folgenden Jahre war er intensiv um den
Ausbau der Verkehrswege in der Umgebung des Werkes bemüht gewesen, insbeson-
dere um die Kanalisierung der Mosel bis Metz. In den Jahren von 1862 bis 1870
erfolgte nicht nur eine Modernisierung, sondern auch eine Erweiterung der Eisenhüt-
te. In jenen acht Jahren entstanden vier „große, leistungsfähige Hochöfen“ sowie „eine
der größten Eisengießereien des europäischen Kontinents“.6
Diese Tatsachen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Deutschland
am Vorabend der Reichsgründung noch vorwiegend agrarisch geprägt war. Es war
die Reichsgründung, von der die nachhaltigsten Impulse für die Industrialisierung
Deutschlands ausgingen. Innerhalb von nur wenigen Jahren trat das Deutsche Reich
in die erste Reihe der Industriestaaten ein. Übersehen werden darf dabei nicht, daß die
Wirtschaftskrise seit 1873 einen Rückschlag bei der rasanten Aufwärtsentwicklung
brachte. In den Reichslanden Elsaß-Lothringen machte er sich allerdings weniger
stark bemerkbar als im übrigen Reichsgebiet. Es war einmal die Ergiebigkeit der
landwirtschaftlichen Produktion, die, da sie auf dem deutschen Markt gute Absatz-
chancen besaß, die Krise erträglicher machte, zum andern bestanden auch nach der
Abtrennung der beiden Provinzen die wirtschaftlichen Beziehungen zu Frankreich
noch weiter, d. h. daß es dort nach wie vor einen bedeutenden Markt für elsässische
und lothringische Produkte gab.7
4aFIellmut Diwald, Geschichte der Deutschen, Frankfurt/M., Berlin, Wien (1978), S. 269.
5 Vgl. hierzu Konrad Fuchs, Hermann Röchling, in: Saarländische Lebensbilder, Bd. II,
Saarbrücken 1984, S. 226.
6 Hans Jaeger, Karl Röchling, in: Saarländische Lebensbilder, Bd. II, Saarbrücken 1984,
S. 207 f.
7 Vgl. hierzu Leopold Strauß, Deutsche Eisenbahnpolitik in Elsaß-Lothringen (Schriften des
Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt),
Frankfurt/Main 1927, S. 44 f.
135
Das bis 1870 nach französischen Maßgaben entstandene Eisenbahnnetz trug ganz
gewiß ebenfalls dazu bei, daß wegen der wenigen nach Deutschland existierenden
Schienenwege zunächst noch die Verkehrsbeziehungen mit 1 rankreich dominierten,
denn das französische Verkehrsnetz, das bis 1870 entstanden war, ist von der
selbstverständlichen Prämisse her zu sehen, daß das Elsaß und Lothringen einen
integrierenden Bestandteil des französischen Staatswesens darstellten. Trotz der
zwischen Frankreich und Deutschland bestehenden Zölle blieb der französische Markt
auch nach 1870 für die Reichslande vorrangig, denn was sich in vielen Jahrzehnten an
wirtschaftlichen Bindungen und Verbindungen zwischen Elsaß-Lothringen und
Frankreich entwickelt hatte, konnte nicht kurzfristig unterbunden werden. Dennoch
kam es zu Beeinträchtigungen, zumal des lothringischen Wirtschaftslebens, insbeson-
dere im Bereich der Bergwerks- und Eisenindustrie, die mit erheblichen Schwierigkei-
ten zu kämpfen hatte. Grenzziehungen nämlich wirken verkehrshemmend und stellen
damit eine Trennung, zumindest aber eine Beeinträchtigung der Beziehungen zu den
Nachbargebieten dar. Vor allem durch die Gewährung von Ausnahmetarifen suchte
man ihnen deutscherseits entgegenzuwirken.8 Infolge der bereits angesprochenen
großtechnischen Anwendung des Thomasverfahrens jedoch konnten die Beeinträchti-
gungen nach nur wenigen Jahren nicht nur behoben, sondern in ihr Gegenteil
gewandelt werden. Dies trug in nicht unerheblichem Umfang dazu bei, daß die 1873
einsetzende Wirtschaftskrise, die, wie gesagt, im Elsaß und in Lothringen ohnehin
nicht die Intensität wie im übrigen Reichsgebiet erreichte, hier früher als dort
überwunden werden konnte. Selbstverständlich ergaben sich hierher auch Vorteile für
die Eisenbahnen im elsässischen und lothringischen Raum, da der Frachtanfall seit
den 1878er Jahren höher als im übrigen Reichsgebiet war. Zu berücksichtigen hat
man bei dieser Feststellung allerdings, daß er mit einer allmählichen Verlagerung der
Transportrichtung verbunden war. Während er nämlich, wie vermerkt, bis 1870
vornehmlich nach dem Westen bzw. in den französischen Raum hinein ging, änderte
sich dies seit 1871 insofern, als nunmehr der deutsche Raum allmählich vorrangig
wurde. Vollends trat die Vorrangigkeit seit der Anwendung des Thomasverfahrens
ein. Dadurch erlebte der lothringisch-saarländische Raum einen bisher beispiellosen
wirtschaftlichen Aufschwung; er ließ in den Jahrzehnten bis zum Ausbruch des
1. Weltkriegs einen auf den Mineralien Eisen und Kohle basierenden Wirtschaftsraum
entstehen, der einen Vergleich mit den übrigen großen deutschen Revieren, so dem
rheinisch-westfälischen, dem oberschlesischen oder dem sächsisch-thüringischen ohne
weiteres zuläßt.9
Der Beginn der Verhüttung der Minette in Lothringen und die damit verbundene
Überwindung der rezessiven Erscheinungen im lothringischen Wirtschaftsleben blie-
ben, wie gesagt, nicht ohne Auswirkungen auf das Verkehrswesen der Region, und
dies nicht nur im Bereich bestehender Linien, sondern auch im Bereich Streckenneu-
bau. Nachdem bereits in Gesetzeserklärungen von 1872 und 1873 der Neubau
verschiedener Schienenwege erwähnt worden war, deren „Dringlichkeit und Notwen-
digkeit“ sowohl aus Verkehrs- als auch aus verteidigungspolitischen Gründen resultie-
8 ebd., S. 47.
9 ebd., S. 48.
136
re,10 wurde der Reichskanzler durch Reichsgesetz vom 28. Mai 187711 ermächtigt,
eine Eisenbahn von Teterchen (zwischen Busendorf und Hargarten im Bezirk Lothrin-
gen gelegen) nach Hostenbach (im Kreis Saariouis) auf Rechnung des Staates
anzulegen. Es handelte sich dabei um die Weiterführung der von der lothringischen
Eisenbahngeselischaft erbauten und von der Reichsverwaltung betriebenen Bahnlinie
Courcelles-Bolchen-Teterchen. Wohl hatte die Gesellschaft auch für die Teilstrecke
von Teterchen über Hargarten und Differten nach Wadgassen bzw. Bous bereits die
Vorarbeiten ausführen lassen, doch war ihr die Baugenehmigung für diesen Abschnitt
durch das Reich nicht erteilt worden.12 Der Grund dafür lag darin, daß die
Generaldirektion der Reichseisenbahnen die durch die lothringische Eisenbahngesell-
schaft gestellten Bedingungen nicht akzeptiert hatte. Gefordert worden war bei
Übergang des Betriebes der Strecke in die Verwaltung der Reichseisenbahnen entwe-
der die Zahlung von 5 % Zinsen durch das Reich für die Herstellungskosten oder die
Zahlung „eines bestimmten Anteils der Bruttoeinnahmen“ aus dem Betrieb auf der
neuerbauten Linie an das lothringische Unternehmen.13
Die ablehnende Haltung der Generaldirektion hatte ihren Grund darin, daß sie die
Bahn zwischen Teterchen und Bous selbst bauen wollte. Zu sehen hat man sie im
Zusammenhang mit den großräumigen Verkehrserschließungen, die die Generaldirek-
tion in Anbetracht der sich abzeichnenden wirtschaftliche;! Entwicklung im lothrin-
gisch-saarländischen Raum vorzunehmen beabsichtigte. Außer der Weiterführung der
Linie Courcelles-Bolchen-Teterchen über Hargarten und Differten nach Bous bzw.
Wadgassen ging es ihr darum, im Anschluß an die Saartalbahn Saarbrücken-Trier
bzw. Saarbrücken-Saargemünd, die 1860 resp. 1869 eröffnet worden war,14 sowie die
geplante Fischbachtalbahn, die von Saarbrücken über Wemmetsweiler nach Neunkir-
chen führen sollte - sie nahm 1879 ihren Betrieb auf —, eine direkte, von der
Bahnstrecke Courcelles-Forbach-Saarbrücken unabhängige Verbindung von Metz
nach Mainz zu schaffen.15 Über die Saartalbahn und die Eifelbahn bzw. die
Moselbahn bewerkstelligte sie außerdem eine von der Bahnstrecke Metz-Diedenhofen
unabhängige Verbindung von Metz nach Köln und nach Koblenz.
Die wirtschaftlichen Vorteile, die aus einer Schienenverbindung von Metz aus bzw.
dem lothringischen Raum ins Saarrevier und darüber hinaus nach Mainz, Köln und
Koblenz bzw. in das Rhein-Main-Gebiet, den rheinisch-westfälischen Raum und das
Mittelrheingebiet erwuchsen, sind unübersehbar. Von den wirtschaftlichen Vorteilen
abgesehen, dürfen selbstverständlich auch die militärstrategischen Gesichtspunkte
nicht übersehen werden. Die genannten Linien verbanden nämlich auch die bedeuten-
den Festungs- und Garnisonsstädte Metz, Köln und Mainz miteinander. Einbezogen
war in dieses strategische Dreieck quasi als Mittelpunkt Saarbrücken.
10 Die geforderten Bahnen konnten damals wegen mangelnder finanzieller Mittel nur teilweise
gebaut werden (vgl. hierzu L. Strauß, a. a. O., S. 51).
11 Vgl. hierzu Reichsgesetzblatt, Jg. 1877, S. 25.
12 Vgl. hierzu L. Strauß, a. a. O., S. 51.
13 ebd., Anm. 2.
14 Vgl. hierzu K. Hoppstätter, a. a. O., S. 108 u. S. 110.
15 Vgl. hierzu L. Strauß, a. a. O., S. 52.
137
Da die Verbindung von Metz über Teterchen nach dem Rhein um 20 km kürzer als
die Linie über Diedenhofen war, ergaben sich bemerkenswerte Vorteile bei den
Frachtkosten für die Kohlentransporte aus dem Saarrevier einmal nach Metz, sodann
zu den Eisenhütten an der Mosel sowie im übrigen lothringischen Raum. Durch die
Erztransporte von Metz bzw. aus Lothringen nach dem Saargebiet, darüber hinaus
aber auch in das rheinisch-westfälische Industrierevier, gleichzeitig durch die Stein-
kohlentransporte von der Saar sowie von Rhein und Ruhr nach Lothringen, konnte
auf ein bedeutendes Frachtaufkommen für die Strecke Courcelles-Teterchen gerechnet
werden.
Wie bereits erwähnt, setzte mit der Erfindung des Thomasverfahrens bzw. seiner
großtechnischen Anwendung ein außerordentlich schneller und umfangreicher Indu-
striaiisierungsprozeß im saarländisch-lothringischen Raum ein. Er erstreckte sich
nicht nur auf die Kohle- und Erzförderung, sondern auch auf die Eisenerzeugung und
-Verarbeitung. An der Verarbeitung des Eisens beteiligten sich sowohl die Groß- als
auch die mittelständischen Unternehmen. Neben saarländisch-lothringischen stamm-
ten nicht wenige aus dem übrigen Reichsgebiet. So errichtete das Siegerländer
Unternehmen Dango & Dienenthal, das 1865 für die Herstellung von Metallguß und
Metallarmaturen in Siegen gegründet worden war, im Jahre 1885 in Oettingen ein
Zweigwerk für die Herstellung von gegossenen und geschmiedeten Hochofen-Armatu-
ren. Mit den inmitten des aufstrebenden lothringischen Reviers produzierten Fabrika-
ten sollte vor allem die dortige Eisenindustrie versorgt werden. Die Marktnähe
eröffnete günstige Voraussetzungen, den speziellen Wünschen der Kundschaft zu
entsprechen.16
Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, daß das Reich bemüht war, dem
Industrialisierungsprozeß in Lothringen und im Saarrevier durch ein den hierher sich
ergebenden Ansprüchen auf dem Verkehrssektor, und das heißt vor allem im
Eisenbahnbereich, zu entsprechen. Ihnen verdankte die Bahn Teterchen-Bous mit
einer Abzweigung nach Wadgassen und Völklingen ihre Entstehung, obwohl sie bis
zu einem gewissen Grad Verkehr von der Strecke Saarlouis-Saarbrücken und Metz
abziehen würde. Doch angesichts der schnellen Industrialisierung im Raum Lothrin-
gen/Saar seit den ausgehenden 70er Jahren konnte es sich dabei lediglich um einen
vorübergehenden Vorgang handeln, da davon auszugehen war, daß beide Linien für
das zu erwartende Verkehrsaufkommen notwendig sein würden. Im Jahr der Eröff-
nung der Hauptstrecke Teterchen-Bous - 1880 - und der Nebenstrecke Wadgas-
sen-Völklingen - 1881 - stand die Industrialisierung in den durch sie erschlossenen
sowie den daran sich anschließenden Gebieten erst in ihren Anfängen, denn, wie
verschiedentlich vermerkt, begann die Verarbeitung der Minette bzw. das dadurch
ausgelöste schnelle Industriewachstum 1878. Hinzuweisen ist ebenfalls darauf, daß
durch den Ausbau der Schienenwege in Lothringen und im Elsaß sowie von hier aus in
das übrige Reichsgebiet hinein die Integration der Reichslande mit den übrigen
Reichsteilen gefördert werden sollte.17 Verbunden war damit das Bemühen, die
16 Vgl. hierzu Konrad Fuchs, Siegerländer Unternehmer des 19. Jahrhunderts und ihr Werk,
^ Wiesbaden 1979, S. 112.
17 Vgl. hierzu auch die Hinweise bei L. Strauß,, a. a. O., S. 53.
138
bisherigen engen Verflechtungen auf wirtschafts- und verkehrspolitischem Gebiet mit
Frankreich zu lockern. Dieses Unterfangen widersprach allerdings den seit Jahrhun-
derten bestehenden Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Saarraum
und dem östlichen Frankreich. So war Saarbrücken stets ein bedeutender Umschlag-
platz für den Transithandel vor allem vom Landweg zur Saar. Neben Salz aus
Lothringen sowie Holz trat bereits im 16. Jahrhundert Kohle als Massengut, die vom
sog. Kohlrech aus verfrachtet wurde.173
Der Integration Lothringens in das Reich sollte die Linie Dieuze-Bensdorf dienen,
deren Bau 1878 beschlossen wurde;18 ebenfalls der Übergang des Streckenabschnitts
Chateau-Salins-Saaralben aus dem Besitz der Lothringischen Eisenbahngesellschaft in
den des Deutschen Reiches.19
Was die Linie Dieuze-Bensdorf betrifft, so sei darauf hingewiesen, dal? sie die
Fortsetzung der schon seit 1864 in Betrieb stehenden Strecke von Avricourt, das seit
1871 Grenzort war, nach Dieuze darstellte. Für das Städtchen Dieuze, das durch seine
chemischen Betriebe für die Produktion von Soda, Alaun und Schwefelsäure sowie
seine schon von den Kelten und Römern benutzten Salinen erhebliche wirtschaftliche
Bedeutung besaß, war die direkte Schienenverbindung über Bensdorf und Saaralben in
das Saargebiet hinein einmal für den kostengünstigen Steinkohlenbezug, sodann für
den bequemen Abtransport der in und im Einzugsbereich des Städtchens produzierten
Erzeugnisse von großer Bedeutung. Die Verbindung von Bensdorf nach Avricourt
wurde durch diese Ergänzungsstrecke um 20 km kürzer, eine Tatsache, die sich auf
den Warenaustausch vor allem mit dem Saargebiet bzw. den Bezug von Saarkohle
verbilligend und daher positiv auswirkte. Ebenfalls der lokale Verkehr zog aus der
Ergänzungsstrecke Vorteile.20
Die am 1. Mai 1882 eröffnete Strecke Dieuze-Bensdorf war mit Reichsmitteln erbaut
worden.21 Durch Reichsgesetz vom 9. Juli 1879 war die Herstellung einer Linie von
Niederbronn über Saargemünd nach Diedenhofen verfügt worden.22 In ihr handelte es
sich um eine Verbindung, die ihre Projektierung bereits in der Zeit vor 1871 erfahren
hatte. Bei Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 war sie schon bis
Karlingen ausgeführt worden, doch betrieben wurde sie nur bis Beningen, eine Station
der Linie von Metz über Remilly und Forbach nach Saarbrücken. Wesentliche
Förderung des letzten Streckenabschnitts der Bahnlinie Niederbronn-Saarge-
münd-Diedenhofen, der Strecke Karlingen-Diedenhofen, erfuhr diese durch den vom
Reich aufgrund des Reichsgesetzes vom 21. Mai 1879 genehmigten Bau der strate-
gisch wichtigen Bahn Teterchen-Bous, Fortsetzung des bereits mehrfach erwähnten
Schienenweges von Courcelles nach Teterchen.23 Die projektierte Strecke Karlin-
17aVgl. hierzu Hanns Klein, Saarbrücken, in: Ludwig Petry (Hrsg.), Rheinland-Pfalz und
Saarland. Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, 5. Bd., Stuttgart 31976, S. 320.
18 Vgl. hierzu Bericht des Reichstags, 2. Legislaturperiode, II. Session, 1878, S. 656.
19 Bereitgestellt wurden für den Kauf aus Reichsmitteln 4 405 515 Mark (L. Strauß, a. a. O.,
S. 54).
20 Vgl. hierzu L. Strauß, a. a. O., S. 54.
21 ebd.
22 ebd.
23 ebd.
139
gen-Diedenhofen „fiel nämlich auf 5,5 km - von Teterchen bis Hargarten - mit der
Bahn Teterchen-Bous zusammen“, weshalb das Reich noch die Strecke von Hargarten
bis Karlingen auf eigene Rechnung bauen ließ, um dadurch einen Anschluß an die von
Hagenau über Niederbronn nach Saargemünd führende Schienenstraße zu gewin-
nen.24
Es ging nunmehr noch darum, von Teterchen aus eine Bahnverbindung mit Dieden-
hofen zu erreichen, um dadurch die bereits seit langem von den maßgebenden Kreisen
der Wirtschaft und der Administration Elsaß-Lothringens geforderte Strecke zu
realisieren. Bereits vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges französischerseits
konzipiert, um als Grenzbahn vor allem strategischen Interessen Frankreichs zu
dienen, legte man französischerseits nach Abschluß des Frankfurter Friedensvertrags
verständlicherweise keinen Wert mehr auf ihre Realisierung. Das Reich hingegen
entschloß sich, sie zu bauen, da dadurch vor allem wichtigen wirtschaftlichen
Interessen hervorragend entsprochen wurde. Sie sollte nämlich „die Ausbeutung der
zahlreichen Bergbau-Konzessionen in dem durchschnittenen Landesteile möglich
machen und den letzteren für den Verkehr in seinen industriellen und landwirtschaft-
lichen Produkten aus der bisherigen Abgeschlossenheit herausziehen“.25 Die Realisie-
rung der Strecke bedeutete eine erheblich kürzere Verbindung der Eisenerzgruben und
Hüttenwerke Lothringens und der Kohle des Saargebiets. Aufgrund des Vorschlags
der Reichseisenbahnverwaltung sollte sie über Anzeldingen direkt nach Bolchen
geführt werden, da dieser Verlauf billiger als andere in Erwägung gezogene Strecken-
führungen bewerkstelligt werden konnte. Auf den Wunsch der Landesverwaltung hin
wurde sie jedoch über Busendorf und Freisdorf geführt, was eine Ausbuchtung der
Linienführung nach Norden erforderlich machte, um auch diese beiden Gemeinden an
den Eisenbahnverkehr anzuschließen. Am 1. Juni 1883 konnte die Linie dem Verkehr
übergeben werden, und zwar in eingleisiger Ausführung.26
Die französischerseits bis 1870 sowie deutscherseits zwischen 1871 und 1883
entstandenen Bahnen, die das Land sowohl in nord-südlicher als auch in west-östli-
cher Richtung hervorragend erschlossen, was durch den Blick auf eine Eisenbahnkarte
bestätigt wird,27 trugen in erheblichem Maße dazu bei, die Minettevorkommen zu
erschließen und die sich aus ihrer Hebung und Verarbeitung ergebenden Massentrans-
porte zu bewältigen.
Mit dem am Saarland bzw. an der saarländischen Kohle, darüber hinaus am
Rhein-Ruhr-, am Mittelrhein- und am Rhein-Maingebiet maßgeblich orientierten
Eisenbahnbau in Lothringen seit 1871 wurde deutscherseits wirtschaftspolitischen
Vorstellungen entsprochen, die vor allem eine Einbeziehung der lothringischen
Minette in das deutsche Wirtschaftsgefüge zur Grundlage hatten. Bereits im Zusam-
menhang mit den noch während des deutsch-französischen Krieges diskutierten
Annexionen waren sie formuliert worden. Als nämlich dem am 14. August 1870
24 Vgl. hierzu Reichsgesetz vom 8. 5. 1878.
25 Verhandlungen des Landesausschusses, VI. Session, 1879, Vorlage Nr. 7.
26 Vgl. hierzu L. Strauß, a. a. O., S. 56.
27 Vgl. hierzu W. Nietmann, Atlas der Eisenbahnen des Deutschen Reiches, Straßburg 1S1897,
Karte 13.
140
gebildeten Amt eines „Generalgouverneurs im Elsaß“ ein Zivilkommissar beigegeben
wurde, ließ der Präsident des Bundeskanzleramtes, Rudolf v. Delbrück, sich von den
Ressortministern entsprechende Unterlagen vorlegen. Der Minister für Handel,
Gewerbe und öffentliche Arbeiten, Heinrich v. Itzenplitz, fügte seinem Material am
19. August eine Denkschrift des Bergrats Heinrich Hauchecorne vom 18. August bei.
Über Delbrück gelangte die Denkschrift an Bismarcks Mitarbeiter Heinrich v. Abe-
ken. Wegen seines Geschicks, passende Entwürfe für Denkschriften etc. abzufassen,
erhielt er bekanntlich den Beinamen „Bismarcks Feder“. Abeken leitete die Denk-
schrift am 3. September mit dem folgenden Hinweis an den Generalgouverneur
weiter: „die Heranziehung. . . Hauchecornes scheint empfehlenswert.“ Daraufhin
wurde der Bergrat am 17. September als „Ingenieur en Chef“ für Bergbau, Hüttenbet-
rieb und Salzgewinnung zum Zivilkommissar bestellt.28 Aufgrund seiner Kenntnisse,
die er sich vor allem während seiner Tätigkeit in der Bergwerksdirektion zu
Saarbrücken von 1863 bis 1866 erworben hatte, setzte Hauchecorne sich sofort im
Interesse des staatlichen Steinkohlenbergbaus an der Saar dafür ein, in die zu
annektierenden Gebiete auch die Minettevorkommen einzubeziehen. Bereits in seiner
Denkschrift vom 18. August hatte er dort die Entwicklung einer Eisenindustrie
vorausgesagt, wie sie „kaum an einer anderen Stelle des Kontinents gleich bedeutend
und gesichert zu finden sein wird“.29 Keinesfalls dürfe auf Briey verzichtet werden.
Am 18. Oktober war Bismarck über die Minettevorkommen vollkommen informiert,
denn der Zivilkommissar, Kühlwetter, hatte diesem an jenem Tag einen entsprechen-
den Berich vorgelegt. Bismarck, von dem der Bericht gelesen worden war, wußte
daher um die evtl. Bedeutung von Briey bzw. das Eisenerzbecken von Briey und
Longwy für das Saarrevier und darüber hinaus für das sich industrialisierende
Deutschland.30
Gleichwohl waren für die Entscheidung über das Ausmaß der Annexionen schließlich
allein strategische Überlegungen ausschlaggebend, sieht man von den politischen
Motivationen, die ihren Ursprung im damaligen Nationalgefühl der Deutschen
hatten, einmal ab. Die Interessen der preußischen Staatsbergwerke an der Saar sowie
der Schwerindustrie im Saar- und Rhein-Ruhrgebiet hingegen blieben unberücksich-
tigt, trotz eines nochmaligen nachdrücklichen Hinweises Kühlwetters am 19. Dezem-
ber 1870 auf die geologische Strukturierung des Raumes Belgien-Luxemburg-Saarge-
biet und Lothringen bzw. die hier lagernden Mineralien. Demgegenüber betonte
Bismarck in einem am 5. Januar 1871 an Albrecht v. Roon gerichteten Schreiben
noch einmal mit Nachdruck, daß „Annexionen nur insoweit. . . zulässig“ seien, als sie
„durch die Rücksicht auf das militärische Interesse unbedingt geboten“ erscheinen.
Diese Maßgaben blieben sowohl im Präliminarfrieden vom 26. Februar 1871 zu
Versailles als auch bei dem Definitivfrieden vom 10. Mai 1871 zu Frankfurt am Main
bestimmend: Deutschland erhielt rd. 10 000 ha im Erzgebiet westlich von Thionville
bzw. von Diedenhofen, während die weit wertvolleren 62 000 ha des Erzgebiets bei
Frankreich verblieben, obwohl noch einmal, am 5. Februar 1871, also zwischen
28 Vgl. hierzu Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technik-Geschichte Preußens (Veröffentlichun-
gen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin, New York 1984, S. 594 f.
29 Zit. ebd., S. 595.
30 ebd.
141
Präliminar- und Definitivfrieden, Eisenindustrielle von der Saar ohne Rücksichtnahme
auf diplomatische Gepflogenheiten offen ihre Wünsche formulierten. Mit ihnen
wandten sie sich gegen eine Annektierung „des lothringischen Hüttenbezirks,. . . weil
eine solche Erwerbung der leistungsfähigen französischen Eisenwerke zu einer für die
Saarindustrie bedrohlichen Konkurrenz führen müsse“.31 Am 20. März 1871 wieder-
holten sie ihre Bedenken nicht nur, sondern präzisierten sie auch. Danach ging es
ihnen keineswegs darum, Gebiete mit Bergwerken, Hütten und Walzwerken, die als
französisches Privateigentum weiterbestehen würden, in das Deutsche Reich einbezo-
gen zu sehen; vielmehr waren sie am Erwerb von Erzfeldern, darüber hinaus an
Konzessionen im französischen Teil der Erzlagerstätten interessiert. Bismarck jedoch
war inzwischen zu definitiven Entscheidungen gelangt. Und sie waren nicht an
wirtschafts-, sondern an militärischen und politischen Vorstellungen orientiert. Das
aber bedeutet nicht, daß ihn im Zusammenhang mit den Gebietsabtretungen wirt-
schaftliche Fragen überhaupt nicht interessiert hätten bzw. sie keine Rolle spielten,
ganz im Gegenteil. Bismarck wurde, was die wirtschafts- und finanzpolitischen
Fragen hinsichtlich der deutschen Forderungen an Frankreich betraf, von einem
ausgezeichneten Kenner der französischen Wirtschaft und Finanzen beraten, nämlich
dem oberschlesischen Industriemagnaten Graf Guido Henckel von Donnersmarck.
Und der hochbegabte Graf „gehörte zu den seltenen Erscheinungen, die jeder
Aufgabe, die man ihnen“ überträgt, gerecht werden. „Nachdem er über eine Reihe
von Jahren hinweg in Frankreich bzw. in Paris während der Zeit des 2. Kaiserreiches
gewesen war und eine bedeutende Rolle im Pariser Gesellschaftsleben gespielt hatte,
um so Verbindungen mit der Bankenwelt anzuknüpfen, hatte er gleichzeitig die
Gelegenheit wahrgenommen, sich mit den politischen Verhältnissen des damaligen
Frankreichs vertraut zu machen.“ Daher versicherte sich Bismarck im Anschluß an
den deutsch-französischen Krieg der guten Beziehungen des Grafen zu Frankreich
sowie seiner intimen Kenntnis der französischen Verhältnisse auf wirtschafts- und
finanzpolitischem Gebiet und beteiligte ihn an der Vorbereitung der Friedensverhand-
lungen, nachdem er ihn bereits während des Kriegsverlaufs zum Präfekten von Metz
bestellt hatte.313
Wesentliche Bedeutung erhielt die militärisch und politisch motivierte Entscheidung
Bismarcks hinsichtlich des Umfangs der Gebietsabtretungen durch Frankreich im
wirtschaftspolitischen Bereich, wie mehrfach vermerkt, erst nach der Erfindung des
Thomasverfahrens, d. h. seit 1879, als aus der Minette hochwertiger Stahl gewonnen
werden konnte.32 Insofern sind die bis 1882 in Lothringen gebauten Eisenbahnen
noch kaum an der Bedeutung der Minette für die deutsche Wirtschaft im allgemeinen
31 Zit. ebd., S. 596.
31aVgl. hierzu Konrad Fuchs, Guido Georg Friedrich Graf Henckel v. Donnersmarck
1830-1916, in: Ostmitteleuropa. Berichte und Forschungen (Festschrift für Gotthold Rhode).
Herausgegeben von U. Haustein, G. W. Strobel u. G. Wagner, Stuttgart (1981), S. 240.
32 Vgl. hierzu W. Treue, a. a. O., S. 596; desgl. vgl. hierzu Eberhard Kolb, Ökonomische
Interessen und politischer Entscheidungsprozeß. Zur Aktivität deutscher Wirtschaftskreise
und zur Rolle wirtschaftlicher Erwägungen in der Frage von Annexion und Grenzziehung
1870/71, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 60 (1973),
S. 343-385.
142
und der Saarwirtschaft im besonderen orientiert, sondern vor allem an einer politi-
schen Integration des Reichslandes mit dem übrigen Reichsgebiet sowie den bis zu
Beginn der 80er Jahre bestehenden Austauschmöglichkeiten auf wirtschaftlichem
Gebiet; sie dürfen allerdings nicht unterschätzt werden, vor allem insofern sie das
Saargebiet betreffen.
Die außerordentliche Bedeutung der Minette für die deutsche Wirtschaft während der
Zeit des Kaiserreiches ist zutreffend folgendermaßen beschrieben worden: „Den
Eisenerzen Lothringens verdankte es die deutsche Schwerindustrie, daß sie sich
unaufhaltsam zur ersten in Europa entwickelte.“ Ihren wohl sichtbarsten Ausdruck
fand diese Entwicklung in der bereits genannten Eisenerzproduktion von knapp
400 000 Tonnen 1871 und nahezu 18 Millionen Tonnen im Jahre 1917. „Um die
Jahrhundertwende hatte sich in sämtlichen Industrien die Mechanisierung durchge-
setzt, in Verbindung mit dem raschen Prozeß der industriellen Konzentration.
Bestanden 1879 nicht mehr als vierzehn deutsche Kartelle, so zählte man 1900 bereits
mehr als dreihundert. Die unglaublich schnelle Entwicklung der Industrie stand unter
dem Zeichen ,Kohle und Eisen1. Diese Kombination, die es durch die geographische
Nachbarschaft der Eisenerze Lothringens und der Kohlengruben des Saargebiets zu
Spitzenerfolgen brachte, wurde zum Index des allgemeinen industriellen Fortschritts.
Von 1871 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges konnte die gesamte deutsche
Eisenförderung nahezu vervierfacht werden. Die Roheisen- und Stahlerzeugung nahm
um das Zehnfache zu; sie stieg von anderthalb Millionen Tonnen auf mehr als
fünfzehn Millionen an. Im Jahr 1914 befand sich das Deutsche Reich ohne Konkur-
renz an der Spitze der europäischen Eisen- und Stahlerzeugung.“
„Das Reich nahm bereits um die Jahrhundertwende den zweiten Platz hinter den
Vereinigten Staaten ein. Mit dem Export stand es ähnlich. Rangierte Deutschland
1880 auf der vierten Stelle hinter Frankreich, Großbritannien und den USA, so hatte
es zwei Jahrzehnte später seine beiden europäischen Rivalen hinter sich gelassen.
Nach den Gesamtzahlen war Großbritannien schon 1895 von Deutschland in der
Industrieproduktion überholt worden.“33 Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß
die Kombination Saargebiet-Lothringen bzw. saarländische Steinkohle-lothringische
Minette an dieser Entwicklung hervorragenden, wenn nicht gar entscheidenden Anteil
hatte.
Diese Feststellung wird nicht beeinträchtigt durch die Tatsache, daß der Eisenbahn-
bau spätestens seit den 80er Jahren, d. h. seit dem Abschluß der Errichtung der
großen zweigleisigen Anlagen, die von ihm bisher ausgehende Dynamik auf das
Wirtschaftsleben, insbesondere im Bereich der Eisenerzeugung und Eisenverarbei-
tung, allmählich einbüßte, wiewohl ein hohes Niveau blieb. Denn immerhin wuchs
das deutsche Eisenbahnnetz von 1900 bis 1914 noch um 12 500 km, nachdem es von
1870 bis 1900, also während eines mehr als doppelt so langen Zeitraums, um
30 325 km gewachsen war.33a
33 H. Diwald, a. a. O., S. 269.
33a1870 hatte das deutsche Eisenbahnnetz einen Umfang von 19 575 km, 1900 von 49 900 km
und 1914 von 62 400 km (vgl. hierzu Hans Zeissig (Hrsg.), Harms Geschichts- und
Kulturatlas, München, Frankfurt/M., Berlin, Hamburg 56_591964, S. 96).
143
Die Impulse, die bisher vor allem von Kohle, Eisen und Stahl auf die rasante
Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens ausgegangen waren, verlagerten sich
seit etwa den 80er Jahren allmählich auf andere Produktionszweige, und zwar die
Elektrotechnik, die Chemie und den Maschinenbau.34 Sie vermochten die Abnahme-
rückgänge beim Eisenbahnbau nicht nur zu kompensieren, sondern sogar zu über-
kompensieren, denn die Elektrotechnik und der Maschinenbau als auch die Chemie
hatten als Basis Eisen und Stahl sowie die Steinkohle. Daher auch entwickelten sich,
von der Elektrotechnik abgesehen, der Maschinenbau und bis zu einem gewissen
Grad auch die Chemie bzw. Kohlechemie in unmittelbarer Nähe der Kohle- und
Eisen- bzw. Stahlproduktionsstätten. Die Produktionsziffern bei Kohle und Eisen
liefern einen eindeutigen Beweis für die im Zusammenhang mit dem angesprochenen
Entwicklungsprozeß getroffenen Feststellungen. Während nämlich die deutsche Stein-
kohleförderung 1870 bei 33 Mill. t gelegen hatte, stieg sie bis 1900 auf 109 Mill. t
und bis 1914 auf 190 Mill. t. Die Ziffern für die Roheisenerzeugung lauten: 1 391
Mill. t 1870, 7,9 Mill. t 1900 und 17,6 Mill. t 1914.35 Das saarländisch-lothringische
Montangebiet hatte, wie gesagt, an diesem weltweit beeindruckenden Industrialisie-
rungsprozeß entscheidenden Anteil.
II.
Wiewohi die Entwicklung des Sekundärbahnnetzes seit etwa den 80er Jahren eine
gesamtdeutsche Erscheinung war, so hat man sie im saarländisch-lothringischen
Raum doch von speziellen Aspekten her zu sehen, und zwar einmal als Zubringer von
den Gruben zu den Hütten, zudem von den Gruben und Hütten zu den zweigleisigen
Linien, die für den Abtransport der Montanprodukte über die Reviergrenzen hinaus
vor allem in Frage kamen. Die Spezifika des saarländisch-lothringischen Sekundär-
bahnnetzes ergeben sich aus der vor allem seit 1871, zum Teil auch schon früher
entstandenen engen Verflechtung von grundstofferzeugender und verarbeitender
Industrie. Sie beruhte auf den relativ nahe beieinander gelegenen Steinkohlevorkom-
men an der Saar und den Minettevorkommen in Lothringen. Eine derartige Kombina-
tion gab es in keinem der übrigen deutschen Reviere. Zwar wurden in Oberschlesien
Kohle und Eisenerze gefunden, doch die Eisenerzlager besaßen längst nicht die
Bedeutung wie die lothringischen; vielmehr zeichnete sich ihre Erschöpfung seit der
Mitte der 80er Jahre ab, mithin von dem Zeitpunkt an, als die Minette ihren
Siegeszug anzutreten begann.
Der saarländisch-lothringischen Gegebenheiten wegen hatte es beispielsweise Karl
Röchling in den rd. sechs Jahrzehnten seines unternehmerischen Wirkens - von 1850
34 Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich
1871-1918, in: Deutsche Geschichte, Bd. 3: 1815-1945, von Reinhard Rürup, Hans-Ulrich
Wehler, Gerhard Schulz, Göttingen 1985, S. 231.
35 Vgl. hierzu H. Zeissig (Hrsg.), a. a. O., S. 96. - In Frankreich stieg die Steinkohlenförde-
rung von 16 Mill. t 1870 auf 33 Mill. t 1900 und 41 Mill. t 1914. Die Zahlen für die
Roheisenerzeugung lauten: 1 178 Mill. t 1870, 2,7 Mill. t 1900 und 5,2 Mill. t 1914. Für
Großbritannien lauten die Zahlen bei der Steinkohlenproduktion: 117 Mill. t 1870,
227 Mill. t 1900 und 292 Mill. t 1914; bei der Rohstahlproduktion: 6 059 Mill. t 1870,
8,7 Mill. t 1900 und 10,4 Mill. t 1914 (ebd.).
144
bis 1910 - vermocht, das Tätigkeitsfeld des Saarbrücker Familienunternehmens
Röchling in einem bemerkenswerten Umfang auszudehnen. Dabei gilt es allerdings zu
betonen, daß dies unter anderen als der insgesamt äußerst günstigen Hauptphase der
Industrialisierung Deutschlands vor Ausbruch des 1. Weltkriegs wohl kaum möglich
gewesen wäre. Kernstück des Röchling-Konzerns war seit den 80er Jahren das 1873
gegründete Völklinger Eisenwerk. Karl Röchling aber verstand es, „diesen zentralen
Bereich seines Imperiums mit einem geschickt geknüpften Netz von industriellen
Beteiligungen und Beziehungen zu umgeben, das weit über die Grenzen des Saarlandes
hinausreichte“. Die wichtigsten Stützpunkte dieses Systems waren neben der 1897 bei
Diedenhofen gegründeten Carlshütte die Erzgruben im unweit davon gelegenen
Algringen sowie ausgedehnte Kohlenfelder in Lothringen und im Gebiet um Aachen,
ferner das westfälische Hamm. Hinzu kamen Kalksteinbrüche im Saargebiet, Kokso-
fenanlagen einschließlich Anlagen zur Teer-, Ammoniak- und Benzolgewinnung, der
Kohlenhandel sowie Beteiligungen an Kaliwerken. Im Jahre 1908 erwarb Karl
Röchling im Tausch gegen Kohlenfelder bei Aachen von der französischen Aciéries de
Longwy eine Beteiligung an den Erzvorkommen im Becken von Briey.36
Eine derartige Konzernstrukturierung, die sich durch andere Beispiele ergänzen ließ,
konnte nur dann erfolgreich sein, wenn die Transportwege optimal waren, um
dadurch die Frachtraten so niedrig wie möglich zu halten. Im wesentlichen mußte es
dabei darum gehen, die Ergänzung von Saarkohle und lothringischer Minette
bestmöglich zu gestalten.37 Dabei kam den Lokalbahnen als Zubringer zu den
zweigleisigen Anlagen große Bedeutung zu. Zwar waren bereits bis 1870 französi-
scherseits Lokalbahnen in Lothringen gebaut worden,38 doch angesichts der politi-
schen und wirtschaftlichen Gegebenheiten orientierten sie sich an anderen Zielsetzun-
gen als nach 1871, vor allem nach 1878, als das Zusammengehen der lothringischen
Minette und der Saarkohle maßgebend wurde.
Zunächst versuchte man deutscherseits, die während der französischen Zeit entstan-
denen Lokalbahnen soweit wie möglich in das bereits bestehende Netz der Hauptbah-
nen einzubeziehen.39 Darüber hinaus ging es darum, neue Lokalstrecken zu errichten.
Unter Verwendung der bereits in Aussicht gestellten Landes-, Bezirks- und Gemeinde-
zuschüsse beschloß das Reich daher den Bau der Bahnen von Mutzig nach Rothau
sowie von Steinburg nach Buchsweiler, beide auf elsässischem Gebiet, und bewilligte
die außerdem noch notwendigen Mittel durch Reichsgesetz vom 18. Juni 1873.40
Auf lothringischem Gebiet diente der Regional- und Lokalbahnbau, wie im übrigen
Reichsgebiet auch, der Erschließung von Gegenden, die bisher im Verkehrsschatten
geblieben waren.41 Dabei handelte es sich in der Regel um ländliche Regionen oder
um Plätze, die infolge der dort der Hebung harrender Erzvorkommen einen Bahnan-
schluß erforderlich machten.42
36 Vgl. hierzu H. Jaeger, a. a. O., S. 212.
37 Vgl. hierzu K. Fuchs, Hermann Röchling, a. a. O., S. 226.
38 Vgl. hierzu L. Strauß, a. a. O., S. 56 ff.
39 ebd., S. 62.
40 ebd., S. 63.
41 ebd., S. 123 ff.
42 ebd.
145
Wie immer wieder betont, war der Zeitraum von 1871 bis 1914 durch ein beeindruk-
kendes Wirtschaftswachstum in Deutschland gekennzeichnet. Da es im saarlän-
disch-lothringischen Wirtschaftsraum eine seiner wichtigsten Wurzeln hatte, kam es
hier konsequenterweise zu einem intensiven Ausbau des Bahnnetzes sowohl im
Bereich der zweigleisigen bzw. der Hauptbahnen als auch der eingleisigen, d. h. der
Neben- oder Regional- und Lokalbahnen, denn nur dadurch konnte den Ansprüchen
der Wirtschaft entsprochen werden.
Trotz der eindrucksvollen Verkehrsentwicklung gelang es nur unter Schwierigkeiten,
das anfallende Frachtenaufkommen zu bewältigen. So reichten nicht wenige Bahn-
hofsanlagen zur Aufnahme des anfallenden Güterverkehrs ebensowenig aus wie zur
Bewältigung des Personenverkehrs. Vor allem im lothringischen Industriegebiet
resultierten aus der bedeutenden Entwicklung der Hütten- und Walzwerkindustrie
sowie der Erschließung neuer Erzfelder „größte Schwierigkeiten“ für die Abwicklung
eines ordnungsgemäßen Verkehrs. Daher mußte z. B. der aus dem Jahre 1907
stammende Enwurf für den Bau eines neuen Bahnhofs in Diedenhofen zur Erhöhung
seiner Leistungsfähigkeit im Jahre 1914 einer „wesentliche(n)“ Abänderung unterzo-
gen werden, da inzwischen ein „außerordentlich starkes Anwachsen des Verkehrs“
erfolgt war.43
Die bis 1914 erfolgte eindrucksvolle Entwicklung von Wirtschaft und Verkehr im
Saarland und in Lothringen erfuhr infolge des Kriegsausbruchs eine starke Beeinträch-
tigung. Neue, bereits genehmigte Bahnbauten wurden nicht mehr begonnen, die
schon in Ausführung befindlichen insoweit abgeschlossen, als sie zur Steigerung der
Leistungsfähigkeit „unbedingt kriegsnotwendiger Anlagen und zur Bewältigung der
Heerestransporte“ beitrugen.44 So wurde das zum schnelleren Transport von Eisenerz-
en bis 1908 drei- und viergleisig ausgebaute Streckenstück Woippy-Hagendingen der
Linie Metz-Diedenhofen bis Diedenhofen viergleisig ausgebaut. Im Jahre 1917 konnte
der Verkehr hier aufgenommen werden.45 Daß darüber hinaus vor allem diejenigen
Bahnanlagen, die für den Transport und die Entladung von Heeresgütern sowie von
Truppen dienten, erweitert wurden, zum Teil erheblich, versteht sich von selbst.
Sieht man von den Kriegsjahren 1914 bis 1918 einmal ab, dann hatten, insgesamt
gesehen, die saarländisch-lothringischen Eisenbahnen an der Entwicklung und Inte-
gration der Wirtschaft an der Saar und in Lothringen einen entscheidenden Anteil. Im
Rahmen dieser Entwicklung erfuhr das Eisenbahnnetz im Saarland und in Lothringen
eine bemerkenswerte Dichte. Das saarländisch-lothringische Revier, basierend auf der
Kohle an der Saar und der Minette in Lothringen, verdankte seine Effizienz und
Bedeutung innerhalb des deutschen Wirtschaftsgefüges maßgeblich der Leistungsfä-
higkeit des dortigen Eisenbahnnetzes. Durch die optimale Nutzung seiner Transport-
möglichkeiten nämlich war es gelungen, die räumliche Entfernung von Kohle und
Minette ohne eine erhebliche Beeinträchtigung der Rentabilität und damit der
Wettbewerbsfähigkeit zu überwinden, d. h. daß die Frachtkosten möglichst niedrig
43 ebd., S. 136.
44 ebd., S. 140.
45 ebd.
146
gehalten werden konnten.46 Daß aus der Kombination von Saarkohle und lothringi-
scher Minette Spitzenerfolge mit der Fülle der hiervon ausgehenden Auswirkungen auf
die gesamte deutsche Wirtschaft während der Zeit des Kaisereichs resultierten, war
maßgeblich infolge der Leistungsfähigkeit der saarländisch-lothringischen Eisenbah-
nen bzw. der durch sie bewirkten Integration der beiden Basisstoffe Kohle und Eisen
möglich, eine Tatsache übrigens, die allzu häufig übersehen wird.
46 Vgl. hierzu K. Fuchs, Hermann Röchling, a. a. O., S. 226.
Hanns Klein.
Das stellvertretende Generalkommando des Saarbrücker
XXI./XVI. Armeekorps als Organ der Militärverwaltung im
Ersten Weltkrieg.
1. Literatur, Quellen, Forschung
Dem Überblick über die Literatur und Quellen, den Forschungsstand und den
regionalhistorischen Hintergrund möchte ich vorausschicken, daß der Hinwendung
zum Thema keine spezifisch militärgeschichtliche Fragestellung und auch kein Interes-
se an seiner monographischen Aufarbeitung zugrundelagen. Ausgangspunkt war
einfach die Beschäftigung mit der Geschichte der preußischen Saarkreise für den
anstehenden dritten Band der „Geschichtlichen Landeskunde des Saarlandes“, und da
Preußens Präsenz an der Saar mit dem und durch den Ersten Weltkrieg ihr Ende fand,
galt es zunächst, sich mit diesem in mehrfacher Hinsicht dunklen Kapitel unserer
Landesgeschichte hinlänglich vertraut zu machen. Dies führte fast zwangsläufig zu
dem seit der Mobilmachung 1914 das öffentliche Leben kontrollierenden und
reglementierenden Saarbrücker Generalkommando.
Ernüchternd und zugleich anregend wirkte dabei, daß es auf lokaler und auch
regionaler Ebene Literatur zu dieser wohl wichtigsten Institution an der sogen.
Heimatfront bis vor kurzem nicht gab, allenfalls sporadische Erwähnungen in den
meist unkritischen, der uniformen Glorifizierung soldatischer Traditionen verpflichte-
ten Regiments- und Formationsgeschichten oder in der einen oder anderen Ortschro-
nik.1 Ansätze zur Schließung der Forschungslücke - auch eine Folge des mit
Kriegsende anhebenden politischen und publizistischen Kampfes um Rhein und Saar,
der die Niederlage verdrängen und heroisieren half, - bieten erst in jüngster Zeit
Fritz Jacoby und Wolfgang Läufer mit der Einführung in ihre zur 60. Wiederkehr des
Waffenstillstandes im November 1978 veranstalteten Archivalienausstellung und
* Mit Anmerkungen versehene und in den Abschnitten 4, 6 und 8 etwas erweiterte Fassung des
Referates vom 30. September 1988. Die Auflösung der im Text und in den Anmerkungen
verwendeten Abkürzungen findet sich am Ende des Aufsatzes.
1 Vgl. etwa S. Delges, Saarlouis-Roden, 1933, S. 84 ff., H.-W. Herrmann, Ortschronik von
Riegelsberg, 1980, S. 158 ff., F. Hilgers, Saarheimat im Wandel der Zeit, 19232, S. 263 ff.,
H. Klein, Gesch. des Landkreises Saarbrücken, in: Grenze als Schicksal, 1966, S. 82 ff.,
B. Krajewski (Hg.), Neunkirchen/Saar, 1955, S. 125 ff., R. Kretzschmer, Gesch. der
Stadt Saarlouis, 1982, S. 683 f., ders., Gesch. der Stadt St. Wendel, 1986, Bd. 3 S. 189 ff.,
H. Krueckemeyer (Hg.), 25 Jahre Stadt Saarbr., 1934, S. 68 f. 121 ff., J. Zewe, Gesch. der
Gemeinden Schiffweiler, Landsweiler, Stennweiler u. Welschbach, 1930, S. 76 ff., 104 ff. -
Die Heimatromane von M. Brittmacher-Croon, Und wir daheim? Kriegsnot der Frauen u.
Mütter, 1931, u. C. Schmauch, Als Vater u. ich in den Weltkrieg zogen, o. D. (1926),
treffen zwar Stimmung u. Alltag, lassen jedoch keine lokalen u. personalen Bezüge erken-
nen.
148
1986 Peter Brommer mit seinem Beitrag über die ersten Kriegsmonate im Regierungs-
bezirk Trier, dem das Saarrevier bekanntlich seit 1816 angehörte.2
Ähnlich unerfreulich ist die archivalische Quellenlage. Die Altakten des Korps, seiner
Kommando-, Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, der zahlreichen Ersatz-, Land-
wehr- und Landsturmeinheiten wanderten zwar, wie einigen Regimentsgeschichten zu
entnehmen ist,3 nach der Demobilisierung ordnungsgemäß in das Preußische Heeres-
archiv Potsdam, fielen jedoch im März 1945 dem Bombenkrieg zum Opfer. Nur ein
Registratursplitter der Kriegsamtsstelle von 15 Akten überlebte und kam ins Militär-
archiv Freiburg.4 Der Aktenauslauf verteilte sich naturgemäß auf eine Vielzahl von
militärischen, staatlichen, kommunalen und privatwirtschaftlichen Adressaten. Vor-
gänge von nennenswertem Betreff und Umfang haben sich bisherigen Sondierungen
zufolge lediglich im Landeshauptarchiv Koblenz, im Generallandesarchiv Karlsruhe
und in dem einen oder anderen Kommunalarchiv erhalten.5 Doch selbst bei relativ
wenig gestörter Überlieferung und guten Erschließungsmitteln, wie etwa im Stadtar-
chiv Saarbrücken, gerät das in der Regel aufwendige und langwierige Recherchieren
oft zur Zufallssache, d. h. man wird in Akten fündig, deren Betreff es nicht erwarten
ließ, oder umgekehrt. Die breite Streuung des expedierten Schriftgutes brachte es
ferner mit sich, daß u. a. Serien von periodisch zu erstattenden Berichten über
Volksstimmung, Versorgungs- und Wirtschaftslage sich, meist auszugsweise, in den
2 F. Jacoby u. W. Läufer, Das Saarbrücker Land im Ersten Weltkrieg - Zur Ausstellung im
Rathaus Saarbrücken, in: Saarheimat 1978 S. 31 ff., P. Brommer, Der Ausbruch des Ersten
Weltkrieges u. seine Auswirkungen auf den Reg.-Bez. Trier, in: Kurtrierer Jb 26, 1986,
S. 157-201.
3 Folgende Rgts.-Gesch. wurden konsultiert: Benary, Gesch. des Drag.-Rgts. Gen.-Feldmar-
schall Prinz Leopold v. Bayern (Westfäl.) Nr. 7 von 1860-1919, 1931, H. Cron, Inf.-Rgt.
Markgraf Karl (7. Brandenburg.) Nr. 60 in dem großen Kriege, 1926, K. Held u. O. Stob-
be, Das kgl. preuß. Inf.-Rgt. Graf Barfuß (4. Westfäl.) Nr. 17 im Weltkrieg, 1934, H. Kess-
ler, Das Res.-Inf.-Rgt. Nr. 70, o. J. (1930), W. Lasch, Gesch. des 3. Unterelsäß. Inf.-Rgt.
Nr. 138 von 1887-1919, 1937, Löbecke, Maß u. Riep (Hgg.), Die gelbe Ul.-Brigade
(Ul.-Rgt. 11 u. 15), o. J. (1935), Machenhauer, Das Metzer Inf.-Rgt. Nr. 98, 1923,
Wilh. Marx, Gesch. des 3. lothr. Feldart.-Rgts. Nr. 69, o. J. (1920), L. v. Pfannenberg u.
R. Riedel, Das Ul.-Rgt. Großherzog Friedrich v. Baden (rhein.) Nr. 7 im Weltkrieg, 1923,
Sanner, Kgl. preuß. 1. Unterelsäß. Feldart.-Rgt. Nr. 31, 1934, E. Schmidt, Die Gesch. des
Inf.-Rgts. Graf Werder (4. rhein.) Nr. 30 im Weltkrieg, 1922/32, Bd. 1-4, J. Siehr,
8. Rhein. Inf.-Rgt. Nr. 70 im Kriege 1914/18, o.J. (1929), H. Sommerbrodt, Das
Feldart.-Rgt. v. Holtzendorff (1. rhein.) Nr. 8 im Weltkrieg, 1930, P. Stieghan, Das Loth-
ringische Fußart.-Rgt. Nr. 16 im Weltkrieg, 1937, F. R. Urbich, Das. 9. Lothring. Inf.-Rgt.
Nr. 173, 1925, Wagner, Scheffel u. Winterstein, Das 1. Ober-Elsäß. Feldart.-Rgt. Nr. 15
im großen Kriege, o. J. (1930), F. Zechlin, Das Res.-Inf.-Rgt. Nr. 60 im Weltkrieg, 1926. —
Der stellv. Armeepfarrer C. Th. Müller (Hg.), Unser XXI. AK im Weltkrieg 1914/16,
19172, bringt meist Erlebnisberichte der Truppe u. geht auch in dem der karitativen Arbeit
gewidmeten Kapitel „Was wir daheim erlebten“ nicht auf das stellv. GKdo ein.
4 Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (künftig BA-MA) PH 2/64-75. Offenbar handelt es sich
um die Akten der KÄST Saarbrücken, die ein Bericht des Preuß. Heeresarchiv bereits in den
30er Jahren erwähnt (Militärarchiv Potsdam (künftig MA Po) W-10/50381 S. 15 f.). Zu
Aktenabgaben vgl. u. a. Schmidt S. 402, Pfannenberg u. Riedel S. 1. An dieser Stelle
möchte ich allen Archiven, Bibliotheken u. Institutionen, die mich unterstützten, verbindlichst
danken.
5 LHA Koblenz Best. 403 (Oberpräsidium Rheinprov.), 442 (Regierung Trier), GLA Karlsruhe
Best. 456 (XIV.AK), LA Saarbr. Kreis- u. Gemeindeposita, StadtA Saarbr. Best. Großstadt
(vgl. Repertorium Sonderverwaltungen im Ersten Weltkrieg), StadtA St. Wendel Abt. II,
Arch. Municip. Sarreguemines, Best. Drucksachen. Weitere Quellenhinweise bei Jaco-
by-Laufer u. Brommer (wie Anm. 2).
149
staatlichen Archiven in München und Stuttgart und dem Militärarchiv Potsdam
wiederfinden.6 Sehr fraglich ist, ob die Archive damaliger Rüstungs- und Kriegswirt-
schaftsbetriebe, etwa Gebr. Röchling/Völklingen, Stumm/Neunkirchen, Arbed/
Saarbrücken, Dillinger Hütte usw., noch einschlägiges Schriftgut verwahren.7 Man-
ches befindet sich wohl noch in privater Hand. So gelangte - eine positive Überra-
schung - der Nachlaß des ab Januar 1918 in Saarbrücken kommandierenden
Generals Fritz v. Unger (1862-1945) und, als dessen Kernstück, das persönliche
Kriegstagebuch vor 20 Jahren in das Freiburger Militärarchiv.8
Als reichlich sprudelnde, um so schlechter zu kanalisierende und zu erschließende
Quellengruppe erwies sich die amtliche und halbamtliche Drucksachenliteratur, von
den Amts- und Verkündigungsorganen der unterschiedlichsten Behörden und Verwal-
tungssprengel bis zu den ad hoc edierten Sammlungen von Verordnungen und
Bestimmungen, wie den des Metzer Militärpolizeimeisters Bodenstein für das Gouver-
nement der Festung Metz.9 Das gleiche gilt - trotz der Zensur - für die damals noch
sehr zahlreichen Lokalzeitungen, die bei den erwähnten Aktenlücken nicht selten eine
Art Ersatzüberlieferung anbieten. Ihre Auswertung ist halt ein mühseliges Unterfan-
gen, dem offenbar nur mit EDV- bzw. quantitativen Methoden beizukommen ist.
Zum allgemeinen Forschungsstand wäre zu sagen, daß in der überbordenden Kriegs-
literatur der 20er und 30er Jahre nur die Arbeiten einiger Verfassungs- und Militärju-
risten oder ehemaliger Generalstäbler und Intendanten im Zusammenhang mit
Organisations-, Verwaltungs- und Ersatzfragen die stellvertretenden Generalkom-
mandos berücksichtigen.10 Dies änderte sich erst, als nach 1945 der bislang apologe-
6 Vgl. dazu W. Deist, Militär u. Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, 1970, S. 67 f. (röm.),
358 ff.
7 Ungedr. Akten zur Kriegs- u. Nachkriegszeit erwähnen H. van Ham,, Beiträge zur Gesch.
der Aktiengesellschaft der Dillinger Hüttenwerke, 1935, S. 197 f. u. R. Nutzinger (Hg.), 50
Jahre Röchling Völklingen, 1931, Vorwort. Dem Schriftgut der rheinischen u. südwestdeut-
schen Wirtschaftsverbände außerhalb des vernichteten Saarwirtschaftsarchives wäre noch
nachzugehen (vgl. W. Deist, wie Anm. 6).
8 BA-MA N 83/3. Leider konnte es für den Vortrag nicht mehr herangezogen werden, doch
wird in den Anmerkungen gelegentlich darauf verwiesen. Eine Edition der Eintragungen über
die Saarbrücker Zeit v. Ungers (Jan.-Nov. 1918) ist ins Auge gefaßt. - An weiteren ungedr.
Aufzeichnungen wurden bekannt: Dr. Hermann Sommer (1916/19 Landrat in St. Wendel),
Lebenserinnerungen, u. H. Weszkalnys (Saarbrücker Architekt u. Hptm. d. L. bei einer
mobilen Bahnhofskommandatur), Kriegstagebücher 1914-1918 (beide in Familienbesitz); vgl.
dazu: Aus dem Tagebuch eines Steigers, SZ v. 24. 5. 1957 Nr. 119 ff., Röchlings Saar-
kampf-Biographie (wie Anm. 36) u. B. Trittelvitz, Meine Patienten, die Kumpels u. ich. 27
Jahre Arzt an der Saar, 1934, S. 84-136.
9 B. Bodenstein, Verordnungen für den Festungsbereich Metz seit Kriegsbeginn, Metz 1916.
Weiter Drucksachenpublikationen für Metz u. Diedenhofen erwähnt F. Roth (wie Anm. 31)
S. 599 f. Anm. 32 u. 35. - Dazu vgl. allgem. W. Deist, Zur Institution des Militärbefehlsha-
bers u. Obermilitärbefehlshabers im Ersten Weltkrieg, in: Jb f. d. Gesch. Mittel- und
Ostdeutschlands 13/14, 1965, S. 232 f.
10 Vgl. u. a. H. Cron, Die Organisation des deutschen Heeres im Weltkrieg, 1923, ders.,
Gesch. des Deutschen Heeres im Weltkrieg 1914-1918, 1937, W. Dieckmann, Die
Behördenorganisation in der deutschen Kriegswirtschaft, 1937, A. Haldenwang, Feldver-
waltung, Etappe u. Ersatzformationen, 1925 (Württ. Heer im Weltkrieg 15), M. Schwarte
(Hg.), Der große Krieg 1914/18, Bd. 8-10: Die Organisation der Kriegsführung, 1921/23,
E. v. Wrisberg, Erinnerungen an die Kriegsjahre, 2 Bde. 1921/22, neuerdings H. Fenske,
Die Verwaltung im Ersten Weltkrieg, in: Deutsche Verwaltungsgesch. 1984, Bd. 3
S. 866-908, bes. S. 871 ff.
150
tische Grundton in der Weltkrieg-I.-Betrachtung ausklang und nicht zuletzt unter dem
Eindruck des abermaligen militärischen und politischen Debakels des Deutschen
Reiches vor allem die jüngere Historikergeneration die schonungslose Offenlegung der
inneren Ursachen des Novemberzusammenbruchs betrieb und sich dabei vornehmlich
mit der Veränderung des Wirtschafts- und Sozialgefüges aufgrund des mehrjährigen
Kriegszustands und mit seinem Einfluß auf die Entwicklung der Gewerkschaften,
Parteien oder des Parlamentarismus befaßte. Es genügt hier hinzuweisen auf Fritz
Fischer, Gerald D. Feldmann, auf das dreibändige Werk der Berliner Akademie der
Wissenschaft, „Deutschland im Ersten Weltkrieg 1968/69“, auf Jürgen Kocka und
Wilhelm Deist.11 Sie - und nicht zuletzt Deists grundlegende Quellenpublikation
Militär und Innenpolitik, 1970 - sorgten mit dafür, daß das Interesse an der
Darstellung der Interdependenz militärischer, ziviler, ökonomischer und sozialer
Faktoren auf Verlauf und Ausgang dieses Krieges unvermindert anhält und auch die
Rolle der Militärbefehlshaber in der Heimatfront weiter ausgeleuchtet wird, - so in
den Untersuchungen von Gunter Mai, Ernst Heinrich Schmidt, Hans-Ulrich Ludewig,
Hermann Schäfer und Klaus Peter Müller, letztere beide über die Entwicklung in
Baden.12
Angesichts der jüngsten regionalbezogenen Arbeiten erstaunt es eigentlich, daß bisher
kein einziges der über 40 stellvertretenden Generalkommandos und Gouvernements
eine spezielle monographische Abhandlung erfuhr,13 auch dort nicht, wo die Quellen-
lage relativ gut ist, wie bei dem XIII. Armeekorps in Stuttgart, dem XIV. in
Karlsruhe, den drei bayerischen in München, Nürnberg, Würzburg und den beiden
sächsischen Korps, dem XII. in Dresden und dem XIX. in Leipzig. Daß ich dies am
Beispiel Saarbrückens nicht nachholen kann und will, wurde bereits gesagt. Zudem
bin ich kein aktiver Militärhistoriker, allenfalls - um im Bilde zu bleiben - einer des
Landsturms oder der Armierungstruppe. So bleibt es halt bei dem Versuch, die
Strukturen, Zuständigkeiten und die Tätigkeit des kurzlebigen Saarbrücker stellvertre-
tenden Generalkommandos, mit dem das Metzer ab 1914 uniert war, so gut es geht
anzureißen.
2. Militärhistorische Übersicht
Im Zuge der Heeresreform nach den Freiheitskriegen gliederte Preußen 1816/20 seine
Friedensstreitmacht in 8 aktive Armeekorps - nach napoleonischem Prinzip selbstän-
11 F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, 1964, G. D. Feldmann, Armee, Industrie u. Arbeiter-
schaft in Deutschland 1914-1918, 1985 (dt. Ausg. von Army, Industry and Labour in
Germany 1914-1918, 1966), F. Klein (Hg.), Deutschland im Ersten Weltkrieg, 3 Bde.,
1968/69, J. Kocka, Klassengesellschaft im Krieg, 1973, W. Deist, Armee u. Arbeiterschaft
1906-1918, in: Francia 2, 1974, S. 458-481 sowie dessen Quellenpublikation (wie Anm. 6) u.
sein in Anm. 9 genannter Beitrag.
12 G. Mai, Burgfrieden u. Sozialpolitik 1914/15, in: Militärgeschichtl. Mitt. 21, 1975,
S. 21-50, E. H. Schmidt, Heimatheer u. Revolution 1918, 1981, H.-U. Ludewig, Das
Herzogtum Braunschweig im Ersten Weltkrieg, 1984, H. Schäfer, Regionale Wirtschaftspo-
litik in der Kriegswirtschaft, 1983, K.-P. Müller, Organisation, Themen u. Probleme der
Volksaufklärung in Baden 1914-1918, in: ZGO 134, 1986, S. 329-358.
13 Derzeit bearbeitet U. Marwitz, Bundeswehr-Univ. Hamburg, das Thema „Die bayer, stell-
vertretenden Generalkommandos“ (War and Society Newsletter 17, 1989, S. 38). Beim Hist.
Seminar der Univ. Münster läuft 1t. Mitt. von Herrn Christoph Irzik eine Arbeit über das
Stellv. VII. AK. Zur Pfalz vgl. unten Anm. 66.
151
dige, über alle Waffengattungen verfügende, zum operativen Einsatz bestimmte
Großverbände - und wies jedem eine der gleichfalls neugeordneten Provinzen zur
Garnisonierung und Ergänzung an.14 Befehlshaber des Korps, das in der Regel aus
zwei Divisionen zu je zwei bis drei Brigaden mit mehreren Infanterie-, Kavallerie- und
Artillerieregimentern bestand, wurde ein sogen. Kommandierender General, der zur
Truppenführung und Verwaltung über einen größeren Stab, das Generalkommando,
gebot. Er war allein dem König, seinem obersten Kriegsherrn, verantwortlich, genoß
dazu das Recht des Immediatvortrags, des direkten Zugangs zum Thron, und
rangierte folglich als Militärbefehlshaber vor dem Oberpräsidenten, dem höchsten
Zivilbeamten der Provinz. Seine dominierende Stellung wurde nach der 1848er
Revolution zusätzlich untermauert durch das preußische Belagerungsgesetz von 1851,
das die Korpsgeneralität zu Garanten der inneren Sicherheit der Monarchie machte
und bis Oktober 1918 in Geltung blieb.
Die 1814/15 mit ziemlichen Vorbehalten preußisch gewordene Rheinprovinz -
einschließlich des Regierungsbezirks Trier samt den Saarkreisen mit Garnisonen in
Saarbrücken und der Festung Saarlouis - unterstand seither dem VIII. Armeekorps,
das sein Hauptquartier bzw. den Sitz des Generalkommandos in der Provinzhaupt-
stadt Koblenz nahm.15 Dabei blieb es - auch nach den Einigungskriegen und der
Reichsgründung, die u. a. in der als Reichsland annektierten Nachbarregion
Elsaß-Lothringen zur Installierung des preußischen XV. Korps in Straßburg führte,
aus dem 1890 das für den Bezirk Lothringen allein zuständige Metzer XVI. Korps
hervorging.
Zu einer gravierenden Veränderung der Korpsbezirke, die weitgehend den Provinz-
und Landesgrenzen folgten, kam es zwei Jahre vor Kriegsausbruch, als das Kaiserreich
im Sog des mitteleuropäischen Wettrüstens zwei weitere preußische Armeekorps
aufstellte, das XX. in Allenstein/Ostpreußen und das XXL in Saarbrücken.16 Der
Befehlsbereich des am 1. Oktober 1912 unter General der Infanterie Fritz von Below
(1853-1918) in „Dienstwirksamkeit getretenen“ XXL Generalkommandos wurde aus
bisher den Nachbarkorps zugeteilt gewesenen Verwaltungsbezirken zusammengefügt,
und zwar aus den preußischen Landkreisen Kreuznach, Simmern, Zell/Mosel,
Meisenheim (Reg.-Bez. Koblenz), St. Wendel, Ottweiler, Saarbrücken (Reg.-Bez.
Trier), dem oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld (alle bisher VIII. Korps), den
elsässischen Kreisen Hagenau und Weißenburg mit den Kantonen Saarunion und
Drulingen des Kreises Zabern (bisher XV. Korps) und den lothringischen Kreisen
Forbach (außer dem Kanton St. Avold), Saargemünd, Saarburg i. L. und Chäteau-Sa-
14 Dazu u. zum Folgenden M. Messerschmidt, in: Handbuch zur dt. Militärgeschichte, 1983,
IV/S. 315 ff., W. Schmidt-Richberg, ebd. V S. 55 ff., C. Jany, Gesch. der preuß. Armee,
1967 (Ndr.), Bd. 4 S. 125 ff., B. Sicken, Die Militärverwaltung, 1982, S. 16 ff., 122 ff.,
E. R. Huber, Dt. Verfassungsgeschichte seit 17 8 9, 19 8 83, Bd. 3 S. 1042 ff., 19822, Bd. 4
S. 523 ff., 596 ff., 1978, Bd. 5 S. 40 ff., Deist (wie Anm. 6) S. XXXI ff.
15 M. Bär, Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815, 1919 (Ndr. 1965), S. 459 ff.;
Der Weltkrieg 1914-1918, Kriegsrüstungen u. Kriegswirtschaft, Bd. 1: Die militärische,
wirtschaftliche u. finanzielle Rüstung Deutschlands, 1930, Anlagen S. 369 ff. (mit Karten der
Korpsbezirke 1875-1912); W. Hubatsch, in: Dt. Verwaltungsgesch., 1984, Bd. 3 S. 316 ff.;
Jany, Preußische Armee, S. 268 f., 296 f.
16 Vgl. Bär, Behördenverfassung, S. 460 ff., Der Weltkrieg (wie Anm. 15) S. 117 u. Anlagen
S. 419; zu den neuen Korps-, Landwehr-, Aushebe- u. Verwaltungsbezirken vgl. Zentralblatt
f. d. dt. Reich 42, 1914, S. 158, 163 f. sowie die Karte im Anhang.
152
lins (bisher XVI. Korps). Zum Ausgleich für letztere erhielt das Metzer Korps die seit
1816 zum VIII. Korps gehörenden Landkreise Saarlouis, Merzig und Saarburg/Rhld.,
so daß nunmehr das Saarrevier von der Korpsgrenze geteilt wurde (vgl. Karten-
beilage).
Die konkurrenzlos günstige Verkehrslage im wahrscheinlichen Aufmarschgebiet gegen
Frankreich gab sicher den Ausschlag, daß Saarbrücken17 - seit 1815 Standort eines
Kavallerieregiments, 1887 einer Infantriebrigade, 1896 auch einer Kavalleriebrigade
und 1898 der 4. Kavallerie-Inspektion - Sitz des neuen Generalkommandos wurde,
dem noch im gleichen Jahr die 7. Armeeinspektion unter Generaloberst, zuletzt
Generalfeldmarschall, Hermann v. Eichhorn (1848-1918) folgte. Der damit erreichte
militärische Nimbus rückte das wirtschaftliche Zentrum des Montanreviers zwischen
Saar und Mosel, das erst 1909 durch die Vereinigung der Nachbarstädte Saarbrük-
ken, St. Johann und Malstatt-Burbach Großstadt geworden war, sichtlich in die Reihe
der Machtmetropolen des wilhelminischen Reiches und verlieh ihr einen mancher
Haupt- und Residenzstadt, auch der Bezirkshauptstadt Trier, abgehenden Status, der
die nach Kriegsende ansetzende Entwicklung zur Landeshauptstadt praedisponierte.
Für das von den Festungen Metz, Diedenhofen und Straßburg gedeckte Saarbrücken
sprach nicht zuletzt die veränderte strategische Konzeption, d. h. die Moltke’sche
Version des Schlieffenplans,18 die sich auch in dem Länder-, Bezirks- und landmann-
schaftliche Grenzen ignorierenden Zuschnitt des neuen Korpsbezirks ausdrückt, der -
dem Verkehrsnetz angepaßt - sich schlauchartig von der Reichsgrenze an Donon und
Seille zum Mittelrhein bei Bingerbrück und mit einem breiten Divertikel durch das
Unterelsaß wiederum zum Rhein erstreckte. Dem modifizierten Kriegsplan gegen
Frankreich zufolge sollte das neue Grenzkorps zunächst zusätzlich die Aufmarschzo-
ne, das Saarindustriebecken, die Verkehrslinien zum Mittelrhein sichern, dann als
Verband der 6. Armee den aus der Position de Nancy erwarteten französischen
Angriff in der Nied-Saar-Stellung auffangen und bei der alsbald von Metz und
Straßburg aus vorgetragenen Gegenoffensive die Franzosen zwischen Saar und Seille
einkesseln und ausschalten helfen, um anschließend zum Endsieg auf den rechten
deutschen Angriffsflügel nach Nordfrankreich abgefahren zu werden. Das Resultat
der beiderseits äußerst blutigen Lothringer Augustschlachten19 war bekanntlich eine
vierjährige Remissteilung entlang der südlichen Korpsgrenze, die zugleich Staatsgrenze
war.
17 Neuere Lit. bei H. Klein, Saarbrücken - Vom Burgflecken zur Saarmetropole, in: Saarbrük-
ker Hefte 54, 1985, S. 57-67, H.-W. Herrmann, Saarbrücken, in: Stadt an der Grenze, hg.
v. B. Kirchgässner, 1990, S. 119-135. - Der militärischen Komponente in der jüngeren
Stadtentwicklung u. ihren politischen, sozialen u. städtebaulichen Auswirkungen (Kasernen,
Depots, Militärwohnungen, Verkehrsmittel usw.) ist noch nachzugehen. Als 1914/15 Pläne
zur Aufteilung Eis-Lothringens kursierten (dazu Wehler wie Anm. 28), schwärmte Weszkal-
nys (Tagebuch Bl. 107 zum 1. Aug. 1915, vgl. oben Anm. 8) von der „in greifbare Nähe“
gerückten Chance Saarbrückens, die Hauptstadt eines neuen preuß. Reg.-Bez., der weite Teile
der Rheinprovinz u. Lothringens (wohl das Industrierevier) umfassen sollte, zu werden.
,s Dazu u. a. W. Groener, Der Feldherr wider Willen, 1931, H. Gackenholz, Entscheidung in
Lothringen 1914, 1933.
19 Der Weltkrieg 1914-18, bearb. im Reichsarchiv, Bd. 1: Die Grenzschlachten im Westen,
1925, Die Schlacht in Lothringen u. in den Vogesen 1914, hg. v. Bayer. Kriegsarchiv, 2 Bde.,
1929.
153
3. Aufstellung des stellvertretenden Generalkommandos des
XXI. Armeekorps zugleich für das XVI. Armeekorps im August 1914.
Mit Verhängung des Kriegszustandes am 31. Juli 1914 ging die vollziehende Gewalt
im Korpsbezirk an den kommandierenden General des XXI. Armeekorps, General der
Infanterie Fritz v. Below (1853-1918), als obersten Militärbefehlshaber über,20 außer
im Bereich der Festung Bitsch, wo sie bis 1916 der Festungskommandat wahrnahm.21
Dazu unterstellte der General sich alle Zivilbehörden, setzte gemäß dem für alle
Grenzkorps vorgesehenen verschärften Belagerungszustand eine Reihe von Grund-
rechten außer Kraft, installierte in Saarbrücken, Kreuznach, Saargemünd und Hage-
nau außerordentliche Kriegsgerichte und löste eine Reihe von langfristig mit den
Regierungs- und Polizeibehörden vorbereiteten Sicherheitsmaßnahmen aus; u. a.
wurden 30 politisch Verdächtige, meist Sozialisten, in Saarbrücken inhaftiert, Feuer-
wehren als Hilfspolizei verwendet und unerwünschte Ausländer des Landes verwie-
sen.22
Erst mit der Mobilmachung, der kriegsmäßigen Verstärkung und Ausrüstung der
Verbände des aktiven Korps zur mobilen Verwendung auf dem Gefechtsfeld, begann
am 2. August - dem ersten Mob-Tag - die Aufstellung der Reserve- und Ersatzfor-
mationen sowie die des immobilen, die Funktionen des aktiven Generalkommandos
im alten Korpsbereich übernehmenden stellvertretenden XXI. Generalkommandos
samt weiterer, ihm nachgeordneter stellvertretender Kommando- und Verwaltungsbe-
hörden.23 Am 7. August stand das aktive Korps mit Hauptquartier St. Avold als
Kampfverband im Feld, zunächst zum Bahn- und Grenzschutz im südlichen, vorwie-
gend französischsprachigen Korpsbereich um Saarburg-Chäteau-Salins,24 und späte-
stens am gleichen Tag trat das stellvertretende Generalkommando in Saarbrücken in
Dienstwirksamkeit. Kommandierender General bzw. Oberster Militärbefehlshaber
20 Er wurde durch seit langem vorbereitete Plakate (vgl. LHA Kobl. Best. 403 Nr. 12276) u. die
Presse verkündet. Vgl. dazu Deist (wie Anm. 6) S. XL ff., 7 ff., 13 ff., ders. (wie Anm. 9)
S. 228 ff., Huber (wie Anm. 14) Bd. 5 S. 41 ff. - Überraschend unzulänglich informiert
H. Romeyk, Verwaltungs- u. Behördengesch. der Rheinprov. 1914-1915, 1985, S. 76 ff.,
428 f., 521 f. über die damals die Exekutivgewalt in der Rheinprov. übernehmenden obersten
Militärbefehlshaber bzw. die Stellv. GKdos VII (Münster), VIII (Koblenz), XXI (Saarbr.), das
Gouvernement der Festung Köln u. die Kommandanturen der Festungen Koblenz-Ehrenbreit-
stein u. Wesel.
21 Dazu Näheres in Anm. 31.
22 Vgl. Jacoby-Laufer S. 311 ff., Brommer S. 167 ff. (beide Anm. 2), Müller (Anm. 3)
S. 5 ff., Die ersten 50 Jahre der freiw. Feuerwehr Alt-Saarb., 1918, S. 43 ff., Verw.-Ber. der
Stadt Saarbr. 1914. - Zur Ausweisung von ca. 30 Angehörigen der französ. Familien Villeroy
u. Fabvier aus Wallerfangen, laut Ber. des Trierer Reg.-Präs, von Verwandten aus der Fam.
v. Boch. . . auf das dringendste befürwortet, ihr Geschäft könne durch die Ausweisung. . .
nur gewinnen, u. zur Ausländerüberwachung vgl. LHA Kobl. Best. 403 Nr. 5378 S. 303 ff.,
12278 S. 25, 53, 99 f., 119 f., ABI Trier v. 21. Nov. 1914 S. 382, Brommer S. 189 ff. Zur
Liquidation der Villeroy-Anteile an Grube Hostenbach vgl. Bergmannsfreund 1918, S. 351.
23 Mobilmachungsplan f. d. Deutsche Heer v. 9. Okt. 1913, 1913, S. 12 ff. u. ö. H. Rahne,
Die militärische Mobilmachungsplanung u. -technik in Preußen u. im dt. Reich, ungedr. Diss.
Leipzig 1972, S. 165 ff., 177 ff.; vgl. dazu H. Kling, Die Mobilmachung 1914 bei der
Truppe, in: Feldgrau, 12, 1964, S. 1 ff., 65 ff. u. die Rgts.-Geschichten in Anm. 3.
24 Die Presse brachte zusammen mit dem Dank General v. Belows an Behörden u. Bevölkerung
für den glatten Ablauf der Mobilisierung die Verlautbarung des Stellv, kommandierenden
Generals v. Moßner (Saarbrücken den 7. Aug.) über die Geschäftsübernahme (Neunkircher
Ztg. v. 12. Aug. 1914); vgl. dazu Deist (wie Anm. 6) S. 1403 Anm. 1.
154
wurde der bislang in Straßburg im Ruhestand lebende General der Kavallerie z. D.
Walther v. Moßner (1846-1932), der es bis Januar 1918 blieb. Als Chef des Stabes
amtierte bis Kriegsende der seit 1894 in Saarbrücken ansässige Kavallerieoberst z. D.
Carl Seederer (1846-1931), ebenfalls ein reaktivierter Dispositionsoffizier.25
Eine nicht unerwartete Entwicklung - mit allerdings erheblichen Auswirkungen auf
das neue Saarbrücker Generalkommando - löste die Mobilmachung beim Metzer
Nachbarkorps aus. Einmal traten der Gouverneur der Festung Metz, des stärksten
deutschen Waffenplatzes im Westen,26 und der Kommandant der Nachbarfestung
Diedenhofen27 als gleichberechtigte immediate Militärbefehlshaber neben den kom-
mandierenden General des XVI. Armeekorps, General der Infanterie Bruno v. Mudra
(1851-1931); zum andern unterblieb laut Mobplan die Aufstellung eines stellvertre-
tenden Generalkommandos28 für den außerhalb der Festungsbereiche Metz-Diedenho-
fen bleibenden Teil des Korpsbezirks, der aus den lothringischen Kantonen Busendorf
(Kreis Bolchen) und St. Avold (Kreis Forbach) und den preußischen Landkreisen
Saarlouis, Merzig und Saarburg/Rhld. bestand. Er wurde spätestens am 8. August,
als das aktive Korps zur 5. Armee westlich Diedenhofen ins Feld gerückt war,29 dem
Saarbrücker Generalkommando unterstellt, fand jedoch seinen regionalen Mittel-
punkt in der bis 1815 französischen, erst 1894 desarmierten Festungsstadt Saarlouis,
die weiterhin eine starke Garnison mit höheren Stäben (stellvertretende 86. Infante-
25 Zu ihnen siehe unten S. 167 f.
26 Gouverneure von Metz waren zunächst Generalleutnant v. Winterfeld (1914 Nov. verstor-
ben), vom 9. Aug. bis 28. Sept. 1914 Gen. der Inf. Adolf v. Oven, dann der als dessen
Stellvertreter amtierende Gen. der Art. z. D. Pelkmann, vom 12. Mai 1915-22. Sept. 1918
wieder v. Oven, ab Mai 1917 zugleich Führer der Korpsgruppe Metz, vom
23. Sept.-Nov. 1918 Generalleutnant Arnold Lequis (1861-1949), ebenfalls Führer der Grup-
pe Metz (vgl. H. Möller, Gesch. der Ritter des Ordens pour le mérite, 1935, Bd. 1 S. 660 ff.,
Bd. 2 S. 59 ff., 101 ff., Ehren-Rangliste des ehern, dt. Heeres (zitiert: ER), 1926, S. 98 f.,
147, 693, Bodenstein (wie Anm. 9) passim. Als Chef des Gen.-St. beim Gouv. begegnen
1914 Oberst Ernst Kabisch, dann Gen.-Lt. z. D. Kempf (ER S. 98, 321, 695). Festungskom-
mandant u. als solcher für die Sicherheit u. die Zivilverwaltung zuständig war offenbar auf
Kriegsdauer Gen.-Lt. v. Ingersleben (Rangliste 1914, S. 132, ER S. 98). Vgl. dazu
allgem. Deist (wie Anm. 6) S. XL ff., 1335, ders. (wie Anm. 9), S. 228 ff., Cron, Organisa-
tion, S. 180 ff., ders., Gesch., S. 237 ff. (wie Anm. 10). Zum inneren u. äußeren bzw.
erweiterten Festungsbereich vgl. Bodenstein (Anm. 9) passim, Deist (wie Anm. 6) S. 25,
Zentralblatt f. d. Dt. Reich 43, 1915, S. 147 u. Karte im Anhang. - F. Roth, La Lorraine
annexée, Nancy 1976, berücksichtigt S. 593-653 (Quatre ans de dictature militaire 1914/18)
die militär. Grundstruktur, auch die Organisation der Kriegswirtschaft (KÄST Metz, KANST
Diedenhofen), zu wenig, so daß seine Ausführungen hier der Ergänzung u. Überprüfung
bedürfen (u. a. wird die Korpszugehörigkeit des Kantons Busendorf u. der Kreise Chateau-Sa-
lins u. Saarburg falsch angegeben, u. die Zwangsevakuierung von 12 000 Metzer Ortsarmen
nach Hessen (Lothr. Volksstimme v. 19., 20., 26., u. 27. Aug. 1914) übersehen. Instruktiv
die Auswahl von Fotos, Plakaten u. Verordungen bei L. Michaux, La Lorraine pendant la
guerre (1914-1918), Metz 1988. Allgem. ist hinzuweisen auf H.-U. Wehler, Krisenherde des
Kaiserreichs, 1979, S. 62 ff. (mit weiterer Lit.).
27 In Diedenhofen fungierten als Festungskommandanten u. selbständige Militärbefehlshaber
(dazu Deist u. Cron wie Anm. 26) 1912-1917 Gen.-Lt. v. Lochow, dann bis Nov. 1918
Gen.-Lt. v. Conta (Ranglisten 1913, 1914, ER S. 95, 479). Zum Fest.-Bereich vgl. Karte im
Anhang, Lit. wie Anm. 26 u. Stieghan (wie Anm. 3) S. 51 ff., 57 ff., 65 f., 69 f., 183 ff. zur
Armierung.
28 Mob-Plan (wie Anm. 23) S. 13 f., 17 u. passim.
29 Bekanntmachung des Gen. Bruno v. Mudra v. 8. Aug. in der Presse (Lothr. Volksstimme v.
11. Aug. 1914). Vgl. dazu Deist (wie Anm. 6) S. 1403.
155
rie-Brigade, Landsturm-Inspektion) und das 1914 für diesen Raum errichtete Militär-
gericht besaß.30 Erst nach einigen Wochen trug die Saarbrücker Militärbehörde der
Ausweitung ihres Befehlbereichs Rechnung und firmierte als Stellvertretendes General-
kommando für das XXI. Armeekorps zugleich für das XVI. Armeekorps ab Juni
1916 dann auch mit dem Zusatz und die Festung Bitsch,31
Daß Saarbrücken keine Weisungsbefugnisse gegenüber den Befehlshabern in Metz
und Diedenhofen hatte, schloß natürlich eine enge Zusammenarbeit, besonders in
wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen oder in Sachen Volksaufklärung und
Propaganda, nicht aus. Wenn beide des öfteren Saarbrücker Regelungen und Verfü-
gungen übernahmen,32 liegt darin allenfalls die Anerkennung einer gewissen Vorrang-
stellung des Nachbarbefehlsbereichs. Über die Befehlsregelung gegenüber den Stäben,
Verbänden und Versorgungsdiensten der im Korpsbereich auf- und durchmarschie-
renden 4., 5. und 6. Armee ist nichts bekannt geworden, auch nicht gegenüber den ab
Herbst 1914 im südwestlichen Korpsgebiet eingesetzten Armeeabteilungen Falken-
hausen und Strantz (später A und C), der im Februar 1918 eingeschobenen 19. Armee
(Hauptquartier St. Avold), der ab März 1917 von Straßburg aus den Südflügel des
Westheeres führenden Heeresgruppe Herzog Albrecht v. Württemberg und den für sie
30 Zur Garnison vgl. J. Latz (Hg.), Saarlouis 1680-1930, 1930, S. 85 f., 89 ff., Rhein.
Behördenhandbuch (Stand 1. 7. 1914), 1916, S. 727, 730, Rangliste 1914, S. 100 f., 1333,
die Rgts.-Gesch. von Schmidt, Sommerbrodt u. Guenther (wie Anm. 3); zur stellv.
86. Inf. Brig u. ihrem Gericht vgl. die Verfügung des Gen.-Kdos. v. Jan. 1914 (LHA Koblenz
Best. 403 Nr. 12276 S. 163 ff.), den Mob.-Plan 1913 (wie Anm. 23) u. die Demobilisie-
rungs-Übersicht des stellv. Gen.-Kdos. XVI vom Dez. 1918 (MA Potsdam Sa. 18633).
31 Als Kommandanten der Festung, d. h. Milnarbetehlshaber (vgl. Deist u. Cron wie Anm. 26),
zugleich mit der Kommandatur des Truppenübungsplates betraut, fungierten zunächst
Gen.-Maj. Woide, ab Dez. 1914 Gen.-Maj. Krahmer, bisher Kommandeur der Saarbrücker
42. Feld-Art.-Brigade (Rangliste 1914 S. 114, 126, 137, Amtl. Nachr. f. d. Kreis Saargemünd
v. 10. 12. 1914) u. ab Juni 1916 Gen.-Lt. v. Steinaecker (vgl. zu ihm unten S. 169). Offenbar
im Zuge des letzten Kommandantenwechsels kam es zu einer von General v. Moßner am
19. Juni publizierten „Vereinbarung“, derzufolge alle Erlasse des stellv. Gen.-Kdos. XXI u.
XVI nun auch für den Bereich der Festung Bitsch gelten (Amtl. Nachrichten f. d. Kreis
Saargem. v. 1. Juli 1916 S. 157). Damit hatte v. Steinaecker, bis 1912 Festungskommandant
in Posen, sich Saarbrücken unterstellt bzw. ließ seine Eigenschaft als Militärbefehlshaber, die
Krahmer sichtlich demonstrierte (vgl. seine Verordnung in Amtl. Nachrichten 1914/16),
zumindest partiell ruhen, - eine Maßnahme zur Vereinheitlichung der Befehlsgewalt, die man
u. a. in Karlsruhe (XIV. AK) u. Mainz (zum XVIII. AK) anstrebte (vgl. Deist (wie Anm. 6)
S. XLI, 20 f., 41). In Bitsch gelang sie wohl deshalb, weil dem Kommandeur der 1915 hierher
verlegten stellv. 59. Inf.-Brig. mittlerweile alle Inf.-Ers.-Einheiten - außer den im Bereich der
86. Saarlouiser Brig. - unterstellt waren u. der bis Nov. 1918 amtierende General (Lasch (wie
Anm. 3) S. 349 f.) als Garnisonsältester in dem mit Truppen aller Art überbelegten Bitsch
(u. a. Jäger-Ers.-Btl. 8, Jagdfliegerstaffel, seit 1917 schwere Heeres-Art.-Schule) sicher ausge-
lastet war, zumal er sich noch politisch betätigte. - Neben dem auf den Stadtbezirk Bitsch
beschränkten (so Zentralblatt (wie Anm. 26) S. 148) gab es den erweiterten Festungsbereich,
der - nicht mit dem Truppenübungsplatz identisch — 23 Dörfer der Kantone Bitsch,
Rohrbach u. Wolmünster umfaßte u. durchweg in den Verordnungen des Kommandanten
angesprochen wird (zu Saargemünder Ztg. v. 4. Aug. 1915 vgl. Amtl. Nachr. f. d. Kreis
Saargem. 1914/16 passim).
32 Bodenstein (wie Anm. 9) S. 75 v. 23. März 1915, Saarbrücker Kreisblatt 1918 S. 14 u. ö.,
Amtsblatt der Reg. Trier Nr. 37 v. 14. Sept. 1918 (Sonderbeilage), Amtl. Nachrichten f. d.
Kreis Saargem. 1916 S. 139.
156
zuständigen Etappeninspektionen bzw. -kommandos.33 Doch ist anzunehmen, daß im
reichsländischen Korpsbereich, der weitgehend Operationszone war,34 die Befehlsge-
walt des Saarbrücker kommandierenden Generals mit der einer Vielzahl von höheren
Stäben konkurrierte und im Hinterland der seit Herbst 1914 zwischen Donon und
Seille stehenden Front auf die Befehlshaber der Großverbände, u. a. der seit 1916/17
bodenständigen Gruppenkommandos Saarburg, Bensdorf, Mörchingen, Herny (Her-
lingen), Gorze35 überging.
Ein zusätzliches Handikap für die Führung war nicht zuletzt, daß der Korpsbezirk
sich über drei Bundesländer erstreckte und sie auf ziviler Verwaltungsebene allein mit
5 Bezirksregierungen (Koblenz, Trier, Birkenfeld, Lothringen, Unterelsaß) kooperie-
ren mußte.
4. Aufgaben und Organisation des Generalkommandos,
Kommandobehörden, Formationen, Stabsstellen, insbes. Abteilung für
vaterländischen Unterricht,
In der Hauptsache oblagen dem neuen Generalkommando zwei Aufgaben, einmal die
Erfassung und Ausbildung des Mannschaftsersatzes, darunter Tausender von Kriegs-
freiwilligen,36 für die beiden aktiven Korps an der Front und die von ihnen
mobilisierten Reserveverbände sowie die Formierung von Landwehr- und Landsturm-
33 Vgl. die zahlreichen Verfügungen, die zwischen dem reichsländischen u. außerreichsländi-
schen Teil des Korpsbereichs unterscheiden (Amtl. Nachrichten f. d. Kreis Saargem. v.
10. Juni 1918 S. 11, 169) bzw. auf entsprechende Verordnungen der Heeresgruppe Herzog
Albrecht u. anderer Befehlshaber verweisen (Saarbr. Kreisblatt 1918 S. 133, 241) oder die von
letzteren - etwa den Etappenkommandaturen - direkt an die Kreisdirektoren ergingen. - Die
Zugehörigkeit weiter Teile des Unterelsasses zum XXI. AK wird in der Literatur kaum
berücksichtigt, außer bei J. Rossé (u. a. Hgg.), Das Elsaß von 1870-1932, Colmar 1936/38,
Bd. 1 S. 296 (Karten in Bd. 4), der allerdings den Kreis Château-Salins falsch zuordnet. Die
ungedr. These von Chr. Baechler, L’Alsace entre la guerre et la paix, Strasbourg 1969, blieb
mir leider unzugänglich.
34 Zur Operationszone, die 1914 bis zum Rhein reichte, dann nur Els.-Lothr. einbezog, wobei
man später ein Freigebiet, ein weiteres u. ein engeres Sperrgebiet unterschied, vgl. Cron,
Gesch. (wie Anm. 10) S. 295, 297, Rossé (wie Anm. 33) S. 226 f., Amtl. Nachr. f. d. Kreis
Saargem. u. a. vom 20. Juli 1916 S. 167 ff., 10. Mai 1918 S. 91-97. - Das Bitsch benachbar-
te Bad Niederbronn war wohl als Kurort Freizone (vgl. Saargemünder Ztg. v. 27. Juli
1916).
35 Dazu Cron, Gesch. (wie Anm. 10) S. 89 f., Der Weltkrieg, 1944, Bd. 14 (hg. v. Bundesar-
chiv 1956) S. 600 u. Beilage 34.
36 Nach H. Röchling, Wir halten die Saar, 1934, S. 22 stellte das Saargebiet im Verhältnis zur
Bevölkerungszahl die meisten Freiwilligen. Konkrete Zahlen nennen auch die Formations-
gesch. nicht. - Der jüngste dt. Kriegsfreiwillige Peter Piry, Dreherlehrling u. Sohn eines
Weichenwärters aus Malstatt, fiel kurz nach seinem 15. Geburtstag beim Forbacher
Inf.-Rgt. 174 am 19. Dez. 1914 (Bergmannsfreund 1918 S. 19, Pressemitt.). - Einer der
ältesten war der ausgemusterte Landwehrhauptmann, Saarbrücker Studienprof. u. Heimatfor-
scher A. Ruppersberg (1854-1930), den sein Nachbar Oberst Seederer (vgl. unten S. 168)
wohl zum Stab der stellv. Saarburger Inf.-Brig. 59 vermittelte, der in Hagenau aufstellte u. für
die Festung Kaiser Wilh. II. bei Mutzig bestimmt war, jedoch unversehens in die Vogesen-
kämpfe (Brig. Rasch) geworfen wurde. Dabei verirrte sich Ruppersberg mit dem neuen
Stabsauto am 11. Sept. 1914 bei Velupaire zu den Franzosen u. wurde erst im Juni 1917
ausgetauscht (zu A. Ruppersberg, Die Familie Ruppersberg, 1929, S. 56 ff. vgl. M. v. Eber-
hardt, Kriegserinnerungen, 1938, S. 87 f.). Der stellv. Brig.-Stab 59 kam dann 1914/15 nach
Bitsch-Lager (vgl. Anm. 31).
157
einheiten und neuen Feldtruppenteilen, zum andern - wie angedeutet - die Gewähr-
leistung von Ruhe und Ordnung im Korpsgebiet samt Handhabung der Zensur und
Vereinspolizei.37 In den ersten Monaten - nicht nur die Militärs rechneten mit dem
raschen Endsieg - stand das Ersatzwesen im Vordergrund. Dazu hatten die aktiven
Regimenter i. d. R. am alten Standort Ausbildungs- und Ersatzformationen, die meist
immobil blieben,38 zurückgelassen. Diese unterstanden je nach Waffengattung den
laut Mob-Plan in Saarbrücken, Bitsch, Hagenau und Saarlouis neu installierten
Kommandostellen, den stellvertretenden Infanteriebrigaden 59, 62 und 86, der
Inspektion der Ersatzeskadrons, der Inspektion der Feldartillerie-Ersatz-Abteilungen
und der 1915 hinzugetretenen Inspektion der MG-Ersatz-Truppen.39 Alle Brigade-
kommandeure und Inspekteure, ab 1916 meist im Generalsrang, hatten die Befugnisse
von Divisionskommandeuren, u. a. als Gerichtsherren,393 und waren dem Komman-
dierenden General direkt unterstellt. Das gleiche gilt für die u. a. den Bezirkskomman-
dos Vorgesetzten Kommandeure der Landwehr- und Landsturminspektionen Saar-
brücken und Saarlouis. Zu den traditionellen Ersatztruppenteilen traten 1916/17
hinzu das Fußartillerie-Ersatz-Bataillon 28, die Kraftfahr-Ersatz-Abteilung 21 (beide
in Saarbrücken) und die Nachrichten-Ersatz-Abteilungen 16 und 21 (in Saarlouis
bzw. Saarbrücken/Kreuznach).40
Vor völlig neuartigen militärischen Aufgaben stand das Generalkommando, als die
Eskalation des Luftkriegs im Sommer 1915 umfassende Abwehrmaßnahmen zum
Schutze der kriegswichtigen Montanindustrie an Saar und Mosel (Raum Diedenhofen)
verlangte.41 Sie koordinierte die sogleich errichtete Luftschutz-Abteilung, ab 1916
37 Dazu Deist (wie Anm. 6) S. XL f., ders., Militärbefehlshaber (wie Anm. 9) S. 228 ff., Cron,
Gesch., S. 294 ff., ders., Organisation, S. 183 ff., Dieckmann S. 19 ff., Haldenwang
S. 209 ff., Schwarte Bd. 8 S. 34 ff. (alle wie Anm. 10), z. T. mit Organisationsschemata.
38 Vgl. dazu Cron, Gesch. (wie Anm. 10) S. 298 ff., 302 ff., 305 ff., 317 f., die Aufsatzfolgen
von H. Kling u. H. R. v. Stein, Die Ersatztruppenteile der Infanterie u. Jäger, in: Zs f.
Heereskunde 33, 1969, H. Kling, Die Brig.-Ers.-Bataillone, ders., Die Res.- u. Land-
wehr-Brig.-Ers.-Bataillone, ders., Die bei der Mob.-Machung aufgestellten Res.-Regimenter,
in: Zs f. Heeres- u. Uniformkunde 1957, 1958 u. die in Anm. 3 genannten Regt.-Geschichten.
- Abgesehen von den an der Front eingesetzten Brig.-Ers.-Einheiten u. den Ers.-Formationen
von Truppen der Grenzgarnisonen Dieuze, Mörchingen, Saarburg i. L., Metz, Diedenhofen,
die z. T. in Bitsch, meist aber in rhein.-westfläl. Garnisonen aufstellten, blieben die Ers.-Ba-
taillone u. -Abteilungen am Friedensstandort des aktiven Verbands. Die zunehmende Vergrö-
ßerung des Feld- u. des Besatzungsheeres durch Reserve-, Landwehr- u. Landsturmformatio-
nen (H. Kling, Landwehr-Inf.-Regimenter, in: Zs. f. Heeres- u. Uniformkunde 1960) u.
damit die ihrer Ersatz-Einheiten brachte es mit sich, daß ab 1915 auch kleinere (Kreis-)Städte
wie Merzig, Saarburg/Rhld., Idar-Oberstein, Kirn, Ottweiler (Ers.-Esk.-Ul-Rgt. 11) Kriegs-
garnison wurden. Ob die Belegung von Industriegroßgemeinden wie Dudweiler (Rekrutende-
pot Landw.-Inf.-Rgt. 60) u. Neunkirchen (u. a. Ers.-Btl. Inf.-Rgt. 174, Landst.-Ers.-Btl.
Saarbrücken XXI/4) auch sicherheitspolizeilich motiviert war, bleibt zu prüfen. - Zu den ab
1916 laufend verstärkten Luftabwehrinformationen, die auch in Landgemeinden wie Bübin-
gen, Gersweiler Neuweiler, Rammelfangen, Schiffweiler stationiert waren, vgl. weiter
unten.
39 Mob-Plan (wie Anm. 23), Cron, Gesch. (wie Anm. 10) S. 300 ff.
39aVgl. J. Philipp, Der Gerichtsherr in der deutschen Militärgerichtsbarkeit, in: Milit. Gesch.
27, 1988, S. 533-547.
40 Cron ebd. S. 157 ff., 317, 375 f., Latz (wie Anm. 30) S. 89; Garnisonsältester in Saarbrük-
ken u. (stellv.) Landwehr-Inspekt. war offenbar ab 1914 Gen.-Maj. z. D. Bruno v. Stuckrad
(ER S. 697).
41 Das Folgende nach: Der militär. Heimatluftschutz im Weltkrieg 1914-1918, bearb. im
Reichsluftfahrtministerium, 1943, S. 64 ff. u. passim, Cron ebd. S. 297, 314 ff., u. Karte der
Flakstellungen v. Juli 1918 (Saarkalender 1927). Weitere Lokallit. bei Jacoby u. Läufer (wie
Anm. 2) S. 312 f.
158
unter einem Stabsoffizier der Flak. Die mit immer modernerem Gerät ausgerüsteten
Flugabwehrformationen wurden laufend verstärkt und traten 1917 als mobile Ver-
bände unter den Kommandeur des Heimatluftschutzes. Im Herbst 1918 verteidigten
den Luftraum an der Saar die Flakgruppen Neunkirchen, Saarbrücken, Völklingen,
Dillingen mit 120 Rohren und 65 Horch- und Scheinwerferzügen, drei Sperrabteilun-
gen mit 120 Ballon- und Drachenstationen, die Flugmeldezentrale Südwest in Saar-
brücken mit drei Flughaupt- und zahlreichen Flugwachen und einer Flugmeldeschule
sowie die Jagdstaffeln 2 und 9 in Saarbrücken und Bitsch samt dem Werftflugplatz
Neunkirchen42 bei Saargemünd und der Fliegerschule Hagenau. Damit stellten bei
Kriegsende Flak und Flieger mit etwa 4 000 Mann das größte Kontingent im
Korpsbereich - nach den Infanterie-Ersatz-Truppen.
Stellenbesetzungs-, Organisations- und Geschäftsverteilungspläne, Dienstanweisungen
oder Stärkennachweise, die Einblicke in Struktur und Ausbau des Generalkomman-
dos ermöglichten, liegen - von einer Ausnahme abgesehen - nicht vor. Man darf
jedoch davon ausgehen, daß es als verkleinerte Ausgabe des aktiven Korpsstabes sich
wie dieser in die Abteilungen
I (Zentral- und Führungsabteilung, Sicherheit, Zensur, Militärpolizei),
II (Adjutantur, Ersatzwesen, Reklamationen, Nachschub),
III (Militärjustiz)
IV (Verwaltung, Versorgung, Fürsorge)
gliederte und anfänglich über ein Dutzend Offiziere - samt kommandierendem
General, Stabschef, Kriegsgerichtsräten, Ärzten, Apotheker, Pfarrer, doch ohne
Intendanturräte - und 8 bis 10 Unteroffiziere, meist Schreiber, verfügte.43 Das meiste
Personal besaß von Anfang an die Abteilung IV; ihren Kern bildete die mobmäßig von
der aktiven Korpsintendanz aufgestellte stellvertretende Intendantur XXI zur Verwal-
tung und Versorgung der im Korpsbereich bleibenden Truppen und militärischen
Einrichtungen. Die ständig zunehmende Geschäftstätigkeit führte alsbald in allen
Stabsabteilungen zu einem unerwarteten Personalanstieg und zu einer meist zeitweili-
gen Abkommandierung verwundeter Offiziere und Soldaten aus den Genesendenkom-
pagnien der Ersatzeinheiten, d. h. letztlich zu einer ständigen Fluktuation, zumal in
den mittleren und unteren Positionen.44
Eine beachtliche Personalverstärkung und -einsparung ergab sich daraus, daß laut
Mobplan das Metzer Generalkommando keine es vertretende Behörde, sondern nur
die zur Saarbrücker tretende stellvertretende Intendantur XVI zur Versorgung des
Saarlouiser Brigadebezirks, d. h. des Restkorpsbereichs XVI, aufstellte und den ihm
seit 1905 zugeteilten Oberst z. D. Henry Mayet - sicher samt Adjutanten und
Ordonnanzen - an Saarbrücken abgab, wo er allem Anschein nach als Erster
Generalstabsoffizier (I a) die zentrale Abteilung I leitete. In Mayet, Infanterist und
langjähriger Generalstäbler, hat man wohl die nach v. Moßner und seinem Stabschef
42 Ihm galten 1917/18 eine Reihe von Luftangriffen; vgl. A. Pax, Neunkirch-lès-Saareguemines,
Sarreguemines o. J. (1982).
43 Zu Mob-Plan (wie Anm. 23) u. Stärkenn ach Weisung der Behörden u. Truppen in der
Kriegsformation (DEV 219 a), 1911, S. 157 vgl. Cron, Organisation (wie Anm. 10), S. 37,
183 ff., Haldenwang S. 209 f.
44 Dies ergibt sich aus den Rgts.-Geschichten u. Kling (wie Anm. 23). Vgl. allgem. zum
Offz.-Korps Schmidt (wie Anm. 12) S. 268 ff.
159
einflußreichste, vielleicht auch die effizienteste Führungskraft der neuen Kommando-
behörde zu sehen.45
Innerhalb der Abteilungen gab es zunächst keine Sachbearbeiter für Angelegenheiten
des XVI. Korps, was jedoch eine gesonderte Aktenführung nicht ausschließt. Erst die
Ausweitung und Steigerung des allgemeinen Geschäftsbetriebs ließ - 1918 erkennbar
- die Referate Reklamationen, Facharbeiterfragen und Kriegsopferversorgung für den
Restkorpsbereich XVI entstehen.46 Weitgehend selbständig blieb die ebenfalls nach
Saarbrücken überführte stellvertretende Intendantur XVI, die nur die Zuständigkeit
für Sanitätsdienste, Veterinärwesen und Seelsorge an die übergeordnete Abteilung IV
abgab. Diese bestand also praktisch aus zwei stellvertretenden Korpsintendanturen als
Unterabteilungen, was auch ihre Personalstärke erklärt.47
Die Grundgliederung in vier Hauptabteilungen48 erfuhr eine ziemliche Veränderung,
als das sogen. Hindenburgprogramm der 3. Obersten Heeresleitung mit dem im
Dezember 1916 verkündeten Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst49 die totale
wirtschaftliche und personelle Mobilisation des Volkes für den Endsieg forderte und
zur Koordinierung aller Maßnahmen beim Kriegsministerium in Berlin ein Kriegsamt
und bei den Generalkommandos Kriegsamtsstellen, abgekürzt KÄST, errichtet wur-
den. Die Umorganisation äußert sich im Januar 1917 im Umzug der Zentralabteilung
(I a) in das Neue Landgericht (Alleestraße) und im Auftreten von 5 „Neuen Abteilun-
gen“, leider ohne Namen, im Postverteiler50 - vor der Militärpolizeistelle und der im
45 Zu Mayet, Jg. 1856, 1906-1914 in Metz-Plantibres (zuletzt als Hausbesitzer), dann in
Saarbrücken ansässig, vgl. Mob-Plan S. 78, Ranglisten samt Ehrenrangliste, Dienstaltersliste
1918, die Adreßbücher von Metz (1914) u. Saarbrücken (1918) sowie die von Herrn
Oberarchivrat Dr. Fritz Jacoby mitgeteilten Daten aus der Saarbrücker Meldekartei (künftig
zitiert: Mitt. Dr. Jacoby, dem ich hier für seine vielfache Mühewaltung verbindlichst danke).
Mayet - in den Adreßbüchern „Henry“, im Melderegister „Georg Louis Eugen“ benamt - trat
offenbar an die Stelle des bis 1914 dem aktiven Saarbrücker Generalkommando zugeteilten
Oberstlt. z. D. Schacht (Rangliste 1914 S. 112, ER S. 81).
46 Vgl. Saarbrücker Notadreßbuch 1917 S. 314, 1918 S. 324. Die hier genannten Referate 2 b,
2 d u. Versorgung bearbeiteten Reklamationen, Versorgungsangelegenheiten u., mit der 1917
einsetzenden Freistellung Tausender von Bergleuten von Front- u. Militärdienst zur Grubenar-
beit, die Demobilisation von Soldaten aus Truppenteilen des Restkorpsbereichs XVI; daher -
auch zur besseren Orientierung des Publikums - firmierten sie wohl als Abteilungen des stellv.
GKdos XVI (übrigens unter Angabe der Telefonnummern).
47 Zm Mobplan (wie Anm. 23) S. 16 f., 39, 108 f. vgl. Rangliste 1914 S. 98 ff., S. 112 ff.,
617 ff., die Saarbrücker Notadreßbücher 1917, 1918 u. die zahllosen amtl. Bekanntmachun-
gen in der Presse. Die Leitung der Gesamtintendantur XXI hatte sicher ab 1915 der Int.-Rat
Dr. Ernst Engel, für XVI sind die Geh. Kriegsräte Eugen Biestert u. Hilspach nachweisbar.
48 Abt. la (Führungs- u. Zentralabt., allgem. Truppenführung, Planung u. Organisation,
Sicherheit, Bahn- u. Luftschutz, Paß- u. Zensursachen, Vereins- u. Versammiungswesen,
Mil.-Polizei usw.), Abt. II (Adjutantur - Ersatz - u. Beschaffungswesen, Truppenausbildung,
Reklamationen, Kriegsrohstoffe), Abt. III (Justiz u. Gerichtsbarkeit), Abt. IV (Versorgung,
Intendantur, Sanitäts- u. Veterinärwesen, religiöse u. .kulturelle Betreuung); Lit. wie
Anm. 37.
49 Vgl. Klein, Bd. 2 S. 447 ff., Deist, Armee, S. 471 ff., Feldmann S. 134 ff. (alle wie
Anm. 11).
50 Verteilungsplan im Schreiben der Kriegsrohstoffstelle des Gen.-Kdos. v. l.Jan. 1917 (StadtA
Saarbr. Best. G(roßstadt) Nr. 1555 Bl. 118 f.). - Der Organisationsausbau ist nur sehr
bedingt anhand von Aktenzeichen u. zufällig greifbaren Verteilern, Adreßbüchern u. Publika-
tionen in Presse u. Amtsblättern zu verfolgen. Außer den im Text genannten Abteilungen gab
es 1918 noch eine Abt. 1 c (Sonderzertifikate), VI (Paßwesen), H (Landwirtschaft, vgl. dazu
unten), U (Urlauber), Reg (Registratur), eine Automobilüberwachungsstelle unter dem dafür
der Abt. 1 c zugeteilten Hauptmann der Kraftfahrtruppen XXI u. die Versorgungsabteilung.
160
nächsten Kapitel vorzustellenden KÄST. Zu den „Neuen“ gehörten mit einiger
W ah rscheml ichkeit
- die Rohstoffstelle,
- ein zentrales Polizeidezernat, später in V a, allgemeine Polizei, und V b, Abwehr,
geteilt,
- und eine für die Presse und die sogenannte Aufklärung der Bevölkerung, d. h. für
Propaganda, zuständige Sektion, die ab Mai 1917 als Abteilung „Vaterländischer
Unterricht“, kurz V. U., firmierte und in mehrfacher Hinsicht Beachtung ver-
dient.51
Dies gilt insbesondere für ihren sehr agilen und nicht untalentierten Leiter, Oberleut-
nant d. R. Emil Schmetzer, im Zivilberuf Volksschullehrer, der mit einer aus
Pfarrern, Lehrern, Unternehmern, Arbeitervertretern, Politikern, Journalisten rekru-
tierten Hilfs- und Rednertruppe eine rege Propagandatätigkeit aufzog, Vorträge,
vaterländische Abende, Kampagnen für die Kriegsanleihe, Kriegervereinsappelle,
Kinovorführungen, nationale Feierstunden mit (Sprech-)Chören, Fahnen und Fanfa-
ren veranstaltete, Wochenendlehrgänge für die Obleute des Heimat- und Aufklärungs-
dienstes im Korpsbereich und im Gouvernement Metz abhielt. Im Sommer 1917
außerdem zum Leiter des Referats PR (Presse) der KÄST ernannt, sorgte er sicher
dafür, daß der Saarbrücker „Bergmannsfreund“ ab 1. September 1917 wiederer-
schien, und zwar unter seinem alten Redakteur, dem eigens dazu reklamierten
Landwehrleutnant Theodor Vogel (1870-1942), der das Wochenblatt zur Hauspostil-
le des Generalkommandos machte.52
Daß das Große Hauptquartier sich von Februar 1917 bis März 1918 in Kreuznach,
also im Korpsbereich, befand, ließ offenbar Schmetzer samt Aktivitäten rasch höheren
Orts bekannt werden. Jedenfalls widerfuhr ihm die Ehre, seinen die Saararbeiter über
ihre Verelendung nach einer Niederlage aufklärenden Spezialvortrag sozusagen als
51 Zur Aufklärung u. zum Vaterländischen Unterricht vgl. allgemein Deist (wie Anm. 6)
S. 287 ff., 803 ff., Daniel (wie Anm. 62) S. 250 ff., Müller (wie Anm. 12), Zur Saarbrücker
Abt. V. U. bzw. Pr, die u. a. „Lehrgänge für den Heimatdienst im Bereich des Stellv.
Gen.-Kdos. XXI u. XVI sowie des Gouvernements Metz“ (so am 26.-28. Febr. 1918) abhielt
u. wohl auch beim Elsaß-Lothringer Heimatdienst (Roth (wie Anm. 26) S. 638 ff., Müller
ebd. S. 344 ff.) mitwirkte, vgl. StadtA Saarbr. G Nr. 1552, 1951, Bergmannsfreund 1918
S. 81 u. Vorträge für den Heimatdienst im Bereich des Stellv. GKdos des XXL u. XVI.
Armeekorps sowie des Gouvernements Metz, 1918 (Druck, LA Saarbr. Inv. Nr. 3894,
nachträglich ermittelt von Herrn Prof. Dr. H.-W. Herrmann). - Anschaulich schildert
Landrat Sommer die „Aufklärungstouren“, die er ab Sept. 1917 meist mit dem kath. Pfarrer
Lorenz Vogt aus Alsweiler durch die Dörfer des Kreises St. Wendel unternahm (MS S. 73 f.,
vgl. oben Anm. 8).
51 Zu Th. Vogel, 1893-1914 u. 1917/19 Redakteur der Wochenschrift, 1906-1918 als Saar-
brücker Satdtverordneter führend im nationalliberalen Wahlverein u. in der Dt. Vaterland-
spartei, ab 1919 Geschäftsführer des Bundes der Saarvereine in Berlin vgl. L. Bruch,, Vor
100 Jahren gegründet - Der Bergmannsfreund, in: Saarbrücker Bergmannskalender 1970,
S. 78 ff., 81 ff., F. Jacoby, Die nationalsozialistische Herrschaftsübernahme an der Saar,
1973, S. 36 f., 127, 203 f., D. Fricke (Hg.), Lexikon zur Parteiengesch., 1983, Bd. 1
S. 278 ff. - Hinzuweisen wäre hier auch auf die in Saarbrücken gedruckte Feldzeitung der
Armee-Abt. A, zuletzt „Feldzeitung für die Lothringer Front“ (Eis.-Lothringen. Heimatstim-
men 12, 1934, S. 577 ff.).
161
Paradestück vaterländischen Unterrichts dem Generalstab, Hindenburg und Luden-
dorff, der ihm „bewegt“ für diese „Weihestunde“ dankte, zu präsentieren.53
Fruchtbarer und ersprießlicher als alle Durchhaltepropaganda wirkte sich Schmetzers
musisches Interesse aus. Unter seiner Ägide entstand, auch um der kriegsbedingten
Verödung des kulturellen Lebens entgegenzuwirken, durch Verfügung des komman-
dierenden Generals vom 2. Oktober 1917 die „Volksbühne des stellvertretenden
Generalkommandos XXL Armeekorps“, eine bei anderen Korps vorerst nicht nach-
weisbare Theatergesellschaft,54 die ein dankbares Publikum in allen Bevölkerungs-
schichten, zumal in Gewerkschaftskreisen, fand, hingegen bei einigen Arbeitgebern
auf eine gewisse Reserve stieß. Sie debütierte am 3. November natürlich mit „Minna
von Barnhelm“ und in glänzender Besetzung, darunter als Gäste namhafte Hofschau-
spieler, die ihr auch weiterhin treu blieben. Intendant und Mitinitiator war der aus
Straßburg gebürtige Oberspielleiter und Landwehrleutnant Ernst Matter, später in
Berlin Präsident der Calderon-Gesellschaft,55 den anscheinend einige in Saarbrücker
Stabsstellen tätige Straßburger unterstützten. Die auch bei den Nachbarkorps gastie-
rende Bühne, über deren Tätigkeit die Presse eingehend informiert, erwies sich zudem
als zählebig: ihr direkter Abkömmling, das Saarländische Landestheater, bestand bis
in unsere Tage.
5. Die Kriegsamtsstelle (KÄST)
Wie alle Kriegsamtsstellen wurde die Saarbrücker Ende 1916 errichtet und fungierte
ab Februar 1917 als Organ teils des Berliner Kriegsamtes, teils des Generalkomman-
53 Dazu u. zu Schmetzer, laut Ranglisten 1913 u. 1914 Lt. d. R. im Weißenburger
Inf.-Rgt. 60, vgl. Deist (wie Anm. 6) S. 851, 855, 1412, E. Ludendorff, Meine Kriegserin-
nerungen, 1919, S. 369, W. Nicolai, Der vaterländische Unterricht, in: Schwarte (wie
Anm. 10} Bd. 8 S. 496 f. - Die Aufführung von Schmetzers „Bühnenfestspiel - Deutschland
u. seine Feinde“ durch die Volksbühne würdigt der Bergmannsfreund v. 16. Nov. 1917
S. 108.
54 StadtA Saarbr. Best. G Nr. 394 (mit Gründungs Verfügung), 353, 1294, 1897, 2255, Den
Beirat der „Volksbühne“ bildeten Schmetzer, der mit einer rhein. Industriellentochter verhei-
ratete Major d. L. Fritz Rosenbauer u. der Straßburger Kohlengroßhändler u. Lt. d. R. Franz
Hansen, der in Saarbrücken eine Filiale betrieb (zu ihnen vgl. Presseberichte, Ranglisten,
Adreßbücher 1914, 1918 u. Mitt. Dr. jacoby). - Seit Herbst 1917 gab es ein Heimatfront-
theater, eine Wanderbühne mit feldgrauen Schauspielern, im Karlsruher Korpsbereich XIV für
Nordbaden (Müller (wie Anm. 12) S. 351), 1918 eine Schaubühne des Eis.-Lothringer
Heimatdienstes (Saargemünder Ztg. v. 9. Nov. 1918).
55 Matter, Jg. 1881, vor 1912 am Stadttheater Metz, kam 1917 - vermutlich verwundet - als
Vizefeldwebel d. L. (später Lt.) nach Saarbrücken u. ging im Mai 1919 zunächst nach Köln
(Mitt. Dr. Jacoby, Adreßbuch 1918, W. Kosch, Dt. Theater-Lexikon, 1960, Bd. 2 S. 1383).
Mit, neben u. zeitweise auch gegen ihn agierten, der Presse zufolge, der aus Konstanz
stammende Dramaturg Dr. Ernst Guggenheim (Jg. 1882) u. der als Intendant des „Schauspiel-
hauses der Stadt Saarbrücken“ auftretende, gebürtige Kämmer (Jg. 1871) Fritz Schiffermüller
(Mitt. Dr. Jacoby, Adreßbücher). Das Verhältnis der in der Sommersaison 1918 nachweisba-
ren „Südwestdeutschen Verbandsbühne“ u. des vorgenannten „Schauspielhauses“ zur Volks-
bühne, bei der am 17. Nov. 1918 in Matterns Faust-Inszenierung der junge Gustav Gründ-
gens den Schüler spielte, wäre noch aufzuklären.
162
dos.56 Erster Vorstand war der seit 1908 in Saarbrücken ansässige, im November
1914 als Führer des heimischen Res.-Inf.-Regiments 17 schwer verwundete Oberst-
leutnant z. D. Ludwig v. Heimrod.57 Ihm folgten im Frühjahr 1917 Generalmajor
z. D. v. Studnitz (1863-1932) und nach dessen Aufrücken zum Stabschef des Frank-
furter XVIII. Generalkommandos im September 1917 Oberstleutnant Bartholomaeus,
der - 1914 mit dem Metzer Res.-Inf.-Regiment 130 als aktiver Major ausgerückt -
offenbar verwundet bis Kriegsende amtierte.58 Aus seiner Zeit stammt der erwähnte
Registraturspiitter im Freiburger Militärarchiv samt dem Orgamsationsplan vom Juni
1918, der erstmals Einblicke in Struktur und Stellenbesetzung einer Korpsdienststelle
gewährt.59 Demnach verfügte die in 11 Abteilungen gegliederte KÄST über 11 Dezer-
nenten und 37 Referenten - das leitende Personal einer damaligen Großstadt. Direkt
vom Kriegsamt ressortierten
- die Abt. A („Industrie-Abteilung“), die so hochkarätige Referenten wie den für
Waffen und Munition (WUMBA), Stahl und Eisen zuständigen Generaldirektor des
Stumm-Konzerns (1902-1925) Theodor Müller60 aufwies,
- die Abt. H zur „Durchführung des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst“
(u. a. Arbeiter- und Schlichtungsausschüsse),
- die anfänglich vom Bezirksverein deutscher Ingenieure betreute Abt. TeBe („Techn.
Bezirksdienststelle“), zur Beschaffung von Maschinen und Investitionsgüter,61
56 Vgl. dazu u. zum Folgenden das Ende der 1920er Jahre im Heeresarchiv erarbeitete
Gutachten „Die Kriegsamtsstellen im Weltkrieg“ (BA MÄ Freiburg PH 2/57, MA Potsdam
W-10/50380), Cron, Gesch., S. 293 f., Deist, S. 523 ff., 565 ff., Dieckmann S. 54 ff., 98,
Feldmann S. 166 ff., Fenske S. 888 ff. (wie Anm. 6, 10, 11), Huber (Anm. 14) Bd. 5
S. 101 ff. sowie das Publikationsorgan des Berliner Kriegsamtes: Kriegsamt. Amtliche Mittei-
lungen u. Nachrichten (künftig zitiert: KA-Mitt.). - Nachtrag: Die KÄST Saarbrücken trat
laut „Saarpost“ vom 18. Dez. 1916 samt der KANST Diedenhofen am 15. 12. 1916 unter
Oberstltn. v. Heimrod, Adjutant Obltn. d. R. Wasserfuhr, in Dienstwirksamkeit und bestand
aus der Abteilung A (Arbeitsamt, Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, Rohstoffe, Ver-
kehr, Eisen, und Stahl, Erz, Zement, Kalk usw.) unter Hptm. z. D. Lemp, 1914 Kompanie-
chef im IR 173 St. Avold, und der Abteilung B (Ernährung, Verpflegung der Schwer- und
Schwerstarbeiter, Aufklärung, Landwirtschaft und Gewerkschaftsfragen) unter Obltn. d. R.
Franz Hansen, der im Dez. 1917 wieder nach Straßburg zurückging (vgl. Anm. 54).
57 Zu v. Heimrod (1859-1925) vgl. Deist (wie Anm. 6) S. 1412, Kriegsamt-Mitt. Nr. 1 S. 12,
Ehren-Rangliste S. 712, Mitt. Dr. Jacoby, Düffel u. Fernow, Das Res.-Inf.-Rgt. Nr. 17,
1927, Teil 2. S. 25, 28 (das Rgt. wurde im Aug. 1914 mit I. Btl. in St. Wendel u. II. Btl. in
Kreuznach aus Reservisten des Saar-Nahe-Raumes aufgestellt, sein Ers.-Btl. ging aus Kreuz-
nach im August zunächst nach Koblenz als Kriegsbesatzung).
58 KA-Mitt. Nr. 14 S. 7, Nr. 30 S. 7. Entgegen Deist (wie Anm. 6) S. 1406 amtierte v. Studnitz
(Rangliste 1914 S. 45, ER S. 27) noch im Sept. 1917 in Saarbrücken. Zu Bartholomaeus
vgl. Kling, in: Zs für Heeres- u. Uniformkde. 1958 S. 41, Rangliste 1914 S. 287, ER
S, 305.
59 BA MA Freiburg PH 2/66; vgl. dazu oben Anm, 4,
60 Zu Müller Carl Wilhelm Theodor, jg, 1869, von 1902 bis 1925 Gen.-Dir. der Gebr. Stumm,
Neunkirchen, 1905-1921 Mitgl. der Handelskammer Saarbr,, bis März 1918 im Provinzial-
landtag, vgl. Reichshandbuch der dt. Gesellschaft (zitiert: Reichshb.), 1931, Bd. 2 S. 1281,
Adreßbücher von Neunkirchen u. Saarbr., Amtsblatt der Reg. Trier 1918, S. 54.
61 KA-Mitt. Nr. 16 S. 8 f., Amt!. Nachr. f. .d. Kreis Saargemünd 1917 S. 33. - Die Kriegsroh-
stoffstelle wurde im Mai 1917 der KÄST eingegliedert (KA-Mitt. Nr. 17 S. 8).
163
- die der Saarbrücker Oberlehrerin A. Rawengel anvertraute Abt. F („Frauen“),
verantwortlich für Einsatz und Betreuung der Arbeiterinnen in Rüstungsbetrieben,
Militärbüros und im Schanzdienst sowie für 14 Fürsorgestellen.62
Dem Generalkommando unterstanden
- die Abteilung B, als „volkswirtschaftliche und sozialpolitische Abteilung“ u. a. für
Arbeiter-, Lohn- und Gewerkschaftssachen, für Vereins- und Versammlungswesen,
für „Landwirtschaftsfragen (B IV)“63 zuständig, deren versierter Leiter, Gerichtsas-
sessor und Leutnant d. R. Günther van Endert (1884-1958),64 auch die Monatsbe-
richte für Berlin abfaßte,
- die Abt. C. (Aus- und Einfuhrkontrolle),
- die Abt. Pr (Presse) unter dem vorerwähnten Oberleutnant d. R. Schmetzer.
Hinzu kamen einige Verbindungsoffiziere, wie der Landwehrleutnant Walther zum
Deutschen Stahlbund in Düsseldorf65 oder der „für die Pfalz“, d. h. den pfälzischen
Teil des stellvertretenden II. bayer. Generalkommandos Würzburg, beauftragte
bayerische Landwehrhauptmann Franz Osthelder (1869-1937), seit 1895 Chefchemi-
62 Zum Frauenreferat allgem. Dieckmann (wie Anm. 10) S. 55, M. E. Lüders, Das unbekann-
te Heer, 1936, S. 121 ff., 131, 152 ff., U. v. Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914-1945,
1968, S. 22 ff. u. U. Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft, 1989, bes. S. 74 ff.,
259 ff. - Zu Rawengel, von deren Mitarbeiterinnen Schenk u. Therese Herzog (Berlinerin,
Jg. 1886), letztere sicher Univ.-Absolventin war (Adreßbuch 1918, Mitt. Dr. Jacoby), vgl.
unten S. 169 f. u. Anm. 88.
63 Sie ist identisch mit der bei jeder Landratur eine Zweigstelle besitzenden Kriegswirtschafts-
amt-Nebenstelle (BA-MA Freiburg PH 2/57 S. 60 ff., Cron, Gesch., S. 293, Dieckmann
S. 56 f., Fenske S. 889, Feldman S. 231 f. - alle wie Anm. 10, 11), aus der offenbar das
„Wirtschaftsamt des Saargebietes“ (schon am 9. Jan. 1919 bzw. 10. Febr. 1919 zu belegen -
StadtA St. Wendel Abt. D Nr. 1/23 S. 224, 239) hervorging, das vom Reg.-Präsidium Trier
ressortierte (vgl. dazu Romeyk (wie Anm. 20) S. 77 f.). Die Nebenstellen der els.-lothr.
Kreise des Korpsgebiets, etwa in St. Avold u. Saargemünd, unterstanden dem Kriegswirt-
schaftsamt beim stellvertretenden Gen.-Kdo. XV in Straßburg (Dieckmann S. 56, 99, Amtl.
Nachr. f. d. Kreis Saargemünd 1918 S. 33 u. ö.), wobei St. Avold evtl, für den Restkorpsbe-
reich XVI zuständig war. Vgl. auch unten Anm. 74.
64 G. van Endert aus Kaiserswerth, 1914 Lt. d. R. im Inf.-Rgt. 56, dann Res.-Inf.-Regt. 17
(vermutlich naher Verwandter des gleichnamigen Neusser Rittm. d. R. der 7. Dragoner;
Rangliste 1914), kam im Dez. 1916 wohl erkrankt nach Saarbr., wechselte im Nov. 1918 zur
Kreisverwaltung Saarbrücken-Land als Stellvertr. des Landrats u. späteren Verwaltungspräsi-
denten Dr. K. v. Halfern u. verzog im Juli 1920 nach Neuss, um Landrat des Kreises Moers
zu werden; zu ihm vgl. Wochenberichte der Volkswirtschaft!, u. sozialpolit. Abt. der KÄST
Saarbr. Febr. 1917-Okt. 1918 (BA MA PH 2/74), Klein (wie Anm. 1) S. 88 f., Romeyk
(wie Anm. 20) S. 107, R. Schütz (Bearb.), Grundriß zur dt. Verwaltungsgesch., Bd. 7:
Rheinland, 1978, S. 289 f., 476 u. frdl. Mitt. von Dr. Jacoby. - Die in Anm. 4 erwähnten
Akten der KÄST Saarbrücken stammen laut Mitteilung des BA MA Freiburg aus van Enderts
Nachlaß (W.-A. Mommsen, Die Nachlässe in den dt. Archiven, 1971, S. 119), der auch
die Ende 1915 privat erstellte Offz.-Liste des RIR 17 überliefert (BA MA PH 11/51, vgl. dazu
Anm. 57).
65 Evtl, personengleich mit dem Saarbrücker Oberingenieur Karl Walther (Adreßbuch 1914,
1918); zu dem am 4. Okt. 1916 gegründeten Dt. Stahlbund vgl. hier R. Nutzinger (Hg.),
50 Jahre Röchling Völklingen, 1931, S. 95 f.
164
ker der BASF in Ludwigshafen, der freiwillig das Saarbrücker KAST-Referat A 4
(Chemische Industrie} mitbetreute.66
Am Ende des Planes, was nichts über den Stellenwert besagt, rangiert die Kriegsamts-
nebenstelle (KANST) Diedenhofen mit Hinweis auf einen eigenen, leider verscholle-
nen Büroplan. Daß das Diedenhofener Revier, Konkurrenzareal der Montanmagnaten
de Wendel, Thyssen, Klöckner, Röchling, Stumm, ARBED u. a. m., das mit dem als
Kriegsziel begehrten Erzbecken von Briey - seit Herbst 1914 unter „Schutzverwal-
tung“ des Gouvernements Metz stehend67 - und der luxemburgischen Industriezone
eng verflochten war, nicht zur Metzer KÄST68 kam, sondern eine Saarbrücken
nachgeordnete, für den Kommandanturbereich zuständige Nebenstelle erhielt, hatten
sicher die zur „Südwestlichen Gruppe deutscher Eisenindustrieller“ vereinigten Saar-
unternehmer durchgesetzt, die wie Röchling, Stumm und ARBED den Großteil des
66 Laut Mitt. des HSTA München, Abt. IV-Kriegsarchiv, v. 19. Okt. 1989 (aus dem Personal-
akt OP 27 292), war er vom 7. Jan. 1917 bis 25. Nov. 1918 „Verbindungsoffizier der
KANST Ludwigshafen mit Sitz in Saarbr.“; der bis 1931 im BASF-Hauptlabor tätige
Chemiker (Unternehmensarchiv der BASF vom 13. Sept. 1988), gebürtiger Zweibrücker,
vertrat damit zugleich den für die Rheinpfalz als Militärbefehlshaber fungierenden Komman-
deur der stellv. 6. bayer. Inf.-Brig. Landau (W. Volkert, Handbuch der bayer. Ämter,
Gemeinden u. Gerichte, 1983, S. 382 ff.), was im Hinblick auf die überregionalen Saarbrük-
ker Unternehmer- wie Gewerkschaftsverbände (etwa Südwestliche Gruppe des Vereins Dt.
Eisen- u. Stahlindustrieller (vgl. hier F. Hellwig, Die Saarwirtschaft u. ihre Organisationen,
1939, S. 60 ff.), oder Gewerkverein christl. Bergarbeiter, Geschäftsstelle für Saarrevier,
Westpfalz u. Eis.-Lothringen) zu beachten ist. - Nicht weiter führt hier die Ende 1990 vom
Institut für pfälz. Gesch. publizierte, breit angelegte Diss. von H. Thalmann, Die Pfalz im
Ersten Weltkrieg, die - enttäuschend bei der Quellenfülle - weder auf die Zuständigkeiten
der einzelnen Mil.-Befehlshaber, des kdr. Gen. des stellv. bayr. II. AK in Würzburg, des
vorgenannten Brig.-Kdrs. u. des Gouv. der Fest. Germersheim, eingeht, noch deren Behörden
u. nachgeordneten Ämter samt Kompetenzen u. Führungspersonal vorstellt, etwa die KÄST
Würzburg mit der unterstellten KANST Ludwigshafen, die u. a. die pfälz. Rüstungsindustrie
koordinierte.
h~ Das vor allem von der dt. Montanindustrie als Kriegsbeute beanspruchte Erzbecken
Briey-Longwy stand unter sogen. „Schutzverwaltung“ des Gouvernements Metz (Klein Bd. 1
S. 356 ff., Bd. 2 S. 143 ff., 767 ff., Deist S. 781, 863, 1146, Dieckmann S. 68 - wie oben
Anm. 6, 10, 11), das einen Offizier seines Stabes zum „Landesdirektor“ bestellte - nachweis-
lich Mai 1917 bis April 1918 Hptm. Liebermann, vermutlich identisch mit dem Colmarer
Geh. Reg.-Rat Ernst Liebermann (zu Verordnungsblatt der Verw. des Gouvernements Metz
f. d. besetzte Gebiet von Longwy u. Briey S. 89, 109 vgl. Adreßbuch f. d. Eis.-Lothringer im
Reich, 1920, S. 155). Zur Ausbeutungspraxis durch Spezialeinheiten 1917/18 vgl. die m. W.
erstmals den Terminus Ausschlachten im technischen Sinne gebrauchenden Jahresberichte des
Beauftragten des Kriegsministeriums 4 (MA Potsdam W 10/50459) u. dazu Cron, Organisa-
tion (Anm. 10) S. 163 f., Röchling (Anm. 36) S. 45 ff. sowie M. v. Gailwitz, Erleben im
Westen, 1932, Bd. 2 S. 443 ff., der angebl. Betriebssprengungen durch die Rohma-Ges. (dazu
Dieckmann ebd.) unterband. - Nicht zur „Schutzverwaltung“ gehörten die 1914 dem
Gouvern. Metz inkorporierten Ornetalorte Homecourt, Moutiers, Auboue, Joeuf (Bodenstein
(Anm. 9) S. 33 u. ö.). Instruktiv ist die Karte zum frühen Sarlorlux-Raum bei W. Kohlmann,
Bergbau u. Hüttenwesen, in: A. Ruppel (Hg.), Lothringen u. seine Hauptstadt, 1913,
S. 197 ff. Bergrat Kohlmann leitete zeitweise die „Schutzverwaltung“ (Klein (Änm. 11) Bd. 2
S. 143, 148).
68 Die KÄST Metz (Lit. wie Anm. 56 u. Deist S. 524, 566) umfaßte den Gouvernementsbereich
samt den vorgenannten Ornetalorten u. dem im Juni 1917 von der KANST Diedenhofen
abgetretenen, zur Thyssen-Hütte gehörenden Areal bei Hagendingen (KA-Mitt. Nr. 1 S. 12,
Nr. 18 S. 8). Als Vorstände sind zu belegen: Gen.-Maj. a. D. Bahn, ehern. Metzer Fußartille-
rist u. Inspekteur der technischen Institute der Artillerie in Potsdam (noch April 1917 - MA
Potsdam Pr 212841/1, ER S. 698), Gen.-Maj. Dahlmann, zuletzt Chef der Geschützgießerei
Potsdam (ER S. 701), u. Juli 1947 ein offenbar aktiver Hptm. v. Harbou (KA-Mitt. Nr. 22
S. 11), wohl Bodo v. H. (1880-1944), später Maj. i. G. (ER S. 13).
165
Roheisens aus ihren Hütten im Minettegebiet bezogen.69 Aus ihrem Beritt kam
ebenfalls der Dienststellenleiter, Hauptmann d. R. Albrecht Korten, seit 1905 verant-
wortlich für die Panzerstahlproduktion des Werkes Dillingen der Stummgruppe und
nach dem Krieg in Saarbrücken Nachfolger seines Onkels Rudolf als Syndikus der
ARBED-Burbach.70 Die Röchlinginteressen vertrat vor Ort Robert Röchling
(1877-1948), Rittmeister d. R. und Direktor der Carlshütte,71 mit besten Beziehungen
zur Metzer Handelskammer, zum Bezirkspräsidenten und zum Kreisdirektor
(1913-1918) Paul Bostetter, zeitweilig Polizeichef in Saarbrücken.72 Zum personellen
Ambiente paßt, daß der 1914 als Landwehrhauptmann ausgerückte Bürgermeister
von Völklingen Friedrich Sohns (1871-1919), der im Vorfeld des Kriegsverbrecher-
prozesses gegen Robert Röchling von den Franzosen inhaftiert wurde und sich im Juli
1919 in Untersuchungshaft erschoß, im Herbst 1916 eine führende Position beim
sogen. Landesdirektorium in Briey einnehmen solle, was dann ein Zufall vereitel-
te.73
Schließlich kann man auch die KÄST beim stellvertretenden Generalkommando
Straßburg74 als eine Art Saarbrücker Dependance ansehen. Ihr Vorstand war der als
69 Die KANST Diedenhofen (Lit wie Anm. 56), zuständig für den Festungsbereich bzw. die
Kreise Diedenhofen-West u. Ost, dirigierte ab Nov. 1917 auch die als Kriegsgesellschaft,
vermutlich zur Liquidierung der De Wendel-Betriebe etablierte „Berg- u. Hüttenverwaltung
Hayingen“ (zu KA-Mitt. Nr. 35 S. 9 vgl. Dieckmann (wie Anm. 67); dazu ferner Hellwig
(wie Anm. 66), Nutzinger (wie Anm. 65) S. 74 ff., 200 ff., Roth (wie Anm. 28) S. 635 ff.,
Balk (wie Anm. 94) S. 9 ff., F. Pinner, Dt. Wirtschaftsführer, 1925, S. 66 ff. (Thyssen),
S. 92 ff. (Stumm, Röchling), 99 ff. (Klöckner), E. Wolff, Die Unternehmens-Organisation in
der Westdt. Eisen-Industrie, 1930, S. 23 ff., 25 ff., 34 ff.
70 Zu Korten, Juli 1919 aus Gefangenschaft (l) nach Saarbrücken entlassen, vgl. Org.-Plan (wie
Anm. 59), KA-Mitt. Nr. 1 S. 12, Ranglisten, Saarbrücker Adreßbücher, Hellwig (wie
Anm. 66) S. 158, Wegweiser durch das Saargebiet, 1928, S. 29, frdl. Mitt. von Dr. W.
Schmitz, Hüttenarchiv Dillingen, v. 7. Juni 1988 u. Mitt. Dr. Jacoby. Einen Besuch Kortens
im Sept. 1917 beim AOK 3 in Vouziers erwähnt K. v. Einem, Ein Armeeführer erlebt den
Weltkrieg, 1938, S. 334. Zur Panzerplattenproduktion in Dilligen vgl. H. van Ham, 250
Jahre Dillinger Hütte, 1935, S. 189 ff. (mit Abriß über die Kriegszeit). - Welche Funktion der
von Roth (wie Anm. 28) S. 611 f. erwähnte Maj. v. Thiele (ER S. 505?) ausübte (KANST,
Stab der Kommandantur oder KA Berlin), bleibt vorerst offen.
71 Zu Robert Röchling vgl. Nutzinger S. 32 ff., 47 ff., Röchling S. 48 ff. (beide wie Anm. 36,
65), H.-L. v. Gemmingen-Hornberg, Christian Röchling 1772-1885 - Ahnen u. Enkel,
1973, S. 109.
72 Bostetter, geboren 1878 in Diedenhofen, 1912 Assessor der Polizeidirektion Straßburg,
1913/18 Kreisdir. Diedenhofen, Rittm. d. R., verzog Mai 1920 von Diedenhofen nach
Saarbrücken u. März 1921 weiter nach Düsseldorf (Mitt. Dr. Jacoby, Adreßbuch Straßburg
1912, IV S. 400, Röchling (wie Anm. 36) S. 400, W. Hubatsch (Hg.), Grundriß zur
dt. Verwaltungsgesch., 1983, Bd. 22 S. 341).
73 Verwaltung Longwy-Briey an Oberpräsident der Rheinprovinz, vom 4. Dez. 1916 (Abschrift
in StadtA Völklingen ungeordn. Bestand); frdl. Auskünfte von Herrn Stadtarchivar H. Ober-
mann, Völklingen, aus der ihm teilweise zugänglich gemachten Familienchronik Sohns
(ungedr. Ms im Besitz von Hans F. Sohns, Neuhofen bei Ludwigshafen). Die Hintergründe
des mysteriösen Selbstmords des Bürgermeisters Sohns, der mit einer Tochter des Saarbrücker
Bankiers Haldy verheiratet war und von dessen Metzer Anwalt verteidigt wurde, wären noch
zu klären.
74 Organisation u. Zuständigkeit der KÄST Straßburg v. 1. Okt. 1917 (Druck in GLA Karlsruhe
Best. 456 Nr. 544); vgl. dazu Deist (wie Anm. 6) S. 523 ff., 1412, die in Anm. 56 genannte
Lit. u. die recht präzisen Angaben bei Döblin (wie Anm. 107) S. 278 ff. zum stellv. GKdo
XV. - Der KÄST Straßburg unterstanden im Korpsbereich XXI die Einberufungs-, Schlich-
tungs- u. Feststellungsausschüsse (zur Feststellung der Kriegswichtigkeit von Betrieben) des
Bez.-Kdos Hagenau, zuständig für die Kreise Hagenau u. Weißenburg (KA-Mitt. Nr. 7,
Dieckmann (Anm. 10) S. 59 f).
166
Bankier tätige Rittmeister d. R. Eduard Röchling (1880-1966), wie seine Brüder
gelernter Dragoner.75 Zusammen mit dem Saarbrücker Maschinenfabrikanten und
Rittmeister d. L. Eduard Sehmer (1874-1945)76 und dem felddienstunfähigen
Betriebswirt Hans Adt (1888-1982), Fabrikantensohn aus der Lothringer Grenzstadt
Forbach und zumindest Gastsaarbrücker,77 leitete er das Amt bis Kriegsende. Zudem
konnte er über die ihm nachgeordnete KANST Mülhausen78 die 1912 mit dem
Winterhall-Konzern erworbene Dominanz der Röchlings im oberelsässischen Kali-
bergbau absichern.
6. Personalnotizen
Nicht uninteressant dürften an dieser Stelle einige biographische Daten zu weiteren
Führungspersönlichkeiten sein. Der erste stellv. kommandierende General Walther
Reinhold v. Moßner (1846-1932)79 war auch insofern ein bemerkenswerter Zeitge-
nosse, als er der Sohn des jüdischen, 1836 vor der Ehe mit der evangelischen
Kaufmannstochter H. C. Riese konvertierten Berliner Bankiers Jakob Wilhelm M.
(1809-1873) war, der im März 1848 Prinz Wilhelm v. Preußen, dem „Kartätschen-
prinzen“, zur Flucht aus dem aufständischen Berlin verhalf. Von Wilhelm I. gefördert
begann der junge Moßner 1864 gegen ziemliche Widerstände seine Karriere im
feudalen Bonner Königs-Husaren-Regt. (1. Rhein.) Nr. 7 und beendet sie - 1890
75 Reichshandbuch (wie Anm. 60) Bd. 2 S. 1540, Gemmingen-Hornberg S. 110.
76 Reichshandbuch S. 1757, Dt. Familienarchiv 29, 1965, S. 109, Wer leitet?, 1940, S. 832,
W. Lauer, Gesch, der Maschinenfabrik Erhard & Sehmer, in: Zs f. Saarländ. Heimatkde. 2,
1952, S. 71-80. Zu Sehmer, Rittm. d. R. in der mit dem XXI. AK neuaufgestellten u. in
Saarbrückens Nachbarstadt Forbach garnisonierenden Train-Abt. 21, vgl. Rangliste 1913
S. 806, 1914 S. 816.
77 Hans Ädt machte 1907 in Saarbrücken, dem Wohnsitz seines älteren Kousins Kommerzienrat
Eduard Adt (1850-1919), Abitur, erkrankte im Okt. 1914 als Vizefeldwebel d. R. der
Diedenhofer 13. Husaren felddienstuntauglich, diplomierte 1916 an der TH Berlin als
Betriebswirt u. wurde aus seiner Straßburger Ersatzeskadron von Röchling zur KÄST
engagiert, angeblich um sie mitaufzubauen. Er war dann Büroleiter der Sehmer unterstehen-
den Hauptabt. II, der sogen. Industrieabt., die u. a. über die Kriegswichtigkeit u. damit die
Schließung von Betrieben entschied. Als Vorsitzender des Arbeiter- u. Soldatenrats der KÄST
demobilisierte er am 11. Nov. 1918 das Personal u. sich selbst (Reichshandbuch (wie
Anm. 60) Bd. 1 S. 10, H. Adt, Aus meinem Leben, 1978, S. 140 ff., 158 ff. (mit falschem
Vornamen Sehmers), Henri Wilmin, Die Familie Adt u. ihre Industriebetriebe, 1979).
78 Leiter der zunächst zum Korpsbereich XIV, GKdo Karlsruhe, gehörenden, auf Antrag des
Min. für Eis.-Lothringen im Mai 1917 dem GKdo Straßburg unterstellten KANST Mülhausen
war anfangs ein Hptm. Naumann, ab Herbst 1917 ein OLt. d. L. Engler (KA-Mitt. Nr. 15
S. 6, Nr. 16 S. 11). - Zum kaum bekannten Einfluß der Röchling in der dt. Kali-Industrie
vgl. Nutzinger (wie Anm. 65) S. 315, ders., Karl Röchling (1827-1910), in: Rhein-Westfäli-
sche Wirtschaftsbiographien, 1932, Bd. 1 S. 151, 158, Rosse (wie Anm. 33) Bd. 1 S. 743 f.,
Bd. 2 S. 288 f., 302. Zum Winterhall-Konzern vgl. Pinner (wie Anm. 69) S. 310 ff.
79 Zu Moßner (Mossner), einem der schneidigsten Rennreiter der Armee, der 1877 die
Argentiniendeutsche Meta Giebert (1856-1882) u. 1883 die zum thür. Uradel zählende Anna
v. Wolffersdorff (1859-1907) heiratete, vgl. A, v. Deines, u. L. v. Türcke, Das Hus-Rgt.
König Wilhelm I. (1. rhein.) Nr. 7, 1904, passim, B. v. Bülow, Denkwürdigkeiten, 1930,
Bd. 4 S. 233 f., G. Martin, Die bürgerlichen Exzellenzen, 1979, S. 13, Eberh ardt (wie
Anm. 36) S. 293, Gotha, Briefadlige Häuser 1910, 1937, Jb des dt. Adels 1900, Straßburger
Adreßbuch 1912 sowie Mitt. der Stadtarchive Berlin, Bonn, Frankfurt/O, Heidelberg,
Strasbourg, des Ev. Zentralarchivs Berlin, des Gemeindeverbands der ev. Kirchen Bonn u. des
Vereins Herold, Berlin.
167
geadelt - als General der Kavallerie und Gouverneur von Straßburg, wo er nach
seiner Pensionierung am 22. März 1910 wohnen blieb und vom Kaiser in den Landtag
von Elsaß-Lothringen berufen wurde. Ä la suite der Potsdamer Leibgardehusaren,
kommandierte er in Saarbrücken von August 1914 bis zum Widerruf seiner Mobilge-
stellung im Januar 1918. Hochbetagt starb v. Moßner 1932 in Heidelberg.
Sein Nachfolger Generalleutnant Fritz v. Unger (1862-1945) entstammte einer auch
Literaten aufweisenden Offiziersfamilie.80 1 8 7 9 bei den Oldenburger Dragonern
eingetreten, stand er 1905/06 als Major der 7. Dragoner erstmals an der Saar und
1911 als Oberst und Chef des Stabes des XI. Armeekorps in Kassel. Im August 1914
nahm er als Generalmajor westpreußischer Grenztruppen an der Schlacht von
Tannenberg teil, wurde dann Divisionskommandeur im Westen und Osten und führte
im Spätjahr 1917 als Generalleutnant die 49. Reserve-Division bei Cambrai. Über die
Hintergründe seiner Versetzung an die Heimatfront ist nichts bekannt. Sein vorer-
wähntes Tagebuch konnte für dieses Referat noch nicht ausgewertet werden.
Der beim Kommandowechsel nicht wie üblich ausgetauschte Chef des Stabes Carl
Seederer (1846-1927) kam 1894 als Regimentskommandeur der 7. Dragoner nach
Saarbrücken, wo er sofort dem Zivilkasino beitrat.81 Als Oberst 1901 zur Disposition
gestellt, bezog er den den Hüttenmagnaten Stumm gehörenden Trakt des Schlosses
und wohnte Tür an Tür mit dem Saarbrücker Gymnasiallehrer und Haushistoriker
Albert Ruppersberg. Wenige Tage vor dem Einmarsch der Franzosen (22. Nov. 1918)
ließ er sich - noch Generalleutnant geworden - demobilisieren und lebte bis zu
seinem Tod im Schloß. Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß Carl Vopelius und Max
v. Vopelius, die als Mitglieder der bekannten Sulzbacher Glashüttendynastie zum
Führungskreis der Saarindustriellen um die mehrfach mit ihnen verwandten Völklin-
ger Eisenröchlings gehörten, Seeders Schwiegersöhne waren.
Ebenfalls zum heimischen Großbürgertum zählte Kavallerieinspekteur Generalmajor
z. D. Alfred Gustedt (1852-1918), der 1870 als Fähnrich der 7. Dragoner ins Feld zog
und 1878 mit ihnen nach Saarbrücken in Garnison kam.82 Hier heiratete er 1884 die
Bankierstochter Ida Braun, was ihm noch weitere reiche Verwandte, u. a. die
St. Johanner Röchlings, und die Mitgliedschaft im Zivilkasino eintrug. Ihm widmete
er sich nach seiner Pensionierung (1904) als Vorstand, besonders 1914/18, als es
zusätzlich Kasinofunktionen für das Offizierkorps des Generalkommandos wahr-
nahm.83
80 Zu v. Unger, dessen Bruder Wolfgang Gen. d. Kav. war (1855-1927) u. sich als Hippologe u.
Blücherbiograph hervortat, vgl. die Presseberichte zum Kdo.-Wechsel, Ranglisten, Adreßbü-
cher, Mitt. Dr. Jacoby, Genealogisches Handbuch des Adels 9, 1954, S. 439 ff., Der
Weltkrieg (wie Anm. 19) Bd. 2, 4, 5 laut Personenregister.
81 Zu Seederer vgl. Deist (wie Anm. 6) S. 1406, Ranglisten, Adreßbücher, Saarbrücker Casi-
nochronik, 1896, S. 46, Saarkalender 1929 S. 129, verschiedene Pressemitt. u. Mitt. Dr. Ja-
coby.
82 Zu v. Gustett vgl. Lit. in Anm. 81 (außer Deist u. Saarkalender), A. Ruppersberg, Gesch.
der evang. Gemeinde St. Johann, 1927, S. 301, B. Krause, Gesch. der Saarbrücker Kasino-
gesellschaft, 1969, S. 39 f.
83 Zumal der Führungsstab (Abt. I a) zum 3.Jan. 1917 von Winterbergstraße 7 (Eigentümer
Architekt H. Weszkalny) in das 1914 neben dem Kasino neuerbaute Landgericht verlegte
(StadtA Saarbr. Best. G Nr. 1555 S. 118).
168
Von den übrigen Brigadieren - meist reaktivierte Stabsoffiziere, oft Kommandeure
heimischer Regimenter, wie General Karl Hildebrandt,84 1908 Oberst des Saarburger
97. Infanterieregiments, 1914 Landsturminspekteur - verdient Freiherr Heinrich
v. Steinaecker (1850-1926),85 der 1916 in Bitsch die stellv. 59. Infanteriebrigade mit
Festungskommandantur und Truppenübungsplatz übernahm, insofern Beachtung, als
der gebürtige katholische Trierer, nachdem er 1911 als Generalleutnant und Kom-
mandant der Festung Posen in Pension ging, sich aktiv als Vertreter der gewerk-
schaftsfeindlich konservativen Richtung in der Zentrumspartei betätigte und schon
1912 für den Trierer Wahlkreis in den Berliner Landtag einzog. Als Zentrumsadliger
sicher dem annexionistischen Siegfriedensflügel der Partei verbunden und Partner der
rechtsextremen Deutschen Vaterlandspartei, kandidierte er im Februar 1918 bei einer
Ersatzwahl im Wahlkreis St. Goar für den Reichstag, unterlag jedoch einem in der
Kriegswohlfahrt tätigen katholischen Gemeindepfarrer, was nicht nur im rheinischen
Zentrum Aufsehen erregte.
Die außerordentlichen Kriegsgerichte waren vorwiegend mit dienstverpflichteten und
eingezogenen Ziviljuristen besetzt. Erwähnt seien der Saarbrücker Landgerichtsdirek-
tor Dr. Richard Palm, Gerichtsreferent im Korpsstab,86 und sein Kollege Landrichter
Otto Andres (geb. 1874), zuletzt Oberkriegsgerichtsrat, der auch als Korpsjustitiar
fungierte und später im Saarabstimmungskampf u. a. als Vorsitzender des Bundes der
Saarvereine im Reich (1922-1933) bekannt wurde.87
Eine Art Karrierefrau besaß die Kriegsamtsstelle in der Lyzealoberlehrerin Anna
Rawengel (1878-1932), evangelischer Saarbrückerin aus pommerscher Beamtenfami-
lie, die (¿er Frauenabteilung Vorstand und dazu von der Frauenreferentin im Kriegs-
amt, Elisabeth Lüders (1878-1966), 1961 Alterspräsidentin des Bundestags, „ausge-
84 Vgl. zu Hildebrandt Rangliste 1908, ER S. 698, Adreßbuch 1918, Mitt. Dr. Jacoby. - Die
1914 i. d. R. als Obersten wiederverwendeten Brigadiere wurden 1916 Generalmajore, einige
(Hildebrandt, Seederer, v. Stuckrad) noch Gen.-Leutnants, d. h. Exzellenzen.
85 Zu v. Steinäcker, dienstälteste Exzellenz im Korps, vgl. Lasch (wie Anm. 3) S. 349 f., Rang-
u. Dienstalterslisten, Handbuch über den kgl. preuß. Hof u. Staat, 1912-1914, H. Dressei,
Die polit. Wahlen in der Stadt Trier u. den Eifel- u. Moselkreisen 1888-1913, 1962,
S. 211 ff., H. Romeyk, Die polit. Wahlen im Reg.-Bez. Koblenz 1898-1918, 1969,
S. 376 ff., 489, F.-J. Schmillen, Revolution u. Rätebewegung 1918/19 im Rheinland, 1980,
S. 20, R. Lewinsohn, Das Geld in der Politik, 1930, S. 34 f. - Sein Widerpart, Pfr. Greber,
beriet im November den Koblenzer ASR (H. Metzmacher, Der Novemberumsturz 1918 in
den Rheinlanden, in: AnnHVNiederrh. 168/169, 1967, S. 135-265, hier S. 195 ff.).
86 Dr. Palm, 1910 nach Saarbrücken versetzt, war bis zur Auflösung des außerordentlichen
Kriegsgerichts Saarbrücken im Nov. 1918 dessen Vorsitzender (als Zivilist?) u, Unterzeichnete
verschiedentlich „Von Seiten des Gen.-Kdos. - Für den Chef des Stabes - auf Befehl“ (Amtl.
Nachr. f. d. Kreis Saargemünd 1918 S. 53, Saarkalender 1923 S. 140, Adreßbücher, Mitt.
Dr. Jacoby).
87 Zu dem aus Kirn gebürtigen Andres, 1911 von St. Wendel nach Saarbrücken versetzt, vgl.
Mitt. Dr. Jacoby, Adreßbücher, Saarkalender 1929 S. 30, Jacoby (wie Anm. 52) S. 36,
Fricke (wie ebd.).
169
wählt“88 worden war. Weniger an der Schule als gesellschaftspolitisch - u. a. im
Hauptvorstand des Roten Kreuzes, im Philologenverband - engagiert, kandidierte die
1918/20 als Fürsorgedezernentin zum Koblenzer Oberpräsidium beurlaubte Jungge-
sellin bei der Reichstagswahl 1920 im Wahlkreis Aachen für die Deutsche Volkspar-
tei, dem Pendant der von den Saarunternehmern gegründeten Deutsch-Saarländi-
schen-Volkspartei, allerdings erfolglos, und kehrte zur Augusta-Viktoria-Schule nach
Saarbrücken zurück. Nachdem sie im Herbst 1929 Stadtverordnete der Deutschnatio-
nalen Volkspartei und bald darauf 2. Landesvorsitzende geworden war, schaffte sie
im November 1932 über die Reichswahlliste der Deutschnationalen den Sprung in den
Reichstag. Einen Monat später starb die m W. erste zur Berufspolitikerin emanzipier-
te Saarländerin.
Einflußreichster Reserveoffizier war fraglos Hermann Röchling (1872-1955), dem als
jüngeren Mitglied der Führungsriege des Konzerns, als Direktor des auf Rüstung
umgestellten Völklinger Stammwerkes, als Rittmeister der 7. Dragoner und zeitweili-
gem Chef der Saarbrücker Ersatz-Eskadron die Rolle des Interessenvertreters der
Stahldynastie89 beim Generalkommando zufiel und der dann im Saarkampf zum
bekanntesten Röchling avancierte. Damals rangierten vor ihm und den in Diedenho-
fen und Straßburg eingesetzten jüngeren Söhnen Karl Röchlings (1827-1910) in der
Firmenspitze sicher die älteren Brüder Carl (1858-1941), Jurist und ab 1903 national-
liberales Landtagsmitglied bzw. Lobbyist in Berlin, und Louis (1863-1926), Jungge-
selle, 1907/19 Präsident des Deutschen Stahlwerkverbands, der als „Stahlverbands-
papst“ die Konzernpolitik mit den Industrieverbänden und der Konkurrenz - etwa in
Lothringen - abzustimmen hatte, sowie Vetter Paul (1854-1921), ab 1914 Präsident
der Saarbrücker Handelskammer.90 Wenn Paul, Louis und Hermann 1917 den
Landesverband Rheinland der Deutschen Vaterlandspartei mitbegründeten, erweisen
sich die Röchlings einmal mehr als Befürworter der expansiven Kriegszielpolitik der
88 So im Freistellungsantrag des KÄST-Vorstands v. Heimrod v. 31. Dez. 1916 bei der Stadt
Saarbrücken (Mitt. Dr. Jacoby aus Pers.-Akt). Zu Anna Martha Therese Rawengel, 1932
pensioniert, auch im Bund der Saarvereine führend, vgl. Reichshandbuch (wie Anm. 60)
S. 1438 f. mit Angaben zur KAST-Tätigkeit, Presseberichte, M. Schwarz, Biograph. Hand-
buch der Reichstage, 1965, S. 733, A. Th. Rawengel, Das Rote Kreuz im Saargebiet, in: Bll.
des Dt. Roten Kreuzes 5, 1926, S. 2 ff. M. E. Lüders, Fürchte dich nicht, Persönliches u.
Politisches aus mehr als 80 Jahren, 1963, S. 67 f. würdigt, ohne Namen zu nennen, die
Unterstützung, die sie bei der Abwehr der besonders aus dem Saargebiet erhobenen Forde-
rung, Frauen auch im Untertagebau einzusetzen, vom Saarbrücker Frauenreferat u. einem
bayer. Offizier - wohl Osthelder (vgl. Anm. 66) - erfuhr.
89 Zur Weltkriegs-I-Generation vgl. Gemmingen-Hornberg (wie Anm. 71), Reichshandbuch
(wie Anm. 60) S. 1539 ff., Nutzinger (wie Anm. 65) S. 22 ff., 39, 48 ff., Röchlings Saar-
kampfschrift (wie Anm. 36), H.-W. Herrmann, Die Röchlings - Aufstieg u. Abschied einer
Familie (Artikelserie in: Saarbr. Ztg. bes. v. 9. u. 10. Febr. 1978), K. Fuchs, Hermann
Röchling, in: Saarland. Lebensbilder 2, 1986, S. 221-250.
90 Paul folgte im Handelskammervorsitz Louis Vopelius (1842-1918), dem Bruder seiner Tante
Alwine Röchling geb. Vopelius. Den verwandtschaftlichen, geschäftlichen (Grube Hosten-
bach) u. politischen Beziehungen zwischen den Röchlings u. Vopelius ist noch nachzuge-
hen.
170
deutschen Industrie, die für den Erwerb von Briey noch 1918 bereit war, 10 Jahre
länger Krieg zu führen.91
7. Generalkommando und Arbeitnehmerschaft
Auch im Hinblick auf die vorgeschrittene Zeit muß ich mich hier etwas kürzer
fassen.92 Wie nicht anders zu erwarten, stand das Generalkommando zunächst
vorbehaltlos auf seiten der Arbeitgeber und sah in den 1914 mit der Mobilisierung
mitgliederschwach gewordenen Gewerkschaften jeder Couleur nur soziale Störenfrie-
de. Dafür sorgten die dem Stummschen Industriefeudalismus treu gebliebenen Unter-
nehmer, voran die Röchlings, die noch 1914 einen mehrwöchigen, erbitterten
Arbeitskampf mit den christlich organisierten Bergleuten ihrer Privatgrube Hosten-
bach vorexerziert hatten,93 ihr Bevollmächtigter für nationale Werk- und Arbeiterver-
eine Karl Rupp (1856-1941),94 die staatliche Bergverwaltung und die von Handels-
kammersyndikus Dr. Max Schlencker (1883-1967) koordinierten Saarwirtschaftsver-
bände.95 So bequemte man sich erst auf energisches Drängen des Kriegsamtes 1917
91 Zu Fricke (wie Anm. 52) Bd. 2 S. 395 vgl. Klein (wie Anm. 11) Bd. 2 S. 769, F. Fischer,
Griff nach der Weltmacht, 1984, S. 349 ff., H. Lademacher, in: Rhein. Geschichte, 1976,
Bd. 2 S. 633 ff. u. die Lit. oben in Anm. 67. - Zum unbewältigten Thema „Die Sarlorlux-In-
dustrie in ihrer Kriegsproduktion 1914/18 u. ihre Gewinne“, u. a. mit Sparten wie die Iothr.
Konserven- u. Dörrgemüsefabrikation, geben Hinweise MA Potsdam 21284/1: Verdienst-
kreuze, 1917, u, die Lit. in Anm. 69. Der Nettogewinn der ARBED stieg von 5,6 Mio. 1915
auf 14,9 Mio. 1916 (Saarpost v. 9. Nov. 1916).
92 Allgem. vgl. H.-J. Bieber, Gewerkschaften in Krieg und Revolution, 1981, Feldman,
Klein, Kocka, Deist (wie Anm. 11), lokal: K. A. Gabel, Kämpfe u. Werden der Hüttenar-
beiter an der Saar, 1921, S. 147 ff., 160 ff., 177 ff., J. Schwarz, Das Saargebiet, sein
Bergbau u. seine Sozialpolitik, 1926, P. Kiefer, 25 Jahre Gewerkverein christlicher Bergarbei-
ter im Saarrevier, 1929, ders., Rückblick u. Ausblick über die gewerkschaftspolitische Lage,
1919, Gewerkvereins-Arbeit während des Krieges, 1918, P. Bäcker (Hg.), Tätigkeit des
christl. Metallarbeiterverbandes im Saargebiet, Westpfalz u. Lothringen 1912-1917, 1918, die
bisher unbeachtet gebliebenen Berichte einzelner Funktionäre zur Sozialist. Bewegung an der
Saar in: Volksstimme v. 5. März 1928 (Jubiläums-Nr.) sowie den auf die Bergarbeiter
beschränkten Überblick bei K.-M. Mallmann u. H. Steffen, Lohn der Mühen, 1989,
S. 112 ff. - Zur Einbeziehung Lothringens u. des unteren Elsasses in das Organisationsfeld
der Saar-Gewerkschaften (die bei Roth (wie Anm. 26) S. 397 ff., 596, 615, 642 kaum
durchscheint) vgl. Gewerkvereins-Arbeit S. 117 ff. u. ö., Bäcker S. 6 ff., Rossé (wie
Anm. 33) Bd. 2 S. 368 ff. u. oben Anm. 66. J.-M. Conrad, Militants au travail CFTC et
CFDT dans la mouvement ouvrier lorrain (1890-1965), Metz 1988, konnte nicht eingesehen
werden.
93 Zu dem offenbar auch von der jüngeren Saarbergarbeiterforschung noch nicht wiederentdeck-
ten, für die Verhältnisse vor Kriegsausbruch exemplarischen, mit allen Mitteln geführten
Streik (10. März-17./18. Mai), vgl. vorerst LHA Kobl. Best. 403 Nr. 13534, 13536, 442
Nr. 3788, 4415, Kiefer (wie Anm. 92) S. 91 f. u. demnächst F. Jacoby u. H. Klein, Der
völlig vergessene Hostenbacher Fastnachtstreik im Frühjahr 1914, in: JbwestdtLG.
94 Zu Rupp, nach 1920 H. Röchlings persönlicher Referent für Spezialaufträge, auch Kirchmei-
ster in Völklingen, vgl. Bieber (wie Anm. 92) S. 138, 348, 764, 860, Fricke (wie Anm. 52)
Bd. 3 S. 109 ff., Th. Balk, Hier spricht die Saar, Zürich 1934, S. 7 ff. sowie Mitt. von Herrn
H. Obermann, StadtA Völklingen, vom 28. Okt. 1985.
95 Zu dem gebürtigen Württemberger Schlencker, der im Sept. 1917 den auch für Lothringen u.
die Westpfalz zuständigen Bezirk Saar bzw. Südwest der Vaterlandspartei als Abt. des
Landesverbandes Rheinland gründete, vgl. StadtA Saarbr. G Nr. 1956, Reichshandbuch (wie
Anm. 60) S. 1938, Hellwig (wie Anm. 66) S. 97 ff., Bieber (wie Anm. 92) S. 312, 331 u. ö.,
Fricke (wie Anm. 52) Bd. 4 S. 379 u. ö., Feldman (wie Anm. 11) S. 288.
171
zur Einsetzung der vom Hilfsdienstgesetz geforderten Schlichtungsausschüsse,953 die
„das herzliche Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Südwe-
sten“ nur beeinträchtigten. Ähnlich euphorisch schilderten die Monatsberichte an das
Berliner Kriegsamt96 die Stimmung unter den - samt Frauen, Fremdarbeitern und
Kriegsgefangenen - rund 200 000 Berg- und Rüstungsarbeitern der KÄST Saarbrük-
ken-Diedenhofen als durchweg gut, nur zuweilen gedrückt durch unvermeidbare
Engpässe in der Ernährung oder vereinzelte Übergriffe subalterner Bergbeamter.
Fast schadenfroh lastete man den 1917 einsetzenden Zustrom zu den Gewerkschaften
- der Ottweiler Landrat verwies im Herbst auf „fabelhafte Fortschritte“ des Bergar-
beiterverbandes, des sogen. Alten Verbands, gerade auf dem flachen Land97 - der die
Arbeitnehmer angeblich begünstigenden Gesetzgebung an. Nach dem Verpuffen
wilder Kurzstreiks meist jugendlicher Arbeiter im Mai 1916 auf den Sulzbachgruben98
glaubte man die Lage im Griff zu haben, auch als im April 1917 - nach dem
ernüchternden „Steckrübenwinter“ - Ausstände auf den lothringischen Gruben
Merlenbach und Huf, wo viele Warndtbewohner arbeiteten, nur mit knapper Not
durch Einlenken der Kriegsamtsstelle verhindert wurden und im Juni Warnstreiks auf
den Gruben Reden und Bildstock Signale setzten. Jedenfalls waren die Behörden völlig
überrascht, daß am 24. September 20 000 Bergleute, meist Organisierte, im Raum
Neunkirchen-Sulzbach wegen unmäßiger Verteuerung der Kartoffeln, ihrer Grund-
nahrung, gleich für einige Tage ablegten.
Organisator dieses Massenstreiks war Bergarbeitersekretär Franz Pokorny
(1874-1923),99 erst im Mai von Bochum nach Saarbrücken versetzt und dem nach
links tendierenden Bezirksleiter Ludwig Hetterich (1874-1929)100 zur Seite gestellt,
eventuell als Vertrauensmann der Generalkommission. Redegewandt, unerschrocken
95aZu Deist (wie Anm. 6) S. 522 vgl. Feldman S. 90, 178 ff., Bieber S. 314 ff., 337 ff. u.
KA-Mitt. Nr. 7 mit Anlage (wie oben Anm. 74).
96 BA MA Freiburg PH 2/72 (mit Belegschaftszahlen S. 141).
97 L. Stern, Die Auswirkungen der großen Sozialist. Oktoberrevolution auf Deutschland, 1959,
S. 714 ff. (Landrat Moritz an GKdo, 28. Sept. 1917).
98 Zu den Streiks, auf die Gabel, Kiefer, Bäcker S. 5: „1917 6 Arbeitsniederlegungen“,
u. Schwarz (alle wie Anm. 92) nur vage verweisen, vgl. BA MA Freiburg PH 2/72 S. 71, 80,
117 ff., LHA Kobl. Best. 403 Nr. 13536, LA Saarbr. Best. Landratsamt Saarbr. S Nr. 11,
StadtA Saarbr. G Nr. 1913, Stern (wie Anm. 97) S. 709 ff., 724 ff., 727 f., 729 ff., 1901 f. u.
die Tagespresse. - Roth (wie Anm. 26) S. 615 erwähnt einen zweistündigen Ausstand im Mai
1916 auf Grube Amélie u. eine Streikwelle Ende April 1917 im Diedenhofener Revier, die mit
der in Luxemburg Zusammenhängen könnte (vgl. unten Anm. 103).
99 Zu Pokorny, u. a. 1897-1911 Redakteur der Bergarbeiterzeitung, 1911-1916 Ressortleiter im
Düsseldorfer Pressebüro der SPD, 1919 Mitglied der Dt. Nationalversammlung, vgl. Bieber
(wie Anm. 92) S. 292, 311, 330 f., 910, Deist (wie Anm. 6) S. 1219, Lademacher (wie
Anm. 91) S. 642, Schwarz (wie Anm. 88) S. 728, Stern (wie Anm. 97) S. 2006, Mallmann
u. Steffen (wie Anm. 92) S. 116 f. Die von Schwarz (wie Anm. 92) S. 67 erwähnte Auswei-
sung im Dez. 1918 ließ sich nicht bestätigen. Pokorny verzog am 1. Juli 1919 wieder nach
Westfalen (Mitt. Dr. Jacoby).
100 Zu Hetterich, Bergmann aus dem Ostertaldorf Breitenbach, 1909/12 Verbandsfunktionär in
Neunkirchen, der 1918 mit seinem Kollegen K. Krämer die USPD in Saarbr. gründete, vgl.
Handbuch Verein Arbeiterpresse 1927 S. 540, Gewerkvereins-Arbeit (wie Anm. 92) S. 80 f.,
97 f., lllf., Schwarz (ebd.) S. 66, Stern (wie Anm. 97) S. 717, 729 f., Mallmann
u. Steffen (wie Anm. 92) S. 117. Von Dez. 1916 bsi Mai 1917 verbüßte H. in Saargemünd
eine wohl wegen Agitation („Deutschfeindlichkeit“) von einem reichsländischen Gericht
verhängte Gefängnistrafe (LHA Kobl. Best. 442 Nr. 3788 S. 1080 f.).
172
und taktisch versiert wurde der langjährige Redakteur bald zum bestgehaßten
Widerpart von Militärs und Unternehmern - zumal im Winter seine Einziehung,
d. h. Kaltstellung, zur Armierungstruppe nach Mutzig annuliert werden mußte. Auf
Drängen der Kriegsamtsstelle, die ihre Kritik an der Bergverwaltung nicht verhehlte,
suchte das Generalkommando, sich wenigstens mit den Konkurrenten der freien
Gewerkschaften zu arrangieren - vor allem mit dem Gewerkverein christlicher
Bergarbeiter, dessen Sekretär Fritz Kuhnen (1879-1947) noch im Sommer 1917 mit
dem Alten Verband zusammenarbeitete,101 sowie mit deren geschworenen Gegnern,
den wirtschaftsfriedlichen katholischen Fachvereinen „Berliner Obödienz“ unter dem
Neunkircher Zentrums- und Reichstagsabgeordneten Bartholomäus Koßmann
(1883-1952),102 die bereits unter Mitgliederschwund litten. Der Erfolg ließ auf sich
warten. Im Oktober 1917 streikten die meist christlich organisierten Stahlarbeiter der
Dillinger Hütte und, im Sog der reichsweiten Januarstreikwelle, abermals im Februar
1918.103
Wie in ganz Deutschland sackte die Stimmung im Sommer 1918 nach dem Scheitern
der Westoffensiven rapide durch. Trotz der drohenden Einberufung zum Heeresdienst
streikte die Belegschaft der Grube Reden im August 1918 eine volle Woche und setzte
Lohnerhöhungen auf allen Saargruben durch. Überdies war der Gestellungsbefehl eine
101 Kuhnen u. Hetterich unterfertigten noch am 30. Aug. 1917 in Würzburg Lohnabmachungen
mit bayer. Behörden für die St. Ingberter Bergleute (Gewerkvereins-Arbeit (wie Anm. 92)
S. 111). Die Bergwerksdir. Saarbrücken meldete am 10. Okt. dem Handelsmin. das Ende der
Zusammenarbeit beider Verbände (Stern (wie Anm. 97) S. 730 f.). Zu Kuhnen vgl. ebd.
S. 710, 715, Gewerkvereins-Arbeit passim u. neuerdings die Kurzbiographie von K.-M.
Mallmann u. G. Paul in: H.-W. Herrmann (Hg.), Das zersplitterte Nein, 1989, Bd. 1
S. 149 ff., wo jedoch die Angabe, er habe gemäß Hilfsdienstgesetz als Vertrauensmann der
Arbeiter im Korpsbereich fungiert, samt Quelle (Kiefer (wie Anm. 92) S. 42) dahin zu
korrigieren ist, daß es diese Funktion offiziell nicht gab, daß er vielmehr Vertrauensperson
des GKdos war. Gleiches gilt für seinen Kollegen Peter Kiefer (1884-1945), der sich im
Hostenbacher Streik gegen Röchling (vgl. Anm. 93) die Sporen verdiente, 1914 mit dem
Res.-Inf.-Rgt. 17 ins Feld zog u. als hochdekorierter Offz.-Stellvtr. 1917 in die Presse- u.
Organisationsabt. des Gewerkvereins nach Saarbr. zurückkehrte, wo sein früherer Rgts.-Kdr.
erster Vorstand der KÄST war (vgl. Anm. 57 u. Notizen aus dem Nachlaß meines Vaters,
Kiefers Kriegskameraden u. zeitweiligem Hausgenossen). Zu Kiefer, einem der markantesten
Zentrumsfunktionäre, der 1933/35 mit der Gewerkschaftsfront Saar die Basis für den
Wahlsieg der Dt. Front u. die Rückkehr der Saar zu Deutschland schuf (was seine Kollegen
Kuhn, Otto Pieck u. a. m. zu emigrieren zwang), vgl. statt anderer M. Zenner, Parteien u.
Politik im Saargebiet, 1966. - Reserve-17er war 1914/15 auch der Lothringer Franz
Dahlem, der 1911/13 als Volontär der Firma des Saarbrücker Grossisten u. Zentrumpoliti-
kers A. Becker zum Sozialismus fand u. nach 1945 in der DDR Karriere machte (F. Dahlem,
Jugendjahre, 1982, S. 336 ff.).
102 Zu Koßmann, der im März 1918 im Auftrag der Berliner Obödienz (so P. Kiefer) den
Zusammenschluß aller wirtschaftsfriedlichen Arbeiterverbände gemäß den Intensionen von
Industrie u. Oberster Heeresleitung betrieb u. im Mai persönlich bei Oberst Bauer, Luden-
dorffs Chef der Operationsabt., gegen die Aufhebung der Beschränkung des Streikrechts
(§ 153 GO) intervenierte, vgl. Deist (wie Anm. 6) S. 1207, Bieber (Anm. 92) S. 389, Stern
(Anm. 97) S. 718, 728, Zenner (wie Anm. 101) S. 27 f. u. passim, Chronik von Neunkir-
chen 1912 S. 9 ff. Die biographische Skizze bei Herrmann (wie Anm. 101) ist für die Zeit
vor 1920 unergiebig.
103 LHA Kobl. Best. 403 Nr. 13538 S. 463, BA MA Freiburg PH 2/72 S. 149. Der von Bäcker
(wie Anm. 92) S. 11 erwähnte Streik 1917 auf der Burbacher Hütte hängt evtl, mit dem von
10 000 Arbed-Arbeitern vom 31. Mai bis 11. Juni 1917 in Esch, Differdingen u. Düdelingen
zusammen (vgl. J. P. F., Kriegstagebücher eines Neutralen in Luxemburg, Esch 1921,
S. 60 ff.).
173
zweiseitige Angelegenheit. Zwar ist über die Praxis der Wieder-Einberufung unbotmä-
ßiger Arbeiter nichts Näheres bekannt, doch gibt es zu denken, daß das bei Warschau
in der Etappe Bug liegende Saarbrücker Landsturmbataillon XXI/14 am 9. Novem-
ber als erste Osteinheit revoltierte, seine Offiziere absetzte und die etatsmäßigen
Feldwebel („Spieße“) zu Kompagnieführern wählte.104
8. Revolution und Demobilisierung.
Bis zuletzt glaubte das Generalkommando, das in Erwartung der großen französi-
schen Offensive in Lothringen u. a. die Evakuierung der Zivilbevölkerung im Bereich
westlich der Saar vorbereitete,105 mit verstärkter Propaganda die durch Hunger,
Grippe und fast tägliche Luftangriffe zusätzlich belastete Bevölkerung des Reviers zum
totalen Widerstand aufputschen zu können. Noch am 6. November riefen Oberleut-
nant Schmetzer und die Heimatdienstobleute von 19 Organisationen (Arbeitgeberver-
band, Verband der Saarpresse, christliches Gewerkschaftskartell, Hirsch-Duncker-
scher Gewerkverein, konfessionelle Arbeitervereine, deutschnationaler Handlungsge-
hilfenverband, Volksverein für das katholische Deutschland usw.) zur großen Treue-
kundgebung für die Hohenzollerndynastie am 10. November auf - mit Stadtpfarrer
Dr. Johann Schlich (1876-1950), Superintendent Hubert Nold, dem christlichen
Metallfunktionär Peter Bäcker und dem Handlungsgehilfensekretär Karl Drefahl als
Rednern.106 Die statt dessen hereingebrochene Katastrophe konnten die von der
Vehemenz der Ereignisse geschockten nationalen Kreise in Saarbrücken - mit seinem
104 U. Kluge, Soldatenräte u. Revolution, 1975, S. 98, 396. Nach der hohen Formationsnum-
mer wurde die Einheit (taktisch das III. Btl. des Landst.-Inf.-Rgts 26) nicht vor 1917 vom
Landwehrbez. Saarbr. aufgestellt. Zum Dilemma in der Frage der Einberufung unbequemer
Arbeiter (-Vertreter), die Schlencker (vgl. Anm. 94) im Juni beim GKdo für sogen. Hetzer u.
Rädelsführer durchsetzte, sowie der Militarisierung von Betrieben, 1917 der Grube Merlen-
bach angedroht (BA MA Freiburg PH 2/72 S. 80 f.), vgl. Bieber (Anm. 92) S. 338, Deist
(Anm. 6) S. 565, 621, 1008, 1011, 1169, 1184 ff., Feldman (Anm. 11) S. 271 ff., Stern
(Anm. 97) S. 718, 732.
105 Aus dem in 5 Zonen eingeteilten Bereich mit den Kreisen Château-Salins (Sitz Mörchingen),
Saarburg/L., Forbach, Bolchen u. Saarlouis sollten nach den ab Febr. 1917 bearbeiteten
Plänen ca. 120 000 Personen in die Kreise Trier, St. Wendel, Bernkastel, Zell, Simmern,
Meisenheim, Hagenau, Weißenburg, nach Birkenfeld u. Rheinhessen verbracht werden,
wobei die zuletzt aufzugebende Zone 5 mit den Montan- u. Rüstungsbetrieben im Raum
Forbach am problematischsten war (LHA Kobl. Best. 442 Nr. 9639). Unabhängig davon
wurden im Sept. 1918 bei dem Verlust des St. Mihiel-Bogens durch die Armee-Abt. C 2 400
Personen aus dem Südteil des Kreises Metz-Land nach Birkenfeld evakuiert (Rossé (Anm. 33)
S. 262, 264, Keßler (Anm. 3) S. 98). - Die von den Ersatzformationen XXI/XVI aufzustel-
lenden Alarm- u. Marscheinheiten sollten offenbar nur bei einem Durchbruch der Franzosen,
nicht bei inneren Unruhen zum Einsatz kommen (vgl. Pfannenberg-Riedel (Anm. 3)
S. 354).
106StadtA. Saarbr. G. Nr. 1552 Bl. 55 ff. - Wie lange u. welche Freigewerkschafter bzw.
SPD-Funktionäre aktiv im Heimatdienst des GKdos mitwirkten (am 13. Mai 1917 sprach der
1902/07 in Saarbrücken tätige Sekretär Nik. Osterroth (1875-1933) aus Hamm/W. über
„Die Gewerkschaften im Dienste der Landesverteidigung“ der Presse zufolge durchaus im
Sinne Schmetzers; vgl. oben Anm. 53), bleibt ebenso zu klären wie die französischerseits stets
behauptete Einflußnahme der späteren Reichszentrale für Heimatdienst (zu Huber (Anm. 14)
Bd. 5 S. 606, Jacoby (Anm. 52) S. 32 ff. vgl. u. a. bei Herrmann (Anm. 101) S. 71,
P. Anschütz, Der Kampf der Saarbeamten unter der Völkerbundsregierung, 1922, S. 44ff.)
auf Personen u. Verbände in dem vom Reich abgetrennten Saargebiet.
174
hohen Anteil von Militär- und Beamtenfamilien - nicht besser erklären und verdrän-
gen, als daß die berüchtigten Kieler Matrosen „die revolutionäre Bewegung in die
Stadt“ trugen, wie es dann die lokale Literatur tradierte.107
Gewiß waren damals auch hierzulande Matrosen anzutreffen, etwa als Urlauber108 -
doch fand sich bisher kein Primärbeleg, daß sie die Revolution anfachten, Soldatenrä-
te gründeten oder ihnen angehörten.109 Der Umsturz im Korpsbereich wurde vielmehr
von den hier liegenden (Ersatz-)Truppen getragen, und offenbar eine Schlüsselrolle
spielten dabei die mit modernem Gerät arbeitenden Nachrichtensoldaten der Stäbe
und wiederum besonders die der Flak, Flieger und des Luftwarndienstes, die wie
107 So etwa Gabel (Anm. 92) S. 182 u. Röchling (Anm. 36) S. 47. Letzterem folgt unbesehen
H. Metzmacher, Die Herrschaft des ASR in Saarbr., in: ZGSaarg 19, 1971, S. 230-248, u.
ders., Novemberumsturz (Anm. 85), dessen Ausführungen - auch im Hinblick auf seine
Quellenbasis (u. a. übersieht er Gerhardts Erinnerungen (vgl. weiter unten) u. schiebt der
politisch gemünzten Version Kiefers (25 Jahre (wie Anm. 92) S. 43), „einige Heimkrieger“
hätten den ASR gebildet, von sich aus „aufständische Matrosen“ (Novemberumsturz S. 248)
voran) u. die völlige Mißachtung der militärischen Strukturen - einer Neubearbeitung des
Themas im Korpsbereich XXI/XVI nicht entgegenstehen. Ähnliches gilt für die jüngste
Zusammenschau von Mallmann und Steffen (wie Anm. 92) S. 121 ff., wo u. a. zum
Festzurren des Matrosenkurses offenbar nicht oder nur oberflächlich eingesehene Quellen
zitiert werden, die das genaue Gegenteil (LHA Kobl. Best. 442 Nr. 6154 S. 23 ff.: Matrosen
erschienen nicht) belegen. - Für die Ereignisse im Korpsbereich wäre ferner zu verweisen auf
A. Gerhardt, Der 9. November 1918 in Saarbrücken, in: Volksstimme (wie Anm. 92),
L. Bruch, 200 Jahre Saarbrücker Zeitung, 1961, S. 138 ff., S. A. Delges, Vor 15 Jahren im
Kreise Saarlouis, in: Dt. Front 1, 1934, S. 244-249, F. Haspel, Aus der Zeit der Arbeiter- u.
Soldatenräte (in Oberstein), o. J., Klein (wie Anm. 1) S. 84 ff., F.-Y. Le Moigne (Hg.),
L’histoire de Sarrebourg, Metz 1981, S. 288, H. Nominé, Sarreguemines au pouvoir de
conseils de soldats et d’ouvriers, Est-Courier 12. Dez. 1965-23. Jan. 1966, A. Redmer, Die
Novemberrevolution in der Prov. Birkenfeld, in: Festschrift W. Beyer, 1982, S. 257-275,
R. R. Rehánek, Schicksalhafter November, in: Gesch. u. Landschaft Nr. 98, 1968 (Heimat-
beil. der Saarbr. Ztg.), Roth (wie Anm. 26) S. 647 f., F.-J. Schmillen (wie Anm. 85) S. 29,
46, 71, die Erinnerungen v. Gailwitz’ (Anm. 67) Bd. 2 S. 443 f., 451 f., 464 ff. (bes. zu den
Vorgängen bei Metz u. auf dem Rückmarsch der seiner Heeresgruppe angehörigen
Armee-Äbt. C, deren AOK am 15. Nov. in Wallerfangen lag) und die Erinnerungen des
Landrats Sommer (wie Anm. 8) sowie den auf Tagebuchnotizen beruhenden autobiographi-
schen Roman des Hagenauer (zuvor Saargemünder) Militärarztes A. Döblin, November
1918, (dtv) 1978.
108 Auf die Anweisung des GKdos. zur Observierung der Matrosen in Saarbrücken, u. a. in
Animierkneipen, berichtete die Geheime Feldpolizei, es handele sich um ordnungsgemäß beim
Garnisonskommando angemeldete Urlauber (Tagebuch v. Unger (Anm. 8) S. 406). Dies
schließt natürlich nicht aus, daß sie bei Aufzügen u. Demonstrationen im ersten Glied
teilnahmen u. als „Kieler Helden“ gefeiert wurden. Das aus wenigen Seeoffizieren, Beamten u.
Ordonnanzen bestehende Materialabnahmeamt der Marine in Saarbrücken (Notadreßbücher
1917 S. 200, 1918 S. 267) kommt wohl kaum als revolutionäre Zelle in Betracht. Dagegen
wäre den 220 Matrosen nachzugehen, die laut Döblin (Anm. 107) S. 158 ff. am 13. Nov. per
Sonderzug von Wilhelmshaven nach Straßburg reisten, um eine els.-lothr. Räterepublik
auszurufen (vgl. Rossé (Anm. 33) Bd. 1 S. 488 ff., Bd. 2 S. 100 f., G. Foessel, La révolution
de Novembre 1918, in: Saison d’Alsace 1968 S. 471 ff.) u. etwa 40 Mann nach Metz u.
Saarbrücken entsandten. Bei ihnen handelte es sich wohl um die am 20. Nov. als Sicherheits-
wehr in Saarbrücken auftauchenden Matrosen (vgl. Klein (Anm. 1) S. 84).
109 Dies hätte Aug. Gerhardt (1866-1932), als Arbeitersekretär im Juli 1918 von Sachsen nach
Saarbrücken versetzt, 1918 Pressereferent im zentralen ASR, später ehrenamtl. SPD-Beige-
ordneter, in seinem Rückblick (Anm. 107) zumindest angedeutet.
175
vielerorts im Binnenland zu Meldeköpfen der Revolution wurden.110 Exakt zu belegen
ist dies für Neunkirchen, wo Flakkanoniere am frühen 9. November einen Soldaten-
rat wählten und mit den Hirsch-Dunckerschen Metallern des Eisenwerks die Bewe-
gung vorantrieben.111 Dem läßt sich anfügen, daß die Flugwache St. Avold - eine
Außenstelle der Saarbrücker Flugmeldezentrale - sich seit der Metzer Landwehrmeu-
terei Ende Oktober 1918 als Nachrichtenumschlagstelle betätigte und nicht zuletzt
110 Vgl. E.-H. Schmidt, Heimatheer u. Revolution, 1981, S. 232 ff., 240, E. Kolb, Die
Arbeiterräte in der dt. Innenpolitik, 1978, S. 84, Kluge (wie Anm. 104) S. 71, 73, 76,
110 ff. - Sicherheitsmaßnahmen, wie Funkstellen mit Offizieren zu besetzen, wurden
offenbar von den aufgeweckten Nachrichtenmännern mühelos umgangen (vgl. etwa Sanner
(Anm. 19) S. 146, Möller (Anm. 26) I S. 583, Ludendorff (Anm. 53) S. 615, v. Einem
(Anm. 70) S. 476). Nach einem vom AOK 5 am 8. Nov. mitgehörten Funkspruch aus Köln
befanden sich zuerst die Kasernen „um die Radiostation“ in den Händen des SR (Gailwitz
(Anm. 67) S. 464). In Saarbrücken verfügten die Aufrührer sicher am 9. Nov. über alle
Fernmeldemittel, daher waren Befehle nach außen nicht mehr durchzubringen, zumal nicht zu
den vom AOK 19 (St. Avold) zugesagten Verstärkungen (v. Unger, Tagebuch (Anm. 8)
S. 407).
111 Die regimentsstarke Flakgruppe Neunkirchen (16 Geschütze, 4 Fla-MG-Züge, 6 Scheinwer-
ferbatt.) bildete am 9. Nov. (Samstag, 15°° Uhr) einen SR, nachdem die Vorgesetzte Behörde
in Saarbrücken (Stoflak beim GKdo, d. V.) den Verkehr der Soldaten mit den Bürgern
vergeblich unterbinden wollte (Neunkircher Volks-Ztg. v. 11. Nov.). Daraufhin schritten
Vertreter des H.-D. Gewerkvereins, u. a. die Sekretäre Trabandt (Trabert?) u. Schroer, zu
Verhandlungen mit dem Stummschen Gen.-Dir. Böhm u. beriefen eine Hüttenarbeiterver-
sammlung abends ein. Diese liquidierte den Nationalen Hüttenverein am Ort, wählte einen
Arbeiterrat u. bildete mit dem SR der Flak einen vorläufigen ASR. Nachdem sich diesem die
Räte der übrigen Neunkircher Garnisonstruppen (E-Btl. Inf.-Rgt. 174, Landst.-E-Btl. XXI/
4, Offz.-Gefangenenlager-Wachkomp, usw.) unterstellt hatten, konstituierte am Sonntagmit-
tag eine von Flaksoldaten geleitete Volksversammlung, auf der die Kanoniere Noß u. Grill,
die Gewerkschafter D. Schroer u. H. Petri (ab 1919 Bergarbeitersekretär) sprachen, unter
Zuwahl von 22 Bürgern aller Schichten den Neunkircher ASR. Eine Delegation ging sofort
nach Ottweiler, wo Soldaten der dortigen E-Esk.-Ul. Rgt. 11 nach Befreiung dreier in
Saarbrücken inhaftierter Kameraden randalierten, übernahm das Landratsamt, besorgte den
Sicherheitsdienst u. initiierte Räte in Ottweiler, Landsweiler-Schiffweiler, Spiesen u. anderen
Orten als „Unterabteilungen“, denen nicht nur in" Wiebelskirchen Vertreter aller Gewerk-
schaften, der SPD, USPD u. Fortschrittlichen Volkspartei angehörten. Der zugleich den Kreis
Ottweiler repräsentierende Neunkircher ASR fungierte offenbar als Gliedorganisation des
zentralen Saarbrücker ASR für den Korpsbereich XXI/XVI bzw. das Saargebiet (vgl.
Anm. 117), dessen Mitglied Hetterich (vgl. Anm. 100) übrigens die Delegation nach Ottwei-
ler begleitete. Die Struktur des Neunkircher ASR, von dessen 4 zivilen Vorständlern zunächst
drei - samt dem am 16. Nov. noch nachweisbaren Vorsitzenden Daniel Schroer - H.-D.-Ge-
werkschafter waren, wandelte sich im Zuge der Verlegung der Flakgruppe (ab 13. Nov.) u.
des E-Btls. 174 ins Rechtsrheinische u. der Demobilisierung der restlichen Einheiten späte-
stens am 21. Nov. (Bürgerversammlung, Rückmarsch der Fronttruppen) zum lokalen Arbei-
ter- u. Bürgerrat; Vorsitzer war der vorgenannte Sozialdemokrat Hermann Petri. Vgl. dazu
LA Saarbr. Best. Landratsamt Ottweiler Nr. 1, 5, Neunkircher Volks-Ztg. (Fortschritt),
Neunkircher Ztg. (Zentrum), ferner Krajewski S. 183 f., Zewe S. 77 f. (beide Anm. 1),
u. Gabel (Anm. 92) S. 154, 182 ff., Trittelvitz (wie Anm. 8) S. 131 ff. - Skepsis kommt
wiederum auf gegenüber Metzmacher (Anm. 85) S. 250 ff. (der u. a. Schroer zum Mehr-
heitssozialisten macht u. SPD u. USPD die Volksversammlung am 10. Nov. einberufen läßt)
u. Mallmann-Steffen (Anm. 92) S. 122 f. Teils in bedenklich selektivem Umgang mit
Quellen u. Lit. (z. B. Trittelvitz) bzw. Aktenfehlinterpretation (z. B. bietet die Anm. 6
zitierte Quelle keinen Beleg für die Bestätigung des ASR am 10. Nov. „unter Leitung“ Petris)
überzeichnen sie die Rolle der Bergarbeitergewerkschafter u. ignorieren dabei - militärische
Komponenten bleiben ohnehin außen vor - die Initiativen der Flaksoldaten wie die der
HD-Metaller unter Daniel Schroer, einem 1915 aus Stahlheim b. Metz rückgewanderten
Neunkircher (Jg. 1883). MdR Koßmann (Anm. 102) weilte übrigens, was Kiefer (Anm. 101)
nie verwand, in den Umsturztagen bei der Programmkommission des Zentrums in Berlin
(Fricke (Anm. 52) Bd. 4 S. 590).
176
auf dem Jagdflugplatz Saarbrücken-St. Arnual ein bislang übersehener Soldatenrat
existierte.112
Nach den Erinnerungen Gerhardts, Pressereferent im Saarbrücker ASR, faßte die
Revolution in der Nacht zum 9. November in Saarbrücken Fuß.113 Am Tage traten
dann Funktionäre der freien Gewerkschaften, der mehrheitlichen und unabhängigen
Sozialdemokraten sowie Soldaten der Garnison - Keimzelle vermutlich die Ula-
nen-Ersatz-Eskadron - zu einem Arbeiter- und Soldatenrat zusammen, der sich
sogleich als Zentalrat für den Korpsbereich verstand. Eine dreiköpfige Delegation
begab sich am Nachmittag nach dem Abebben der Demonstrationen auf das General-
kommando, um mit dem kommandierenden General, der seinerseits den Saarbrücker
Landrat Dr. Karl v. Halfern als den seit Oktober 1918 ihm zugewiesenen Zivilkom-
missar114 und Oberkriegsgerichtsrat Andres hinzuzog, zu verhandeln. Das Ergebnis
war ein schriftlich fixiertes, der Forschung bislang entgangenes Abkommen.115
Danach verpflichtete sich v. Unger, die zivile Exekutivgewalt nur im Einvernehmen
mit den Bevollmächtigten des Zentralrats bzw. mit deren Gegenzeichnung auszuüben
und Einsicht in alle militärischen Vorgänge zu gewähren, behielt sich und dem
Landrat jedoch das Recht des Rücktritts vor. Dem stimmten die Delegierten Röhrs-
sen, G. Reese und I. Kuchler zu und garantierten die Anerkennung der Abmachungen
durch den Gesamtrat, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, den Schutz des
Privateigentums und volle Unterstützung bei der Abwehr eines über die Reichsgrenze
eindringenden Feindes, d. h. falls die Franzosen in Lothringen zur Offensive anträ-
ten.
112 Aus mehrfachen Gesprächen mit Herrn Georges Gladt (1894-1985), aus Geispolzheim/
Bas-Rhin, dem Vater unserer Nachbarin Huguette Mizzia, der 1918 Funkgefr. bei der
Flugwache St. Avold war, ergab sich, daß diese sicher seit der Elsässer Landwehrmeuterei am
30. Okt. bei Metz (dazu H. Hoepffner, Das Landw.-Inf.-Rgt. 72, 1923, S. 121, v. Gall-
witz (Anm. 67) S. 442 f., 450 f.) in regem Informationsaustausch mit Gegenstellen in Metz,
Hayingen (Gladts früherem Einsatzort), Saarbrücken, Saargemünd, Bitsch usw. stand.
Überdies bestanden gute Kontakte zu den Funkern des bayer. AOK 19 (St. Avold), die
allerdings nur im persönlichen Gespräch, etwa bei Begegnungen im Armee-Nachrichten-Park,
über die ihnen früh bekannt gewordenen Vorgänge bei der Marine, in Köln u. besonders in
München berichteten. Die Flugwache wählte beizeiten (wann, war nicht zu eruieren) einen SR
unter einem Vizewm. u. verlegte sofort nach Räumung der Flugplätze Frescaty u. Borny bei
Metz (14. Nov.) zur Flughauptwache Saarbrücken, wo die Elsaß-Lothringer u. „Linksrhei-
ner“ entlassen wurden. - Demnach existierten SR wohl bei allen Luftverteidigungstruppen,
zumal bei den Flakgruppen Diedenhofen, Saarbrücken, Völklingen u. Dillingen, deren
Melde- u. Sperreinheiten z. T. im bäuerlichen Umland (Saargau) stationiert waren. Zum
bisher unbekannten SR des Flugplatzes St. Arnual vgl. J. Buckler, Malaula. Der Schlachtruf
meiner Staffel, 1942, S. 202 f.
113 Laut Gerhard (Anm. 107, 109) verhandelten einige Genossen schon freitagsabends (8. Nov.)
mit Saarbrückens Erstem Beig. Heinrich Schlosser.
114 Der Innenmin. ernannte am 22. Okt. 1918 v. Halfern zum Reg.-Kommissar bei GKdo XXI/
XVI für den preuß. Teil des Korpsbereichs XXI; für den preuß. Teil des Korpsbereichs XVI
(Kreise Saarlouis, Merzig, Saarburg) hatte der rhein. Opräs. den Saarlouiser Landrat
Dr. Schellen vorgeschlagen (StadtA Saarbr. G Nr. 5871). Zu den im Zuge der Parlamentari-
sierung den Militärbefehlshabern als Kontrollorgane zugeordneten Zivilkommissaren
vgl. Deist (Anm. 6) S. 57 ff., Huber (Anm. 14) Bd. 5 S. 610 f., Fenske (Anm. 10) S. 878.
- Für v. Halfern bedeutete dies wohl die Qualifikation zu seiner Ernennung zum Verwal-
tungspräsidenten des Saargebiets am 2. Okt. 1919 (Klein (Anm. 1) S. 87 f., H.-W. Herr-
mann, Der Opräs. der Rheinprovinz als Reichskommissar für die Übergabe des Saargebiets,
in: Festschr. f. Hans Booms, 1989, S. 746-770, hier S. 750 ff.).
115 StadtA Saarbr. G Nr. 5871, vgl. Anlage S. 183.
177
Die Vereinbarung ging am 10. November abschriftlich unter Voransetzung des
bekannten Soldatenratsbefehls Hindenburgs116 an die 17 Garnisonskommandos im
Korpsbereich XXI/XVI, so daß spätestens am Abend bei allen unterstellten Truppen
und Behörden entsprechend der militärischen Gliederung - gegebenenfalls bis auf
Kompagnie- und Amtsebene - Soldatenräte bestanden haben werden. Ihre Spitze
hatten sie im Korpssoldatenrat bzw. in dem ihm übergeordneten „Arbeiter- und
Soldatenrat für das Saargebiet“.117 Als ständige Bevollmächtigte amtierten beim
Generalkommando ein Sergeant Röhrssen von der Ulanen-Ersatz-Eskadron, beim
Saarbrücker Landrat und Polizeidirektor der aktive Ulanenleutnant v. d. Heydt, beim
Oberbürgermeister ein gewisser Max Müller und beim Standortältesten bzw. der
Landwehrinspektion ein ebenfalls nicht näher bekannter Israel. Trotz der Gefange-
nenbefreiung verlief der Umsturz ohne Tumulte und unblutig.118 Nur bei der
Dragoner-Ers.-Eskadron 7 gab es einen Toten: Leutnant d. R. Werner Roth erschoß
sich aus Verzweiflung über den Untergang der Monarchie; der ASR gestattete ihm ein
Begräbnis „mit allen militärischen Ehren“.119
116 Deist (Anm. 6) S. 1401; vgl. dazu G. A. Ritter u. S. Miller, Die dt. Revolution, Dokumen-
te, 1981, S. 99 f., Kluge (Anm. 104) S. 134 ff., 144 ff.
117 Die gleiche Organisationsform der ASR findet sich in allen Korpsbereichen (zu Klein
(Anm. 1) S. 85 vgl. Kluge (Anm. 103) S. 148 ff.). - Vorsitzer des Saarbrücker zentralen
ASR, der mehrere (Vollzugs-)Ausschüsse aufwies, war der Baugewerkschafter u. SPD-Vorsit-
zende Valentin Schäfer (1882-1938), Sekretär, SPD-Funktionär Gottlieb Reese (zu ihnen vgl.
E. Klopp, Gesch. der Trierer Arbeiterbewegung, 1979, Bd. 3 S. 96, 102); ferner gehörten
ihm verschiedene Gewerkschafter, u. a. Pokorny, Hetterich u. Karl Krämer, sowie Delegierte
des Korps-SR - unter Sergeant Röhrßen - an. Unter dem Korps-SR rangierten gemäß der
militär. Hierarchie die Räte der Stäbe, Formationen u. Behörden bis auf Kompagnie- u.
Dienststellenebene. Über die 5 namentlich bekannten Korps-Räte war zu erfahren, daß
4 Ulanen waren, so der am 12. Dezember 1916 patentierte aktive Lt. v. d. Heydt (Pfannen-
berg (Anm. 3) S. 370, ER S. 448; die in der Presse tradierte Namensform „v. d. Heide“ ist
(u. a. bei Klein (Anm. 1) S. 85 zu korrigieren). - Die Wahl eines Offz. zum SR war nicht
ungewöhnlich (Kluge (Anm. 104) S. 109). In Hagenau gehörten ihm zahlreiche Offz. an
(Rossé (Anm. 33) S. 493). In Weißenburg ernannte der am 9. Nov. gewählte SR einen
Hptm. d. R. Baur, E-Abt.-FAR 15, zum Garnisonältesten (Weißenburger Ztg. v. 13. Nov.,
Wagner (Anm. 3) S. 485). In Saarlouis fungierte der einheimische Jurist u. Hptm. d. R.
Mathieu (nach Delges (Anm. 1) S. 95) ab 9. Nov. als SR-Vorsitzender, während Standortäl-
tester wohl eher der aktive Oberst Franz André war (zu Kretzschmer (Anm. 1) S. 700
vgl. Schmidt (Anm. 3) Bd. 3 S. 176 f., 207). Beim E-Btl.-IR 30 in Merzig betrieb Hptm.
d. L. Werntze, Kdr. u. Garnisonsältester, vorsorglich am 9. Nov. die Wahl des SR;, Sprecher
wurde der im Btl. dienende Essener Bergarbeitersekretär August Schmidt (1878-1965), nach
1945 Vors, der IG Bergbau (LHA Kobl. Best. 442 Nr. 6154 S. 23 ff.), nicht Friedr. Schmidt
(so Mallmann-Steffen (Anm. 92) S. 122), der erst im Dez. 1918 aus Schiltigheim/Eis.
zurückkam (Mitt. Dr. Jacoby).
118 Näheres über die Gefangenenbefreiung, bei der wiederum Ulanen auffallen (vgl. Anm. 111),
ist nicht bekannt. Tote gab es einige Tage später, als Wachposten auf Eindringlinge in ein
Proviantmagazin schossen. Unblutig endete ein von Herrn. Röchling gelenkter Coup, der
kurz vor dem Einzug der Franzosen in Metz einen Güterzug aus Völklingen in ein noch
unbesetztes Fort dirigierte u. erhebliche Mehlbestände abfahren ließ (Nachlaß Sohns, vgl.
Anm. 73).
119 Zur Tagespresse vgl. Benary (Anm. 3) S. 293, 297. - Ähnliche Motive bewegten den Major
d. L. u. Chef der Saarbrücker Bahnhofs-Kdtur Georg Nottebohm (Jg. 1854), in Zivil
Obering, der Südwestdt. Eisenberufsgenossenschaft, der sich am 9. Nov. erschoß, als ihm
bekannt wurde, in welchem Ausmaß Soldaten seiner Behörde monatelang gefälschte Pässe,
Urlaubs- u. Entlassungspapiere für 15 bis 150 Mark vertrieben (Tagebuch v. Unger (wie
Anm. 8) S. 406).
178
Bereits am 11. November trat v. Unger als kommandierender General zurück,
übernahm jedoch tags darauf auf ausdrückliches Ersuchen des ASR wieder die
Kommandogewalt.120 Gründe sind nicht bekannt. Eventuell besteht ein Zusammen-
hang mit der am 12. November vom Rat der Volksbeauftragten verfügten Aufhebung
des Belagerungszustands im Reichsgebiet.
Da das Korpsgebiet gemäß den Waffenstillstandsbedingungen von den Franzosen
besetzt werden sollte, erwuchsen dem Generalkommando zwei vordringliche Aufga-
ben: zunächst die sofortige Demobilisierung nicht mehr benötigter Stabs-, Komman-
do- und Dienststellen (Inspektionen von Ersatztruppen, Militärpolizei, Sanitätsdienste
usw.), die z. T. wie das Kriegs- und das Versorgungsamt den Zivilbehörden oder wie
die stellvertretende Intendantur XXI direkt dem ASR unterstellt wurden,121 dann die
Rückführung der Ersatzeinheiten und übrigen Behörden in den Bereich des Magde-
burger IV. Armeekorps, wo sie zusammen mit den Formationen der aktiven Armee-
korps XVI und XXI zu demobilisieren waren.122 Die Räumungsaktion mußte, um den
Rückmarsch der ab 15. November erwarteten Fronttruppen - in Saarbrücken der
120 Presseverlautbarungen vom 11. Nov., vom Chef des Stabes mitunterzeichnet (Saarbr. Ztg. v.
12. Nov.), u. vom 13. Nov. (ebd. v. 18. Nov.). - Wie v. Unger im Tagebuch darlegt (vgl.
Anm. 8) drängten ihn die ASR-Delegierten Röhrßen u. Vizewm. Ulrich (E-Esk. Ul.-Rgt. 15)
auf Grund eines Volksbeschlusses zur Abdankung-, am Morgen des 13. Nov. übernahm er,
von Stabschef Seederer über den Meinungsumschwung im ASR informiert, wieder das
Kommando.
121 Gemäß Verf. des Kriegsmin. v. 19. Nov. 1918, die Kriegsamtsstellen in den Westprovinzen
den zuständigen Regierungen als Wirtschaftsstellen anzugliedern (MA Potsdam W 10/50381
S. 15 f., BA-Ma Freiburg PH 2/57 S. 60 ff., vgl. Romeyk (Anm. 20) S. 77 ff.), entstand in
Saarbrücken das im Jan. 1919 u. a. die Geschäfte der KAST-Abt. B III b (Schwerarbeiterver-
sorgung) weiterführende „Wirtschaftsamt des Saargebietes“ (StadtA St. Wendel Abt. D
Nr. 1/23). - Zu den i. d. R. von ehern. Stabsoffz. der Landw.-Inspektionen u. Bez.-Kdos
geleiteten Versorgungsämtern vgl. Cron S. 296, Fenske S. 894 f. (beide Anm. 10), R. Ab-
solon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, 1969, Bd. 1 S. 410. In Saarbrücken amtierten
1920/21 die zuvor dem GKdo/Bez.-Kdo angehörenden Oberst Georg Staroste u. Oberstlt.
Moritz Schleenstein (Ranglisten, Notadreßbuch 1917, 1918, Landesadreßbuch 1921/22). -
Am 12. Nov. übernahm der ASR die Beamten der Intendantur Saarbrücken als Zivilisten; am
21. wurde sie aufgelöst (Saarbr. Ztg. v. 13., 22. Nov.), während die stellv. Intendantur XVI
nach Köthen verlegte (siehe nächste Anm.).
122 Vgl. Demobilmachungs-Übersichten der stellv. GKdos XVI. u. XXI. AK (Drucke n. a. im
MA Potsdam Sa 18622) sowie Übersicht der Kommandobehörden. . ., die in Ausführung der
Waffenstillstandsbedingungen in rückliegende Orte verlegt wurden (LHA Kobl. Best. 403
Nr. 13596 S. 703 ff.). Dazu allgem. K. Gößgen, Demobilmachungs-Handbuch, 1919, pass.
179
Armeeabteilung C - nicht zu gefährden, in etwa 4 Tagen beendet sein, was sich nicht
zuletzt auf die Struktur der lokalen ASR auswirkte.123
Neuer Standort des Saarbrücker Generalkommandos wurde die anhaltinische Kreis-
stadt Köthen - keine 40 km entfernt von Leitzkau, dem Stammsitz der Familie von
General v. Ungers Gattin Ottonie v. Münchhausen, wo das Ehepaar dann auch
ansässig wurde.124 Einzelheiten und Datum der Übersiedlung nach Köthen sind
vorerst nicht bekannt, auch nicht, wann v. Unger seine Befehlsgewalt an die komman-
dierenden Generäle der aktiven Armeekorps XVI und XXI abgab. Am 13. Dezember
jedenfalls unterschrieb er in Köthen eine mit dem Soldatenrat des neu formierten
stellvertretenden Generalkommandos XVI ausgehandelte Dienstanweisung, war mit-
hin noch für die beiden stellvertretenden Korpsbehörden zuständig.125
Reststäbe oder Nachkommandos verblieben bis kurz vor dem Einmarsch der Franzo-
sen, die am 21./22. November zur Saarlinie vorrückten, in Saarbrücken, Saarlouis
und anderen Garnisonsstädten, auch um den heimkehrenden Soldaten die ordnungs-
gemäße Entlassung in den Militärpapieren126 zu bestätigen. Sie unterstanden vermut-
lich den eingangs erwähnten Obersten Mayet, der erst am 20. November Saarbrücken
verließ.127 Am gleichen Tag Unterzeichneten der noch amtierende Intendant der
stellvertretenden Intendantur XXI, Dr. Ernst Engel, und Oberbürgermeister Mangold
einen Vertrag über die Übereignung des militärfiskalischen Peterberger Hofs an die
123 Mit dem Abzug der Truppen aus dem Korpsbereich wandelten sich die meisten ASR zu
Arbeiter-, (Bauern-) u. Bürgerräten, die die einmarschierenden Franzosen sofort auflösten.
Beim Korps-SR in Saarbrücken fungierte Röhrßen laut Presse noch am 18. Nov.; ob er mit
ihm nach Köthen ging, ist ungewiß. - Generell wäre das Verhältnis der lokalen ASR zu den
SR der Fronttruppen während des Rückmarschs zu überprüfen. In Saargemünd, u. a. Sitz der
Et.-Insp. der 19. Armee, auf der Nahtlinie der Heeresgruppen C (v. Gailwitz, mit
Armee-Abt. C links) u. D (Herzog Albrecht, mit 19. Armee rechts), übernahm z. B. das
sächs. XIX. AK (taktisch Gruppe Herlingen/Herny am rechten Armeeflügel) bzw. sein SR am
15. Nov. anstelle des Saarbrücken unterstellten ASR die Exekutive (Saargem. Ztg. v.
16. Nov., Nominé (Anm. 107), u. - tendenziös - Th. Jacobs, Die letzte Schlacht, 1936,
S. 112 ff.), u. a. zur Sicherung des Rückmarsches über Blieskastel-Zweibrücken u. Bitsch. Die
Vorgänge in dem mit Truppen verschiedener Kontingente belegten Et.-Hauptort sind noch
aufzuklären. Nicht auszuschließen ist, daß das GKdo XIX unter Gen.-Lt. Lucius in der sich
auf die Rückkehr zu Frankreich vorbereitenden Stadt den ihm irgendwie unbequemen ASR
kurzerhand auflöste, gegebenenfalls aus der gleichen reaktionären Einstellung heraus, mit der
der OB der 1. Armee im Rückzugsstreifen Clerf/Luxemburg-Mayen-Neuwied gegen die ASR
vorging (Eberhardt (wie Anm. 36) S. 281 ff.).
124 Genealogisches Handbuch (wie Anm. 80).
125 Schmidt (Anm. 3) Bd. 4 S. 388 f. Im Zuge der vom Waffenstillstand voll inganggesetzten
Demobilisation wurde offenbar die 1917 in Ansätzen erkennbare Abt. XVI (vgl. Anm. 46)
u. a. durch Zuführung der Stellv. Intendantur XVI wieder zum stellv. GKdo ausgebaut,
zunächst unter dem Kommando v. Ungers.
126 Soldbuch- u. Militärpaßsammlung, H.-G. Sachs, Neunkirchen.
127 Zusammen mit Oberst Staroste (Mitt. Dr. Jacoby), der im Jan. 1919 wieder zum Versor-
gungsamt nach Saarbrücken zurückkehrte (vgl. Anm. 121). - Nach v. Ungers Tagebuch (vgl.
Anm. 8) verließen er - u. a. begleitet von Frau und Sohn, Gen.-Lt. Hildebrandt (vgl.
Anm. 84), Maj. d. R. Rosenbauer (Anm. 54), Rittm. Storbeck, dem am 15. Nov. als
GStabs-Offz. neu zugewiesenen Hptm. i. G. v. Moltke, seinen beiden Vorzimmerdamen - u.
das durch Demobilisationen stark gelichtete GKdo am 18. Nov. mittags im Sonder-Trans-
portzug Saarbrücken vom Güterbahnhof aus. Am 22. Nov. abends in Köthen angekommen,
bezog das GKdo, als dessen Chef des Stabes anstelle des in Saarbrücken demobilisierten
Seederer vorläufig Gen.-Lt. Hildebrandt amtierte, zunächst Unterkunft in einem Lyzeum. Am
19. Dez. kam v. Unger um seinen Abschied ein u. erhielt ihm am 3. Jan. 1919.
180
Stadt Saarbrücken.128 Damit war die Präsenz des XXI. Armeekorps in Saarbrücken
erloschen.
Im Janauar 1919 dürften die inzwischen in Köthen eingetroffenen aktiven General-
kommandos XVI und XXI sich die ihnen zuständigen stellvertretenden Behörden
unterstellt oder eingegliedert haben. Nachfolger v. Ungers waren einmal Generalleut-
nant Adolf Wild v. Hohenborn (1860-1925), 1915/16 Kriegsminister, der das Metzer
Korps von Oktober 1916 bis April 1919 führte und im Januar 1919 eine Personalan-
gelegenheit im Sinne des Korpssoldatenrats entschied,129 zum andern Generalleutnant
Ernst v. Oven (1859-1945), vom Januar 1917 bis April 1919 kommandierender
General des XXI. Korps.130
Im Zuge der im März 1919 anhebenden Neuordnung des Militärwesens des Deut-
schen Reichs - Aufstellung der vorläufigen Reichswehr - und der dadurch bedingten
Auflösung der alten Armee wurden beide Generalkommandos in sogen. Abwicklungs-
ämter umgewandelt, die unter oft wechselnden Stabsoffizieren die bis zum 1. Oktober
1920 bestehenden Abwicklungsstellen der ehemaligen Divisionen, Regimenter, For-
mationen und Behörden beaufsichtigten und sich dann auch räumlich trennten.131 Das
Abwicklungsamt XVI verlegte nach Hannover, während das im April 1920 noch
45 Vertragsangestellte, davon 30 Zivilisten, beschäftigende Abwicklungsamt XXI
nach Dessau umzog. Zuletzt, d. h. bei seiner Auflösung am 1. Januar 1921, unter-
stand es dem im Januar 1919 verabschiedeten Major und späteren Wehrmachtober-
sten Hans Kling (1884-1971),132 der sich als Spezialist der Formationsgeschichte des
preußischen Heeres im Ersten Weltkrieg einen Namen machte und wohl am ehesten
berufen gewesen wäre, die Geschichte des „Stellvertretenden Generalkommandos des
XXI. Armeekorps zugleich für das XVI. Armeekorps und die Festung Bitsch“ zu
schreiben.
128StadtA Saarbr. G Nr. 1786. Als Vertreter u. Berater der Eigentümerin Clara v. Voß geb.
Röchling (1865-1923), der Witwe des Saarbrücker Landrats (1885-1888) Maximilian v. Voß
(Klein (Anm. 1) S. 74 ff., Gemmingen-Hornberg (Anm. 71) S. 119 f.), fungierte dabei der
am 17. Nov. als Leiter der Bahnhofskdtur Vendenheim/Elsaß demobilisierte Architekt
Weszkalnys (vgl. Anm. 8, 17, 82). Zu dem u. a. in Weißenburg erkennbaren Bestreben
(StadtA Wissembourg, Gemeinderatsprotokolle v. 13.-15. Nov. betr. Ankauf des Hofguts
Langenberg, Wagner u. Scheffel (wie Anm. 3) S. 487), militärische Einrichtungen, Lagerbe-
stände, agrarisch genutzte Güter u. Areale vor dem Einmarsch der Ententetruppen im
Kommunalbesitz zu transferieren, vgl. auch Schmillen (wie Anm. 85) S. 44.
129 Und zwar verfügte er am 31. Jan. 1919, wie es der Korps-SR XVI, der SR des Saarlouiser
Inf.-Rgts. 30 u. dessen Verein aktiver Uffz. forderten, die Versetzung des offenbar unbelieb-
ten Rgts.-Führers Mai. Jany, was wiederum dem Offz.-Korps mißfiel (Schmidt (Anm. 3)
Bd. 4 S. 388 ff.). Adolf Wild v. Hohenborn, Briefe u. Aufzeichnungen, hg. v. H. Reichold
u. G. Granier, 1986, geht auf seine Köthener Zeit nicht ein. Auf Wild folgte als letzter Führer
des XVI. AK, nunmehr in Blankenburg/Harz, GLt Theodor Teetzmann, 1913/14 Kdr. des
Inf.-Rgts. 30 (Möller (Anm. 26) S. 404 ff., 502 f.).
130Ein Nachfolger für v. Oven, der im April 1919 die Leitung der Operationen gegen die
Rätearmee in Bayern erhielt u. am 30. Sept. 1919 als Gen. d. Inf. in Pension ging (Möller
ebd. S. 102 ff., ER S. 60), ist nicht bekannt.
131 Vgl. allgem. G. Tessin, Deutsche Verbände u. Truppen 1918-1939, 1974, S. 5 ff., dazu
einige ergänzende Angaben bei Guenther S. 463 ff., 478 ff., Lasch S. 349 ff., Marx
S. 141 ff., Pfannenberg S. 326, 338 ff., 349 ff., Sanner S. 151, 195 f., 219 f., Sommer-
brodt S. 316 ff. u. bes. Schmidt Bd. 4 S. 387 ff. (alle wie Anm. 3).
132J. Wilke, In memoriam Oberst a. D. Hans Kling, in: Zs. f. Heereskunde 35, 1971, S. 41-43
(vgl. dazu ebd. 1959, S. 45 f.).
181
Beilage
Vereinbarung des stellvertretenden Generalkommandos des XVI./XXI. Armeekorps
mit dem Arbeiter- und Soldatenrat von Saarbrücken.
9. November 1918.
Abschrift dem Herrn Oberbürgermeister Saarbrücken zur Kenntnis; unterfertigt:
Andres, Eingangsstempel 11. November 1918.
StadtA Saarbrücken Best. Großstadt Nr. 5871 unpaginiert.
Stellvertr. Generalkommando des XXI. zugleich für das XVI. Armeekorps, Abt. Va
Nr. 9127 N, an sämtliche Garnisonskommandos; (Verteiler:) 17 (Exemplare).
I. Oberste Heeresleitung drahtet:
Durch alle Regiments- und Batallions-Kommandeure den Truppen sofort bekannt
zu geben. Der Befehl darf nicht gefunkt werden [betr. bevorstehenden Waffenstill-
stand, geordnete Rückführung des Heeres, Vermeidung von Blutvergießen, Emp-
fehlung, mit sich bildenden Arbeiter- und Soldatenräten . . . auf gütlichem 'Wege
. . . Einvernehmen zu erzielen.]
II. Mit dem Arbeiter- und Soldatenrat von Saarbrücken ist hier folgende Vereinba-
rung getroffen worden:
Der stellvertretende Kommandierende General Exzellenz von länger erklärt, daß
er bereit sei, die ihm durch die Gesetze anvertraute Gewalt in nicht rein
militärischen Angelegenheiten nur im Einverständnis mit dem Arbeiter- und
Soldatenrat auszuüben. Die Mitwirkung soll sich in der Form vollziehen, daß ein
gehörig bevollmächtigtes Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates die bezügl.
Verfügung des Kommandierenden Generals gegenzeichnet. Auch in Angelegenhei-
ten rein militärischen Charakters wird er dem Arbeiter- und Soldtenrat Einblick
gewähren.
Der Beauftragte der Verwaltungsbehörde, Landrat von Halfern, erklärt sich damit
einverstanden, behält sich aber seine Zustimmung zu den Verfügungen, wo sie
gesetzlich erforderlich ist, von Fall zu Fall vor.
Der Kommandierende General und der Landrat von Halfern behalten sich den
Rücktritt von dieser Erklärung vor.
Die Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates Reese, Kuchler und Röhrssen
erklären sich mit diesen Erklärungen einverstanden, treten dafür ein, daß der
gesamte Arbeiter- und Soldatenrat sich ebenfalls mit dieser Erklärung einverstan-
den erklären wird, und übernehmen die Bürgschaft für die Ruhe, Sicherheit und
Ordnung im Innern, den Schutz der Person und des Eigentums und der Abwehr
evtl, in die Landesgrenzen einbrechender äußerer Feinde.
Die Vereinbarung erfolgt in der beiderseitigen ehrlichen Absicht, dem Wohle des
Vaterlandes und des deutschen Volkes zu dienen.
Saarbrücken, den 9. November 1918.
gez. v. Unger O. Reese
v. Halfern I. Kuchler
Andres Röhrssen
182
Abkürzungen
ABI Amtsblatt Komp., Kp. Kompagnie
AK Armeekorps Kriegsger. Kriegsgericht
a.o. außerordentlich LA Landesarchiv
Art. Artillerie Landw., Lw., L Landwehr
ASR Arbeiter- u. Soldaten- LHA Landeshauptarchiv
rat bzw. -rate Lothr. Lothringen, lothrin-
Bad., Btl. Bataillon gisch
Batt. Batterie Lst. Landsturm
bayr. bayrisch Lt. Leutnant
Ber. Bericht Mil., milit. Militär, militärisch
Best. Bestand M.G. Maschinengewehr
Bez. Bezirk(e), (s), Min. Ministerium
Br., Brig. Brigade Mitt. Mitteilung
christl. christlich(e) Nachr. Nachricht(en)
Dir. Direktor OB Oberbefehlshaber
Dr., Drag. Dragoner Offz. Offizier(e)
dt. deutsch OHL Oberste Heeresleitung
Ddd. Deutschland Olt. Oberleutnant
E., Ers. Ersatz Oberstlt. Oberstleutnant
ER Ehren-Rangliste (1926) OPräs. Oberpräsident
Esk. Eskadron Präs. Präsident
Et. Etappe Preuss. Preussen, preussisch
FA, Feldart. Feldartillerie Prov. Provinz
G., Gen. Genera] Reg. Regierung(s)
Gefr. Gefreiter Regt., Rgt. Regiment
GLA Generallandesarchiv Res., R. Reserve
GKdo Generalkommando Rittm. Rittmeister
GSt. Generalstab rhein., Rheinprov., rheinisch, Rheinpro-
Gew. Gewerkschaft Rhld. vinz, Rheinland
Gouv. Gouverneur, Gouver- Sekr. Sekretär
nement SR Soldatenrat, Soldaten-
HD, H.-D. Hirsch-Duncker c*. räte
Hptm Hauptmann 3t. Stellv.: btab Stellvertreter, stellver-
I., Inf. Infanterie tretend
i.G. im Generalstab Stoflak Stabsoffizier der Flak
Insp. Inspekteur, Inspektion, SZ Saarbrücker Zeitung
Int. Intendant, Intendantur Ul. Ulanen
IR, Inf.-Regt. Infanterie-Regt. Uffz. Unteroffizier(e)
KA Kriegsamt Verb. Verband
KÄST Kriegsamtsstelle Verf. V erfügung
KANST Kriegsamtnebenstelle Verw., Verwalt. Verwaltung
Kav. Kavallerie VO Verordnung
Kdo., Kdr. Kommando, Komman- z.D. zur Disposition
deure) Ziv. Zivil
Kdt (ur) Kommandant, Kom- Zs Zeitschrift
mandantur Ztg. Zeitung
183
KOBLE
*EHRENBRE USTE IN
SiMMEf
BINGERBF
KREUZNAI
W.AK
STENTUI
worm:
f LUXEMBURC
1RKENFEI
SAAR
W BÜRO
KUSEL
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LUOWlOSHAFEh
I KAISERSLAUTERN
Imerzig
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SIERCK
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zumRbAK
(WÜRZBURG)
BUSENDORFJ
(ZWEIBRUCKEN
germerIheimJ
(ST. IN6BERT
I PIRMASENS
1RBACH
BERGZABERN
.SIAVOLO
METZ
LRGEMÜND
FALKENBERG:
tBITSCH-
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FESTUNOSBEREICHE
ERWEITERTER
FESTUNCSBEREICH
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ORNETAL, 1914 ZUM
FESTUNGSBEREICH
»METZ*
Die Bereiche des stellv. Generalkommandos des XXI. Armeekorps zugleich für das XVI.
Armeekorps im Jahre 1914.
Rot = AK-Grenzen
184
Lieferbare Veröffentlichungen der
Kommission für Saarländische Landesgeschichte
und Volksforschung e.V. Saarbrücken
DM
III. Maria Zenner, Parteien und Politik im Saargebiet unter dem
Völkerbundsregime 1920-1935, 1966, 434 S. 22,50
IV. Eduard Hlawitschka, Die Anfänge des Hauses Habsburg-Loth-
ringen, 1969, 4 Tafeln, 209 S. 25,—
V. Manfred Pohl, Die Geschichte der Saarländischen Kreditbank
Aktiengesellschaft, 1972, 14 Tab., 146 S. 29,50
VI. Fritz Jacoby, Die nationalsozialistische Herrschaftsübernahme an
der Saar, 1973, 275 S. 35,—
VII. Dieter Staerk, Die Wüstungen des Saarlandes, 1976, 445 S. 52,50
VIII. Irmtraud Eder, Die saarländischen Weistümer - Dokumente der
Territorialpolitik, 1978, 272 S. 38,—
IX. Marie-Luise Hauck/Wolfgang Läufer, Epitaphienbuch von
Henrich Dors (Genealogia oder Stammregister der durchläuchtigen
hoch- und wohlgeborenen Fürsten Grafen und Herren des Hauses
Nassau samt Epitaphien durch Henrich Dorsen), 1983, 286 S. 120,—
X. Jürgen Karbach, Die Bauernwirtschaften des Fürstentums Nas-
sau-Saarbrücken im 18. Jahrhundert, 1977, 7 Tab., 255 S. 48,—
XI. Hans Ammerich, Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur
Regierung von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches,
1981, 6 Beil., 284 S. 55,—
XII. Klaus-Michael Mallmann, Die Anfänge der Bergarbeiterbewe-
gung an der Saar (1848-1904), 1981, 370 S. 59,—
XIII. Beiträge zur Geschichte der frühneuzeitlichen Garnisons- und
Festungsstadt. Referate und Ergebnisse der Diskussion eines Kollo-
quiums in Saarlouis vom 24.-27. 6. 1980, zusammengestellt von
Hans-Walter Herrmann und Franz Irsigler, 1983, 256 S. 57,—
XIV. Heinrich Küppers, Bildungspolitik im Saarland 1945-1955,
1984, 362 S. 68,—
XV. Wolfgang Haubrichs, Die Tholeyer Abtslisten des Mittelalters.
Philologische, onomastische und chronologische Untersuchungen,
Saarbrücken 1986, 267 S. 64,—
XVI. Ernst Klein, Geschichte der saarländischen Steinkohlengrube Sulz-
bach-Altenwald (1841-1932), Saarbrücken 1987, 146 S. 29,—
XVII. Thomas Herzig, Geschichte der Elektrizitätsversorgung des Saar-
landes unter besonderer Berücksichtigung der Vereinigten Saar-Elek-
trizitäts-AG, Saarbrücken 1987, 414 S. 48,—
II. Saarländische Bibliographie Band 1: 1961/62, zusammengestellt von Lorenz Heinz Kalkar, 1964, 448 S. (3978 Titel) Drehmann und DM 29,50
Band 2: 1963/64, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1966, 362 S. (3623 Titel) Drehmann und 29,-
Band 3: 1965/66, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1968, 381 S. (3792 Titel) Drehmann und 32,50
Band 4: 1967/68, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1970, 382 S. (3724 Titel) Drehmann und 45,-
Band 5: 1969/70, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1972, 324 S. (2791 Titel) Drehmann und 42,50
Band 6: 1971/72, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1974, 282 S. (2251 Titel) Drehmann und 42,50
Band 7: 1973/74, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1976, 271 S. (2109 Titel) Drehmann und 49,-
Band 8: 1975/76, zusammengestellt von Lorenz Ursel Perl, 1978, 306 S. (2343 Titel) Drehmann und 58,—
Band 9: 1977/78, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1980, 413 S. (3262 Titel) 68,—
Band 10: 1979/80, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1982, 424 S. (3242 Titel) 81,—
Band 11: 1981/82, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1985, 294 S. (3333 Titel) 78,-
Band 12: 1983/84, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1986, 309 S. (3572 Titel) 78,-
Band 13: 1985/86, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, 1988, 314 S. (3852 Titel) 78,-
Band 14: 1987/88, zusammengestellt von Rudolf Lais und Ursel Perl, in Bearbeitung, erscheint Mai 1991
Auslieferung durch:
SDV Saarbrücker Druckerei und Verlag GmbH, Haibergstraße 3, 6600 Saarbrücken,
Telefon: 06 81/6 65 01-35.
Außerhalb der Reihe sind erschienen und über die Geschäftsstelle der Kommission für
Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, Scheidter Straße 114, 6600
Saarbrücken 3, erhältlich:
Fritz Eyer, Saarländische Betreffe des Departementsarchives Meurthe-
et-Moselle in Nancy, 1976, 379 S. 35,—
25 Jahre Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksfor-
schung 1952-1977. Gründung, Aufbau, Tätigkeit, 1977, 63 S.
10,-