„Ego te absolvo“ liegende Macht ebenso fremd wie das dem Institut katholischer
„Anstaltsgnade“ entstammende Arsenal kirchlicher Zwangsmittel. Die mit der prote¬
stantischen Ethik ausgebildete Eigenverantwortlichkeit, die „Nötigung, die certitudo
salutatis selbst, aus eigener Kraft zu erringen“,52 zielte statt dessen auf ein Gewissen,
„das nicht länger von der Kirche verwaltet wurde, sondern vom einzelnen Menschen
ausgebildet werden mußte“.53 Dieser religiöse Subjektivismus und die fehlende
priesterliche Heilsvermittlung machten den Protestanten unmittelbar zu Gott, sie
öffneten ihn aber auch leichter und schneller für neue Entwicklungen.
Fragt man abschließend erneut nach der Bedeutung von Religion im Kontext der
Umwälzungen des 19. Jahrhunderts, dann muß auch dem Protestantismus an der Saar
ein hoher Stellenwert zugesprochen werden. Der Glaube als Instrument der Lebens¬
deutung und Weltorientierung blieb auch in der evangelischen Bevölkerung -
unabhängig von ihrem differierenden sozialen Status - im 19. Jahrhundert existent
und stabil. Von einer Entwicklung wie etwa in den protestantischen Industriestädten
des Bergischen Landes - Barmen, Elberfeld, Remscheid, Solingen die bereits lange
vor 1900 Hochburgen der SPD wurden, kann an der Saar keine Rede sein. Allerdings
müssen im Vergleich zur virulenten Frömmigkeit der Katholiken deutliche Unterschie¬
de konstatiert werden: Es war weniger die aus den Ängsten der Industrialisierung
erwachsende neue Attraktivität des Himmels, weniger ein Verständnis des Glaubens
als Medium des Trostes, der Kompensation und der imaginären Erlösung, die dem
Protestantismus seine revierspezifische Stabilität verliehen. Sie entsprang in starkem
Maß der religiös überhöhten Zugehörigkeit zum preußisch-deutschen Machtkartell,
wobei die gemeinsame Konfession nicht nur als zentrales Bindeglied diente, sondern
auch einen Wertekanon bereitstellte, der den Anforderungen der säkularen Umwäl¬
zungen entsprach. Daß sich vor 1900 keinerlei Erosionen und Richtungskonflikte
innerhalb dieser klassenübergreifenden Allianz zeigten, hing nicht nur damit zusam¬
men, daß die Protestanten - global gesprochen - auf der Gewinnerseite der
Industrialisierung zuhause waren. Die erstaunliche Stabilität beruhte auch auf inneren
Voraussetzungen, erwuchs aus dem mit der Reformation geborenen neuen Gottes¬
und Weltverständnis:54 Der kollektive Tugendhimmel war - im Vergleich zum
Katholizismus - weitaus säkularisierter. Er implizierte nicht nur eine aus dem
Bündnis von Thron und Altar resultierende Obrigkeitsverehrung, er legitimierte auch
eine heilsversprechende Arbeitswütigkeit, machte Beruf zur zentralen identitätsstiften¬
den Kategorie, enthielt die Bereitschaft zu Askese und Disziplinierung, leitete eine
Entzauberung der Welt ein, öffnete sich für Aufklärung, Modernisierung und
Fortschritt.55 Dieser spezifisch protestantischen Weltfrömmigkeit entsprach auf
S2Ebd., S. 436.
53 Richard van Dülmen, Reformation und Neuzeit. Ein Versuch, in: Zeitschrift für historische
Forschung 14 (1987), S. 20.
54 Vgl. ebd., S. 16 ff.; Hugh McLeod, Church and Class. Some international Comparisons, in:
Kocka, Arbeiter und Bürger, S. 106-111.
55 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.,
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 3. Aufl. Tübingen 1934, S. 1-206;
Richard van Dülmen, Protestantismus und Katholizismus. Max Webers These im Licht der
neueren Sozialgeschichte, in: Christian Gneuss/Jürgen Kocka (Hrsg.), Max Weber. Ein
Symposion, München 1988, S. 88-101.
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