schaft“ zählenden Arbeiter waren ohnehin im Vergleich zu den Zuwanderern privile¬
gierter und häufiger auch qualifizierter. Die Tatsache, daß sie in den meisten Fällen
Land besaßen, das im Zeichen des knapper werdenden Bodens im Revier in seinem
Wert ständig stieg, machte sie relativ wohlhabend. Falls sie Hauseigentümer waren,
traten sie überdies den Zu Wanderern als Vermieter entgegen und profitierten an der
Wohnungsnot.21 Vielfach konnten sie auf familiär tradiertes Produktionswissen
zurückgreifen und mit dem Anwachsen der Betriebe zu Vorarbeitern, Meistern oder
Steigern aufrücken. Der soziale Aufstieg, in Reichweite und Umfang ohnehin begrenzt
durch die sich verfestigende Klassengesellschaft, vollzog sich vorrangig entlang der
Bruchlinien religiöser Imparität: In der evangelischen Bergmannsfamilie ist es der
höchste Stolz, wenn ein Sohn es zum Beamten bringt, während auf der anderen Seite
die katholische Familie den höchsten Wert darauf legt, wenn der Sohn es zum
Geistlichen bringt, typisierte Ewald Hilger, der Vorsitzende der Bergwerksdirektion,
1903 die regionalen Königswege gesellschaftlicher Mobilität.22 Die mit dem Argument
der Tüchtigkeit begründete Praxis der Begünstigung von Protestanten, mit der sich der
preußische Staat in der gesamten Rheinprovinz über alle Fragen der religiösen Parität
hinwegsetzte,23 scheint insbesondere für die zuwandernden Protestanten attraktiv
gewesen zu sein. Es läßt sich vermuten, daß diese Chance sozialen Aufstiegs Loyalität
erkaufte und die Distanz zur katholischen Arbeiterschaft noch verstärkte. Das im
landesherrlichen Kirchenregiment symbolisierte Bündnis von Thron und Altar, das
gemeinhin für die „schnell zunehmende Entkirchlichung und Entchristlichung der
Industriezentren“ verantwortlich gemacht wird,24 scheint angesichts der spezifischen
Bedingungen des Saarreviers über Jahrzehnte hinweg gerade kein Hemmschuh für die
Integration der evangelischen Unterschichten gewesen zu sein, sondern wesentliche
Elemente sozialer Einbindung bereitgestellt zu haben.
Vor allem der Kulturkampf25 wurde zum Katalysator des Unterschiedsbewußtseins
und des untergründigen Religionskriegs. Er scheint die Protestanten - ungeachtet
ihres differierenden sozialen Status - noch stärker zusammengerückt und bei ihnen
das Elitebewußtsein ebenso gestärkt zu haben wie umgekehrt das Unterschichtenbe¬
wußtsein bei den Katholiken. Die Siege über Österreich 1866 und über Frankreich
1871 wurden als später Sieg über den Katholizismus gefeiert, schufen ein neues
protestantisches Nationalbewußtsein und forcierten über den Kampftopos des „Ultra-
21 Vgl. Hans Horch, Der Wandel der Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der Saarre¬
gion während der Industrialisierung (1740-1914), St. Ingbert 1985, S. 399 f.
22 Beleidigungsklage Nr. III der Königlichen Bergwerksdirektion zu Saarbrücken gegen den
Redakteur Ludwig Lehnen von der „Neunkirchener Zeitung“, St. Johann-Saarbrücken o.J.
(1904), S. 125.
23 Justus Hashagen, Der rheinische Protestantismus und die Entwicklung der rheinischen
Kultur, Essen 1924, S. 112.
24 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 3. Auf!. Göttingen 1977, S. 119;
ähnlich Gerhard A. Ritter, Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland. Vom
Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin-Bonn 1980, S. 28 f.
25 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Volksfrömmigkeit, Proletarisierung und preußischer Obrig¬
keitsstaat. Sozialgeschichtliche Aspekte des Kulturkampfes im Saarrevier, in: Soziale Frage
und Kirche im Saarrevier. Beiträge zu Sozialpolitik und Katholizismus im späten 19. und
frühen 20. Jahrhundert, Saarbrücken 1984, S. 183-232.
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