Kategorien sind vornehmlich an der Untertanenperspektive orientiert und werden
nicht im Wechselspiel mit der Herrschaft, die diese Wert- und Normvorstellungen
mitbeeinflußte, ja z.T. sogar erst kreierte, analysiert8. Auf diese Weise war zwar eine
systematische Analyse städtischer und ländlicher Proteste in der Frühen Neuzeit
möglich, eine kontextbezogene Interpretation von Unruhen in ihrer jeweiligen Zeit
mit ihren spezifischen Besonderheiten, die aufgrund der 'kulturellen Hegemonie' von
Herrschaft in erster Linie durch deren Machtpolitik geprägt sind9, konnte allerdings
nicht bzw. nur unzureichend geleistet werden. Zugleich war es aber ein, wenn nicht
gar das Hauptanliegen der frühneuzeithchen Protestforschung, "einen Beitrag zur
umfassenden Modemisierungsforschung (zu) leisten"10. Eine derart allgemeingeschi-
chtliche Perspektive wie die Frage nach der Modernisierung von Staat und Gesell¬
schaft, die bekanntlich die Interdependenz mehrerer Handlungsebenen umschließt,11
läßt sich jedoch nicht erreichen, solange Unruhen und Proteste weiterhin als isolierte
Untertanenphänomene behandelt und nicht in Bezug zur Herrschaft und ihrer Politik
gesetzt werden. Volker Press und Georg Schmidt haben schon recht früh auf diesen
Umstand aufmerksam gemacht und dem von Peter Blickle entwickelten, im Wort¬
sinne einseitigen 'Kommunalismus'-Modell, das von einer relativ autonomen
Entwicklung der 'Gemeinde' bis hin zur 'Republik' ausgeht, den Begriff des "Terri¬
torialismus" gegenübergestellt und in beidem keine alternativen Verfassungsmodelle,
sondern "die beiden Seiten der gleichen Medaille" gesehen12. Press warnt ausdrück¬
lich vor "einem sektoralen Längsschnitt, der die gemeindlichen Bewegungen isoliert
betrachtet, womöglich unter anachronistischen Vorstellungen einer 'demokratischen
* Vgl. am Bspl. des 'gemeinen Nutzens', Press, Kommunalismus, S. 111.
9 Vgl. zur kulturellen Hegemonie von Herrschaft: Habermas, Strukturwandel; Muchembled, Culture;
Camporesi, Bauern.
10 Hausen, Schwierigkeiten, S.258 in Wiedergabe der Absicht der Tillys; diese Absicht ist bis heute
maßgebend: vgl. Blickle, Unruhen, S. 107ff.; Würgler, Modemisierungspotential.
11 Die Modemisierungsdebatte ist in der Bundesrepublik Deutschland Ende der 1970er Jahre bezeich¬
nenderweise von den 'Systemtheorien' angeregt worden, sie umschließt folglich immer auch eine
Analyse des politischen Systems, die wiederum nur zu leisten ist über die Untersuchung von Herr¬
schaft, ihrer Strukturen und ihrer Politik, allgem. dazu Wehler, Modemisierungstheorie.
'• Vgl. Press, Kommunalismus, S. 109-135 (zit.S.126) u. Schmidt, Territorialisierung, S.39-56 (bes.
S.39f. u.56); vgl. auch Schmidt, Agrarkonflikte im Gebiet des Wetterauer Grafenvereins, S.79-112,
bes. S.l 11 f., wo es heißt, daß "die in der neueren Forschung zu beobachtende Tendenz, den Bauern
oder den 'Gemeinen Mann' nun zusehr in den Mittelpunkt der Forschung zu rücken und ihm eine
'selbständige' Rolle innerhalb der verschiedenen Herrschaftsgefüge zuzuweisen, (...) problematisch
(erscheint)"; denn: "Die Bauern agierten (...) nicht selbständig im Verfassungsgefüge des Alten
Reiches, sie reagierten auf konkrete Anlässe. Ihr Verhalten blieb bezogen auf die Herrschaft". Schmidt
hat bereits in seiner Staatsexamensarbeit 1976/77 auf diesen Aspekt aufmerksam gemacht, wenn er
schrieb: "Der bäuerliche Widerstand bleibt eingebunden in das Verfassungsgefüge des Alten Reiches,
er ist bezogen auf Herrschaft, so daß nur die Einbeziehung der Herrschaft übenden Gruppen in das
Erklärungsschema eine weiterfuhrende Interpretation zu erlauben scheint" (Schmidt, Agrarkonflikte
im Riedeselischen, S.218). Die Protestforschung hat bislang noch nicht darauf reagiert, vgl. etwa den
jüngsten Beitrag v. Blickle zum Kommunalismus, wo er nur lapidar feststellt, daß sein Konzept
Begriffe wie "Territorialismus” begünstigte (Kommunalismus, S.6).
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