EINLEITUNG
Reizthema und Tabu
Für die Saarländerinnen und Saarländer, die den 23. Oktober 1955 - die Abstimmung
über das Saar-Statut - erlebt haben, stellt dieser Tag ein Schlüsselerlebnis in ihrer
Biographie dar. Die Frage Ja oder Nein zum Statut1 wurde zur Gretchenfrage und
spaltete das dichtbesiedelte Land in die Gruppe der “Ja”- und der “Neinsager” auf. Ein
Riß ging durch Familien, Freundschaften brachen auseinander. Nach dem Nein zum
Saar-Statut und dem Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik in zwei Stufen 1957
und 1959 wurden "alte Rechnungen" zwischen ehemaligen Autonomisten und Anhän¬
gern der pro-deutschen Richtung beglichen. Die Emotionalisierung und Polarisierung
dieser Jahre spiegelt sich auch in der Quellensituation wider, auf die noch genauer
einzugehen ist. Sowohl bei den autonomistischen als auch bei den pro-deutschen
Parteien, aber auch bei Verbänden und Interessenvertretungen war Verbrennen, Ver¬
nichten und Verstecken von Akten angesagt. Nach der Fusion der sozialdemokrati¬
schen und christlichen Parteien verlangte die Parteidisziplin eine gegenwarts- und
zukunftsorientierte sachliche Zusammenarbeit. Persönliche Animositäten zwischen
ehemaligen "Ja- und Neinsagern" wurden nicht artikuliert und nur langsam abgebaut.
In diesem Klima konnte eine historische Bewältigung nicht gedeihen.
1995, vierzig Jahre danach, ist im Gespräch mit Zeitzeugen die alte Spannung immer
noch erfahrbar. Bis heute sind nicht alle Wunden verheilt. Die saarländische Öffent¬
lichkeit wie die politische Spitze beschränkten sich in den Gedenkjahren 1960, 1965,
1970 etc. auf eine aus politischem Kalkül behutsam formulierte deskriptive Rückschau.
In den Ortschroniken und Jubiläumsschriften wird die Hoffmann-Zeit meist nur
gestreift, besonders gescheut werden Personenangaben.2 Die Angst, alte Wunden und
Gräben aufzureißen, sich unbeliebt zu machen, war lange Zeit verbreitet. Die Genera¬
tion der jüngeren Politiker, die wegen ihres Lebensalters noch nicht Akteure auf der
poliüschen Bühne des ersten Nachkriegsjahrzehntes sein konnte, zeigte ein geändertes,
unbefangeneres Verhalten. Ministerpräsident Oskar Lafontaine (SPD) machte keinen
Hehl daraus, daß in der Saarbrücker Staatskanzlei in der Porträtgalerie der Ministerprä¬
1 Das Saar-Statut sah vor, daß das Saarland einen europäischen Status erhalten sollte. Darüber sollte die
saarländische Bevölkerung in einem Referendum abstimmen. Im Wahlkampf wurde das Ja oder Nein zum
Statut zum Ja oder Nein zu Deutschland umgedeutet. Siehe z.B. : Hans-Walter Herr mann und Georg
Wilhelm S a n t e, Geschichte des Saarlandes, Würzburg 1972, S.51 f. Judith H ü s e r, Frankreich und die
Saarabstimmung vom 23. Oktober 1955. Innen- und außenpolitische Problemstellungen zur Lösung der
Saarfrage, in: Rainer Hudemann und Raymond P o i d e v i n (Hrsg.), Die Saar 1945-1955. Ein Problem
der europäischen Geschichte, München 1992, S.359-380.
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Hans-Walter Herrmann, Literatur zur frühen Nachkriegsgeschichte des Saarlandes 1945-1957, in:
Revue d'Allemagne XVIII/1986, S.123.
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