daher von selbst, an dieser Stelle nochmals Entstehung und Entfaltung der lothringischen
Reformbewegung vorzutragen - zumal dies erst vor wenigen Jahren auf der Reichenau
geschehen ist.6 Was jedoch nicht nur als legitim, sondern sogar als dringend geboten
erscheint angesichts neuerer Forschungsergebnisse, das ist eine erneute Reflexion über die
Besonderheit sowie über die Bedingungen und Zusammenhänge der lothringischen,
genauer gesagt: der oberlothringischen Klosterreform - und dies soll im folgenden versucht
werden.
Wenn die Gegensätze zwischen dem burgundischen und dem lothringischen Mönchtum
keinesfalls so scharf waren, wie es der antithetisch formulierte Titel des Buches 'Gorze-
Kluny' suggerieren wollte,7 wenn in der ersten Hälfte und in der Mitte des 10. Jahrhunderts
zwischen den einzelnen Reformzentren gerade keine Gräben verliefen, sondern eher ausge¬
glichene und sogar gute Beziehungen bestanden und wenn der gemeinsame Wurzelgrund
aller Bemühungen um das monastische Leben das Nachwirken der karolingischen, in
besonderem Maße von Benedikt von Aniane formulierten und von Ludwig dem Frommen
geförderten Klosterreform des frühen 9. Jahrhunderts bildete,8 dann stellt sich als erstes die
Frage, worin denn eigentlich das Besondere der oberlothringischen Reform lag, wodurch sie
sich von den übrigen Bestrebungen um eine Hebung der Klosterdisziplin und der Mönchs¬
moral unterschied. Die Antwort mag auf den ersten Blick überraschen, aber sie lautet
schlicht und einfach: Die oberlothringische Reform hat - anders als die übrigen Reform¬
bewegungen ihrer Zeit - entscheidende Impulse von innerkirchlichen, von klerikalen
Kräften, also von innen und nicht von außen, erhalten.
Die Gründungen sowohl von Cluny als auch von Brogne gingen auf Laien zurück: auf den
Herzog Wilhelm von Aquitanien, der eine Initiative seiner Schwester Ava, der Gemahlin des
Grafen Warin von Mäcon, aufgriff,9 und auf den nicht gerade reich begüterten fränkischen
Adligen Gerhard aus dem Lomatschgau, der ein Gefolgsmann des Grafen Berengar von
6 Vgl. den Sammelband: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert. Hg. v. Raymund Kottje und
Helmut Maurer (= VF 38), Sigmaringen 1989, und darin besonders die Beiträge von Michel Parisse,
Noblesse et monastères en Lotharingie du IXe au XIe siècle (S. 167-196), und Egon Boshof, Kloster und
Bischof in Lothringen (S. 197-245).
7 Vgl. dazu und zum folgenden etwa R. Schieffer (wie Anm. 3) S. 166 ff. oder Raymund Kottje, Mona¬
stische Reform oder Reformen?, in: Monastische Reformen (wie Anm. 6) S. 9-13, bes. 11, und Matthias
Werner, Wege der Reform und Wege der Forschung. Eine Zwischenbilanz, in: Monastische Reformen,
S. 247-269, bes. 261 f.
8 Vgl. dazu Josef Semm 1er, Das Erbe der karolingischen Klosterreform im 10. Jahrhundert, in: Monasti¬
sche Reformen, S. 29-77. - Zur karolingischen Reform des frühen 9. Jahrhunderts vgl. Rudolf Schieffer,
Die Karolinger, Stuttgart 1992, S. 116 f., und Reinhard Schneider, Das Frankenreich (= Oldenbourg
Grundriß der Geschichte 5), München 21990, S. 38 und 142 (sowie die hier verzeichnete Literatur),
besonders aber auch Otto Gerhard Oexle, Forschungen zu monastischen und geistlichen Gemein¬
schaften im westfränkischen Bereich (= Münstersche Mittelalter-Schriften 31), Münster 1978.
9 Vgl. Sackur I, S. 39 ff.
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