Untersuchungen z.B. für den deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechischen Grenzbe¬
reich wünschenswert, die eine komparative Betrachtung einzelner grenznaher Industriere¬
gionen ermöglichen könnten. Im vorliegenden Falle wird deutlich, wie ertragreich ein
solcher Forschungsansatz sein kann. Die Arbeitshypothese, daß im Zuge der Binnenwan-
derungsbewegungen während der Industrialisierung außer einer unternehmerischen Ver¬
flechtung innerhalb der Saar-Lor-Lux-Region (unter Einbeziehung der benachbarten
französischen und partiell auch der belgischen Grenzgebiete) eine weitreichende soziale
Vernetzung erfolgte, konnte aus dem Blickwinkel der einzelnen Untersuchungsgemeinden
differenziert überprüft und insgesamt erhärtet werden. Die verschiedenen Landes- und
Staatsgrenzen erwiesen sich dabei trotz diverser nationaler Frontstellungen als überaus
durchlässig. Vor allem unter der Arbeiterschaft scheinen deutlich weniger "Barrieren im
Kopf’ bestanden zu haben, welche die Bereitschaft zum Grenzübertritt hemmten, als in
den administrativ und politisch verantwortlichen bürgerlichen Kreisen. Andererseits waren
die Behörden der betroffenen Staaten in ihrem gemeinsamen Interesse an der Kontrolle
und Einschränkung grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen sehr wohl zu einem
administrativen Zusammenwirken bereit und entwickelten sehr ähnliche Handlungsmuster
gegenüber den mobilen Bevölkerungsteilen und darunter vor allem gegenüber den
jeweiligen Ausländem. Zumindest die drei in einer Wirtschaftsunion verbundenen
Teilregionen Lothringen, Luxemburg und die südliche preußische Rheinprovinz (Saarre¬
vier) begannen trotz heftiger nationalstaatlicher Abgrenzungsbemühungen sehr weitrei¬
chende gemeinsame Binnenstrukturen auszubilden und folglich einen konsistenten
Wirtschafts- und Sozialraum zu konstituieren. Der Bevölkerungsaustausch zwischen den
einzelnen städtisch-urbanen Regionalzentren war ein wesentlicher Ausdruck dieses
Integrationsprozesses, dem 1914 ein jähes Ende bereitet wurde. Über zwei Weltkriege
hinweg, letztlich bis zur Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland
und bis zur deutsch-französischen Annäherung in den 1960er Jahren überlagerten
nationalpolitische Aspekte, die sich infolge der blutigen Waffengänge dem Bewußtsein
der Bevölkerung einprägten, zukunftsweisende strukturelle Ansätze. Zuvor, in der zweiten
Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war ein nationalistischer Habitus
gerade der Eliten zwar allgegenwärtig gewesen, vermochte den hier untersuchten, rapide
fortschreitenden Vemetzungsprozeß, den neben den Unternehmern in erster Linie die
Arbeiterschaft trug, jedoch nicht zu verhindern. Für die Persistenz dieser gemeinsamen
Wirtschafts- und Sozialstrukturen spricht, daß nach 1945 insbesondere die Montan¬
industrie der Saar-Lor-Lux-Region einen entscheidenden Ansatzpunkt zum Aufbau der
westeuropäischen Wirtschaftsunion bildete, die wiederum ein wesentlicher Baustein für
die Europäische Gemeinschaft in ihrer heutigen Gestalt war.
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