Phänomen, welches im Zusammenhang mit der im vorigen Kapitel angesprochenen
"Veijüngungstendenz" der Zuwandererschaft zu sehen ist. Diese Dominanz der Ein¬
zelzuwanderung schlug sich allerdings an den Zielorten keineswegs in einer steten
Zunahme von Einzelhaushalten nieder, wie das Beispiel der Stadt Esch zeigt, wo über
die gesamte Untersuchungsperiode hinweg weniger als ein Prozent der Bevölkerung -
und zwar nahezu ausschließlich ältere, verwitwete Menschen - gezwungen waren einen
Ein-Personen-Haushalt zu führen und stets über 98 Prozent der Einwohner innerhalb
eines größeren sozialen Kontextes lebten.
Zuziehende Einzelpersonen stießen also in der Regel in einen Haushaltszusammenhang
hinein, indem sie häufig bei vor Ort ansässigen Familien gastierten. Der zwischen 1871
und 1900 zirka 20prozentige Bevölkerungsanteil erweiterter Kernfamilien in Esch
verdeutlicht - angesichts sehr beschränkter Schlafhauskapazitäten - die herausragende
Rolle des Einliegerwesens für das Wohnen in den hochfrequentierten Immigrations¬
gemeinden der Industriereviere.
Der saarländische Fall belegt, daß Einzelwanderer dabei nicht selten bei Verwandten ein
Unterkommen finden konnten. Im Verlauf der migrativen Erschließung der Industriege¬
meinden boten sich in stark zunehmendem Maße familiäre "Brückenköpfe" als Logier¬
möglichkeiten und soziale Anknüpfungspunkte an, so daß zwischen 1890 und 1900 mehr
als ein Zehntel (11,2 %) aller Zuwanderer, d.h. gut ein Sechstel der Individualan¬
kömmlinge in Malstatt-Burbach direkt familiären Anschluß am neuen Wohn- und
Arbeitsort fand. Im Gegensatz zu den Haushaltsstrukturen in den Einwanderungs-
gemeinden selbst traf man aber bei Umzügen, sofern der Wohnortwechsel nicht ohnehin
von einem "Single" vorgenommen wurde, nur in einigen wenigen Ausnahmefallen andere
Personen an als Eltern bzw. Eltemteilc mit ihren Kindern, d.h. die klassische Kerafamili-
enkonstellation.49 Denn sowohl in Diedenhofen als auch in Malstatt-Burbach kam
gerade durchschnittlich ein Prozent der Immigranten im erweiterten Familienverband an
seinen neuen Wohnort. Dem standen alles in allem immerhin über 40 Prozent Kemfa-
milien-Zuwanderer in Malstatt-Burbach bzw. 34 Prozent Kemfamilien-Zuwanderer in
Diedenhofen gegenüber.
49 Zur Definition von Familien- und Haushaltsstrukturen stützt sich die vorliegende Arbeit auf
den Ansatz von Peter Laslett und folgt damit der Vorgehensweise von Véronique Schaber in ihrer
Arbeit über die Familien- und Haushaltsstrukturen in Esch 1871 bis 1916. Vgl. einführend: Las¬
lett, Peter/Wall, Richard (Hg.): Household and Famüy in past Time, Cambridge 1972. Die recht
differenzierten Familienkategorien Lasletts wurden im vorliegenden Fall in drei zusammenfassende
Rubriken überführt: Einzelpersonen, Kemfamüien und erweiterte Kemfamüien. Unter Kernfa¬
milien werden dabei alle denkbaren Eltem-Kind-Konstellationen zusammengefaßt. Die Rubrik
erweiterte Kernfamilie beinhaltet alle Wanderungsfälle bzw. Haushalte, bei denen aie Kernfamilie
um eine oder mehrere externe Personen (sonstige Verwandte wie Großeltern, Onkel, Tanten, Cou¬
sins, Cousinen sowie Kostgänger, Mieter, Angestellte) ergänzt war.
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