Parteiprogramm. In seinem Übereifer ließ er sogar den nach der Reichstagswahl 1890
besonders hochgehaltenen Legalismus der Sozialdemokratie48 außer acht; in einer Pütt-
linger Versammlung am 2. August 1891 meinte Braun: „Das Königthum müsse fal¬
len“49. Besonders in Altenkessel und Püttlingen kam es daraufhin unter Führung Sebil¬
los zu Protestversammlungen, in denen man beschloß, „Braun zum Teufel zu jagen“,
sowie einen neuen RSV-Vorstand zu wählen50. Nachdem auch die Gründung von so¬
zialdemokratischen Lesevereinen in Sulzbach und Spiesen51 55 mißlang, hielt Braun sich
öffentlich zunächst zurück. „Die Bemühungen des Redakteurs der Zeitung ,Schlägel
und Eisen1, unter den Bergleuten eine sozialdemokratische Bewegung in Gang zu brin¬
gen, sind erfolglos geblieben“, berichtete Regierungspräsident von Heppe am 2. Okto¬
ber32.
Dennoch begannen sich die Sozialdemokraten des Saarreviers in dieser Phase neu zu
formieren: Franz Josef Ehrhart entwickelte am 12. April 1891 in Dudweiler vor fast
400 Bergleuten das Programm des sozialdemokratischen „Zukunftsstaates“53. Einige
auswärtige Sozialdemokraten ließen sich in Bergarbeiterorten nieder, wie beispielswei¬
se der Hausierer Peter Recktenwald in Marpingen34 57 oder der Barbier Paul Marx in
Cölln33. Liebknechts Broschüre „Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht wer¬
den“ fand eine gewisse Verbreitung36, verschiedentlich wurden nachts sozialdemokra¬
tische Zeitungen unter die Türen geschoben37. Die wenigen Sozialdemokraten an der
Saar - immer noch konzentriert auf die drei Saarstädte58 59 - begannen, ihre Agitation auf
die Bergarbeiter auszurichten. Die jahrzehntelang gewachsenen Berührungsängste blieben
jedoch bestehen. Als Dullens beispielsweise in Spiesen und Elversberg Broschüren ver¬
teilte, berichtete der Neunkircher Bürgermeister, daß „die Schriften nur in vereinzel¬
ten Fällen angenommen worden sind“^.
Am 15. November 1891 sollte in Dudweiler die „Erste Parteikonferenz der sozialde¬
mokratischen Partei für das Saarrevier“ stattfinden, Ehrhart dabei über „Die Ziele der
Partei“ sprechen, Dreesbach über „Die Stellung der Parteien im Reichstag“ und Braun
48 Vgl. Engels an Liebknecht vom 9. 3. 1890, MEW 37, S. 366: „Ich bin also darin ganz Deiner
Ansicht, daß wir für jetzt so friedfertig und gesetzlich wie möglich aufzutreten (haben) und wir
jeden Vorwand zu Kollisionen vermeiden müssen“. Ähnlich Engels an Friedrich Adolph Sorge
vom 12. 4. 1890, ebd., S.380-382.
49 Gemeindesekretär Peters/Püttlingen an LR vom 5. 8. 1891, Abschriften LHAK 442/4274 und
403/6834, 53 — 56. SZ vom 5. 8. 1891 (Nr. 180). Von Stumm am 12. Februar 1892 als Beispiel
für die sozialdemokratischen Umsturzbestrebungen selbst im Reichstag zitiert, vgl. Freiherr
von Stumm und die Sozialdemokratie, S. 15.
50 Gemeindesekretär Peters/Püttlingen an LR vom 12. 8. 1891, Abschriften LHAK 442/4274
und 403/6834, 181 — 184, Zitat S. 181. Vgl. Gemeindesekretär Wortmann/Püttlingen an LR
vom 6. 8. 1891, Abschriften ebd., 57 — 66. Dto. vom 10. 8. 1891, Abschrift LHAK 442/4274.
Gendarm Christen an BM Pickard/Püttlingen vom 17. 8. 1891, Abschrift ebd.
51 Gendarm Kiepcke an BM Woytt/Sulzbach vom 9. 8, 1891, Abschriften LHAK 442/4274 und
403/6834, 145- 148. RA Wölbling/OTW an RP vom 26. 10. 1891, LHAK 442/4274. LR Ba¬
ke/SB an RP vom 28. 9. 1891, ebd.
52 RP Heppe/Trier an OP vom 2. 10. 1891, LHAK 403/6834, 433-447, Zitat S. 443.
53 Gendarm Vogler an BM Petermann/Dudweiler vom 13. 4. 1891, Abschrift LHAK 442/4221.
54 LR Hagen/WND an RP vom 24. 10. 1890, LHAK 442/4254.
55 RP Heppe/Trier an OP vom 4. 7. 1891, LHAK 403/6833, 731 —743.
56 RA Bötticher/SB an RP vom 27. 8. 1891, LHAK 442/4274. LR Helfferich/SLS an RP vom 28.
5. 1891, LHAK 442/4380.
57 I.R Helfferich/SLS an RP vom 16. 3. 1891, LHAK 443/6221, 59 — 62.
58 Vgl. LR Bake/SB an RP vom 29. 2. 1892, Konzept KrASB S/7, Ausfertigung LHAK 442/
4376.
59 Zeitungsbericht BM Ludwig/NK für das 4. Quartal 1891, SANK, 15 F III.
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