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GRUNDLEGUNG DER ETHIK
ALS MSSENSCHAFT
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VERLAG I-
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LEIPZIG:
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Prof Dr. JOHANNES REHMKE
Grundlegung der Ethik als Wissenschaft
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Prof. DR JOHANNES REHMKE
Grundlegung der
Ethik
als Wissenschaft
VERLAG QUELLE & MEYER / LEIPZIG
Alle Rechte Vorbehalten
*
Buchdruckerei Oswald Schmidt G. m. b. H.
Leipzig
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung................................. i
1. Sitte und Lebenseinheit................... 5
2. Lebenseinheit und Herrschaftseinheit ... io
3. Gesetz und Gebot — Müssen und Sollen . 21
4. Pflicht und Gewissen..................... 32
5. Die Pflichtethik......................... 42
6. Die Klugheitethik ...................... 64
7. Die Liebesethik........................ 73
a) Das Wollen............................ 75
b) Zweck und Mittel zum Zweck.......... 79
c) Wollen als Lust wollen und Wirken wollen 86
d) Das Einssein der Bewußtseinswesen . . 96
e) Das Sicheinswissen mit anderem Bewußt-
sein .............................. 106
f) Liebe1 und Liebe2.....................115
g) Das sittliche Bewußtsein und der sittliche
Zweck..................................125
*
EINLEITUNG
Wissenschaft überhaupt ist das Unternehmen des mensch-
lichen Bewußtseins, Gegebenes zur fraglosen Klarheit
zu bringen. Wissenschaft setzt also in jedem Falle Gegebenes
voraus für das Bewußtsein, das in dieses Unternehmen eintritt
mit dem Ziele, dieses Gegebene fraglos klar zu haben. Das aber
sagt zugleich, daß das Gegebene, da es durch dieses Unternehmen
dem menschlichen Bewußtsein erst klar werden soll, ihm un-
klar ist. Nur das von vornherein etwa fraglos klar Gegebene
fügt sich selbstverständlich dem wissenschaftlichen Unterneh-
men nicht, da die Klarheit, die das Ziel aller Wissenschaft be-
deutet, inbetreff dieses Gegebenen ohne weiteres schon besteht.
Alles dem Bewußtsein unklar Gegebene ist dagegen ohne Aus-
nahme Gegenstand der Wissenschaft.* 1
Das Ziel aller Wissenschaft, die fraglose Klarheit, nennen
wir auch die Erkenntnis. So dürfen wir denn, da alle Wissen-
schaft ihren Gegenstand als Gegebenes schlechtweg voraussetzt,
auch sagen, daß Kenntnis des Gegebenen der Erkenntnis immer
vorausgehe: ohne Kenntnis keine Erkenntnis oder, was dasselbe
sagt, ohne Gegebenes keine Wissenschaft.
Sprechen wir nun von einer besonderen Wissenschaft, so ist
Besonderes aus dem Gegebenen überhaupt der „Gegenstand“
dieser Wissenschaft. Jede Wissenschaft setzt demnach ihren
besonderen Gegenstand wieder voraus, und niemand kann in
eine Wissenschaft eingeführt werden, dem nicht ihr „Gegen-
stand“ bekannt ist, als besonderes Gegebenes,
1 Siehe Rehmke „Philosophie als Grundwissenschaft“, S. 67 ff.; „Logik“ 1
S. 392 ff.; „Logik“2 S. 347 ff.
1 Rehmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
1
Ist nun der Gegenstand der einzelnen Wissenschaft Beson-
deres, so wird die Einführung in jede Wissenschaft darauf be-
dacht sein, daß der Blick der Einzuführenden mit Sicherheit
auf dieses Besondere sich einstellt, so daß sie darüber nicht im
Zweifel sind, um welches Gegebene es sich in dieser besonderen
Wissenschaft handelt. Das Gegebene solcher Wissenschaft ist
also immer schon irgendwie bestimmtes Gegebenes und als
solches auch schon durch ein besonderes Wort gezeichnet, das
dem Einzuführenden gleichsam den Führer zu dem Gegen-
stände der besonderen Wissenschaft abgeben muß.
Diese Kennzeichnung des Gegenstandes leistet aber nicht für
jede Wissenschaft in sicherer Weise den Führerdienst. Zwar
nicht wenige Wissenschaften sind in der Lage, mit ihrem kenn-
zeichnenden Stichworte schon hinreichende Führung zu ihrem
besonderen Gegenstand zu geben, so z. B. die Mathematik als
Raum- und Zahllehre in den Worten „Raum und Zahl“, die
Physik als Körperlehre in dem Worte „Körper“, die Sprach-
wissenschaft in dem Worte „Sprache“, Keine dieser Wissen-
schaften findet sich daher aus eigenem Interesse noch zu der
Frage veranlaßt „was ist Raum oder Zahl“, „was ist Körper“,
„was ist Sprache“; finden sie doch bei jedem schon genügendes
Verständnis ihrer Stichworte inbetreff des Gegenstandes als be-
sonderen Gegebenen. So treten diese Wissenschaften auch eine
jede in bewußter Selbständigkeit auf den Plan uud haben nicht
auf die Beantwortung von Fragen Rücksicht zu nehmen, die
zwar auch ihr Gegebenes wohl berühren, aber doch außerhalb
des fachwissenschaftlichen Rahmens fallen, da sie grundwissen-
schaftlicher Natur sind. Wir müssen indes, ohne die Selbständig-
keit dieser Wissenschaft antasten zu wollen, doch darauf auf-
merksam machen, daß ihre Selbständigkeit nicht als wissen-
schaftliche Selbstherrlichkeit auszulegen ist, als ob nämlich die
Beantwortung grundwissenschaftlicher Fragen, die eben das Ge-
gebene der betreffenden Wissenschaften berühren, für diese ohne
jegliche Bedeutung wäre; indes, wie man zu sagen pflegt, es
2
geht für sie im eigenen Hause auch ohne Grundwissenschaft.
Anders steht es jedoch um andere Fachwissenschaften, denen
jene Selbständigkeit darum abgeht, und die vielmehr schon als
besondere Wissenschaften in der Grundwissenschaft wurzeln,
indem sie durch diese überhaupt als Wissenschaft erst möglich
sind. Zu dieser Gruppe von Wissenschaften gehört auch die
Psychologie oder Seelenlehre. Das Stichwort der Psychologie
aber ist „Seele." Kein Unternehmen nun, das sich Psychologie
als Wissenschaft nennt, kann sich um der Wissenschaftlichkeit
willen als erster und grundlegender Frage der Frage „was ist
Seele?*' entziehen. Diese ist freilich nicht „eigentlich*' eine
psychologische, sondern eine grundwissenschaftliche Frage;
nicht die Psychologie, sondern die Grundwissenschaft beantwor-
tet sie, aber die Antwort macht auch erst den Boden der Psy-
chologie als besonderer Wissenschaft klar und gehört als solche
darum doch auch zur Psychologie selbst. Wie nötig der Psycho-
logie als Wissenschaft der grundwissenschaftlich geklärte Boden
ist, geht schon deutlich daraus hervor, daß sich kein Psycho-
logie-Unternehmen findet, in dem die Beantwortung der Frage
„was ist Seele?*' nicht das Grundlegende wäre, was sich sogar
an denjenigen Psychologien zeigt, die selber den grundwissen-
schaftlichen Unterbau mißachten, aber, wenn wir sie genau
besehen, doch von Anfang an eine Antwort auf jene Frage,
freilich unausgesprochen, mitlaufen lassen und sich auch in
den fachwissenschaftlichen Ausführungen stillschweigend nach
ihr richten.
Zu diesen grundwissenschaftlich verankerten Wissenschaften,
die mit ihrem Stichwort, damit es sichere Weisung gäbe, auf
grundwissenschaftliche Klärung angewiesen sind, gehört auch
die Ethik als Wissenschaft vom Sittlichen. Das Wort „sitt-
lich** ist in der Tat ein so wenig sicher auf den Gegenstand
der „Ethik** (wie wir aus alter griechischer Erbschaft die Wissen-
schaft vom Sittlichen zu nennen pflegen) hinweisendes Wort,
das wir dafür halten, es müßte jedem Ethiker nichts näher lie-
3
gen und dringender erscheinen, als die Frage „was ist sittlich?“
zu stellen und in erster Linie zu beantworten. Aber in den meisten
Fällen geht man über diese Frage „was ist sittlich?“ einfach
hinweg, als ob sich von selber verstünde, was sittlich heißt.
Ich wiederhole aber, daß jede Wissenschaft, also auch die Ethik
als Wissenschaft, Gegebenes voraussetzt, das sie erkennen, d. h.
zu fragloser Klarheit bringen will. Alle Arbeit jedoch ist für die
Wissenschaft verloren und alle Einführung in eine Wissenschaft
vergeblich, wenn die Einzuführenden selbst nicht das „haben“,
um was die besondere Wissenschaft als ihren besonderen Gegen-
stand geht. Darum stellt die Ethik die Frage „was ist sittlich?“
Wir verstehen aber unter dem Sinn eines Wortes das Gegebene,
dessen Ausdruck dieses Wort ist.1 Die Feststellung dieses Wort-
sinnes hat es darum nicht mit diesem Worte als einem beson-
deren Lautgebilde zu tun, oder, wie man sagt, mit dem „bloßen“
Worte, sondern vielmehr mit dem besonderen Gegebenen, dessen
Ausdruck dieses Lautgebilde sein soll. „Ein Wort verstehen“
heißt wissen, wessen Ausdruck es ist, und dieses Wissen hat
eben zur notwendigen Voraussetzung „Kenntnis“ des durch
das Wort Ausgedrückten, das zur „Erkenntnis“ gebracht wer-
den soll.
1 Siehe Rehmke „Logik“ 1, S. 325 ff., „Logik“ S. a86 ff.
4
1.
Das Wort „sittlich** ist uns allen bekannt und vertraut, nicht
etwa nur als Lautgebilde, sondern auch als „Wort“, d.i. als
ein Lautgebilde, das uns Gegebenes zum Ausdruck bringt. Es
steht also um das Wort „sittlich“ nicht so schlimm, daß sein Ge-
gebenes den in die Wissenschaft vom Sittlichen Einzuführenden
völlig unbekannt wäre, aber freilich ist der Sinn des Wortes
„sittlich“ ihnen nicht ohne weiteres klar und sichergestellt wie
das Gegebene der Mathematik in den Worten „Raum“ und
„Zahl“. Darum kann die Ethik auch nicht umhin, den Sinn
des Wortes „sittlich“ eindeutig sicherzustellen. Wir werden
aber bei der wissenschaftlichen Sinnfeststellung des Wortes
„sittlich“ billigerweise darauf bedacht sein, daß wir die Füh-
lung mit der Geschichte, in der das Wort „sittlich“ uns entgegen-
tritt, nicht verlieren.
Nun möchte es allerdings scheinen, daß die Suche nach dem
Gegebenen „sittlich“ dadurch schon rasch ihre Erledigung fin-
den werde, wenn wir uns des Ursprungs des Wortes „sittlich“
erinnern, also uns der vom verwissenschaftlichen Bewußtsein
vollzogenen Bildung dieses Wortes vergewissern. Da finden wir
denn, daß „sittlich“—,,der Sitte gemäß“ von „Sitte“ abgeleitet
ist, in diesem Sinne also das Wort „sittlich“ ein Beziehungs-
wort bedeutet, so daß das in dem Wort ausgedrückte Gegebene
eine Beziehung darstellt, deren eines Glied das Gegebene „Sitte“
ausmacht. Zur Klarstellung dieser besonderen Beziehung wären
wir damit auf die neue Frage hingewiesen: „was ist Sitte?“
Der Schein nun, daß wir in der Beantwortung der Frage
„was ist sittlich?“ mit der Ableitung des Wortes „sittlich“ von
dem Stammwort „Sitte“ auf dem richtigen Wege seien, ver-
stärkt sich noch, wenn wir beachten, daß die dem deutschen
5
orte „sittlich“ entsprechend verwendeten griechischen und
lateinischen Worte „ethisch“ und „moralisch“ dieselbe \blei-
tung haben, das griechische von *&og = (Sitte,)1 das lateinische
von mos — (Sitte). Und auch wenn man darauf hinwiese, daß
doch „ethisch“ nicht von sondern von V&og (Gesinnung)
abgeleitet sei, so spielt doch £&og = die Sitte eine maßgebende
Rolle, wie deutlich daraus hervorgeht, daß die Lateiner (siehe
Cicero) das griechische Wort „ethisch“ übersetzten mit „mora-
Hs“, das abgeleitet ist von mos (Sitte), dem dann die Deutschen
getreulich mit dem Worte „sittlich" gefolgt sind.
Wenn wir uns nun auch mit Grund dagegen aussprechen,
daß der Sinn des uns heute gebräuchlichen Wortes „sittlich“
mit „der Sitte gemäß“ Zusammenfalle, was ja auch der Grieche
und der Lateiner den Worten „ethisch“ und „moralisch“ nicht
zugemutet haben, so wird doch das Gegebene, um das es sich
einerseits bei „sittlich“ und anderseits bei „der Sitte gemäß“
handelt, irgendeinen Zusammenhang zeigen, der uns die Ab-
leitung des Wortes „sittlich“ von dem Worte Sitte verständlich
macht, ein Zusammenhang, der sich ja auch auffallend darin
geltend macht, daß in unserer Sprache die Wissenschaft vom
Sittlichen „die Sittenlehre“ genannt wird.1 2
Daß unser Wort „sittlich“ etwas anderes sage, als es nach sei-
ner sprachlichen Ableitung sagen müßte, darüber sind wir alle,
die wir uns des Wortes „sittlich“ bedienen, einig; aber wir dür-
fen dessen ebenso sicher sein, daß der Platz im Gegebenen über-
1 Wie Aristoteles uns belehrt: r'o rj&oi dna xov It)ovs ixtl TVV tTtcovvuinv.
2 Daß ich zurBezeichnungder Wissenschaft vom Sittlichen das griechische
Wort „Ethik“ und nicht das deutsche Wort „Sittenlehre“ gewählt habe,
hat vor allem seinen Grund darin, daß für uns Deutsche das Wort „Sitten-
lehre“ zu verführerisch die Sitte oder die Sitten als vermeintlichen Gegen-
stand dieser Wissenschaft nahelegt und dadurch doch zu oberflächlich
der eigentliche Gegenstand dieser Wissenschaft gestreift würde, wäh-
rend das Fremdwort „Ethik“ uns Deutschen noch nichts vorausnimmt,
sondern selbst erst der Erfüllung harrt durch die Beantwortung der
Frage „was ist sittlich?“
6
haupt, auf den uns das Wort ,,Sitte“ hinweist, doch irgendwie
auch derjenige ist, den das Wort sittlich uns anweist. Wie
ließe sich sonst verstehen, daß dem Gegebenen, das wir „sittlich*
nennen, diese seine Benennung von dem Worte „Sitte** abge-
leitet worden ist? Wüs ist aber der Platz im Gegebenen über-
haupt, fragen wir darum, auf den wir hingewiesen sind, wenn
von Sitte die Bede ist? Die Antwort auf diese Frage muß uns
den ersten Anhalt geben, unserem Worte „sittlich“ seinen wissen-
schaftlichen Sinn zu finden.
Das Wort „Sitte“ führt uns ohne weiteres auf ein in Einheit
Zusammensein menschlicher Bewußtseinswesen, das wirLebens-
einheit nennen. „Lebenseinheit“ nämlich bedeutet uns eine
Einheit menschlischer Bewußtseinswesen, die auf ein einiges
d. i. auf ein und dasselbe Wollen ihrer Bewußtseinswesen ge-
stellt ist, so daß ein und derselbe Wille dieser Bewußtseinswesen
diese Lebenseinheit trägt. Was wir demnach als Lebenseinheit
ansprechen, ist nicht auf den Zufall, daß Bewußtseinswesen ge-
rade einmal dasselbe Wollen zeigen, gestellt, sondern sie selbst
auch ist das auf Grund dieses Wollens der betreffenden Bewußt-
seinswesen gemeinsam Gewollte: alle zu einer Lebenseinheit
gehörigen Bewußtseinswesen sagen eben: „Wir wollen in die-
ser Einheit zusammen sein.“
Solcher Einheit menschlicher Bewußtseinswesen, die auf ein
einiges Wollen dieser Wesen gestellt ist und die wir eben „Lebens-
einheit“ heißen, finden sich zwei besondere, die wir die eine
„Gesellschaft“ und die andere „Gemeinschaft“ nennen. Diese zwei
Lebenseinheiten unterscheiden sich aber in besonderer Weise.
Wir kennen den Unterschied „einfacher Zweck oder Selbst-
zweck** und „Reihenzweck“.1 In dem Gewollten dann, das
Reihenzweck heißt, unterscheiden wir noch „Mittel“ und
„Zweck“, eine Unterscheidung, die gerade in Betracht kommt,
wenn wir die Lebenseinheit „Gesellschaft“ von der Lebensein-
heit „Gemeinschaft“ unterscheiden. In der „Gesellschaft“ näm-
1 Siehe Rehmke „Die Willensfreiheit“, S. 25 ff.
7
lieh ist das Gewollte, in dem die betreffenden Bewußtseinswesen
eins sind, also die Lebenseinheit selbst für jedes dieser Wesen
„Mittel zum Zweck“, während in solchem Falle der „Zweck“
für ein jedes dieser Bewußtseins wesen ein anderer ist; alle
treffen sich also in dem Mittel zum Zweck, unterscheiden
sich aber in ihrem besonderen Zweck. Die Lebenseinheit „Ge-
sellschaft“ läßt sich also als besondere nur daraus verstehen,
daß das Gewollte eines jeden zu dieser gehörigen Einzelwesens
ein Reihenzweck ist und die Gesellschaft selbst ausschließ-
lich auf das einige Wollen des Mittels gestellt ist, der Zweck
im Reihenzweck eines jeden Bewußtseins aber von dem jedes
anderen Bewußtseinswesens der Gesellschaft verschieden ist.
Wir können dies auch so ausdrücken: „Die Bewußtseinswesen
einer Gesellschaft sehen in der gewollten Lebenseinheit nur
das Mittel zu einem Zweck, der für jedes von ihnen ein ande-
rer ist. Solche Lebenseinheiten sind jedem von uns bekannt
und vertraut: Ein Jagd verein, eine Aktiengesellschaft, ein Turn-
verein, eine Fischereigesellschaft, ein Singverein, ein Leseklub
usw., sie alle sind für die zugehörigen Bewußtseinswesen das
einige Mittel zum Zweck, der Zweck aber in dem betreffenden
Reihenzweck eines jeden, ist für jeden ein besonderer Zweck:
sein Vergnügen an der Jagd, seine Bereicherung durch das
Aktienunternehmen, Erstarkung seines Leibes usw.
Anders steht es mit der Lebenseinheit „Gemeinschaft.“ Wäh-
rend das menschlische Bewußtsein in einer „Gesellschaft“ immer
mit einem Reihenzweck als dem Gewollten zu tun hat und zwar
einem Reihenzweck, bei dem der „Zweck“ selbst außerhalb der
betreffenden Lebenseinheit liegt, so daß diese selbst im Reihen-
zweck nur Mittel zum Zweck ist, trifft in der Lebenseinheit
„Gemeinschaft“ das Gewollte schlechtweg die Lebenseinheit
selbst, ist sie also, mit anderen Worten, für die zugehörigen
Bewußtseins wesen nicht Mittel zum Zweck, sondern selbst
Zweck, mag nun das Gewollte in dem einzelnen Fall ein-
facher Zweck oder Reihenzweck sein.
8
Wir haben in der Frage „Mittel oder Zweck?“, wenn wir
sie an eine Lebenseinheit, in der wir uns wissen, richten, um
uns zu vergewissern, ob diese uns „Gesellschaft“ oder „Gemein-
schaft“ sei, die sicherste Führung zur klaren Feststellung der
besonderen Lebenseinheit. Denn nichts kann uns leichter wer-
den als die Entscheidung, ob die Lebenseinheit, in der wir uns
wissen, uns Mittel zum Zweck oder selbst Zweck bedeutet. Mache
man nur einmal die Probe, ob die Lebenseinheit, die wir „Vater-
land“ nennen, uns Selbstzweck oder Mittel zum Zweck ist.
Diesem Unterschied der zwei Lebenseinheiten hat unsere
Sprache treffenden Ausdruck gefunden, indem sie von den
Mitgliedern einer Gesellschaft, aber von den Gliedern einer
Gemeinschaft redet; die „Mitglieder“ wollen die Lebenseinheit
als Mittel, die „Glieder“ aber wollen sie als Zweck. Unsere
Sprache weist mit dem Worte „Glieder“ gegenüber dem Worte
„Mitglieder“ deutlich hin auf die innigere Einheit der Bewußt-
seinswesen in der „Gemeinschaft“.
Nun zeigt sich bemerkenswerterweise das, was wir „Sitte“
nennen, immer nur, wenn Lebenseinheit gegeben ist, wir
haben daher allen Grund zu sagen: „Ohne Lebenseinheit keine
Sitte“, aber auch umgekehrt „keine Lebenseinheit ohne Sitte“.
Nennen wir nun das zu einer Lebenseinheit gehörige Bewußt-
seinswesen einen Lebenseinheitler, so wissen wir, daß wir den
Blick auf das Wollen dieses Bewußtseins eingestellt haben; wer
Lebenseinheitler ist, will eben eine Lebenseinheit, und zwar,
wie wir feststellten, diese Lebenseinheit entweder als Mittel
oder aber als Zweck. Für den Lebenseinheitler ist demnach
auch die Sitte seiner Lebenseinheit von bestimmender Bedeu-
tung. Wir verstehen aber unter „Sitte“ die aus einer Lebens-
einheit menschlicher Bewußtseinswesen erwachsene Richtschnur
für die sogenannte Lebensführung des Lebenseinheitlers oder
anders gewendet, Sitte bedeutet dem Lebenseinheitler die Lebens-
führung, die er als Mitglied oder als Glied der Lebenseinheit
wollen muß.
9
2.
Wenn man sagt, „Sitte“ bedeutet den Brauch oder das Her-
kommen einer Lebensführung innerhalb einer Lebenseinheit,
so trifft diese Sinnbestimmung des Wortes „Sitte“ keineswegs
ins Schwarze. Nicht weil eine Lebensführung, was wir immer-
hin zugeben könnten, sich als Brauch oder Herkommen in der
Lebenseinheit gibt, sprechen wir von ihr als „Sitte“, sondern
weil menschliches Bewußtsein, ist es anders „Mitglied“ oder
„Glied“ dieser Lebenseinheit, die in der „Sitte“ gemeinte beson-
dere Lebensführung wollen muß, denn ein menschliches
Bewußtsein ist nicht oder nicht mehr Lebenseinheitler, wenn
es die als Sitte bekannte Lebensführung nicht erfüllen will. So
innig verknüpft sind „Sitte“ und „Lebenseinheit“, so wesentlich
gehört die Sitte zur Lebenseinheit selbst, daß das menschliche
Bewußtsein, sofern und solange es Lebenseinheitler ist, mit
anderen Worten, die Lebenseinheit will, schlechtweg die als
Sitte bekannte Lebensführung wollen muß. Eine besondere
Lebenseinheit wollen heißt „Lebenseinheitler sein“, und Lebens-
einheitler sein heißt eine Lebenseinheit wollen. Darum muß
der Lebenseinheitler auch das, was eben aus der Lebenseinheit
erwächst, nämlich die als Sitte bekannte Lebensführung wollen.
Wir sagen mit Betonung, es müsse menschliches Bewußtsein,
sofern es überhaupt tatsächlich Lebenseinheitler ist, die als Sitte
bekannte Lebensführung wollen. Wollen müssen heißt aber
allemal etwas anderes als Wollen sollen. „Müssen“ und „Sollen“
werden jedoch leider so häufig nicht auseinandergehalten. Kein
menschliches Bewußtsein kann als Lebenseinheitler der Sitte
seiner Lebenseinheit zuwider wollen und wenn ein Bewußtsein
dennoch der bestimmten Sitte zuwider will, so ist dies überhaupt
nur möglich, weil es zu solcher Lebenseinheit nicht oder
nicht mehr gehört. „Lebenseinheitler sein“ ist ja einzig und
allein auf „Lebenseinheit wollen“ gestellt.
Das Wort „Sitte“ betrifft eben die besondere Lebensführung
menschlichen Bewußtseinswesens als Lebenseinheitlers; die Worte
10
,,der Sitte gemäß“ deuten demzufolge auch nur auf diese
Lebensführung. Wer von „Sitte“ und „der Sitte gemäß“ spricht,
hat immerhin eine Mehrzahl von Bewußtseins wesen in Le bens-
ei n he it d.h. eine aui das einige Wollen dieser Bewußtseinswesen
gestellte Einheit vor sich und faßt insbesondere die Lebens-
führung des einzelnen Bewußtseins als Lebenseinheitlers ins
Auge, der eben selber, ist und bleibt er anders Lebenseinheitler,
gar nicht anders kann, als diese Lebensführung wollen. Diese
Notwendigkeit ist vor allem festzuhalten, eine Mahnung, die
angesichts der leidigen Gepflogenheit, das „muß“ mit dem „soll“,
die Notwendigkeit mit der Forderung zu verquicken und zu
vertauschen, nur allzu begründet, ist.
„Im Bilde sprechen“ oder „veranschaulichen“ ist sicherlich,
wenn es gilt, einen Gedanken zu erläutern, nicht gering anzu-
schlagen, aber auch bei dem zutreffendsten Bilde müssen wir
auf der Hut sein, ihm nicht die Stelle des in Frage kommenden
Gedankens selbst einzuräumen; jedes Bild hat nur wirklichen
Wert für diejenigen, denen der im Bilde erläuterte Gedanke
für sich selbst schon ein bestimmtes Gegebenes ist. Dies trifft
auch zu für die so mannigfachen Lebenseinheiten menschlicher
Bewußtseinswesen, die allesamt das, was wir „Sitte“ nennen,
ihren „Mitgliedern“ oder „Gliedern“ zu bieten haben. Gehört
es doch zu den gewöhnlichsten Redewendungen: „diese Gesell-
schaft oder der Verein oder der Staat fordert von mir, dies zu
wollen und zu tun“, oder „ich, der ich dieser Gesellschaft oder
diesem Verein oder diesem Staat zugehöre, soll dies wollen und
tun“. Auch wer in solchen Fällen statt „soll“ das Wort „muß“
verwendet, meint nach alter Übung doch das „soll“. Wer diese
Redewendung hört, wird, wenn wir ihn daran errinnern, daß
menschliches Bewußtsein, das Lebenseinheitler ist, seine Lebens-
einheit will und jegliches, was aus ihr fließt, wollen muß, doch
wohl stutzen, daß er, was er als Lebenseinheitler tun muß,
tun solle. Indessen ließe er sich wohl zunächst damit beru-
higen, daß das, was er selbst wollen muß, überdies auch nö<
11
\
von ihm gefordert werde, er es also auch wollen solle. Dann
aber dürfte doch keineswegs dies Fordern und Sollen als etwas
Überflüssiges bezeichnet werden, sofern man erwägt, daß es an
ein Bewußtsein gerichtet ist, das zwar Lebenseinheitler aus
eigenem Wollen ist, aber auch Nichtlebenseinheitler aus eigenem
Wollen sein kann. Und somit scheinen in der Tat Fordern
und Sollen an dieser Stelle gerechtfertigt zu sein, aber doch
immerhin nur unter dem Zusatze, daß Fordern und Sollen an
das Bewußtsein schlechtweg gerichtet seien, das ebensowohl
Lebenseinheitler sein, als auch nicht sein kann, während sie
wohl, an das Bewußtsein als tatsächlichen Lebenseinheitler
gerichtet, schlechthin bedeutungslos wären.
Läßt sich nun auch in der angegebenen Weise das „muß*4
und auch das „soll“ zugleich verwenden, so ist in solchem Fall
doch außer dem unter dem „muß“ und dem „soll“ gleicher-
weise stehenden Bewußtsein immerhin angesichts des „soll"
noch ein zweites Bewußtsein, das eben fordert, anzusetzen.
Ein solches zweites Bewußtsein ist aber, wenn es sich um „Sitte"
handelt, nicht zu finden. Wir hören zwar immerfort die Rede,
daß eine Lebenseinheit, z. B. eine Skatgesellschaft oder ein Staat,
dies und das von dem einzelnen Lebenseinheitler fordere, der
Lebenseinheitler also dies und das wollen und tun solle. Aber
die Lebenseinheit ist doch, wenn auch zweifellos Einziges, nicht
ein Einzelwesen, geschweige denn ein Bewußtsein, und was
nicht Bewußtsein ist, kann auch nicht fordern und nicht „du
sollst" sagen. So hat auch „ich soll“ bei der Sitte keinen Sinn,
wenn außer mir nicht noch ein Bewußtsein, das eben will, daß
ich dies oder das wolle, da ist.
Keine Lebenseinheit, sagten wir, gibt es, die nicht Sitte auf-
zuweisen hat, und die Sitte der Lebenseinheit z. B. eines Staates
oder eines Vereins findet ihren Ausdruck in dem „Gesetze“
des Staates oder des Vereins (Statuten). Diese Gesetze sind nun
nicht Gebote, denn weder „Staat“ noch „Verein“ kann
befehlen, kann „du sollst“ sagen. Die Lebenseinheit „Staat“
12
oder „Verein11 ist zwar ohne Zweifel Einziges, aber sie ist eben
nicht Einzelwesen, daher auch insbesondere nicht Bewußtsein.
Die zähe Mär vom „Staat“ als Organismus, die älter ist als
Menenius Agrippa, bleibt doch nur eine lockende Dichtung,
die der Tatsache dieser Einheit von Bewußtseinswesen keines-
wegs auch nur als Bild gerecht wird, und die Staatsphilosophie
täte gut daran, mit dem Organismusstaat und dem „Willen“ des
Staates endlich und gründlich aufzuräumen. Jeder Staat ist
zwar Einziges und eine Einheit menschlicher Bewußtseins wesen,
ist, mit anderen Worten, die auf den einigen Willen seiner
Bewußtseinswesen gestellte Einheit, also eine Lebeneinheit; dar-
um ist er aber doch noch nicht ein Einzelwesen, geschweige
denn Bewußtsein, und seine „Gesetze“ keine Gebote, keine
Forderungen, sondern eben der Ausdruck seiner Sitte. Wer ein-
wenden möchte, daß die Gesetze des Staates doch, je nach der
Auffassung des Staates als einer Gesellschaft oder einer Gemein-
schaft, von „Mitgliedern“ oder „Gliedern“ der Lebenseinheit
erst gemacht würden, die Sitte des Staates dagegen nicht, so sei
vorerst daran erinnert: ein Anderes ist die Sitte, ein Anderes
die festgestellte Sitte, die wir die „Gesetze“ des Staates nennen;
dann aber haben wir auch noch die Gegenfrage: woraus gebiert
sich denn die Sitte der Lebenseinheit, wenn nicht aus ihren
Bewußtseinswesen ?
Da man denn die Sitte nicht als die Forderung oder das
Gebot der Lebenseinheit, die ja weder Bewußtsein noch
überhaupt Einzelwesen ist, begreiflich machen kann, so wird
man vielleicht die alte Gepflogenheit, vom „Wollen“ der Lebens-
einheit und auch vom „Sollen“ des Lebenseinheitlers zu reden,
dadurch zu rechtfertigen suchen, daß man erklärt, zwar nicht
die Lebenseinheit selbst, indes doch ein oder mehrere ihrer
Lebenseinheitler fordern oder befehlen „im Namen“ dieser
Lebenseinheit. Hiermit wäre allerdings das schlechthin nötige
aridere Bewußtsein zur Stelle gebracht, aber wer in aller Welt
kann befehlen oder fordern, „im Namen“ von etwas, das, wie
13
die Lebenseinheit, selbst garnicht ein Bewußtsein ist. Wir hätten
es also auch hier mit der Umdichtung der Lebenseinheit in ein
Lebewesen und zwar in ein Rewußtseinswesen zu tun, gegen
die um der Wissenschaft willen nicht scharf genug Einspruch
erhoben werden kann. Es heißt aber den schon angerichteten
Wirrwrar noch verstärken, wenn man anstatt der die Sitte an-
geblich befehlenden Lebenseinheit die Sitte selbst als das For-
dernde einsetzt, indem man das Kunststück fertig bringt, ein
Allgemeines, wie es doch die Sitte ist, in ein Einziges, nämlich
in ein forderndes und gebietendes Bewußtsein umzusetzen:
solche Dichtung bringt nicht Klarheit, sondern führt schnur-
stracks in den Nebel hinein.
Woraus mag indes die nicht zu leugnende Gewohnheit zu
erklären sein, die Lebenseinheit von Bewußtseinswesen zu einem
besonderen Bewußtsein umzudichten, das an ihre Lebensein-
heitler Forderungen und Befehle („du sollst“) richtet?
Bei jeder Forderung und jedem Gebot setzt das gebietende
Bewußtsein voraus, daß das andere Bewußtsein, dem befohlen
wird, auch anders wollen könne, als wie das gebietende
Bewußtsein befiehlt. Ohne die Voraussetzung des anderen
Bewußtseins mit den beiden Möglichkeiten, zu wollen und
nicht zu wollen, was befohlen wird, hätte das „du sollst“ des
Gebieters schlechterdings keinen Sinn. Mit Recht können wir
die Worte „Spare doch deine Worte, ich tue schon ohnedies,
was du willst“, zur Bestätigung heranziehen. Daß nun auch,
wann immer es um Sitte sich handelt, das einzelne Bewußtsein
auf alle Fälle mit den zwei Möglichkeiten, der Sitte entsprechend
oder widersprechend zu wollen, bedacht ist, leidet keinen
Zweifel. Was wir Sitte nennen, wäre im Gegebenen überhaupt
nicht zu finden, wenn diese beiden Möglichkeiten für das
menschliche Bewußtsein nicht beständen. Ja, wir dürfen noch
weiter gehen und sagen: ohne diese beiden Möglichkeiten für
das Wollen gibt es nicht nur keine „Sitte“, sondern tatsächlich
auch keine Lebenseinheit menschlicher Bewußtseinswesen.
H
Trifft doch auf das menschliche Bewußtsein, um mit dem
Scholastiker zu reden, wohl das posse peccare und das posse
non peccare, nicht aber das non posse non peccare zu; eine
Lebenseinheit von Bewußtseinswesen, seien es „Mitglieder“ oder
„Glieder41, ohne jene beiden Möglichkeiten müßten wir unter
den Engeln suchen, aber deren Lebenseinheit wäre dann auch
„sittenlos4" d. h. sie hätte „Sitte4, nicht aufzuweisen.
Diese beiden nicht zu leugnenden Möglichkeiten für das
Wollen des einzelnen Bewußtseins sind es augenscheinlich, die
dazu verleiten, für den Lebenseinheitler in der „Sitte4" selbst
ein Gebot oder einen Befehl zu finden, da man ja ganz beson-
ders gewöhnt ist, die beiden Möglichkeiten dann für ein Bewußt-
sein hervorzuheben, wenn ihm ein Befehl oder ein Gebot seitens
eines anderen Bewußtseins zuteil wird. So kommt es denn,
daß man, wann überhaupt die beiden Möglichkeiten für ein
Bewußtsein in Frage kommen, ohne weiteres, wie z. B. auch
bei der „Sitte“, einer Lebenseinheit, meint, annehmen zu
dürfen, daß sich auch hier ein Gebieter finden müsse. Und
daß man dann zu der Lebenseinheit selbst als dem Gebieter die
Zuflucht nimmt, läßt sich verstehen, zumal, da die Lebensein-
heit, gleich wie gebietendes Bewußtsein, selbst Einziges ist.
Man übersieht freilich den trennenden Graben, der sich trotz-
dem zwischen beide legt, denn die Lebenseinheit ist zwar Ein-
ziges, aber nicht, wie das Bewußtsein, auch Einzelwesen, und
doch steht selbstverständlich fest, daß nur ein Einzelwesen und
zwar nur ein Bewußtsein gebieten kann. Es zeigt sich auch
bei der Umdichtung des Einzigen „Lebenseinheit“ in Einzel-
wesen „Bewußtsein“ dasselbe, was wir bei der allgemein ver-
breiteten Umdichtung der Wirkenseinheit „Mensch44 in Einzel-
wesen „Mensch44 durch alle Jahrhunderte unserer Kulturge-
schichte vor uns haben.
Wer sich aber noch nicht beirren ließe, weiter an dem an-
geblichen Einzelwesen „Lebenseinheit4‘ festzuhalten, dem wird
doch zweifellos der Staar gestochen durch den Hinweis, daß,
15
sobald von gebietendem Bewußtsein, als das noch irrigerweise
die Lebenseinheit gedacht wird, die Rede ist, dieses Bewußtsein
als Gebieter nicht mit demjenigen, an das der Befehl ergeht,
in einer Lebenseinheit sich findet, sondern vielmehr in
Herrschaftseinheit. Ist es doch schon ein Widersinn, zu sagen,
ein Bewußtsein als Lebenseinheitler gebiete einem andern,
derselben Lebenseinheit zugehörigen Bewußtsein; denn wären
auch beide bisher in derselben Lebenseinheit, so ist für sie in
dem Augenblicke, da das Eine dem Andern gebietet, die Lebens-
einheit gesprengt und die Herrschaftseinheit eingetreten. Hier-
aus ist ersichtlich, daß es auch ein Widerspruch ist, zu sagen,
die Lebenseinheit z. B. ein Seglerverein oder ein Staat gebiete
ihrem Mitgliede oder Gliede; zu der Lebenseinheit als dem an-
geblich gebietenden Bewußtsein könnten die Bewußtseinswesen,
denen geboten wird, nimmermehr gehören. Um aber der Mär
von der Lebenseinheit als gebietendem Bewußtsein vollends
den Boden zu entziehen, sei noch darauf hingewiesen, daß,
wäre die Lebenseinheit ein Bewußtsein, andere Bewußtseins-
wesen schon deshalb nicht zu solcher „Lebenseinheit“ gehören
könnten, weil diese ja als Bewußtseinswesen einfaches Einzel-
wesen sein müßte, also nicht Einheit von Bewußtseins wesen sein,
nicht aus Bewußtseinsw'esen bestehen könnte.
Die für die Sitte der Lebenseinheit beim Lebenseinheitler
vorauszusetzenden zwei Möglichkeiten seines Wollens bleiben
nun aber immerhin bestehen, auch wenn die an sie anknüpfende
Dichtung einer dem Lebenseinheitler gebietenden Lebens-
einheit keinen Boden findet, indem von der Sitte als Gebot
oder Forderung und somit auch von einem Gebieter, mit wissen-
schaftlicher Berechtigung, nicht zu reden ist. Jene beiden Mög-
lichkeiten für das Wollen des Bewußtseins bleiben die Bedin-
gung für die Sitte jeder Lebenseinheit, obwohl die Sitte selbst
nicht irgendwie als Befehl oder Gebot zu begreifen ist. Gibt
es auch ohne Lebenseinheit nicht Sitte, so sagt die Sitte doch
dem Lebenseinheitler nicht, wie er wollen soll, sondern wie
16
er wollen muß, wenn er Lebenseinheitler sein und bleiben
will. Die Sitte in die spanischen Stiefeln des Gebotes und
Befehls einschnüren heißt tatsächlich der Lebenseinheit und
damit auch der Sitte schlechtweg den Garaus machen.
Wir leugnen selbtverständlich, wenn wir sagen, daß die Sitte
unter keinen Umständen Gebot oder Forderung sei, nicht, daß
Gebot und Forderung sich für ein Bewußtsein überhaupt doch
finden können; betonen aber immer wieder, daß Gebot und
Forderung in keiner Lebenseinheit, weder in der „Gesellschaft“
noch in der „Gemeinschaft^ von Bewußtseinswesen, sich finden.
Darum kann auch angesichts der Gebote Gottes für das mensch-
liche Bewußtsein von einer Lebenseinheit des göttlichen und
des menschlichen Bewußtseins, sei es Gesellschaft, sei es Gemein-
schaft, nicht die Rede sein; ein Gebieter findet sich niemals in
Lebenseinheit mit dem Bewußtsein, dem geboten wird. Es
ist darum immerhin eine Entgleisung, von dem Reiche Gottes
als einem Gottesstaat zu reden, wenn anders das Wort „Staat"
eine Lebenseinheit bedeutet; im „Gottesstaat‘" müßte sich
nicht nur menschliches Bewußtseinswesen, sondern auch Gott
selbst als ein Lebenseinheitler finden. Dasselbe gilt auch, wenn
von einem Königreiche als von einem Staat, zu dem der König
als besonderes Bewußtsein, aber als Gebieter für die andern dazu
gehörenden Bewußtseins wesen in Frage kommen soll, gesprochen
wird; es ist ja unschwer einzusehen, daß dabei „Lebenseinheit"
und „Herrschaftseinheit“ zusammengeworfen werden, indem
der König einmal in der Lebenseinheit unter dem Gesetze
dieser Lebenseinheit, dann aber auch außer der Sitte oder dem
Gesetze des Staates stehen, also Lebenseinheitler und doch auch
nicht Lebenseinheitler sein soll. Es ist wohl versucht worden,
diesem Widerspruch zu entgehen, indem man sagt, der König
gehöre zwar ohne Zweifel zum Staat, aber er als Lebensein-
heitler sei heilig, d. h. er sei ein Bewußtsein, dem von den
beiden Möglichkeiten posse peccare und posse non peccare nur
das zweite noch bestehe, so daß für das königliche Bewußtsein
2 Rehmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
17
nicht, wie für die übrigen Staatszugehörigen auch die Möglich-
keit, der Sitte (Gesetz) nicht zu entsprechen, bestehe. Doch
mit der Heiligkeit des Königs wäre der Schwierigkeit, ihn in
einer Lebenseinheit mit anderen Bewußtseinswesen zu begrei-
fen, keineswegs abgeholfen, und sie wird unüberwindlich, da
der König die Gesetze solcher Lebenseinheit nicht vorfände,
sondern selbst erst aufstellte und somit als Gebieter nicht
neben, sondern über den andern Bewußtseinswesen dieser Ein-
heit stände.
Wo sich ein Gebieter findet, da ist Herrschaft, und Herr-
schaft ist nicht Lebenseinheit; zwar zeigt auch sie Bewußt-
seinswesen in Einheit, sie ist jedoch einzig und allein auf den
Willen des Gebieters gestellt, während die Lebenseinheit, sei
sie Gesellschaft oder Gemeinschaft, auf den einigen Willen
ihrer Bewußtseinswesen, deren Mittel oder deren Zweck sie ist,
sich gestellt zeigt.
Somit fällt der Bereich des Sollens genau zusammen mit dem
der Herrschaft, der Herrscher spricht ,,du sollst'1, der Beherrschte
„ich soll“. Wann immer also unter Bewußtseinswesen das
Wort „sollen“ fällt, müssen diese einer Einheit angehören, die
eine Herrschaft ist. Die Lebenseinheit jedoch kennt überhaupt
nicht das Sollen, denn „sollen“ weist immer auf in der Ein-
heit ungleich gestellte Bewußtseinswesen hin, jede Lebens-
einheit dagegen hat nur gleichgestellte Einzelwesen aufzu-
weisen. Außer Herrschaftseinheit und Lebenseinheit aber gibt
es überhaupt keine Einheit von Bewußtseinswesen mehr.
Wie nun Sitte das Gesetz für die zu ihr gehörigen Bewußt-
seinswesen bedeutet, so ist das „du sollst“ das Gebot des Herr-
schers an die anderen, zu derselben Einheit gehörigen Wesen.
Das durch Gesetz bestimmte Wollen des Lebenseinheitlers
unterscheidet sich aber von dem durch Gebot bestimmten
Wollen des Beherrschten selbst in dem Fall, daß etwa Gesetz
und Gebot auf ein und dasselbe zielen, noch dadurch, daß das
Wollen des Beherrschten stets ein Zwangs wollen, das Wollen
18
des Lebenseinheitlers dagegen in vielen Fällen, wie schon fest-
gestellt wurde, freies Wollen ist.
Sitte und Sollen, Gesetz und Gebot zeigen sich aber darin
wieder gleichgestellt, daß beim Sollen, wie bei der Sitte, von
der wir es schon für die zugehörigen Bewußtseinswesen her-
vorgehoben haben, für das „sollende“ Bewußtsein die beiden
Möglichkeiten, dem Gebot zu entsprechen oder zu widerspre-
chen, die Voraussetzung bilden. Jedes Gebot und jeder Befehl,
also auch jedes „Sollen“ verlöre seinen Sinn, wenn diese bei-
den Möglichkeiten für das Bewußtsein, an das der Gebieter
sich richtet, nicht beständen. In dem wichtigen Punkte der
beiden Möglichkeiten für das Wollen des Bewußtseins treffen
also Gesetz (der Lebenseinheit) und Gebot der (Herrschaftsein-
heit) zusammen; beim Sollen freilich kommt noch besonders
hinzu, daß das „Gebietende“ ein wollendes Bewußtsein ist, wäh-
rend das „Gesetzgebende“ kein Bewußtsein, sondern eben die
Lebenseinheit ist. Das „Gesetzgeben“ der Lebenseinheit sagt
nicht, daß hier ein Bewußtsein ein „Gesetz“ aufstellt, sondern
daß das Gesetz aus dieser Einheit von Bewußtseinswesen fließt
oder sich notwendig aus ihr für die ihr Zugehörigen ergibt.
Wie könnte auch „Sollen“ auf etwas anderes, als auf ein
Bewußtsein gestellt sein. Dieses aber kann nicht genug betont
werden angesichts der üblen Gepflogenheit, von „Sollen“ auch
da zu reden, wo das zum bestimmten Wollen Veranlassende
ersichtlich ein Allgemeines, nicht aber ein Bewußtsein, und
nicht ein Einzelwesen ist. Diese Verirrung, ein Allgemeines
für ein Bewußtsein auszugeben und zu einem Bewußtsein und
somit zu einem Einzelwesen zu stempeln, tritt uns besonders
deutlich in Kants „Ethik“ entgegen, die ja den kategorischen
Imperativ (Sollen) aus der „reinen praktischen Vernunft“ her-
leitet, also ein zweifellos Allgemeines als den Gebieter auf-
führt, die reine praktische Vernunft mithin zu einem gebieten-
den Bewußtsein umdichtet. Solcher Gepflogenheit müssen wir
immer wieder entgegenhalten, daß allein ein Bewußtsein ge-
*9
bieten kann, was sich für jeden dadurch bestätigt, daß ihm das
Wort „gebietende Vernunft“ nur einen Sinn hat, wenn unter
„Vernunft“ nicht ein dem menschlichen Bewußtsein zugehöriges
Allgemeines, sondern ein anderes Bewußtsein gegenüber dem
den Befehl empfangenden Bewußtsein gemeint ist.
Die Worte „sollen“ und „fordern“ werden freilich im Ge-
brauch leicht verbogen, so daß „sollen“ als „müssen“ und
„notwendig folgen“ auftritt, wras nicht nur im bürgerlichen,
sondern auch im wissenschaftlichen Verkehr sich zeigt und
wofür uns wieder Kant als Beispiel dienen mag, wenn er von
einem hypothetischen Imperativ spricht, den er dem kategorischen
Imperativ gegenüberstellt. Dieser hypothetische, also „beding-
te“ Imperativ ist ersichtlich eine Mißgeburt, ja überhaupt gar
kein Imperativ, was sich darin zeigt, daß, wenn wir die in
ihm liegende „Bedingung“ ans Licht stellen, das betreffende
Wollen gar nicht als gesolltes oder gefordertes, sondern ersicht-
lich als „gemußtes“, als „notwendiges“ Wollen auftritt. Der
hypothetische Imperativ lautet, wenn seine Bedingung mit
zum Ausdruck gebracht wird, um ein Beispiel zu geben, nicht
etwa „du sollst gehorchen“, sondern „du mußt gehorchen,
wenn du Ruhe finden willst“. Hier zeigt sich, daß das Ge-
horchen gar nicht als eine Forderung, nicht als „Gesolltes“ auf-
tritt, sondern es wird nur zum Ausdruck gebracht, daß Ge-
horchenwollen notwendig verknüpft sei mit „Ruhe finden wol-
len“, als das Mittel zum Zweck erscheine. Haben wir es in
solchem Falle doch gar nicht mit mehreren Bewußtseinswesen,
wie es ja bei jeder Herrschaftseinheit selbstverständlich ist,
sondern nur mit einem Bewußtseinswesen und seinem Wollen
zu tun. So ist denn auch „Kategorischer Imperativ“ ein
überschüssiges Wort, da es keinen Befehl, kein Gebot gibt,
das nicht „unbedingt“, sondern an eine Bedingung geknüpft,
also durch ein „wenn“ gestützt wäre. „Kategorischer Impera-
tiv“ sagt nicht mehr als „Imperativ“ schlechtweg und „hypo-
thetischer Imperativ“ ist ein Widerspruch in sich, und es ist
20
auf den umfassenden Einfluß Kants, der von einem besonderen
Imperativ als einem bedingten Gebot wußte, zurückzuführen,
daß vor allem in unserer Zeit wieder ein „Sollen“ auch dann
behauptet wird, wenn ein gebietendes Bewußtsein gar nicht mit
in Frage kommt. Gehen wir aber solcher Gepflogenheit nach,
so ist in allen Fällen festzustellen, daß das „Sollen“ und „For-
dern“ entweder, wie beim „hypothetischen Imperativ“ in ein
„Müssen“ umgebogen oder das Allgemeine (die Vernunft), das
als „forderndes“ herausgestellt wird, in ein Einzelwesen und
zwar in ein besonderes Bewußtsein umgedichtet wird, wie wir
es noch weiter darlegen werden.
Die für die Wissenschaft so gefährliche Umdichtung von
Allgemeinem in Einzelwesen beruht allerdings auf einer dem
menschlichen Bewußtsein immer zufallenden Neigung, jedes
Besondere im Gegebenen überhaupt als ein Einzelwesen, da-
her auch Besonderes, das ein Allgemeines ist, als ein Einzel-
wesen zu begreifen. In dieser Neigung schreckt man selbst
davor nicht zurück, auch das besondere Allgemeine, das eine
Beziehung bedeutet, zum Einzelwesen umzustempeln. Zum
Beleg hierfür weise ich nur hin auf Platon, der die Beziehung
„gut“ zum Einzelwesen „das Gute“, und auf Bergson, der die
Beziehung „Nacheinander“ oder was dasselbe sagt, die Bezie-
hung „Zeit“ zu einem Einzelwesen „die Dauer“ erhoben hat.
3-
Was nun das „Sollen“ betrifft, so haben wir gesehen, daß
in ihm stets das Gebot eines Einzelwesens und zwar eines Be-
wußtseins steckt, sowie, daß die Einheit von Bewußtseinswesen,
in der allein vom Sollen die Rede sein darf, die Herrschaft
ist, in der also Gebieter und Gehorchender sich finden. Wenn
aber kein Gebieter sich findet, so ist auch kein Sollen zu fin-
den, und der Gehorchende soll wollen, was der Gebieter ihm
sagt. Zur Verdunkelung dieses Tatbestandes hat aber die vom
21
vorwissenschaftlichen Bewußtsein überlieferte Zweideutigkeit
des Wortes „Gesetz“ beigetragen, die mit der Zweideutigkeit
des Wortes „Sollen“ Hand in Hand geht.
Allgemein wird zugestanden, daß das Wort „Gesetz“ Not-
wendigkeit oder Müssen zum Ausdruck bringt, mag es sich
nun um sogenanntes „Naturgesetz“ oder um Gesetz einer
Lebenseinheit, also um „Sitte“ handeln. Naturgesetz und Le-
benseinheitgesetz stehen und fallen also beide mit der Not-
wendigkeit und dem Müssen. Ein Naturgesetz sagt: Der Stein
als nichtunterstützter muß zur Erde fallen, und das Lebens-
einheitgesetz sagt: Das menschliche Bewußtsein als Lebensein-
heitler muß die Sitte der Lebenseinheit wollen. Weder im Na-
turgesetz noch im Lebenseinheitgesetz steckt ein Gebot; Ge-
setz und Gebot liegen, wie auch Müssen und Sollen, nicht in
derselben Ebene; darum müssen wir uns hüten, Müssen und
Sollen zu vertauschen und von einem Gebot zu sprechen,
wenn man ein Gesetz meint und umgekehrt. So gibt es
kein Gesetz Gottes und andrerseits kein Gebot des Staates,
und die Rechtswissenschaft hat es mit Gesetzen, nicht mit Ge-
boten zu tun, die Theologie aber mit Geboten, nicht mit Ge-
setzen. Dort heißt es „du mußt“, hier „du sollst“, dort geht
es um die Lebenseinheit „Staat“, hier um die „Herrschaft
Gottes“. Daran also ist festzuhalten, daß ohne Notwendigkeit
oder Müssen von einem Gesetz nicht geredet werden darf.
Obwohl aber das Naturgesetz und das Staatsgesetz beide auf
Notwendigkeit und Müssen gestellt sind und mit „Sollen“ und
„Gebot“ nichts zu tun haben, unterscheiden sich die beiden
Gesetzquellen „Natur“ und „Staat“ doch darin, daß Staat eine
Lebenseinheit, „Natur“ eine Wirkenseinheit bedeutet, was eine
bemerkenswerte Verschiedenheit ausmacht. Denn „Natur“ und
„Staat“ bedeuten beide zwar besondere Einheit, aber die Natur
hat sowohl Dinge als auch Bewußtseins wesen, der Staat dagegen
nur Bewußtseinswesen und diese insbesondere nur als wollende
aufzuweisen. Wenn man nun von Naturgesetz als besonderem
22
Gesetz im Unterschied von Staatsgesetz redet, so pflegt man wohl
nur den Teil der Natur ins Auge zu fassen, der die Dinge (Kör-
perwelt) ausmacht. Diese Beschränkung auf die Dingwirklich-
keit als ,,Natur“ hat jedoch ihr Mißliches, indem sie leicht zu
der Meinung verleitet, als ob das menschliche Bewußtsein kein
Natur wesen wäre, also nicht unter einem Naturgesetze stände,
vor allem wenn es als wollendes Bewußtsein in Betracht kommt.
Wir suchen aber doch als Psychologen die Gesetze des mensch-
lichen Bewußtseinslebens, und vor allem auch des Wollens
in ganz demselben Sinne, wie der Physiker die Gesetze des Kör-
pers, klarzulegen. Halten wir uns indes einmal nur an die
Dinge, um den Unterschied von Naturgesetz und Lebensein-
heitgesetz der Bewußtseinswesen herauszustellen. Dieser ist
nicht etwra in der Notwendigkeit des Naturgesetzes zu suchen,
denn ohne „Notwendigkeit“ wäre das Lebenseinheitgesetz ja
gar kein Gesetz, sondern darin, daß für die Einzelwesen des
Naturgesetzes nur die eine Möglichkeit ihrer Veränderung be-
steht: „sie können nicht anders als“ dem Naturgesetz entspre-
chen. Anders steht es mit dem Lebenseinheitgesetz, wie wir
schon zeigten; es bietet das menschliche Bewußtsein in An-
sehung des Lebenseinheitgesetzes nicht nur die Möglichkeit,
diesem Gesetze entsprechend, sondern auch die andere, ihm
widersprechend zu wollen. So unterscheidet sich denn das Be-
wußtsein von den Dingen dadurch, daß es nicht nur, wie
dieses, zur „Natur“ d. h. zu den in Wirkenseinheit sich finden-
den Einzelwesen gehört, sondern als wollendes Bewußtsein auch
einer Lebenseinheit zugehören kann, deren Gesetzen aber das
menschliche Bewußtsein nicht nur die eine Möglichkeit, ihm
zu entsprechen, wie dem Naturgesetze, sondern auch die andere
Möglichkeit, ihm widersprechend zu wollen, entgegenbringt.
Diesen Umstand aber, durch den sich Naturgesetz und Lebens-
einheitgesetz deutlich unterscheidet, ist es zuzuschreiben, daß
man von jeher geneigt gewesen ist, dem Worte „Gesetz“ selbst
zweierlei Sinn zuzumuten, indem das Gesetz als „Naturgesetz“
23
allein für die Einzelwesen der Natur Notwendigkeit und Müs-
sen (nicht anders können) vorsieht, und das der Notwendigkeit
und des Müssens beraubte Lebenseinheitgesetz dadurch gleich-
sam entschädigt wird, daß man seinen Bewußtseins wesen auf-
grund der zwei Möglichkeiten, dem Gesetz entsprechend zu
wollen und widersprechend zu wollen, die Freiheit der Ent-
scheidung zuspricht.
Es sei darauf hingewiesen, daß die dem menschlichen Be-
wußtsein zukommenden zwei Möglichkeiten angesichts des
Lebenseinheitgesetzes irrigerweise vielfach betrachtet werden
einmal unter dem Gegensätze „Freiheit und Notwendigkeit“
und dann unter der Voraussetzung, solche Gesetze seien Ge-
bote. Die letzte Irrung wird auch durch den Umstand wohl
noch besonders nahegelegt, daß jene beiden Möglichkeiten für
das menschliche Bewußtsein auch gleicherweise bei der Einheit
„Herrschaft“, in der das „Gebot“ zuhause ist, wie bei der Le-
benseinheit vorausgesetzt sind. Diese Übereinstimmung bildet
die Brücke, die den Ahnungslosen vom „Gesetz“ zum „Gebot“
hinüberführt und dazu verleitet, die Lebenseinheit, ohne die
ja von „Gesetz“ für das wollende Bewußtsein überhaupt nicht
geredet werden dürfte, zum gebietenden Bewustseinswesen um-
zudichten. So einfach und natürlich erscheint vielen diese
Umdeutung von „Gesetz“ in „Gebot“, daß man, selbst wenn
erkannt ist, die Lebenseinheit sei doch nicht selbst ein Be-
wußtsein, könne also selbst nichts gebieten, nicht davon lassen
mag, das Lebenseinheit-„Gesetz“ für ein Gebot auszugeben.
Freilich schlägt man dabei unvermerkt die Volte, daß als Ge-
bieter statt der unbrauchbaren Lebenseinheit die gesamten zur
Lebenseinheit gehörigen Bewußtseinswesen eingesetzt werden
in dem Sinne, daß jedes Bewußtsein dieser Einheit nun so-
wohl Gebieter der anderen, als auch Diener der anderen sei.
Jedoch diese Ausflucht führt nur weiter ins Dunkel hinein;
niemand kann weder Gebieter noch Untertan in einer Lebens-
einheit sein, da diese nur gleichgestellte Bewußtseinswesen
24
aufzuweisen hat, und die Herrschaft machte auch dadurch nicht
etwa der Lebenseinheit Platz, daß in dieser Einheit von Bewußt-
seinswesen jedes sowohl Gebieter als auch Diener hieße. Gibt
doch die Behauptung, ein Bewußtsein sei in einer und der-
selben Einheit Gebieter und Diener zugleich, der anderen nichts
nach, daß ein Ding zugleich hier und dort sei: beides ist eben
ein Widerspruch in sich. Auf dasselbe kommt es hinaus, wenn
man für die Behauptung, in der Lebenseinheit sei jedes Be-
wußtsein des anderen Gebieter und Diener zugleich, die andere
einsetzt, daß jedes Bewußtsein sich selbst Gebieter und Diener
zugleich sei. Hier überschlägt sich in der Tat die kühne Be-
hauptung; denn nicht genug, daß die Einheit, die doch aus
einer Mehrzahl von Bewußtseinswesen besteht, augenscheinlich
zum fünften Rad am Wagen gemacht ist, da angeblich ja das
Herrschaftsverhältnis „Gebieter und Diener“ schon in dem
einzelnen Bewußtsein für sich allein bestehen soll. Nicht ge-
nug jedoch hiermit mutet jene Behauptung dem einzelnen
Bewußtsein auch noch zu, daß es „du“ zu sich selbst sage,
als Gebieter zu sich selbst als Diener „du sollst“ sage. Hier-
mit wäre aber nicht nur die Lebenseinheit überhaupt völlig
überflüssig gemacht, sondern auch noch dazu das einfache
Einzelwesen „menschliches Bewußtsein“ zu einem Doppel-
wesen (Doppelich) gestempelt, wie uns dies in der Kulturge-
schichte gar häufig entgegentritt.
Dem gegenüber halten wir fest an dem Sinn des Wortes
„Gesetz“ sowohl für die Einzelwesen der Wirklichkeit über-
haupt (Naturgesetz), als auch für die in einer Einheit gleich-
gestellten Bewußtseinswesen (Lebenseinheitgesetz) und stellen
fest, daß der Lebenseinheitler in demselben Sinne unter dem
Gesetz steht, wie das Einzelwesen schlechtweg unter dem Na-
turgesetze, daß demnach der Lebenseinheitler als solcher nicht
anders wollen kann, demgemäß so wollen muß, wie das Lebens-
einheitgesetz lautet, gleich wie das Einzelwesen nicht anders
sich verändern kann, als wie das Naturgesetz lautet. Hier
25
wie dort ist die Notwendigkeit Trumpf, weder in der Wir-
kenseinheit „Natur“, noch auch in einer Lebenseinheit gibt
es Sollen, alles ist Müssen. Also weder jene noch
diese Einheit ist Herrschaft und hat mit Gebot zu tun, die
Einzelwesen des Naturgesetzes und ebenso die des Lebensein-
heitgesetzes sind schlechthin gleichgestellte Wesen.
Über dieser Einstimmung von Naturgesetz und Lebenseinheit-
gesetz in ihrer abweisenden Stellung zu „Gebot“ und „Sollen“
dürfen wir jedoch ihrer Verschiedenheit nicht vergessen, daß,
wie wir dargelegt haben, die Einzelwesen bei dem Naturgesetz
nur die eine Möglichkeit, nämlich ihm entsprechend sich zu ver-
ändern, mitbringen, während die Bewußtseinswesen, trotzdem
sie, wenn sie Lebenseinheitler sind, zwar nur die eine Mög-
lichkeit haben, nämlich dem Lebenseinheitgesetz entsprechend
zu wollen, doch als Bewußtsein schlechtweg die beiden Mög-
lichkeiten zu wollen mit sich führen. Daraus erklärt es sich,
daß uns absonderlich anmuten würde, wenn beim Naturgesetz
noch besonders betont würde, daß es nicht als Gebot gedeutet
werden dürfe. Erscheint dies doch darum allen selbstvertänd-
lich, weil beim Naturgesetz jene zwiefache Möglichkeit für
das Einzelwesen nicht besteht, ohne die Sollen überhaupt
keinen Sinn hat. Schon dieser Umstand reicht hier also hin,
um der Neigung, aus dem „Gesetz“ ein Gebot herauszuhören,
von vorneherein den Riegel vorzuschieben. Anders steht es
aber bei dem Lebenseinheitgesetz, das eben mit dem Gebot
darin zusammentrifft, daß für das in Frage kommende Wollen
des Einzelwesens die beiden Möglichkeiten vorausgesetzt sind.
Freilich ist dabei nicht unbeachtet zu lassen, daß das „Gebot“
nicht auch den Gebieter in der Herrschaftseinheit, sondern nur
den Diener, das Gesetz dagegen alle Bewußtseins wesen der Le-
benseinheit ohne Ausnahme trifft.
Die Verwandtschaft zwischen Gesetz und Gebot in Ansehung
der beiden Möglichkeiten läßt es gewiß verstehen, daß man
vielfach versucht ist, im Lebenseinheitgesetz ein Gebot zu sehen
und demgemäß das für die Lebenseinheitler bestehende Müssen
in ein Sollen zu wandeln, indem man allein auf jene beiden
Möglichkeiten den Blick einstellt, die ganz besonders beim
Gebot mit dem Zwangswollen des „dienenden1' Bewußtseins
im Vordergrund stehen. Freilich rächt sich die Verkehrung
von Gesetz in Gebot, von Müssen in Sollen immer dadurch,
daß nun auch an Stelle der Lebenseinheit, aus der allein das
Gesetz fließt, ein Herrscher, der das Gebot gibt, einrückt und
an die Stelle der Lebenseinheit tritt. Keine Lebenseinheit kennt
Gebot und Sollen; hat doch, wie die Natureinheit als solche,
auch jede Lebenseinheit ausnahmslos unter dem „Gesetz“ ste-
hende Einzelwesen aufzuweisen. Jede Herrschaft dägegen ist
eine Einheit, deren Bewußtseinswesen sich scheiden in Gebieter
und Diener, Herr und Knecht.
Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die beiden Ein-
heiten, Herrschafts- und Lebenseinheit, darin übereinstimmen,
daß für beide ihre Einzelwesen als wollende Wesen in Betracht
kommen, also sowohl das Gebot der Herrschaft als auch das
Gesetz der Lebenseinheit immer nur Bewußtseinswesen betrifft,
von denen vorausgesetzt ist, daß sie dem Gebot oder dem
Gesetze nicht nur entsprechend, sondern auch widersprechend
wollen können. Dies ist für das Gebot ohne weiteres klar, für
das Lebenseinheitsgetz aber, das ja kein Gebot ist, noch nicht.
Wir haben aber auch schon darauf hingewiesen, daß das
Lebenseinheitgesetz, wenn es auch, wie das Naturgesetz, mit
vollem Recht „Gesetz“ genannt wird, also Müssen und nicht
Sollen seinen Einzelwesen zufällt, sich von dem Naturgesetz
doch dadurch unterscheidet, daß seinen Einzelwesen die beiden
Möglichkeiten, dem Gesetz entsprechend oder widersprechend
zu wollen, zukommen.
Das Bewußtsein also muß, wenn es Lebenseinheitler ist, das
Gesetz seiner Lebenseinheit wollen, mit anderen Worten,
Lebenseinheitler sein heißt Lebenseinheit wollen, heißt, dem
Gesetz dieser Lebenseinheit entsprechend wollen, denn auf
27
dieses Wollen aller zu der Lebenseinheit gehörigen Bewußt-
seinswesen ist die Lebenseinheit selbst und damit das Lebens-
einheitlersein jedes menschlichen Bewußtseins gestellt.
Stände es nun mit dem menschlichen Bewußtsein so, daß
es als Bewußtsein schlechtweg auch Lebenseinheitler wäre,
Lebenseinheitler sein gleichsam eine besondere Bestimmtheit
menschlichen Bewußtseins bedeutete oder, wenn auch dies nicht
zugestanden werden könnte, doch jedes Bewußtsein, sobald es
einmal Lebenseinheitler geworden, d. h. eine Lebenseinheit erst
einmal gewollt hätte, auch für alle Folgezeit ihr zugehören,
also fortan dem Lebenseinheitgesetz entsprechend wollen müßte,
so wäre dieses Gesetz in der Tat ein „Naturgesetz“ des wollenden
Bewußtseins zu nennen. Wie das Naturgesetz seine Einzel-
wesen nur in der einen Möglichkeit, sich ihm entsprechend zu
verändern, findet, so bliebe auch das menschliche Bewußtsein,
sobald es nur einmal die Lebenseinheit gewollt hat, in seinem
Wollen für immer dem Lebenseinheitgesetz verhaftet, bliebe
mit anderen Worten als wollendes Bewußtsein unentwegt
dieser Lebenseinheitler. Jede Einheit von Bewußtseinswesen
ist ja eben auf Wollen gestellt, die Herrschaft aber auf das
Wollen des Gebieters, die Lebenseinheit auf das einige Wollen
ihrer Bewußtseinswesen.
Zu einer Lebenseinheit gehört nun jedes Bewußtsein, das
dem Lebenseinheitgesetze entsprechend will oder kurzweg die
Lebenseinheit will. „Lebenseinheitler sein“ und „Lebensein-
heitwollen“ bedeutet ein und dasselbe, und wer in diesem Sinne
zu einer Lebenseinheit gehört, muß ihrem Gesetze entsprechend
wollen. Dies aber soll keineswegs etwa sagen, daß Lebensein-
heitlersein notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit, dem
Lebenseinheitgesetze ertsprechend zu wollen, sei, dieses Wollen
demnach notwendige Folge des Lebenseinheitlerseins sei, son-
dern es bringt nur zum Ausdruck: dem Lebenseinheitgesetze
im Wollen entsprechen und Lebenseinheitler sein ist ein und
dasselbe. Wer zu einer Lebenseinheit gehört, muß die Lebens-
28
einheit wollen, denn auf diesem Wollen beruht die Lebens-
einheit selbst, das dem Gesetz der Lebenseinheit entsprechende
Wollen trägt die Lebenseinheit.
Trotz der gleichen Voraussetzung aber, die Lebenseinheitgesetz
und Gebot zeigen, daß nämlich den betreffenden Bewußtseins-
wesen die zwei Möglichkeiten, entsprechend oder widersprechend
zu wollen, eignen und sie somit zum Naturgesetz in Gegensatz
stehen, stellt sich das Lebenseinheitgesetz doch wieder zur Seite
des Naturgesetzes und dem Gebote gegenüber, indem es Not-
wendigkeit und Müssen für seine wollenden Bewußtseinswesen
in Anspruch nimmt: Ein anderes ist es „wir sollen dies wollen“
und ein anderes „wir müssen dies wollen“.
Besinnen wir uns nun weiter auf den Unterschied von Sollen
und Müssen, so findet sich, daß „Sollen“ immer ohne alle
Bedingung dasteht, also kein „wenn“ kennt. Darum gibt es
eben keinen hypothetischen Imperativ, und kategorischer Im-
perativ ist ein überschüssiges Wort. Jedes Müssen dagegen hat
immer ein „wenn“ bei sich, ist immer an eine Bedingung
geknüpft. Wir sagen: „die Figur muß als Winkelsumme 2r
aufweisen, wenn sie ein Dreieck ist,“ was wir auch so kurz
ausdrücken: „die Dreieckswinkelsumme muß 2r sein“; ferner
heißt es, „dieses Einzelwesen, das ich aus dem Fenster werfe,
muß zur Erde fallen, wenn es aus Eisen ist“, im Kurzwort:
„Das aus dem Fenster geworfene Eisen muß zur Erde fallen“.
Jeder Satz, der ein Sollen, ein Gebot ausdrückt, steht dagegen
für sich da und ruft nicht nach einem Warum. Darum tötet
auch, wann immer ein „du sollst“ an ein Bewußtsein gerichtet
wird, dessen Frage „warum?“ sofort dieses Wort als ein Gebot,
denn die Frage beweist, daß Herrschaftseinheit, ohne die das
„du sollst“ keinen Sinn hat, nicht oder wenigstens nicht mehr
besteht, indem das Bewußtsein als Untertan oder Diener, wie
seine Frage „warum?“ unmißverständlich uns lehrt, fehlt.
Mag auch das andere Bewußtsein den Soll-Satz noch verlauten
lassen, was ist Gebieter ohne Diener, was Herr ohne Knecht?
29
Jeder Satz andrerseits, der ein „Gesetz“, also ein Müssen aus-
drückt, sei es Naturgesetz, sei es Lebenseinheitgesetz, löst mit
Grund die Frage „warum?“ aus, die eben auf das in jedem
Gesetz steckende „wenn“ und dessen Klarstellung zielt. Hieraus
ist ersichtlich, welch unausiüllbarer Spalt zwischen Müssen
und Sollen, zwischen Gesetz und Gebot gähnt, insbeson-
dere auch zwischen Lebenseinheitgesetz und Gebot trotz
der Doppelverwandtschaft, daß beide nur mit Bewußtseinswesen
und zwar auch nur mit wollenden Bewußtseinswesen zu tun
haben und beide für ihre Bewußtseinswesen — beim Gebot
freilich nur für die Diener, beim Gesetz dagegen für alle —
die zwei Wollensmöglichkeiten, dem Gebot oder dem Gesetz
zu entsprechen und zu widersprechen, voraussetzen.
Ist nun die Sitte einer Lebenseinheit zweifellos für den Lebens-
einheitler Gesetz, so kann sie nicht Gebot sein, was auch daraus
schon hervorgeht, daß die Sitte alle der Lebenseinheit zugehörigen
Einzelwesen in gleichem Sinne angeht, während ja das Gebot
sich nur in einer Einheit findet, in der nicht alle gleich ein-
gestellt sind, da in ihr außer Diener auch Gebieter sich findet.
Daß die Sitte nicht Gebot, sondern Gesetz ist, nicht ein Sol-
len, sondern ein Müssen für den Lebenseinheitler bedeutet, in
dieser Wahrheit darf man sich nicht irremachen lassen, wenn
nach alter irrender Übung die Sitte oder das Gesetz den zu ihr
gehörigen Bewußtseinswesen, insbesondere angesichts der zwie-
fachen Möglichkeit, zu entsprechen oder zu widersprechen, im
Wortkleide des „Sollens“ und „Gebotes“ vielfach vorgetragen
wird. Wann immer dies geschieht, läßt sich unschwer nach-
weisen, daß man entweder die Lebenseinheit irrigerweise als
ein gebietendes Bewußtseinswesen behandelt, so daß eben die zu-
gehörigen Bewußtseins wesen in der Tat als Diener in einer Herr-
schaft und nicht in einer Lebenseinheit gedacht sind, oder, daß
man dem Gesetz jenen falschen Mantel „hypothetischer Impe-
rativ“ umgehängt hat. Im zweiten Falle wäre das Gesetz freilich
„Gesetz“ geblieben und nicht gegen „Gebot“ ausgetauscht. Wir
50
wissen ja, daß der sogenannte hypothetische Imperativ gar kein
Sollen, sondern ein Müssen darstellt, also nicht Unbedingtes,
sondern Bedingtes vorbringt: „Da mußt dies tun oder nicht
tun, wenn du als Lebenseinheitler bestehen und ungestraft
bleiben willst.“ Keinesfalls aber steckt im Gesetz je ein Ge-
bot und die Lebenseinheit hat trotz der zwiefachen Wollens-
möglichkeit seiner Mitglieder oder Glieder ebensowenig wie
die „Natur“ mit einem Sollen zu tun, sondern, wie diese
immer nur mit einem Müssen. Wir können demnach den
Unterschied von Lebenseinheit und Herrschaftseinheit, die beide
nur das wollende Bewußtseinswesen betreffen, kurz dahin
kennzeichnen, daß jene auf ein Wollenmüssen, diese auf
ein Wollensollen abstellt.
So sehr aber auch „Gesetz“ der Lebenseinheit von „Gebot“
der Herrschaftseinheit abrückt, so dürfen wir doch nicht ver-
gessen, wie beide wieder zusammen gegen „Naturgesetz“ stehen,
indem sie beide auf ein Wollen ihrer Einzelwesen abzielen,
also nur mit Bewußtseinswesen, und zwar mit diesen auch nur,
sofern sie in einer Einheit sich finden, zu tun haben, und jede
dieser Einheiten von Bewußtseinswesen immer und allein auf
ein Wollen gestellt ist.
Von der Einheit, die wir Lebenseinheit heißen, wissen wir
nun, daß sie auf den einigen Willen aller ihr zugehörigen Be-
wußtseinswesen gestellt ist, so daß Lebenseinheitlersein auch
Lebenseinheitwollen, und umgekehrt auch Lebenseinheitwollen
wieder Lebenseinheitlersein bedeutet. Beides ist eben untrenn-
bar zusammen, so daß wir auch sagen, wer Lebenseinheitler
ist, muß die Lebenseinheit wollen, und wer Lebenseinheit nicht
will, kann Lebenseinheitler nicht sein. Dieses „Nichtwollen“
wäre freilich dem menschlichen Bewußtsein nicht möglich,
wenn es nicht Einzelwesen, d. i. Veränderliches wäre oder an-
ders ausgedrückt, wenn ihm als Bewußtsein nicht jene zwie-
fache Wollensmöglichkeit zustände, entweder die Lebenseinheit
zu wollen oder auch nicht zu wollen.
31
Wie mit der Lebenseinheit, so steht es auch mit der Herr-
schaftseinheit. In dieser Einheit, die als solche freilich auf
das Wollen des Herrn allein gegründet ist, heißt nicht nur
Herrschaftseinheitwollen Gebietersein, so wie Gebietersein
Herrschaftseinheitwollen, sondern solche Notwendigkeit des
Zusammens trifft auch für das Knechtsein und Herrschafts-
einheit wollen zu. In beiden Fällen zeigt sich auch
bei der Herrschaftseinheit, daß Gebieter wie Knecht als
veränderliches Bewußtsein in der zwiefachen Wollensmög-
lichkeit stehen, die Herrschaftseinheit weiterhin zu wollen,
also Gebieter bzw. Knecht weiterhin sein zu wollen oder
nicht.
Demnach ist nicht nur das Wollen eines jeden Lebensein-
heitlers, sondern auch das eines jeden zu einer Herrschaft
gehörigen Bewußtseinswesens Einheitwollen. In dem Ein-
heitwollen treffen somit alle Bewußtseinswesen zusammen,
unbeschadet der sonstigen Verschiedenheit dieser Einheiten.
Bei dieser Verschiedenheit sei besonders darauf hingewiesen,
daß die gewollte Einheit in der einen Gruppe „Mittel zum
Zweck“, in der andern aber Selbstzweck ist. Die erste
Gruppe bilden die Herrschaftseinheiten und die von uns als
„Gesellschaft“ bezeichnete Lebenseinheit, die zweite machen
allein die von uns „Gemeinschaft“ genannten Lebenseinhei-
ten aus.
Vor allem sei aber noch einmal betont, daß wer immer einer
Einheit von Bewußtseinswesen zugehört, sei sie Herrschaft, sei
sie Gesellschaft oder Gemeinschaft, eben diese Einheit will, zu
der er gehört, demnach dem Gebote oder dem Gesetz ent-
sprechen will.
4.
Wir haben, als wir Naturgesetz, Lebenseinheitgesetz und Ge-
bot miteinander verglichen, festgestellt, daß die zwei letzten
sich gegenüber Naturgesetz darin zusammenfinden, daß beide
32
das Bewußtsein als solches mit den zwei Möglichkeiten, in
seinem Wollen dem Gesetz oder dem Gebote zu entsprechen
oder nicht zu entsprechen, behaftet voraussetzen. Dieser beiden
Möglichkeiten ist sich auch der Einheitler, sei er Herrschaft-
einheitler, sei er Lebenseinheitler, selbst bewußt, ist sich also
bewußt, daß er, der als Einheitler dem Gesetz oder dem Ge-
bot entsprechend wollen muß, doch anders wollen kann und
auch anders unter anderen Umständen handeln wird. Solange
er allerdings Einheitler ist, das heißt, dem Gesetze der Lebens-
einheit entsprechend will, will er selbstverständlich nicht zu-
gleich auch dem Gesetz oder dem Gebot widersprechend. Als
Einheitler weiß sich das menschliche Bewußtsein, so klar ihm
auch die Möglichkeit, nicht mehr Einheitler zu sein und
dem Gesetz oder dem Gebote widersprechend zu wollen, vor-
schweben mag, ja eben gerade dann der besonderen Ein-
heit zugehörig und in diese Einheit gebunden mit seinem
Wollen.
Dieses „in eine Einheit, sei sie Herrschaft, sei sie Lebens-
einheit, Sichgebundenwissen“ nennen wir das Pflichtbewußt-
sein, das also das Wissen des einzelnen Bewußtseins von jener
für sein Wollen bestehenden doppelten Möglichkeit, dem Ge-
setze und dem Gebote der Einheit zu entsprechen und zu
widersprechen, zur Voraussetzung hat. Wir sprechen somit von
„Pflicht“ als dem Gebundensein des Bewußtseins in eine Ein-
heit, müssen aber nicht vergessen, daß „Pflicht“ eine Angele-
genheit des wollenden Bewußtseins, und das Wort „unbewußte
Pflicht“ ein Widerspruch in sich ist.
Dieses mit seinem Wollen in eine Einheit von Bewußtseins-
wesen Gebundensein (SichgebundenwissenJ steht nun in den
einzelnen Fällen solchen Pflichtwollens, in denen es sich ja
immer um die betreffende Einheit als Gewolltes handelt, ent-
weder im Lichte der Lust oder im Lichte der Unlust. Früher
ist schon darauf hingewiesen, daß wir in solchem Fall das
eine Mal die gewollte Einheit als „Mittel zum Zweck“, das
3 Kehmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
33
andere Mal diese Einheit als Selbstzweck wollen.1 Ist aber
eine solche Einheit von Bewußtseinswesen Selbstzweck, so
muß sie dem wollenden Bewußtsein selbstverständlich im
Lichte der Lust stehen,1 2 und da nun die Lebenseinheit, die
wir „Gemeinschaft“ nennen, für ihre Glieder ausnahmslos
Selbstzweck ist, so müssen diese, wie wir uns auch ausdrücken
können, „gerne“ wollen, was das Gesetz der besonderen Ge-
meinschaft sagt. Wir nennen aber das Wollen, in dem eben
das Gewrollte im Lichte der Lust steht, „freies“ Wollen im
Gegensatz zum gezwungenen oder Zwangswollen.3
Es gibt nun viel Wollensfälle und insbesondere auch Fälle
des hier in Frage kommenden Einheitwollens, in denen dem
Bewußtsein die Einheit als solche für sich im Lichte der Un-
lust steht. Diese besonderen Fälle sind natürlich nur möglich,
wenn das ganze Gewollte des besonderen Augenblicks ein „Rei-
henzweck“ ist, wenn also die gewollte Einheit Mittel in die-
sem Reihenzweck ist.
Aber auch in den Fällen, wenn das Gebot oder das Gesetz
der Einheit als Mittel in einem Reihenzweck sich findet, steht
keineswegs immer diese Einheit im Lichte der Unlust, sondern
vielfach im Lichte der Lust. Wir nennen aber das besondere
Wollen, bei dem als Mittel zum Zweck diese Einheit im Lichte
der Unlust steht, ein Zwangs wollen im Gegensatz zu dem
freien oder ungezwungenen Wollen. Zu dem frei Gewollten
gehört demnach alles, was dem Wollenden im Lichte der Lust
steht, einerlei ob es Selbstzweck ist oder Mittel zum Zweck.
Nun ist uns auch die übliche Rede von „bitterer und süßer
Pflicht“ verständlich; eine WTillenshandlung, die dem in eine
Einheit gebundenen menschlichen Bewußtsein als „pflichtige“
1 Die Stoiker haben, wenn sie zwischen xa&ijxov und xazoQ&oifxa unter-
schieden, diesen Unterschied von „Mittel zum Zweck“ und „Selbst-
zweck“ im Auge gehabt.
2 Siehe Rehmke „Die Willensfreiheit“, S. io ff., 75 ff.
3 Siehe Rehmke „Die Willensfreiheit-, S. 97 ff.
34
obliegt, aber für sich dem Bewußtsein im Lichte der Unlust
steht, nennt man wohl eine „bittere Pflicht“, die man, wie
überhaupt ja alles im Lichte der Unlust Stehende, nicht wollen
würde, wenn sie nicht als „Mittel in einem Reihenzweck“ auf-
träte, der als der einheitliche Zweck selbstverständlich im Lichte
der Lust steht, so daß denn nun auch jenes Mittel gewollt
wird. „Süße Pflicht“ heißt dagegen, was dem betreffenden
Bewußtsein auch für sich im Lichte der Lust steht und dessen-
ungeachtet nicht nur Selbstzweck, sondern auch Mittel zum
Zweck sein kann.
Pflicht überhaupt aber findet nur Platz bei dem in eine Ein-
heit von Bewußtseinswesen gebundenen Bewußtsein als wollen-
dem Wesen. Alles „Pflichtwollen“ ist daher immer für das
Bewußtsein in einer Einheit von Bewußtseinswesen, zu der es
selbst gehört, verankert, Pflichtbewußtsein kann demnach nur
haben, wer sich in solche Einheit, sei sie Herrschaft, sei sie
Gesellschaft oder Gemeinschaft, gebunden weiß. Wir können
daher Kant in seiner Auffassung von Pflicht nicht folgen, so-
wohl darin nicht, daß er das Pflichtbewußtsein, anstatt auf eine
Einheit von Bewußtseinswesen, auf ein Allgemeines, die Ver-
nunft des menschlichen Bewußtseins, sich gründen läßt, und
ferner darin nicht, daß er alles Pflichtbewußtsein dem „Sol-
len“ zuweist, Pflicht also immer auf Wollensollen, niemals
auf Wollenmüssen einstellt, mit anderen Worten, in allen
Fällen auf ein Gebot, niemals auf ein Gesetz abstellt. Kants
kategorischer Imperativ ist zudem eine Behauptung, die ohne
alle Begründung dasteht. Wir hören wohl, das „du sollst“ sei
eine Tatsache für jedes menschliche Bewußtsein, aber es
bleibt uns eine „brutale“ Tatsache, da doch jedes „Sollen“
zwei Bew’ußtseinswesen, den Gebieter und den Diener voraus-
setzt. Diese unumgängliche Voraussetzung wenigstens
zweier Bewußtseinswesen fehlt bei Kant, er weist sie sogar zu-
rück für seine Ethik. Da er nun aber begreiflicherweise nicht
ganz von dem Zweierlei, das auch er offenbar aus dem „Sol-
3'
35
len“ heraushört, loskommen kann, so setzt er für das von ihm
gestrichene gebietende andere Bewußtsein die Vernunft
des menschlichen Bewußtseins, das nach ihm eine Einheit von
Vernunft und Sinnlichkeit bedeutet, also zwar auch eine Einheit,
aber nicht von Einzelwesen, sondern von zwei Allgemeinen,
„Vernunft und Sinnlichkeit“, ist.
Ohne an dieser Stelle Kants Meinung, daß das menschliche
Bewußtsein eine Einheit von „Vernunft und Sinnlichkeit“ sei,
näher zu prüfen, wollen wir nur darauf hinweisen, daß ein
„du sollst“, also ein Befehl (Imperativ) nimmermehr einer
Zweiheit von Bewußtseinswesen entraten kann; aber was auch
immer sonst unter „Vernunft und Sinnlichkeit“ verstanden
sein mag, zwei besondere Einzelwesen können diese Worte
schlechterdings nicht meinen, es sei denn, daß es wissenschaft-
lich berechtigt ist, den Unterschied von Allgemeinem und Ein-
zigem aufzuheben und Allgemeines auch zu Einzigem zu ma-
chen. Ist es aber unzulässig, Allgemeines zu Einzigem zu
stempeln, so ist damit auch der Kantischen Lehre vom kate-
gorischen Imperativ das Urteil gesprochen. Aber gerade der
Umstand, daß Kant seine Ethik unbeirrt auf die reine Ver-
nunft abstellt, ohne dem „Imperativ“, also dem „Sollen“ den
Abschied zu geben, zeigt deutlich, wie, ihm freilich unbe-
merkt, hinter dem Allgemeinen „menschliche Vernunft“, das
angeblich befiehlt, das göttliche Bewußtsein als befehlendes
Einzelwesen steht und dem kategorischen Imperativ die nötige
Stütze gibt. So wäre tatsächlich Kants Ethik eine Religionsethik,
was er selbst freilich durchaus vermeiden wollte. Aber soll über-
haupt der kategorische Imperativ Kants irgendwie aus seiner
Notlage herauskommen, so gibt es keine andere Rettung als
Gott, der das „du sollst“ spricht, und die Pflicht, die Kant in
den Mittelpunkt seiner Ethik stellt, ergibt sich dann aus der
Herrschaftseinheit, in der Gott der Gebieter ist.
Das Pflichtbewußtsein aber überhaupt, das freilich nicht nur
beim Sollen, also in der Herrschaftseinheit, sondern auch in
jeder Lebenseinheit sich findet, nennen wir auch das Gewissen,1
und zwar sprechen wir von dem Pflichtbewußtsein insbeson-
dere als von dem Gewissen, wenn ein menschliches Bewußt-
sein entweder von ihm Gewirktes (Willenstat, Handlung) oder
auch ein von ihm Gewünschtes als pflichtgemäß oder pflicht-
widrig beurteilt. Wann immer vom Gewissen die Rede ist,
haben wir es also mit pflichtbewußtem Geiste zu tun, der
über von ihm entweder Gewirktes oder Gewünschtes in An-
sehung seiner Pflicht urteilt; im ersten Fall schaut er in seine
Vergangenheit, im zweiten in seine Zukunft. Daß im ersten
Fall sein Urteilen bei Pflichtwidrigem mit Reue und Schmerz,
bei Pflichtgemäßem mit Befriedigung und Freude verknüpft
ist, ergibt sich schon ohne weiteres daraus, daß der urteilende Geist
selbst Pflichtbewußtsein hat. Aus demselben Grunde ist auch
leicht verständlich, daß im zweiten Fall das betreffende Be-
wußtsein das pflichtwidrig Gewünschte mit Mißbilligung, das
pflichtgemäße mit Billigung begleitet.
In allen Gewissens fällen haben wir es mit dem aus sei-
nem Pfichtbewußtsein heraus urteilenden menschlischen Geiste
zu tun; nicht aber ist etwa das Gewissen oder Pflichtbewußt-
sein selbst das Urteilende, und es ist ein gar schiefer Ausdruck,
wenn man von dem urteilenden und verurteilenden Gewissen
spricht. Denn „Pflichtbewußtsein“ bedeutet nicht ein Bewußt-
seinswesen, sondern „sich pflichtig wissen“, es bezeichnet also
ein Wissen, indessen nur Bewußtseinswesen, nicht aber Wis-
sen kann urteilen. Ein Bewußtsein freilich kann Pflichtbe-
wußtsein haben und dann auch aus diesem heraus urteilen
d. h. Gewissen zeigen. Der Umstand, daß das Pflichtbewußt-
sein als Gewissen den menschlichen Geist in einer Doppelstel-
1 Mit Recht spricht Hermann Schwarz, „Einführung in Fichtes Reden*,
vom Vaterlandsgewissen, und mit Recht lehnt er die Rede vom „Welt-
gewissen* ab; denn Vaterland ist in der Tat eine besondere Einheit
menschlicher Bewußtseinswesen, wer aber kennt die besondere Ein-
heit aller menschlichen Bewußtseinswesen der Welt?
37
lung zeigt, als den aus Pflichtbewußtsein heraus urteilenden
und zugleich auch beurteilten Geist, was ihm freilich auf
Grund des Selbstbewußtseins ohne Frage möglich ist: dieser
Umstand hat dazu verführt, aus dem aus Pflichtbewußtsein
als „Gewissen“ heraus urteilenden Bewußtsein ein besonderes
Bewußtseinswesen zu erdichten, das demselben beurteilten Be-
wußtsein als einem anderen Bewußtseinswesen seine Zustim-
mung oder Mißbilligueg oder Mahnung ausspricht. So wird
aus der Doppelstellung des selbstbewußten Geistes im Pflicht-
bewußtsein eben ein doppeltes Bewußtsein erdichtet, oder, bes-
ser gesagt, die Doppelstellung des einfachen Bewußtseinswesens
im Selbstbewußtsein veranlaßt zu der Dichtung zweier Bewußt-
seinswesen, und so spricht man denn von dem „Gewissen in mir,
das mich anklagt, mahnt“ usw.
Nennen wir „Pflicht“ das Gebundensein wollenden Bewußt-
seins an Gesetz oder an Gebot einer Einheit, zu der es selbst
gehört, so besteht überall keine Pflicht ohne das Pflichtbewußt-
sein; in diesem ja gründet sich, was wir Pflicht nennen, und
pflichtig ist im eigentlichen Sinn nur, wer sich gebunden
wreiß an Gesetz oder an Gebot. Pflicht wollen nennen wir da-
her das Wollen menschlichen Geistes aus dem Bewußtsein her-
aus, zu einer Einheit von Bewußtseinswresen zu gehören, sei
sie Herrschaft — sei sie Lebenseinheit. Dieses Pflichtwollen aber
ist nun entweder gezwungenes oder freies Wollen. Keineswegs
steht es so, wie man vielfach annimmt, daß das Pflichtwollen
menschlichen Geistes, der sich allerdings immer als pflichtbe-
wußter an das Gesetz oder das Gebot seiner Einheit gebun-
den weiß, in alle Wege Zwangs wollen sei. Dieses Gebun-
densein des Bewußtseins führt freilich stets Notwendigkeit
mit sich für das Wollen des Bewußtseins, das der betreffenden
Einheit zugehört, eine Notwendigkeit aber, die sich gleicher-
weise verträgt mit Willenszwang und Willensfreiheit. Immer-
hin ist so viel richtig, daß eines menschlichen Bewußtseins
Pflichtwollen, das auf das Wollen eines Gebieters gestellt ist,
38
also das Pflichtwollen in der Herrschafteinheit, auf alle Fälle
ein Zwangswollen für den Gehorchenden bedeutet. Man spricht
zwar auch wohl von freiwilligem Gehorsam, also von freiem
(ungezwungenem) Wollen des Gehorchenden. Die Tatsache,
daß ein menschliches Bewußtsein, das Wollen, das ein anderes
von ihm will, von selbst schon bietet und zwar als freies (un-
gezwungenes) Wollen, bestreiten wir keineswegs, aber wir wei-
sen darauf hin, daß solchem freiwollenden Bewußtsein sein
Wollen tatsächlich nicht geboten gilt, es selbst sich nicht
einer Einheit, deren Herrscher das Wollen geböte, zugehörig
weiß. Wäre dies letzte nämlich der Fall, so wüßte das Be-
wußtsein sich unter einem Zwange, ohne den nun einmal
ein wollendes Bewußtsein sich niemals in einer Herrschafts-
einheit weiß. Hiernach ist auch die Rede „aus Liebe zum
Herrn (Herrscher) seine Gebote tun“, die, beim Worte genom-
men, ein Widerspruch in sich ist, dahin richtig zu stellen, daß
sie sage „aus Liebe zu einem Bewußtsein das tun, was dieses
Bewußtsein demjenigen, das mit ihm eine „Herrschafteinheit“
ausmachte, gebieten würde“. Aber wer aus Liebe zu einem
anderen Bewußtsein tut, was dieses getan wissen will, zeigt
deutlich, daß er nicht unter dem Zwange des Gebotes, wie
überhaupt nicht in einer Einheit mit anderem Bewußtsein
sich weiß; denn ein anderes Bewußtsein „lieben“ heißt hier
„sich eins mit ihm wissen“ und dies sagt keineswegs dasselbe,
wie „sich in einer Einheit mit ihm wissen“.
Während also die Einheit von Bewußtseinswesen, die wir
„Herrschaft“ nennen, das in der Pflicht sich wissende Be-
wußtsein immer nur als gezwungen wollendes aufzuweisen hat,
stellt sich hierzu anders die Einheit von Bewußtseinswesen, die
wir Lebenseinheit nennen, die sich überdies noch besondert
in die Lebenseinheit „Gesellschaft“ und die Lebenseinheit „Ge-
meinschaft“. Die erste bietet für ihre Mitglieder die beiden
Möglichkeiten, gezwungen oder frei zu wollen, was das Gesetz
bestimmt. Es sei hierbei daran erinnert, daß jede Gesellschaft
39
einzig auf das gemeinsame Mittel-Wollen seiner Mitglieder ge-
stellt ist. Dieses von edlen Mitgliedern des menschlichen Be-
wußtseins als Mittel Gewollte kann nun entweder frei oder ge-
zwungen gewollt sein. Das Pflichtwollen in jeder „Gesellschaft“
ist darum entweder Zwangswollen oder freies Wollen. Wer z. B.
einem Ruderklub zugehört, muß beim Rudern eine bestimmte
Mütze tragen wollen, er mag es, wie man zu sagen pflegt,
,,wollen oder nicht“, d. h. es frei oder gezwungen wollen.
Diejenige Lebenseinheit aber, die wir im Unterschied von
der „Gesellschaft“ die „Gemeinschaft“ nennen, in der das
Wollen ihrer „Glieder“, gleich wie das Wollen der „Mitglie-
der“ in der „Gesellschaft“ und wie das Wollen der „Gehorchen-
den“ in der Herrschaft, ausnahmslos Pflichtwollen bedeutet:
diese zweite Lebenseinheit kennzeichnet sich als besondere da-
durch, daß das Pflichtwollen ihrer Glieder ausnahmslos freies
Pflichtwollen ist.
Vergleichen wir das Pflichtwollen der drei besonderen Ein-
heiten von Bewußtseinswesen, so heben sich Pflichtwollen in
der Herrschaft und Pflichtwollen in der Gemeinschaft rein und
sauber dadurch voneinander ab, daß jenes ohne Ausnahme als
Zwangswollen und dieses ebenso ausnahmslos als freies Wollen
auftritt. Gäbe es nur Pflichtwollen in der Herrschaft oder in
der Gemeinschaft, so wäre im einzelnen Fall sofort festgestellt,
welcher Einheit, ob Herrschaft oder Gemeinschaft, ein gezwun-
gen wollendes und ein freiwollendes Bewußtsein zugehöre, vor-
ausgesetzt natürlich, daß dieses Bewußtsein überhaupt einer Ein-
heit zugehört. Es gibt aber, wie wir wissen, noch die dritte
Einheit von Bewußtseinswesen, die „Gesellschaft“, und an ihr
zeigt sich das Pflichtwollen der „Mitglieder“ das eine Mal als
Zwangswollen, das andere Mal als freies Wollen. Darum läßt
sich aus der Tatsache eines Zwangswoliens oder eines freien
Wollens noch nicht sicher entnehmen, welcher Einheit von
Bewußtseinswesen ein Bewußtsein, das gezwungen oder frei
will, zugehört, obwohl allerdings sicher feststeht, daß es, wenn
40
gezwungen wollendes, nicht einer Gemeinschaft, und wenn
freiwollendes, nicht einer Herrschaft zugehört.
An der Tatsache der Lebenseinheit, die wir „Gesellschaft“
nennen, ist aber nicht zu zweifeln, und, um in der Sache der
verschiedenen Einheiten von Bewußtseinswesen klar zu sehen,
ist es von Bedeutung, die Stellung von Gesellschaft zu Herr-
schaft und Gemeinschaft klarzustellen. Läßt doch gerade der
Umstand, daß das Pflichtwollen in der „Gesellschaft“ sowohl
mit dem in der Herrschaft (gezwungenes Pflichtwollen), als
auch mit dem in der Gemeinschaft (freies Pflichtwollen) sich
zusammenfindet, sie gleichsam beiden Einheiten als dritte im
Bunde die Hand reichen. Gerade dieser Umstand, schätze ich,
hat es veranlaßt, den klaffenden Spalt zwischen „Gebot“ und
„Gesetz“ für das wollende Bewußtsein nicht zu sehen und zu
meinen, daß mit dem Pflichtbewußtsein nicht nur in der
Herrschaft, sondern überhaupt in jeder Einheit das Sol-
len sich zusammenfinde. Wir machen täglich wieder die Er-
fahrung, daß man dem menschlichen Bewußtsein das Gesetz
seiner Lebenseinheit als „du sollst“ vorzutragen pflegt, also aus
der Pflicht ein Gebot und nicht nur überhaupt ein Gebunden-
sein, mithin ein „Sollen“ und nicht ein „Müssen“ heraushört.
Um so mehr haben wir zu trachten, daß die Kluft zwischen
Gebot und Gesetz bleibt, ungeachtet dessen, daß Herrschaft,
die auf Gebot, und Lebenseinheit, die überhaupt auf Gesetz
eingestellt ist, beide das Pflichtwollen, und die Lebensein-
heit „Gesellschaft“ sogar freies Pflichtwollen und auch ge-
zwungenes Pflicht wollen, das die Herrschaft auschließlich zeigt,
aufzuweisen hat.
Wir haben uns des Unterschiedes von Gebot und Gesetz
aber ganz besonders zu versichern bei der Beantwortung un-
serer Frage: „was ist sittlich?“, sofern wir zunächst der Füh-
rung des ursprünglichen Sinnes „sittlich“ — „der Sitte ge-
mäß“ uns anvertrauen. Ziehen wir nun die Summe dessen,
was über die drei Einheiten wollender Bewußtseinswesen und
41
vor allem über die beiden Lebenseinheiten „Gesellschaft“ und
„Gemeinschaft“ von uns dargelegt wurde, daß „Sitte“ es mit
wollenden Bewußtseins wesen, die in einer Einheit als gleich-
gestellte Wesen sich finden, also durch ihr einiges Wollen
vereinte Einzelwesen sind, zu tun hat und sich als das Ge-
setz des Wollens eines jeden Lebenseinheitlers darstellt, darum
immer auf Pflicht wollen, wie es ja bei jeglicher Ein-
heit von Bewußtseinswesen der Fall ist, hinausläuft.
Wenn die Ethik als Wissenschaft vom „Sittlichen“ das „der
Sitte Gemäße“ zu ihrem besonderen Gegenstände hätte, so
könnten wir sie überschüssig auch „Pflichtethik“ nennen
und von ihrem Gesetze recht eigentlich als „Sittengesetz“
sprechen.
Mit dieser Deutung des Wortes „sittlich“ = „der Sitte ge-
mäß“ wäre die Ethik aber nicht nur auf die Handlungen
menschlichen Bewußtseins beschränkt, denn einzig die „äußere“
Lebensführung kommt für die Sitte überhaupt in Betracht
(s. S. 5ff.)» sondern dazu noch weiter auf die dem Gesetz
einer Leben sein heit entsprechenden Handlungen allein. So
würde die „Sittlichkeit“ des willenshandelnden Bewußtseins
von dessen Lebenseinheitlersein abhängen und das Sittlichsein
nur dem Lebenseinheitler zukommen.
5-
Schauen wir uns nun um in Geschichte und Gegenwart,
so läßt sich kein Versuch einer Ethik als Wissenschaft vom
Sittlichen im Sinne des „der Sitte Gemäßen“, also keine auf
eine Lebenseinheit gegründete, in der „Sitte“ verankerte
Pflichtethik finden. Das Sittliche (Ethische, Moralische) hat
stets anderswo, als in der Lebenseinheit, dieser alleinigen
Heimstätte der Sitte, seine Unterkunft gefunden; nur Platon
könnte eine Ausnahme zu machen scheinen, da er bei der Be-
trachtung des Sittlichen („Guten“) gerne auf den Staat, diese
42
besondere Lebenseinheit, hinüberschweift, was sich wohl als
Erbschaft des Sokrates verstehen läßt, da dieser denjenigen, der
wissen will, was gute (ethische) Lebensführung sei, vor allem
auf die überlieferte Sitte als das Gesetz einer Lebenseinheit
„Staat“ verweist. Die ganze Geschichte der Ethik spricht in
der Tat laut dagegen, daß unter dem „Sittlichen“ das „der
Sitte Gemäße“ zu verstehen sei; folgen wir also ihr, wie es
billig ist und sich auch aus der Sache selbst erweisen wird, so
fällt für uns die Sitte und die Pflichtethik, sofern sie sich auf
das Gesetz einer Lebenseinheit (Sitte) stützt, bei der Be-
antwortung unserer Frage „was ist sittlich?“ ganz aus. Denn
solche Pflichtethik, die wir Staatsethik nennen müßten, da
sie das „Sittliche“ als das der Staatssitte Gemäße faßt, würde,
wie die Geschichte lehrt, nur einen Bruchteil dessen decken,
das doch mit dem Worte „sittlich“ bedacht zu werden pflegt,
würde nur das staatsbürgerliche Bewußtsein in seinem
Wollen treffen, und bestenfalls nur für ein besonderes Stück
der Ethik als Wissenschaft durchgehen können. Doch dies
letzte läßt sich erst entscheiden, wenn wir die Hauptfrage „was
ist sittlich?“ endgültig beantwortet haben, in Betreff deren wir
auf Grund der Geschichte nur so viel feststellen können, daß
das Wort „sittlich“ seinem Sinne nach keineswegs sich deckt
mit „der Sitte gemäß“ und auch nicht mit dem Worte „der
Staatssitte d. i. dem Staatsgesetze gemäß“.
Gehen wir aber der Geschichte der Ethik nach, so ist es be-
merkenswert, daß wir verschiedentlich, wenn auch nicht auf
eine Staatsethik, so doch immerhin auf eine Pflichtethik
stoßen, die allerdings, wie gesagt, das Sittliche weder mit der
Staatssitte noch mit der Sitte einer anderen Lebenseinheit von
Bewußtseinswesen zusammenfallen läßt. Da aber alles, was
„Pflicht“ heißt, nur auf dem Boden einer Einheit wollender
Bewußtseinswesen erwachsen kann, so leuchtet ein, daß, was
immer wir in der Geschichte der Ethik an Pflichtethik über-
haupt antreffen, nur auf diejenige Einheit wollender Bewußt-
45
seins wesen gehen kann, die noch außer der Leben sein heit von
Bewußtseinswesen für das, was wir Pflicht nennen, in Betracht
kommt: die Herrschaft! Wir dürfen diese Pflichtethik dar-
um Herrschaftethik nennen und finden sie in der Tat viel-
fach in der Geschichte, eine Ethik, deren „Sittliches“ nicht
mit dem der Sitte d. i. dem Gesetze einer Lebenseinheit ent-
sprechenden Wollen zusammenfällt.
Es sind nun drei Besonderungen, in denen die Herrschaft-
ethik in der Geschichte auftritt, die, wenn wir daran festhalten,
daß „sittlich“ etwas anderes besagt als „der Sitte gemäß“,
dann als einzige von den Pflichtwissenschaften mit Recht den
Namen „Ethik“ führten, während alle.auf das Gesetz (Sitte)
einer besonderen Lebenseinheit gegründete sogenannte,.Pflicht-
ethik“ mit Unrecht den Namen „Ethik“ d. i. Wissenschaft
vom Sittlichen trüge, da sie mit dem „Sittlichen“ als sol-
chem schlechterdings nichts zu tun hat, sondern nur mit der
Pflicht, also nicht Ethik, sondern nur Pflichtwissenschaft
einer Lebenseinheit zu nennen wäre. Von den Pflichtwissen-
schaften der Einheiten wollender Bewußtseinswesen hätte also
nur eine, die Pflicht Wissenschaft der Einheit, die eine Herr-
schaft bedeutet, das Anrecht auf den Namen „Ethik“. Wir
finden diese Pflichtwissenschaft aber in drei Besonderungen vor,
von denen nur eine wieder allein mit vollem Recht den Titel
„Pflichtethik“ tragen kann, also echte Pflichtethik ist. Sie kenn-
zeichnet sich als Religionsethik, die beiden anderen sind die
Pantheismus-Ethik und die Kantische Ethik. Wenn wir nun
behaupten, daß echte Pflichtethik Herrschaftethik sei, so
darf dies nicht so ausgelegt werden, als ob die Pflichtwissen-
schaft einer jeglichen Herrschaft auf den Titel „Ethik“ An-
spruch machen dürfe. Nicht das Klarstellen irgendeiner Herr-
schaft und der Pflichten ihrer Untertanen schon stempelt das
wissenschaftliche Unternehmen zu einer Ethik, einer Wissen-
schaft vom Sittlichen. Nicht jede Pflicht menschlichen Be-
wußtseins betrifft das Sittliche, wie auch das aus dem Kreise der
44
Pflichtethiker stammende Wort „sittliche Pflicht“, das nicht
etwa nur ein überschüssiges Wort für das einfache Wort „Pflicht“
bedeuten soll, dies deutlich ausspricht, ob freilich mit wissen-
schaftlichem Recht, wird noch zu untersuchen sein; aber wer
immer von „sittlicher“ Pflicht spricht, kennt offenbar auch andere,
also „nichtsittliche Pflicht“. Sehen wir uns nun in Geschichte
und Gegenwart um, so findet sich stets, daß, was „sittlich“ ge-
nannt wird, das wollende menschliche Bewußtsein überhaupt
angeht und nicht etwa nur die zum griechischen Volke Ge-
hörigen oder die europäischen menschlischen Bewußtseinswesen.
Schon hierdurch hebt sich „sittlich“ auch von dem „der Sitte
gemäß“ deutlich ab. Das, was als „sittlich“ bestimmt wird,
muß jedem menschlichen Bewußtsein zukommen können,
was wir aber als „der Sitte gemäß“ bestimmen, ist auf mensch-
liches Bewußtsein, das einer besonderen Lebenseinheit zuge-
hört, allein eingestellt. Man hat die Uneingeschränktheit,
die in Ansehung der menschlichen Bewußtseins wesen das Wort
„sittlich“ mit sich führt, wohl durch den Hinweis gemeint in
Frage stellen zu können, daß doch in verschiedenen Völkern
und zu verschiedenen Zeiten gar Verschiedenes, ja Widerspre-
chendes für „sittlich“ ausgegeben werde, also auch das Sitt-
liche stehe im Sternbilde der Relativität. Ein Blick auf die
Tatsachen aber genügt schon, um zu ersehen, daß dieser Be-
hauptung eine arge Verwechslung von „sittlich“ und „der Sitte
gemäß“ zugrunde liegt. Daß jede Sitte „Relativität“ zeige
d. h. durch besondere Lebenseinheit bedingt sei, ist eine Bin-
senwahrheit und wohlfeil, wie die Brombeeren, aber sie er-
schüttert auch in keiner Weise die Wahrheit, daß das „Sittliche“
nicht auf eine besondere Lebenseinheit zugeschnitten sei,
ja nicht sein könne, weil es ja üherhaupt nicht aufLebens-
einheit, wie wir gesehen haben, gestellt ist.
Jene, durch keine besondere Einheit menschlicher Bewußt-
seinswesen in Frage zu stellende Uneingeschränktheit alles
Sittlichen kommt nun besonders deutlich in der Religions-
45
ethik heraus, indem die besondere Herrschaft, die ja ihr
Boden ist, Gott und die menschlichen Bewußtseins wesen alle-
samt umspannt: das Gottesreich. Was der Religiöse das Sitt-
liche nennt, hängt darum nicht irgendwie vom menschlichen
Bewußtseinswesen ab, sondern ist rein und auschließlich der
Wille Gottes; er ist der Herr und das menschliche Bewußt-
sein der Knecht; das in dieser Herrschaftseinheit sich wissende
menschliche Bewußtsein ist, wie Schleiermacher es ausdrückt,
durch schlechthiniges Abhängigkeitsgefühl gekennzeich-
net. Die Einheit, in der sich der Religiöse findet, ist, wie jede
andere Herrschaft, ganz und allein auf das freie Wollen Gottes
gestellt. Aus Gnaden Gottes gehört das menschliche Bewußt-
sein zu dieser Herrschaft und „sittlich“ heißt das Wollen des
menschlichen Bewußtsein, das demGebote Gottes entspricht.
Nun ist dann alles Wollen dieses menschlichen Bewußtseins ein
Zwangswollen, so daß Luther das freie Wollen des Religiösen
leugnet und als sicheres Zeichen des in der Gottesherrschaft
Stehenden dessen Sün der bewußt sein hinstellt, indem er unter
diesem Sünderbewußtsein nicht so sehr das Bewußtsein, gesün-
digt zu haben, als vielmehr das Bewußtsein des posse peccare
versteht, weshalb das menschliche Bewußtsein nicht „aus freien
Stücken“, sondern durch Gottes Gnade Gottes Gebot zwangs-
wollend erfüllt. Paulus und Luther haben uns in klarster
Weise das Wollen des in der Gottesherrschaft sich wissenden
menschlichen Bewußtseins gezeichnet als unfreies, durch die
Gnade Gottes erzwungenes Wollen. Auf dieses Gotteswillen-
wollen des menschlichen Bewußtseins bezieht die Religions-
ethik das Wort „sittlich“ und rückt somit auch ihrerseits
ab von dem „der Sitte Gemäßen“, das ja nicht so sehr das
Wollen, als vielmehr das Handeln betrifft, also nicht auf das
wollende Bewußtsein alssolches, sondern auf das vom mensch-
lichen Willen Gewirkte, das wir seine Handlungen (Ge-
wirktes) nennen, eingestellt ist. So läßt sich wohl verstehen,
daß eine Handlung zwar „der Sitte gemäß“, aber nicht „sittlich“,
46
genannt wird, wenn der Religionsethiker erkennt, daß das diese
„Handlung“ wirkende Bewußtsein nicht „Gottes willen wollendes
Bewußtsein“ war. Also nicht das handelnde (willens wirkende)
Bewußtsein als solches steht in der Religionsethik in Frage,
wenn das Sittliche in Betracht kommt, sondern das wollende
Bewußtsein als solches, das dem Gottesgebot entspricht, also
Gottes Willen will, ganz abgesehen von der Willens h and -
lung als der Wirkung solchen Wollens. Daß das Sittliche
der Religionsethik, das „Gottes willen wollen“, ein Zwangs-
wollen sei, bestätigt der Religiöse genugsam, indem er von
der „Furcht des Herrn“, der „Gottesfurcht“ redet, „dienet dem
Herrn in Furcht und Zittern“, „die Furcht des Herrn ist der
rechte Gottesdienst“ und wie Luther in seinem Katechismus
immer wiederholt: „Wir sollen Gott fürchten“. Man wird mir
vielleicht entgegnen,Luther füge doch stets hinzu „und lieben“,
und aus Liebe Gottes Willen wollen sei doch etwas anderes als
„aus Furcht Gottes Willen wollen“ d. i. „gezwungen wollen,
was Gott will“. Schon früher habe ich darauf hingewiesen,
daß, wenn die Liebe einsetzt, es mit Herrschen und Dienen,
mit „Gebot“ und „Sollen“ und somit auch mit der Herrschafts-
ethik ein Ende hat. „Gott lieben“ heißt „sich eins mit ihm
wissen“ und dies schließt „Gott fürchten“ aus, so daß wir nicht
zugleich Gott fürchten und lieben können. Eine Ethik also,
die auf Gott den Herrn und sein Gebot abstellt, kann nicht
auch auf die Liebe zu Gott gestellt sein, das Eine löscht das
Andere schlechthin aus.
Sprechen wir daher von Religionsethik als einer Pflicht-
ethik, so sind wir an Gott den Herrn, an Gottes Gebot und
an die Gottesfurcht des menschlichen Bewußtseins gebunden;
hierbei schaltet dann die Liebe, sei es Gottes Liebe, sei es die
Liebe zu Gott völlig aus. Wenn wir aber von der Ethik als
Wissenschaft vom Sittlichen handeln, haben wir immer mit
wollendem Bewußtsein zu tun, sind also ohne weiteres in
die Wirklichkeit versetzt; denn „wollen“ und „wirken-
47
wollen“ sagen ein und dasselbe, „wollendes Bewußtsein, das
selbst nicht zum Wirklichen gehört“, ist demnach ein Wider-
spruch in sich. 1 Kommt also, wann immer von Sittlichem
die Rede geht, Wirkliches in Frage, so wird die Ethik als
Wissenschaft sicheren Grund nur haben, wenn die Wirk-
lichkeit der in Betracht kommenden Bewußtseinswesen außer
Frage steht. Handelt es sich nun in einer „Ethik“ nur um
menschliches Bewußtsein, so ist dieses in der Tat der Fall, da
wir uns unserer Wirklichkeit als wollender Bewußtseinswesen
klar bewußt sind.
Nicht so gut daran ist die Religionsethik, die nicht nur
menschliches Bewußtsein, sondern aueh göttliches Bewußt-
sein voraussetzt; dieses letzte eben steht uns nicht ohne weiteres,
wie das erste, als Wirkliches da. Solange nun die Wirklich-
keit des göttlichen Bewußtseins nicht fraglos klargestellt ist,
müssen wir demgemäß Religionsethik oder, wie es gewöhnlich
heißt, „theologische Ethik“ als Wissenschaft vom Sittlichen
in Frage stellen. Alle Versuche, die Wirklichkeit Gottes zu
beweisen oder zu erweisen, sind bisher vergeblich gewesen,
nicht minder freilich auch alle Versuche, nachzuweisen, daß
das Wesen, das wir Gott nennen und als Gegebenes schlecht-
weg „haben“, (wie könnte uns sonst das Lautgebilde „Gott“ ein
Wort d. i. ein sinnvolles Lautgebilde sein), nicht Wirkliches
sei. Möglichkeit steht hier gegen Möglichkeit und solange
keine Entscheidung in dieser Streitfrage gewonnen ist, bleibt
auch, was wir „Religionsethik“ nennen, als solche außerhalb
der Wissenschaft stehen. Denn eine sogenannte „Wissenschaft“
vom Sittlichen, die auf Mögliches aufgebant wäre, würde in
die Luft gebaut sein. Wir verstehen das Bemühen wohl, der
Wirklichkeit Gottes, wenn sie nicht zu beweisen ist, anderswie
gerecht zu werden, indem man von einer unmittelbaren „Ge-
wißheit“ in Betreff der Gotteswirklichkeit spricht, wie wir
der Wirklichkeit unserer selbst als wollender Bewußtseins wesen
1 Siehe Rehmke „Die Willensfreiheit“, S. 31 ff.
48
unmittelbar gewiß sind.1 Wie wir, die wollenden Wesen, uns
selbst als wirkliche Wesen mit vollster Sicherheit „erfahren“
— hier waltet dann das Wort „innere Erfahrung“ — so ver-
wendet man nun die sogenannte „innere Erfahrung“, um für
das allerdings zweifellos Gegebene „Gott“ die Gewißheit
seiner Wirklichkeit zu sichern. Hier läuft aber der Irrtum
unter, daß man Selbstbewußtsein und Gottesbewußtsein mit
Hilfe der gefälligen „inneren Erfahrung“ ineinandermengt,
und Gott gleicherweise zu haben meint, wie sich selbst, wäh-
rend man sich selbst allerdings als Wirkliches, Gott aber trotz
alledem nur als Gegebenes schlechtweg hat.
Wie also die Sache steht, können wir dem, was als „Religions-
ethik“ oder „theologische Ethik“ vorgetragen wird, nicht den
Namen „Ethik“ als Wissenschaft zuerkennen, ist doch diese
angebliche Herrschaftsethik sich nur der Wirklichkeit des Pflich-
tigen in dieser Einheit, nicht aber auch der Wirklichkeit des
Gebieters gewiß.
Gibt es aber auch keine Religionsethik im wissenschaftlichen
Sinne, so leugnen wir doch nicht zugleich, daß dem Religiösen
das Sittliche überhaupt unbekannt sei. Der Religiöse weiß
sich mit Gott vereint in einer Herrschaftseinheit, in der er
der Verpflichtete ist, Gott aber die Gebote gibt, eine Einheit,
die seitens des menschlichen Bewußtseins nicht an irgendeine
besondere Zugehörigkeit desselben zu einem Volke oder zu einem
Staate geknüpft sei, sondern dem menschlischen Bewußtseinswesen
als solchem unbeschränkt offen stehe. Dieses sich mit Gott in
Herrschaftseinheit Wissen aber nennen wir „Glauben an Gott,
den Herrn“, wie es im Hebräerbrief 11,1 heißt: „Es ist der
Glaube eine gewisse Zuversicht.“ Das an den Herrn glau-
bende Bewußtsein muß wollen, was Gott der Herr gebietet;
dessen Willen wollen d. h. wollen was man soll ist seine Pflicht.
Die Frage, wie das menschliche Bewußtsein zu diesem Glauben
1 Siehe Rehmke „Die philosophische Erbsünde“ und „Was bin ich?“,
Verlag Elwertsche Buchhandlung, Marburg 1924.
4 Rehmke, Grandlegung der Ethik als Wissenschaft.
49
und den Geboten Gottes komme, drängt sich dem Gläubigen
gar nicht auf, nur dem Zweifler kommt sie auf die Lippen;
aber der Gläubige kennt die Gebote Gottes, kennt seine Pflicht
gegen Gott den Herrn, zu wollen, was die Gebote sagen. Und
„sittlich“ nennt er eben dieses Wollen, „sittlich“ demnach auch
die Pflicht d. i. das in seinem Wollen Gebundensein an Gottes
Gebot und „sittlich“ die Handlungen (Gewirktes) des wollen-
den menschlichen Bewußtseins, also die Willenshandlungen,
die als den Geboten Gottes entsprechend gewollt waren. So
ist dem Religiösen in der Herrschaftseinheit „Gott und mensch-
lichesßewußtsein“ das Sittliche völlig in seinerReligion
verankert; Sittlichkeit ohne Religion scheint ihm ein Unding;
die Herrschaftseinheit läßt ihn mit vollem Recht von sittlicher
Pflicht und sittlichem Pflichtbewußtsein reden. Denn-
noch scheint es dem Religiösen nicht beschieden zu sein, das
Sittliche seiner Herrschaftseinheit wissenschaftlich zu er-
fassen, eine Wissenschaft von seinem Sittlichen d. i. eine
Pflichtethik zu fertigen.
Außer der „Religionsethik“ sind aber noch andere Versuche
unternommen worden, eine Pflichtethik als Wissenschaft zu
gewinnen, die ebenso, wie jene, über das „der Sitte Gemäße“
das „Sittliche“ insbesondere auch in dem Sinne hinausheben,
daß es nicht auf eine Lebenseinheit bestimmter gleichge-
stellter Wesen eingestellt und eingeschränkt ist, sondern jedes
menschliche Bewußtsein mitbetrifft. Es sind besonders zwei
Versuche zu erwähnen, deren erster von Pantheisten ange-
stellt worden ist. Daß dieser Versuch ohne wissenschaft-
liches Ergebnis geblieben ist, läßt sich schon aus den unzu-
länglichen wissenschaftlichen Mitteln des „Pantheismus“ ver-
stehen. Ist doch der „Pantheismus“ ein leibhaftiges Gegen-
stück des „Solipsismus“, der, wie dieser, die Mannigfaltigkeit
der Einzelwesen schlechtweg zu Mus einstampft in dem Kessel
des Einzigen, das er „Gott“ nennt, und dieses Einzige ohne
Wirkenszusammenhang mit anderen Einzelwesen, mithin
5°
auch ohne Willen (Wirkenwollen) auf den Isolierstuhl setzt,
ihm selbst damit aber das Wirklichsein schlechtweg abspricht.1
Betrachten wir aber den Pantheisten, wie er am WTerke ist,
seine Pflichtethik aufzubauen. Das Wort „Pflicht“ weist uns
auf ein pflichtiges Bewußtsein, das sich von dem Gebieter oder
aber von der Lebenseinheit unterscheidet. Von der Lebensein-
heit unterscheidet sich aber das pflichtige Bewußtsein, obwohl
es zu der Lebenseinheit gehört, doch nicht minder als von dem
Gebieter, der freilich selbst besonderes Bewußtsein ist. Indem man
aber diesen Unterschied zwischen Lebenseinheit und Gebieter
unbeachtet läßt und den ¡Blick nur auf jene Gleichstellung
beider als vom pflichtigen Bewußtsein Unterschiedenen einstellt,
wird man, zumal da Gebieter und Lebenseinheit in allen Fällen
beide Einziges sind, versucht, die Zugehörigkeitsbeziehung des
pflichtigen Bewußtseins, die dieses zur Lebenseinheit aufzuweisen
hat, ebenso zum Gebieter bestehen zu lassen. Nun haben wir es
aber in der „Herrschaft“ mit einem gebietenden und einem
gehorchenden Bewußtsein zu tun, bei der „Lebenseinheit“ indes
gibt es kein gehorchendes Bewußtsein, denn sie kennt kein „Sol-
len“, sondern nur „Müssen“ der zu ihr Gehörigen.
Stoßen wir uns nun einmal nicht daran, daß, wenn in der
Herrschaftseinheit das gehorchende Bewußtsein dem gebieten-
den Bewußtsein zugehörte, das „gebietende Bewußtsein“ und
„die Herrschaftseinheit“ ein und dasselbe sein müßte und
demnach die Meinung, das gebietende Bewußtsein mache zu-
sammen mit dem gehorchenden Bewußtsein die Herrschafts-
einheit aus, sei also wie dieses, der Herrschaftseinheit Zu-
gehöriges, eine Irrung wäre. Wenn also das gehorchende Be-
wußtsein zu dem Bewußtsein, das gebietet, gehörte, so müßte es ein
Teilwesen, und das gebietende ein aus diesem und anderen Teil-
wesen zusammengesetztes Bewußtsein darstellen. Indes auch
abgesehen davon, daß in einer Herrschaftseinheit, soll überhaupt
in ihr von Pflicht und Gebot noch die Rede sein, das Gebie-
1 Siehe Rehmke „Logik“1, S. 388fr., „Logik“*, S. 94ff.
4»
51
tende und das Gehorchende nicht ein und dasselbe sein können,
sondern voneinander geschiedenes Bewußtsein (Einzelwesen) sein
müssen, also daß in unsrem Fall eines von den angeblichen
Teilwesen des zusammengesetzten Bewußtseins das gebietende,
ein anderes das gehorchende Bewußtsein bedeutete — ganz ab-
gesehen davon also, daß sich selbst gebietendes Bewußtsein“
ein Widerspruch in sich ist, erweist sich auch das Wort „zu-
sammengesetztes Bewußtsein4’ als ein nicht mit Sinn zu
erfüllendes Wortgebilde,‘ mit anderen Worten als ein Wider-
spruch in sich.
Der Pantheismus muß also diese Widersprüche überwinden,
oder es ist um ihn geschehen. Es ist nicht von Ohngefähr, daß
der Pantheist — ich weise insbesondere auf die Stoiker und
auf Spinoza hin — das, was er „Gott“ nennt und als Einziges
bestimmt', dem alles, was wir an Besonderem sonst noch ken-
nen, zugehört, nicht als rein geistiges Wesen, sondern auch
als räumliches, dingliches Wesen begreift. Bei den von vorn-
herein materialistisch eingestellten Stoikern ist dies ohne wei-
teres verständlich; wenn auch Spinoza im selben Lager steht, so
ist das daraus zu erklären, daß nur die materialistische Auffül-
lung ihm irgendwelchen Sinn in den Pantheismus (ev xal nuv)
bringen konnte. Nur wenn „Gott“ oder „die Natur" räum-
liches Einziges, wie es Stoikern als Materialisten selbstverständ-
lich war, ist, läßt sich verstehen, daß Alles, was sonst noch an
Einzelwesen sich bietet, Gott Zugehöriges, nämlich sein Teil-
wesen, „Gott“ also nicht einfaches, sondern zusammenge-
setztes Einzelwesen oder mit anderen Worten ein aus allen
sonstigen Dingen zusammengesetztes Ding ist. Aber auch nur
von seiten des Räumlichen, Dinglichen konnte der Schein einer
Hilfe ihm kommen und auch nur, wenn alles Geistige als eine
besondere Eigentümlichkeit der Körper, also diesem zugehörig
erachtet wird. Also nur als Materialist sinkt scheinbar der Pan-
theist nicht ohne weiteres ins Grab; ohne diese freilich sehr
1 S. Rehmke, Philosophie als Grundwissenschaft S. 312 ff.
52
unsichere Stütze ist er von vornherein verloren, denn geisti-
ges Einzelwesen ist und kann nicht Teilwesen eines anderen,
also diesem zugehörig sein. Der Pantheismus ist ent-
weder Materialismus oder er ist wissenschaftlich über-
haupt nichts.1 Darum nutzt dem Spinoza auch nichts, daß
er, woran die Stoiker als ausgesprochene Materialisten gar
nicht dachten, den Menschen als besonderes, von Gott unter-
schiedenes Einzelwesen bezweifelte und mit der sinnleeren
pantheistischen Verlegenheitsmarke „modus dei“ versah, auf
die nur wiederum ein Lichtschimmer fällt, wenn der Mate-
rialismus hilft und den „modus dei“ als Teilding des Welt-
dinges „Gott“ abstempelt.
Mit dem Materialismus aber steht und fällt auch der Pan-
theismus, dessen einzige Stütze jener ja ist; und wenn es wahr
ist, daß das Gegebene, das wir Geist oder Bewußtsein nennen
und als zweifellos Wirkliches kennen, ein vom Dinglichen
(Körperlichen) schlechthin Verschiedenes ist, so stutzen wir
mit Grund aufs Höchste, daß es der Pantheismus zu einer Ethik
gebracht haben soll, zu einer Wissenschaft vom Sittlichen.
In der Tat spricht man von einer „Ethik“ der Stoiker, von
einer „Ethik“ Spinozas, und von beiden ausdrücklich als einer
„Pflichtethik“. Aber pflichtiges Bewußtsein muß sich allemal
mit anderem Bewußtsein in einer Einheit, Herrschaftseinheit oder
Lebenseinheit wissen, die Pflicht demnach in einem Gebot
(des Herrschers) oder in einem Gesetz (der Lebenseinheit) ge-
gründet sein. Die unumgängliche Voraussetzung der Pflicht-
ethik ist eine Mehrzahl wollender wirklicher Bewußtseins-
wesen. Diese Voraussetzung aber kann der Pantheismus schlech-
terdings nicht aufrecht halten, denn gesetzt auch, die gesamte
Wirklichkeit wäre ein Einziges „Gott“, so könnte zu diesem
doch kein anderes Bewußtsein gehören, denn das hieße „Gott“
für ein zusammengesetztes Bewußtsein erklären, ein Be-
1 S. Rehmke, „Die philosophische Erbsünde“ und „Was bin ich“, S. 13,
Marburg, Elwertsche Buchandlnng 1924.
53
wußtsein aber kann nur einfaches Einzelwesen sein. Wenn
daher der Pantheist, z. B. der Stoiker, von der Pflicht mensch-
lichen Bewußtseins redet, so ist er seinem Pantheismus untreu
geworden und zum Theismus übergegangen, dem eben Gott
nicht das Einzige, sondern ein Einziges (Einzelwesen) unter
vielen, aber freilich der Herr über alle anderen ist. Der Pan-
theismus selbst bietet keine Möglichkeit, von Pflicht, wie über-
haupt von menschlichem Bewußtseinswesen zu reden und was
als Pflichtethik der Stoiker benannt zu werden pflegt, ist un-
echtes Machwerk bis auf den Grund. Das bekannte stoische
Wort „ducunt volentem fata, nolentem trahunt“ ist ein doppel-
ter Treubruch, nämlich gegen den Pantheismus und gegen den
an dessen Stelle gerückten Theismus, dem Gott Herr ist über
alles menschliche Bewußtsein, so daß die Pflicht des mensch-
lichen Bewußtseins hier aus der Herrschaftseinheit erwächst und
somit das Wollen des menschlichen Bewußtseins stets Zwangs-
wollen ist, in jenem Satz aber mit „volentem“ nicht etwa „Wollen
schlechtweg“, sondern freies Wollen“ gemeint ist. Hieraus ist
ersichtlich, daß, was der Stoiker als Wissenschaft vom Sittlichen
vorträgt, nicht seinem Pantheismus entsprossen, sondern eine
unechte Frucht am pantheistischen Baume ist, wie denn über-
haupt menschliches Bewustsein alswollendesEinzelwesen und
darum auch das Sittliche Fremdkörper im stoischen Pantheis-
mus sind.
Wie dem Stoiker, so geht es auch Spinoza als Pantheisten
mit dem Sittlichen; als Pantheist darf auch er von einem wol-
lenden menschlichen Bewußtseins nichts wissen, und wenn er
aber doch von Selbsterhaltung und auf amor dei intellectualis
gestelltem Wollen handelt und in diesem das Sittliche entdeckt,
so ist dieses nicht auf dem pantheistischen Boden gewachsen
und vielmehr aus dem Theismus gewonnen. Freilich ist ihm
das Sittliche doch nicht auf die Furcht des Herrn gegründet,
seine Ethik stellt daher nicht auf eine Herrschaftseinheit ab,
redet darum auch nicht von Pflicht; aber was sie die Liebe zu
54
Gott nennt, hat auch nur Sinn unter der Voraussetzung, daß
das Liebende und das Geliebte nicht ein und dasselbe Ein-
zige sind, der Pantheismus aber kennt nur Eines, so daß hier
die „Liebe“ unverständlich bleibt. Wie sehr Spinozas „Ethik“
stillschweigends auf Religion gestellt ist, erhellt auch besonders
daraus, daß es sich für sie nur um Gott und das einzelne mensch-
liche Bewußtsein handelt in völlig entsprechender Weise, wie
ja eben das religiöse Verhältnis als solches nur mit Gott und
dem einzelnen menschlichen Bewußtsein sich befaßt und noch
andere Bewußtseinswesen hierbei gar nicht unmittelbar in Be-
tracht kommen.
Aber Religion und Pantheismus können nicht zusammen
hausen; dieser anerkennt nur ein Einziges (Jv xai nuv\ jene
setzt immer zwei Einzelwesen, Gott und menschliches Bewußt-
sein voraus, Der Religiöse kennt das Sittliche als das dem Ge-
bote Gottes folgende Wollen menschlichen Bewußtseins. Der
Pantheist kennt nur Gott, aber kein menschliches Bewußtsein
als besonderes Einzelwesen, darum auch nicht als wollendes
Wesen, und so müssen ihm auch Pflicht und Sittlichkeit, die
der Religiöse kennt, leere Worte sein; seine Welt ist Gott und
Gott ist das einzigste Einzige, wie der Solipsist sich selbst das
einzigste Einzige ist. Wäre der Pantheist nicht tatsächlich ver-
kappter Religiöser, es würde nie bei ihm von einer „Ethik“ und
insbesondere Pflichtethik die Rede sein.
Was wir nun bisher an Versuchen einer Pflichtethik betrach-
tet haben, hat der Prüfung auf Ethik als Wissenschaft nicht
standgehalten, auch nicht die auf Religion gegründete „Ethik“,
obwohl sie immerhin das Sittliche als besonderes Wollen
erfaßt, das uneingeschränkt auf menschliches Bewußtsein
überhaupt geht, aber freilich ein Zwangswollen bedeutet, da
es durch Gottes Gebot bedingt ist, also in Zwangspflicht
steht.
Außer diesen Versuchen einer Pflichtethik als Wissenschaft
findet sich noch in der Geschichte der von Immanuel Kant
55
unternommene, der sich gegenüber der „Religionsethik“ da-
durch kennzeichnet, daß er das Sittliche nicht nur auf Ge-
bot, sondern auch auf Gesetz gestellt sein und es als solches
dann nicht Zwangswollen, sondern freies oder, wie er sagt,
autonomes Wollen sein läßt.
Wir haben dargelegt, daß von „Pflicht“ eines Bewußtseins nur
dann zu reden ist, wenn dieses in einer Einheit von Bewußt-
seinswesen sich weiß, und zwar entweder in Herrschaftseinheit
oder in Lebenseinheit, denn nur diese zwei Einheiten von
Bewußtseinswesen finden wir im Gegebenen überhaupt. Dem-
gemäß sagten wir, daß sich menschliches Bewußtsein ver-
pflichtet wisse entweder als einem Gebieter gehorchendes
oder aus einer Lebenseinheit, also in beiden FällenEinzigen ,
dort einem Bewußtseinswesen, hier der Einheit von Bewußt-
seinswesen. Hören wir nun, daß Kant das Sittliche nicht nur
auf Gebot, sondern auch auf Gesetz gestellt sieht, so sind
wir geneigt, seine Pflichtethik als einen Versuch anzusehen,
die „sittliche“ Pflicht eines menschlichen Bewußtseins auch
in einer Lebenseinheit, zu der dieses gehört, begründet zu
finden. Indes sehen wir uns sofort genötigt, davon abzusehen,
weil auch nach Kant das Sittliche und daher die „sittliche“
Pflicht uneingeschränkt alle|menschlichen Bewußtseins wesen
betrifft, wir aber vergebens nach einer Lebenseinheit uns Um-
sehen, zu deren Mitgliedern (Gesellschaft) oder Gliedern (Ge-
meinschaft) die menschlichen Bewußtseins wesen insgesamt
zählen. Wendet man etwa ein, was nicht sei, könne doch wer-
den, eine Lebenseinheit der gesamten gleichzeitigen mensch-
lichen Bewußtseinswesen wenigstens sei doch immerhin mög-
lich, so stände allerdings, wie beim Religiösen, dessen Gott
auch nur als „möglich“ dasteht, nichts im Wege, von Sittli-
chem, d. h. hier einem Wollen menschlichen Bewußtseins,
das dem Gesetze einer alles menschliche gleichzeitige Bewußt-
sein umfassenden Lehenseinheit entspräche, zu reden. Indes
eine Ethik, die nicht auf Wirkliches, sondern auf Mögliches
06
gegründet wäre, ist als Wissenschaft ausgeschlossen, auch hier
würde in der Tat dann die Dichtung walten.
Aber Kant greift auch gar nicht zu einer möglichen Lebens-
einheit aller menschlichen Bewußtseinswesen in seiner „Ethik“,
ja überhaupt nicht zu einer Lebenseinheit, sowie auch nicht
zur Herrschaftseinheit, um das Pflichtbewußtsein zu begründen.
Um so gespannter kann man sein, wie er die Pflichtethik, ohne
eine Einheit von Bewußtseinswesen zur Hilfe zu nehmen, auf-
zubauen versucht. Zwar spricht er beim sittlichen Wollen des
menschlichen Bewußtseins von Gebot (Imperativ), ihm ersteht
aber das „Gebot1* nicht aus einer Einheit, die Gebieter und
Untertan aufweist, sondern aus dem einzelnen Bewußtseins-
wesen für sich allein.
Es muß in der Tat wundernehmen, daß Kant seine Ethik
auf das „Gebot** (Imperativ) und auf das „Gesetz** zu gründen
sucht, da er doch dabei nur das einzelne menschliche Bewußt-
sein voraussetzt. Ist das Sittliche ein „Gebot“, so hat es doch
immer zwei Bewßtseinswesen zur Voraussetzung, das gebie-
tende und das gehorchende, und wir sehen keine Möglichkeit,
ein „Gebot“ mit Recht zu behaupten, wenn eines der beiden
Bewußtseinswesen gestrichen wird. Vom Befehlen und Gebie-
ten eines Bewußtseins zu reden, wenn ein anderes Bewußtsein,
das gehorchen kann, nicht sich findet, erscheint uns ebenso
sinnlos, wie die Rede von Gehorsam eines Bewußtseins, wenn
kein Gebieter sich findet.
Ist das Sittliche aber ein „Gesetz“ für das menschliche Be-
wußtsein, so ersteht, da das menschliche Bewußtsein für dieses
Gesetz doch die beiden Möglichkeiten, ihm als wollendes zu
entsprechen oder zu widersprechen, mitbringen muß, als die
notwendige Voraussetzung eine Lebenseinheit, zu der das „unter
dem Gesetz stehende“ Bewußtsein gehört. Auch hier also können
wir nicht mit dem einen Bewußtsein allein auskommen, um
das Sittliche als „Gesetz“ zu verstehen, da dieses „Gesetz“ ja
das Gesetz einer Lebenseinheit (Einheit von Bewußtseinswesen)
57
sein muß. Denn wäre es das Gesetz des menschlichen Bewußt-
seins im Sinne eines Naturgesetzes, so würde das unter ihm
stehende Bewußtsein dem Gesetze entsprechen müssen, also
die Möglichkeit, ihm nicht zu entsprechen, schlechtweg abzu-
sprechen sein.
Wir fragen daher in der Tat verwundert, wie Kant dazu ge-
kommen sein, was ihn bestimmt haben mag, vom Sittlichen
als Gebot und als Gesetz zu reden, obwohl er sich in beiden
Fällen nur auf das einzelne menschliche Bewußtsein und nicht
auf eine Mehrzahl von Bewußtseinswesen stützte.
Ich finde keinen anderen Grund, als die Tatsache, daß Kant
in der Religionsethik, die als Pflichtethik und im Besonderen
als Herrschaftsethik das „Du sollst“, das „Gebot“ des Sittlichen
vortrug, aufgewachsen ist; das „Du sollst“ des Katechismus war
ihm von Jugend auf so vertraut und geläufig, daß er der Herkunft
von diesem „Du sollst“ vergessen und zu der Behauptung kom-
men konnte, es sei eine unverbrüchliche Tatsache, daß das mensch-
liche Bewußtsein überhaupt das „Du sollst“, den „kategorischen
Imperativ“, kenne. Auf dieser angeblichen Tatsache fußte eben
Kant, sie stand ihm über aller Kritik und es galt ihm nur,
diese Tatsache zu verstehen und sie wissenschaftlich klarzustel-
len. Dabei mußte er, da nach ihm die Wirklichkeit Gottes, von
dem die Religionsethik das Sittliche und das „Du sollst“ her-
leitet, wissenschaftlich nicht festzuseilen ist, die religiöse Be-
gründung fallen lassen, während er eben das „Du sollst“ als
solches schlechtweg beibehielt und nun fragte, wie dieser Impe-
rativ möglich sei ohne den göttlichen Gebieter.
Auf der anderen Seite forderte das Sittliche als „Gesetz“,
da keine Lebenseinheit nach Kant ihm unterliegen sollte, für
das menschliche Bewußtsein auch eine neue Erklärung. Hier-
bei spielte nun unbemerkt jene Unterscheidung, von der Herr-
schaftseinheit und der Lebenseinheit insofern eine Rolle, als
wie wir sahen, in der ersten das „Gesetz“ für das menschliche
Bewußtsein auf einen fremden Willen (Heteronomie), in der
58
zweiten auf den eigenen Willen (Autonomie) gestellt ist. Daß
dann Kant für das Sittliche die Heteronomie verwarf, mußte sich
ohne weiteres ergeben, da er ja überhaupt das Sittliche aus
dem einzelnen Bewußtsein heraus zu verstehen suchte und kein
anderes Bewußtsein dafür heranzog. Darum eben ist ihm in
seiner Ethik die Pflicht nicht diejenige, die wir bei der Herr-
schafteinheit finden (Heteronomie), sondern diejenige der Lebens-
einheit (Autonomie). Aber sowohl diese Pflicht als auch jenen
Imperativ wollte nun Kant aus dem einzelnen menschlichen
Bewußtsein allein zu verstehen suchen.
Der „kategorische Imperativ“ ruft nach dem Zweierlei, ohne
das kein Gebot einen Sinn hat, nach dem Gebietenden und dem
Gehorchenden. Ist es nun das einzelne menschliche Bewußt-
sein, aus dem allein schon die Möglichkeit dieses Imperativs
erhellen soll, so muß das menschliche Bewußtsein Zweierlei
aufweisen: Kant findet es in der menschlichen „Vernunft“,
die nach ihm mit der „Sinnlichkeit“ zusammen das mensch-
liche Bewußtsein als wollendes ausmacht; die Vernunft der Ge-
bieter, die Sinnlichkeit der Untertan mit den entgegengesetz-
ten Willensmöglichkeiten.
Greifen wir fehl mit dieser Auffassung, so bleibt uns keine
Möglichkeit, Kants „kategorischen Imperativ“ überhaupt zu
verstehen, nachdem uns Kant es selbst verlegt hat, zu anderem
Bewußtsein als Gebieter des Gebotes die Zuflucht zu nehmen.
Wir könnten nun aber diese Auffassung, daß das Bewußtsein
noch aus Vernunft und Sinnlichkeit bestehe, nur in dem Sinne
ausführen, daß das menschliche Bewußtsein zusammengesetztes
Bewußtsein sein müßte, das aus den Teilwesen „vernünftiges
Bewußtsein“ und „sinnliches Bewußtsein“ bestände. Diese bei-
den Bewußtseinswesen bildete dann eben eine Herrschafts-
einheit, in der das Vernunftbewußtsein der Gebieter, das
Sinnlichkeitsbewußtsein mit seinen beiden Willensmöglichkeiten
das Gehorchende ist, und das „Du sollst“, der kategorische Impe-
rativ wäre damit anscheinend gerettet und gerechtfertigt. Aber
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dieses Kartenhaus fällt unrettbar zusammen, wenn wir uns
darauf besinnen, daß menschliches Bewußtsein einfaches Ein-
zelwesen, daher Vernunft und Sinnlichkeit, wenn diese beiden
überhaupt zum Bewußtsein Cehöriges ausdrücken, Allgemeines
sein müssen, also nicht Einzelwesen und darum nicht Gebieter
oder Gehorchendes sein können, da nur Einzelwesen, und zwar
Bewußtseinswesen gebieten oder gehorchen.
Eis leidet mir nun auch gar keinen Zweifel, daß Kant, ohne
sich freilich darüber klar zu werden, die „Vernunft“ des mensch-
lichen Bewußtseins als den Gebieter („Du sollst“), die „Sinnlich-
keit“ als das Gehorchende, das menschliche Bewußtsein selbst
als zusammengesetztes Einzelwesen angesehen hat, wozu sich
ihm wohl auch unbemerkt die überlieferte Religionsethik ge-
sellt und mitgeholfen hat, ihm den kategorischen Imperativ als
unantastbare Tatsache zu sichern. Wir können aber diese Kan-
tische in der Tat auf die zwei vermeintlichen Einzelwesen
„Vernunft“ und „Sinnlichkeit“ des menschlichen Bewußtseins
aufgebaute Pflichtethik des Sollens nicht anerkennen als
Wissenschaft, da menschliches Bewußtsein einfaches Einzel-
wesen ist, aus dem allein niemals klarzulegen ist, daß das Sollen
möglich sei. Kant aber lebt und webt in seiner Pflichtethik
des Sollens, was sich auch besonders darin zeigt, daß er jedes
Wollen aus Neigung aus dem Reiche des Sittlichen verweist.
Sollen findet sich ja allein in der Herschaftseinheit („Gebieter
und Knecht“), das Wollen des Knechtes ist aber ausnahmslos
Zwrangswollen, das will sagen, das Gesollte für sich betrach-
tet steht dem Knechte da im Lichte der Unlust, und nur als
Mittel zum Zweck ist es überhaupt gewollt. Es war also durch-
aus folgerichtig, wenn Kant im Wollen des Gesollten die „Nei-
gung“ strich; nur mußte er dabei bedenken, daß ihm dann
eben alles sittliche Wollen als Zwangs wollen (Sollen wollen)
ein Mittelwollen zu einem Zweck sein müsse. Daher werden
wir darin wahrlich nichts Abwegiges finden, wenn in der Kan-
tischen Pflichtethik eine Glückseligkeitslehre versteckt ist, die
60
auch darin sich kundgibt, daß Kant als die notwendige Folge
der Pflichterfüllung (GlückWürdigkeit) die Glückseligkeit kennt.
Wenn wir nun Kant in seiner Pflichtethik des Sollens
oder des Gebotes nicht folgen und in ihr eine Ethik als Wissen-
schaft nicht sehen können, so hat er noch ein zweites Eisen
im Feuer, um aus ihm eine Pflichtethik des Müssens oder
des Gesetzes zu schmieden. Wir wissen ja, daß von Pflicht nicht
nur zu reden ist in Herrschaftseinheit, sondern auch in jeder
Lebenseinheit, die freilich nicht Gebot, sondern vielmehr Ge-
setz, nicht Sollen, sondern Müssen für ihre Mitglieder oder Glie-
der kennt. Aber auch dieser Versuch einer Ethik als Wissen-
schaft leidet an einem unaufhebbaren Mangel, sofern wir an-
nehmen dürfen, daß „Gesetz“ allemal eine Lebenseinheit
von Bewußtseinswesen voraussetzt. Denn die von der Pflicht-
ethik des Müssens oder des Gesetzes vorausgesetzte Lebens-
einheit aller menschlichen Bewußtseinswesen überhaupt
findet sich nicht in der Wirklichkeit, so daß diese Pflicht-
ethik im selben Spital krank liegt, wie die Religionsethik, und
die gedachte Lebenseinheit als Wirkliches voraussetzt, ohne
doch deren Wirklichkeit feststellen zu können. Kant selbst aber
setzt hier für seine Pflichtethik des Gesetzes gar nicht eine
solche Lebenseinheit aller menschlichen Bewußtseins wesen
voraus, sondern er sucht die Wurzel des Gesetzes sittlichen
Wollens, statt überhaupt in einer Lebenseinheit, in der mensch-
lichen Vernunft; sittliches Wollen ist ihm eben reines Vernunft-
wollen, dem Gesetze der reinen Vernunft gemäß wollen.
Aber Kant sieht nicht, daß er damit nicht nur das Sollen, son-
dern überhaupt alles, was Pflicht heißt, hinter sich gelassen hat,
indem ja doch das als reine Vernunft Wollende nichts von Ein-
heit, sei es Herrschaft, sei es Gesellschaft oder Gemeinschaft,
voraussetzt, daher auch Pflicht, die ja nur in dem, was eine
Einheit von Bewußtseinswesen darstellt, sich finden kann, für
das als reine Vernunft Wollendes nicht in Frage kommen würde.
Somit hätte Kant die Pflichtethik auch schon dahinten gelassen,
61
während er doch noch selbst das Banner der Pflichtethik hoch
hielt?
Daran mag etwas sein, Kant jedoch selbst hat stets mit dem
„Gesetze“ der praktischen Vernunft die Pflicht innig ver-
knüpft, woraus — wie hätte er sonst von „Gesetz“ und „Gesetz-
gebung“ reden können — deutlich hervorgeht, daß er das unter
diesem „Gesetze“ (nicht „Gebot“) stehende menschliche Be-
wußtsein in einer Lebenseinheit wußte, aus der ja überhaupt
nur die Gesetzespflicht verständlich wird, wie die Gebots-
pflicht nur aus der Herrschaftseinheit.
Aber in der Welt, im Wirklichen schlechtweg, finden wir
doch, wie viele besondere Lebenseinheiten auch sich bieten
mögen, keine, die alle menschlichen Bewußtseinswesen um-
faßt, und ebenfalls auch keine wirkliche Herrschaftseinheit, in
der der Gebieter mit seinem „Du sollst“ alle menschlichen Be-
wußtseinswesen trifft. Vergebens also würde sich Kant bemühen,
seiner Pflichtethik, sei es als Gebotsethik, sei es als Ge-
setzesethik, den Wirklichkeitsboden, ohne den von einer
Ethik als Wissenschaft doch nicht die Rede sein kann, zu fin-
den. Nun hat freilich Kant auch gar nicht seine Pflichtethik
auf solche, die Gesamtheit menschlicher Bewußtseinswesen um-
spannende Herrschaftseinheit oder Lebenseinheit eingestellt,
und vielmehr versucht, aus der Vernunft des menschlichen Be-
wußtseins die Pflicht, und zwar sowohl die Gebotspflicht als
auch die Gesetzespflicht herauszuholen.
Aber der Vernunft menschlichen Bewußtseins fehlt es gradezu
an Allem, um Gebieter oder um Gesetzgeber menschlicher
Bewußtseinswesen genannt werden zu können. Die mensch-
liche Vernunft ist ja nicht ein „Vernunftwesen“, ist überhaupt
nicht ein Einzelwesen (Einziges), sondern ein Allgemeines,
das dem menschlichen Bewußtsein zugehört, indes nur ein
Einzelwesen und zwar nur ein Bewußtsein kann gebieten und
Gebote geben. Andererseits besteht die menschliche Vernunft
auch nicht aus Vernunft- oder Bewußtseinswesen, was doch der
62
Fall sein müßte, wenn die menschliche Vernunft für die mensch-
lichen Bewußtseinswesen Gesetzgeber wäre, wie Kant meint.
Denn nur Lebenseinheit kann Gesetzgeber sein für „ihre“ Be-
wußtseinswesen überhaupt, die Vernunft menschlichen Bewußt-
seins aber ist nicht, wie jede Lebenseinheit, Einziges, sondern
Allgemeines, zu dem also nicht, wie bei der gesetzgebenden
Lebenseinheit, die menschlichen Bewußtseinswesen gehören,
sondern das vielmehr zu jedem dieser Bewußtseinswesen gehört.
So erweist es sich dann ganz verfehlt, die Vernunft des mensch-
lichen Bewußtseins für den Gebieter und für den Gesetzgeber
der menschlichen Bewußtseinswesen auszugeben; Kants Pflicht-
ethik mit ihrer doppelten Rüstung, dem kategorischen Imperativ
und der moralischen Gesetzgebung schwebt völlig in der Luft,
da sie das allen menschlichen Bewußtseinswesen gemeinsame
Allgemeine „Vernunft“ in Einziges umdichtet und zwar als
Gebotsethik in Gebieter („Du sollst“), und als Gesetzesethik
in Lebenseinheit der menschlichen Bewußtseins wesen über-
haupt.
Die gebietende und nicht weniger die gesetzgebende Ver-
nunft des menschlichen Bewußtseins, auf die Kants Ethik ge-
stellt ist, erweist sich als ein Trugbild, das den großen Königs-
berger nur deshalb hat bezaubern können, weil für ihn hinter
der gebietenden Vernunft das Vernunft wesen „Gott“ und
hinter der gesetzgebenden Vernunft die gesetzgebende Lebens-
einheit aller menschlichen Bewußtseinswesen als Rücken-
stütze sich einstellten, Stützen freilich, die selbst nicht den
Boden der Wirklichkeit berühren, sondern beide im Möglichen
wohnen. Nur diese ihm unbemerkte doppelte Rückenstütze
einer Herrschaftseinheit und einer Lebenseinheit macht es er-
klärlich, daß Kant meint, die Pflicht schlechtweg aus der Vernunft
menschlichen Bewußtseins herleiten zu können, da doch Pflicht
niemals zu finden ist, es wäre denn eine Einheit von Bewußt-
seinswesen, sei es Herrschaftseinheit sei es Lebenseinheit, ge-
geben.
6.
Alle in der Geschichte vorliegenden Versuche, in einer
Pflichtethik, sei es Gebotethik, sei es Gesetzethik, die Ethik
als Wissenschaft zu gewinnen, erweisen sich als unzuläng-
lich, sie alle aber stimmen darin überein, daß ihnen „sittlich“
nicht mehr, wie zunächst dem vorwissenschaftlichen Bewußt-
sein, soviel wie „der Sitte gemäß“ bedeutet und sich mit diesem
deckt, wenn auch „sittlich“, übereinstimmend mit „der Sitte
gemäß“, eben das wollende und handelnde menschliche Be-
wußtsein angeht. Und wenn wir das „sittliche“ Wollen der
Pflichtethik als „pflichtiges“ Wollen bezeichnen, so treffen
„sittlich“ und „der Sitte gemäß“ wiederum darin zusammen,
das alles der Sitte gemäße Wollen eben pflichtiges Wollen ist.
Aber doch fallen „sittlich“ und „der Sitte gemäß“ auch beim
pflichtigen Wollen keineswegs zusammen, indem das Wollen
in der Pflichtethik nicht etwa auf „Lebenseinheit“ eingeschränkt
ist, sondern das Pflichtwollen in der Herrschaftseinheit („Du
sollst“) einschließt, bei dem ja von „der Sitte gemäßem Wollen“
und Willenshandeln nicht die Rede sein kann. So ist dann in
der Tat das Sittliche der Pflichtethik immerhin der „Sitte“
schon entrückt, wenn auch das der Sitte gemäße Wollen schlecht-
weg als Pflichtwollen zu begreifen ist. Und das Letzte darf nicht
übersehen werden, wie dies wohl nicht selten geschieht, indem
man beim Pflichtwollen den Blick gerne nur auf das Pflicht-
wollen in der Herrschafteinheit („Du sollst“) einstellt und
somit nur an ein Zwangs wollen denkt. Gibt es doch nicht nur
Pflichtwollen als Zwangswollen, wie es allerdings jede Herr-
schaftseinheit ausnahmslos zeigt. Denn selbst, wenn alles
Pflichtwollen Zwangswollen wäre, wie z. B. Kant offensichtlich
meint, da er die Neigung aus dem Pflicht wollen schlechthin
gestrichen wissen will, würde das Pflichtwollen doch nicht nur
auf das Sollen allein gestellt, also auf die Herrschafteinheit be-
schränkt sein. Wie vieles Pflicht wollen einer Lebenseinheit, die
eine „Gesellschaft“ ist. erweist sich als Zwangswollen, indem
64
das als Mittel Gewollte für sich dem pflichtigen Bewußtsein
im Lichte der Unlust steht und somit gezwungen Gewolltes
ist. Also nicht allein beim „Sollen“, sondern auch beim „Müssen“,
nicht nur beim „Gebot“, sondern auch beim „Gesetz“ ist Zwangs-
wollen anzutreffen.
Allerdings finden wir in der Lebenseinheit „Gesellschaft“
gar häufig auch ein Pflicht wollen, das freies Wollen, nicht
Zwangswollen ist, daß ein als Mittel Gewolltes dem pflichtigen
Bewußtsein im Lichte der Lust steht („Neigung“), wie denn
überhaupt das Pflichtwollen in der Lebenseinheit, die eine
„Gemeinschaft“ bedeutet, sogar ausnahmslos freies d. i.
ungezwungenes Wollen ist. Daraus geht freilich hervor, daß
Pflicht wollen als solches selbst gar nichts mit „Neigung“
zu tun hat, weder ihrer bedarf, noch durch sie aufgehoben wird.
Meinte Kant dies, wenn er Neigung und Pflicht streng aus-
einanderhielt, so könnten wir zustimmen, nicht aber wenn
er Neigung und Pflicht als für das sittliche Bewußtsein schlecht-
hin unvereinbar wissen will.
All den Besonderungen der Pflichtethik nun, die uns in der
Geschichte entgegen treten, fehlt es irgendwie an Wirklich-
keitsboden, ohne den nun einmal Ethik als Wissenschaft nicht
bestehen kann. Denn der Ansatz- und Ausgangspunkt der Ethik
als Wissenschaft muß eben in der Wirklichkeit sich finden
und als Wirkliches schlechthin feststehen: alle Pflichtethik
aber, die wir kennen, schwebt mit ihrem Ansatz in der Luft
des Möglichen; tritt sie als Gebotethik auf, so liegt der Ge-
bieter „Gott“, tritt sie als Gesetzethik auf, so liegt die Lebens-
einheit „aller menschlichen Bewußtseinswesen“ nur im Gebiete
des Möglichen; die Wissenschaft eben kennt kein Bewußtseins-
wesen als Wirkliches, das allem menschlichen Bewußtsein
Gebieter wäre, und sie kennt ebenfalls keine Lebenseinheit als
Wirkliches, deren Mitglieder oder Glieder alle menschlichen
Bewußtseinswesen wären. Ein pflichtiges Wollen als sittliches
d. i. allen menschlichen Bewußtseinswesen gleicherweise und
6 Rchmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
65
ausnahmslos aufliegendes Wollen läßt sich also wissenschaftlich
nicht halten, weil seine notwendige Voraussetzung, der wirk-
liche Gebieter aller menschlichen Bewußtseinswesen oder die
wirkliche, allen menschlichen Bewußtseinswesen unterstehende
Lebenseinheit nicht festzustellen ist. Was immer mit wissen-
schaftlicher Berechtigung als Pflicht anzusprechen ist, betrifft
stets besondere Einheiten innerhalb der Gesamtheit menschlicher
Bewußtseinswesen, und eben darum muß die Wissenschaft,
wenn anders das Wort „sittlich“ nicht, wie das Wort „der
Sitte gemäß“, auf besondere Einheiten menschlicher Bewußt-
seinswesen sich beschränkt, sondern alle menschlichen Bewußt-
seinswesen betrifft, es ablehnen, von „sittlicher Pflicht“
oder „pflichtiger Sittlichkeit“ zu reden: kein Pflichtwollen ist
„sittlich“ zu nennen, sittliches Wollen kann nicht Pflichtwollen
heißen. Wir werden dämm immer vergebens bei der sogenannten
Pflichtethik Umschau halten nach einer wissenschaftlich zu-
reichenden Antwort auf die Frage „was ist sittlich?“ und wir
müssen es ab weisen, wenn uns die Pflichtethik sagt, das sitt-
liche Wollen sei ein Pflichtwollen.
Neben der von der Pflichtethik trotz des fehlenden Wirklich-
keit-Hintergrundes dennoch gegebenen Antwort „das Sittliche
ist das alle menschlichen Bewußtseins wesen treffende Pflich-
tige“ (s. Kants „Prüfung einer allgemeinen Gesetzgebung“)
steht in der Geschichte ein anderer Versuch einer Ethik als
Wissenschaft vor uns, der in Ansatz und Beantwortung der
Frage „was ist sittlich?“ erheblich von der Pflichtethik abweicht.
Wir finden ihn vor Allem zur vorchristlichen Zeit schon im
alten Griechenland, und er ist bekannt unter dem Namen
„Eudämonismus“. Er kennt keine sittliche Pflicht, schon des-
halb nicht, weil seine Ethik gar nicht Einheit von Bewußtseins-
wesen, ohne die ja von Pflicht nicht die Rede ist, ja nicht einmal
eine Mehrheit von Bewußtseinswesen voraussetzt, sondern nur
das einzelne menschliche Bewußtsein zum Ansatz hat,
und zwar dieses Bewußtsein eben als Glückseligkeitwollen-
66
des Wesen, weshalb dieser Versuch eben Eudämonismus ge-
nannt ist.
Dieser Ansatz „Glückseligkeitwollendes Bewußtsein“ bezeich-
net aber nicht etwa das menschliche Bewußtsein in einem be-
sonderen Wollen, das sich von anderem dadurch unterschiede,
daß Glückseligkeit sein Zweck wäre. Epikur, der es sich hat
angelegen sein lassen, diesen Ansatz griechischer Ethik klar
herauszustellen, weist immer darauf hin, daß alles Wollen
Glückseligkeitwollen, also der Zweck jedes Wollens die Glück-
seligkeit des Wollenden sei; kurz gesagt: es gebe überhaupt
kein anderes Wollen als Glückseligkeitwollen und zwar dies so
verstanden, daß, wer immer will, seine Glückseligkeit will.
Geht demnach diese Ethik davon aus, daß menschliches Bewußt-
sein, wann immer es will, die eigene Glückseligkeit zum Zweck
haben muß, so kann die Frage, „was ist sittlich?“, da sie sich
doch auf Wollen beziehen muß, nicht das Wollen als Glück-
seligkeitwollen selbst treffen. Wenn wir von sittlichem Wollen
reden, so meinen wir ein besonderes Wollen, von dem wir
nach altem Brauch „nichtsittliches“ Wollen unterscheiden, und
somit ist es ausgeschlossen, daß diese Ethik etwa von dem
Glückseligkeitwollen, was nach ihr jedes Wollen ist, als „sitt-
lichem“ spräche. Gäbe es nun nur Wollen mit einfachem
Zweck, so würde es für diese Ethik, die als den Zweck jedes
Wollens die eigene Glückseligkeit voraussetzt, nicht möglich
sein, von sittlichem Wollen als einem besonderen Wollen zu
reden, da ihr das Gewollte alles Wollens dann eben die Glück-
seligkeit des Wollenden sein müßte.
Nun kennen wir außer dem einfachen Zweck auch den
Reihenzweck im Wollen1, und wir unterscheiden ein Wollen
von einem anderen, wenn beider Zweck ein Reihenzweck ist,
nicht nur in Ansehung des „Endzweckes“, sondern auch in An-
sehung des „Mittels zum Zweck“ und zwar das Letzte auch in
dem Falle, daß der Endzweck in beiden Fällen derselbe ist.
1 s. Rehmke, „Die Willensfreiheit“ S. 24fr. u. ö.
8*
67
Wer also von dem Ansatz ausgeht, daß alles Wollen Glück-
seligkeitwollen sei, kann immerhin noch zu einer Ethik als
Wissenschaft vom Sittlichen kommen, wenn ihr eigentlicher
Gegenstand ein Wollen ist, das einen Reihenzweck darstellt,
dessen Endzweck zwar mit demjenigen alles anderen Wollens
zusammenfällt, dessen „Mittel zum Zweck“ aber dieses Wollen
zu einem besonderen, dem „sittlichen“ Wollen stempelt.
Darum dreht es sich in der hier in Rede stehenden Ethik bei
der Frage nach dem „Sittlichen“ auch allein um das „Mittel“
zum „Zweck der Glückseligkeit“; dasjenige Wollen ist
sittliches Wollen, dessen Zweck ein Reihenzweck ist, und
zwar ein Reihenzweck, dessen „Mittel“ die Glückseligkeit des
Wollenden herbeiführen.
Die Frage, was sittlich sei, beantwortet sich nach dieser Ethik
demnach ganz allein aus der Erkenntnis, daß das im Reihen-
zweck als Mittel angesehene, vom Glückseligkeitwollenden für
ein Mittel zur Glückseligkeit gehaltene Gewollte in Wahrheit
solches Mittel sei. „Sittliches“ Wollen ist hier durchaus in die
Einsicht in das, was zur Glückseligkeit führt, was also Mittel
zum Zweck ist, gegründet, und dieses Mittel klarzustellen, ist
die Aufgabe, die sich diese Ethik setzen muß. Daß es sich ihr
immer um Reihenzweck und insonderheit um Mittel zum
Zweck handelt, zeigt uns auch deutlich der Umstand, daß sie
das Sittliche als das Gute bezeichnet und damit eben das „Zweck-
dienliche“ zum Ausdruck bringt. Sittlichwollen heißt also das
Gute, d. h. zur Glückseligkeit Führende wollen. Wer aber das
Gute d. i. das Glückseligkeitsmittel nicht weiß, kann es auch
nicht wollen, die notwendige Voraussetzung sittlichen d. i. zur
Glückseligkeit führenden Wollens des menschlichen Bewußt-
seins ist die Einsicht in die Glückseligkeitsmittel. Wer aber
ihre Erkenntnis gewonnen hat, der muß sie auch wollen,
weil er seine Glückseligkeit will; so spricht Sokrates: ao<f>cg
uya&dg, wer das Gute weiß, der will es auch, das Schlechte
d. h. das die Glückseligkeit Hindernde will nur, wer es als
68
solches nicht erkennt, sondern fälschlich für Glückseligkeits-
mittel hält.
Vor das „Sittliche“ d. h. vor das Wollen der Glückseligkeits-
mittel hat also diese Ethik die Erkenntnis oder die Einsicht in
die Glückseligkeitsmittel gestellt und alles Sittliche in dieser
Einsicht verankert: wir wollen sie darum die Klugheitethik
nennen, indem wir das griechische Wort „aoip/a“ mit dem
deutschen Wort „Klugheit“ wiedergeben. So hat denn in dieser
Ethik das menschliche Bewußtsein als erkennendes Wesen
(vovg) für das Sittliche grundlegende Bedeutung, denn nur durch
die Pforte der Erkenntnis der Glückseligkeitsmittel, d. i. des
Sittlichen, geht ihr das wollende Bewußtsein in den Tempel der
Glückseligkeit ein.
Vergleichen wir die Klugheitethik mit der Pflichtethik, so
hat sie, wissenschaftlich betrachtet, vor dieser voraus, daß sie
mit ihrem Ansatz auf dem Wirklichkeitsboden steht, während
die Pflichtethik, wie wir gezeigt haben, dessen ermangelt. Die
Klugheitethik hat es in ihrem Ansatz mit einem zweifellos
Wirklichen, dem wollenden menschlichen Bewußtsein zu tun,
aber freilich nur mit dem einzelnen Bewußtsein, so daß für
das „Sittlich«“ es dieser Ethik gar nicht noch eines zweiten
Bewußtseinswesens als Voraussetzung benötigt und „sittliches“
d. h. zur eigenen Glückseligkeit führendes Wollen schon mög-
lich erscheint, wenn auch nur Ein menschliches Bewußtsein sich
in der ganzen Welt befände. Aber wenn auch die Klugheit-
ethik auf Wirklichkeitsboden gestellt ist, so ist dieser Versuch
einer Ethik als Wissenschaft doch nicht weniger abzulehnen
als derjenige der Pflichtethik, und zwar aus zwei Gründen, die
sich gegen die Voraussetzung der Klugheitethik wenden, daß
jeglichen Wollens Zweck die eigene Glückseligkeit ausmache.
Zunächst ist dagegen einzuwenden, daß hier, auch wenn diese
Voraussetzung Wahrheit wäre, Ethik als Wissenschaft vom
Sittlichen unmöglich sein müßte, eben wenn das Sittliche das
„Gute“ d. h. das Glückseligkeitsmittel, wie die Klugheitethik
69
lehrt, bedeutet. Muß doch das Sittliche für jegliches Bewußtsein
gleicherweise zutreffen, für alles menschliche Bewußtseins-
wesen also das Glückseligkeitsmittel ein und dasselbe sein. Nun
aber finden wir in der Geschichte so mannigfache Versuche einer
Klugheitethik, so mannigfache Antworten auf die Frage „was
ist sittlich?“, die zum Teil schroff gegeneinanderstehen und
sich unentwegt auch gegeneinander behaupten, daß die Hoffnung,
eine Ethik als Wissenschaft auf diesem Wege zu gewinnen,
schwinden muß. Ist eigene Glückseligkeit Zweck jedes Wollens,
so ist es aussichtslos, nach einem Glückseligkeitsmittel, das
für alle menschlichen Bewußtseinseinswesen dasselbe wäre, also
jedem menschlichen Bewußtsein in jedem Fall die Glückselig-
keit vermittele, zu suchen.
Man möchte nun entgegnen, daß dieTatsache größter Meinungs-
verschiedenheit unter den Klugheitethikern noch keineswegs be-
rechtige, die Klugheitethik als Wissenschaft zu verwerfen und
demgemäß die Behauptung zu vertreten, daß ein für jedes
menschliche Bewußtseinswesen in jedem Fall die Glückselig-
keit herbeiführendes Mittel schlechtweg ein Hirngespinst sei.
Indem wir diesen Ein wand anerkennen, führen wir den anderen
und Hauptgrund ins Feld, weshalb wir die Klugheitethik als
Wissenschaft ablehnen müssen. Diese Ethik geht ja von der
Voraussetzung aus, daß jedes Wollen menschlichen Bewußtseins
die eigene Glückseligkeit als Zweck aufzuweisen habe; was
immer menschliches Bewußtsein sonst noch wolle, das wolle
es um seiner Glückseligkeit oder, was hier dasselbe sagt, um
seiner Lust willen. Die Klugheitethik kennt also nur immer
Eines, was Selbstzweck in all unserem Wollen ist, das ist die
Glückseligkeit oder Lust des betreffenden Bewußtseins, alles
Andere in unserem Wollen gelte nur als zu diesem Zweck ge-
wolltes Mittel. Mit dieser Voraussetzung, daß, was wir immer
außer unserer Glückseligkeit (Lust) noch wollen, um unserer
Glückseligkeit willen wollen, steht und fällt die Klugheitethik.
Hätte sie Recht mit ihrer Voraussetzung, so würden wir in all
70
unserem verschiedenen Wollen keinen Fall feststellen können,
in dem nicht unsre Glückseligkeit als Selbstzweck sich zeigte,
in dem wir nicht alles sonst noch Gewollte um unserer Glück-
seligkeit willen, also als Mittel zu jenem Zweck gewollt hätten.
Niemand aber wird in Verlegenheit sein, aus seinem eigenen
Leben Fälle seines Wollens vorzuführen, in denen der Zweck
nicht die eigene Lust oder Glückseligkeit gewesen ist. Wer
einem Bedrängten aus der Not helfen, wer seinem Kinde eine
Freude machen will, denkt dabei nicht an sich und die Glück-
seligkeit, die ihm etwa aus der Verwirklichung des Gewollten
erwachsen kann: er mag sich noch so sehr auf Herz und Nieren
prüfen, von dem Gedanken an Verwirklichung eigener Lust
findet er in jenem Wollen schlechthin keine Spur. Und er ist
doch der Einzige, der von diesem in Rede stehenden Wollen,
da es ja sein Wollen ist, zeugen und bekunden kann, was er
gewollt hat. Mag ihm auch der Klugheitethiker einwenden, in
solchen Fällen, von denen man urteile, daß man an sich selbst
und seine Glückseligkeit gar nicht gedacht habe, werde nähere
Überlegung doch ergeben, daß in der Tat die eigene Glück-
seligkeit der „Endzweck“ des betreffenden Wollens gewesen sei.
Diesem Einwand, der immerhin in manchem Fall sich als be-
rechtigt erweisen mag, können wir die Tatsache entgegenhalten,
daß so manche Fälle unsres Wollens uns sonnenklar sich er-
weisen als solche, die nicht die eigene Glückseligkeit des Wollen-
den als Zweck gehabt haben. Man pflegt in diesen Fällen von
selbstlosem Wollen zu reden, und seine Tatsächlichkeit ist
nicht aus der Welt zu schaffen oder dieses selbstlose Wollen in
sein Gegenteil, das Glückseligkeit wo! len umzudeuteln. Die
letzte Entscheidung, ob ein besonderes Wollen ein selbstloses
war, oder nicht, liegt ja auch allein bei dem Bewußtsein, dessen
Wollen es gewesen ist, und nicht etwa bei einem anderen
menschlichen Bewußtsein.
Die Tatsache selbstlosen WTollens steht aber mit der Voraus-
setzung der Klugheitethik, daß alles Wollen Glückseligkeit wollen,
71
also menschlisches Bewußtsein in jedem Wollen seine eigene
Glückseligkeit zum Zweck habe, in Widerspruch und hebt sie
demzufolge schlechtweg auf, so daß die Klugheitethik keinen
Anspruch mehr darauf machen kann, Ethik als Wissenschaft
zu sein. Ihr Glückseligkeitwollen ist nicht das menschliche
Wollen überhaupt, sondern ein besonderes Wollen neben dem
selbstlosen Wollen; die Frage nach dem Sittlichen konnte bei
jener Voraussetzung für den Versuch einer Ethik als Wissen-
schaft, die wir „Klugheitethik“ nennen, nicht an Glückselig-
keitwollen selbst irgend gestellt werden, weil das Sittliche ein
besonderes Wollen betrifft, und daher das Glückseligkeit wollen
der Klugheitethik nicht selbst sittliches Wollen zu nennen ist,
denn sie kennt ja kein von Glückseligkeitwollen unterschiedenes
Wollen. Ist aber Glückseligkeitwollen als ein besonderes vor
selbstlosem Wollen erkannt, so wird, wenn wir vom Sittlichen
handeln, an dieses Wollen, wie an das selbstlose Wollen die
Frage kommen, um zu entscheiden, ob diesem oder jenem die
Bestimmung „sittlich“ zukomme. Auf alle Fälle aber ist damit
die Klugheitethik als Wissenschaft abgewiesen.
Außer der Klugheitethik und Pflichtethik nun finden wir
in der Geschichte noch einen dritten Versuch einer Ethik als
Wissenschaft, der eben an die Unterscheidung „Glückseligkeit-
wollen — selbstloses Wollen“ anknüpft und das selbstlose
Wollen als das sittliche anspricht. Wenn zur Feststellung des
Sittlichen, das ja immer auf jegliches menschliche Bewußtsein
mit seinen Bestimmungen zielt, in der Tat nur die Wahl
zwischen Glückseligkeitwollen und selbstlosem Wollen bleibt,
so kann es von vornherein keinem Zweifel unterliegen, daß
für das Sittliche das Glückseligkeitwollen schlechtweg aus-
scheidet und nicht in Betracht kommt.
Der Gegensatz „Glückseligkeitwollen — selbstloses Wollen-
ist freilich so alt, wie menschliches Bewußtsein überhaupt, aber
die klare Herausstellung dieses Gegensatzes, insbesondere die
Feststellung des selbstlosen, als eines besonderen Wollens war
72
das bedeutsame Geschenk des großen Nazareners, der mit dieser
Erleuchtung dem Sittlichen den wurzelechten Sinn gegeben hat.
Die vorchristlichen Ethiker kannten jene Unterscheidung „Glück
Seligkeit wollen — selbstloses Wollena noch nicht, mit der
christlichen Zeit tritt sie in die Welt, und es beginnt sogleich
der Versuch, das Sittliche in dem selbstlosen Wollen aufzudecken
und eine Ethik des selbstlosen Wollens zu gewinnen, die wir
die „Liebesethik“ nennen. Über diese Bezeichnung wird
weiter unten das Nähere dargelegt. Wir treffen diese Ethik zu-
nächst als christliche Religionsethik in der Geschichte
an, die sich als solche deutlich von jener Religionsethik, die
wir als Pflichtethik kennen lernten, unterscheidet und daher
nicht mit ihr irgendwie verwechselt werden darf1.
Der Liebesethikgruppe gehört ferner die Ethik Arthur Schopen-
hauers an, wenn sie gleich statt des Wortes „Liebe“ das Wort
„Mitleid“ einsetzt; über ihren wissenschaftlichen Wert wird
weiter unten gehandelt werden. Zu dieser Gruppe gehört end-
lich auch der Versuch einer Ethik als Wissenschaft, den ich kn
folgenden darlegen will.
7-
a)
Indem wir nunmehr daran gehen, eine Ethik als Wissen-
schaft auf Grund der Tatsache „selbstloses Wollen“ zu ge-
winnen, so liegt uns in erster Linie ob, diese Tatsache selbst
fraglos klarzustellen; um dieser Klarheit willen können wir
aber nicht umhin, zunächst vom Wollen schlechtweg, als dessen
Besonderung eben das selbstlose Wollen dasteht, zu handeln.
Daß es Wollen nicht gibt, es komme denn einem Wesen
zu, das wir dann wollendes Wesen nennen, darf hier voraus-
gesetzt werden. Wir bemerken dies aber doch ausdrücklich,
weil die Dreideutigkeit des Wortes „Wille“, das in unserem
1 Freilich teilt sie als Religionsethik mit jener das Schicksal mit ihrem
Ansatz nicht auf Wirklichkeitsboden zu stehen und daher ein unzurei-
chender Versuch einer Ethik zu sein.
75
Sprachgebrauch als „Wollen“, „Wollendes“ und „Gewolltes“
umgeht, vielfach vergessen läßt, daß „Wille“ auch in der Be-
deutung „Wollendes“ nicht ein besonderes Wesen bezeichne, das
seinem Wesen nach in der Bestimmung „Wollen“ gezeichnet
sei, wie wir z. B. das Wort „Wille“ bei Schopenhauer verwendet
finden.
Ob freilich der Wille (oder Wollen), wie Wahrnehmen —
Vorstellen, sowie Fühlen und Denken (Unterscheiden — Ver-
einen), eine Bestimmtheit der Seele sei, bleibe einstweilen
noch dahingestellt, daß aber die Seele auch als wollendes Wesen
d. i. als Wille sich erweist, läßt sich nicht bezweifeln. Wir alle
kennen uns als menschliche Seelen, kennen uns als unkörper-
liche Einzelwesen, d. i. als Geister, die ein jedes mit einem
Leibe eine Wirkenseinheit ausmachen, die man „Mensch“ nennt1.
Wir menschliche Seelen aber sind Bewußtseinswesen d. h.
Wesen, deren Wesen Wissen ist, und die ein jedes zu einer
besonderen leiblich-seelischen Wirkenseinheit „Mensch“, die
indes nicht selber auch ein Einzelwesen ist, gehören.
Die Wahrheit, daß wir Bewußtseins wesen und darum eben
dem körperlichen Einzelwesen schlechthin wesensfremd sind,
erfährt noch ihre besondere Beleuchtung durch die Tatsache
des Selbstbewußtseins, also durch die Tatsache, daß wir uns
selbst haben (wissen). Das Selbstbewußtsein aber spielt wiederum
eine bedeutsame Rolle im Wollen menschlichen Bewußtseins;
nur das selbstbewußte Wesen kann überhaupt wollen und wer
immer will, weiß sich selbst; ohne Selbstbewußtsein kein
Wollen, wer sich nicht selbst weiß (hat), kann auch nicht
wollen.
Darum ist „bewußtes WTollen“ nur ein überschüssiges Wort
für Wollen schlechtweg, das eben eine Angelegenheit des sich
selbst wissenden Bewußtseins ist. Die menschliche Seele hat
freilich keineswegs stets Selbstbewußtsein aufzuweisen, eine
1 s. Rehmke, „Die philosophische Erbsünde“ und „Was bin ich?“
Elwert’sche Verlagsbuchhandlung, Marburg 1924.
74
Tatsache, die somit der Behauptung, daß die Seele nicht immer-
fort Wille (= Wollendes) sei, entgegenkommt, denn Selbst-
bewußtsein ist die unabweisliche Bedingung für den Willen
(= Wollen). Wenn aber auch der menschlichen Seele vielfach
Selbstbewußtsein (Sichselbstwissen) fehlt, so fehlt ihr doch
niemals Bewußtsein überhaupt, denn sie ist ja ein Bewußtseins-
wesen d. i. ein Wesen, dessen Wesen Wissen (Bewußtsein)
ist. Darum erweist sich auch die Rede nicht nur vom „unbe-
wußten Wollen“, sondern ebenfalls die vom „unbewußten Vor-
stellen“ und „unbewußten Denken“ als ein Widerspruch in
sich, der eben auf die Behauptung hinausläuft, daß die Seele
etwas habe und auch nicht habe. Wer der menschlichen Seele
ohne „Bewußtsein“ meint gerecht werden zu können und un-
körperliches Einzelwesen, das nicht Bewußtsein (Wissendes als
Wesenswort) ist oder Bewußtsein (Wissen) als sein Wesen hat,
meint behaupten zu dürfen, der bringe doch, sei es auch nur
eine Wesensbestimmung für „Seele ohne Bewußtsein“
heraus, daß wir für diese uns zunächst leeren Worte doch irgend-
welchen Inhalt finden. Man greife dann aber nicht zu Worten
wie „unbewußtes Vorstellen“ oder „unbewußtes Wollen“, die
uns ja nur von der Leere in den Widerspruch führen; denn
ein vorstellendes und gar ein wollendes Wesen, das nicht Be-
wußtsein wäre, ist und bleibt, um mit Hegel zu sprechen, eine
brutale Behauptung, die einen Widerspruch in sich bedeutet.
Noch niemand aber hat der Frage „was ist Seele ohne Bewußt-
sein?“ irgendeine zureichende Antwort gefunden, und alle ver-
meintlichen Antworten haben sich als unberechtigte Anleihe
bei dem Bewußtseinswesen „Seele“ erwiesen. Manche aber, die
mit einem Gefühl der Sicherheit dennoch der „Seele ohne Be-
wußtsein“ das Wort reden, verwechseln „Seele ohne Bewußtsein“
mit „Seele ohne Selbstbewußtsein“; daß der Seele gar viel-
fach Selbstbewußtsein (Sichselbstwissen) fehle, wird niemand be-
streiten, die Tatsache „Seele ohne Selbstbewußtsein“ aber
macht den Satz, daß die Seele ein Bewußtsein sei, doch keines-
75
wegs zuschanden und die Bahn frei für das Wort „Seele ohne
Bewußtein“!
Ist nun das Wollen eine Angelegenheit der menschlichen
Seele, als die wir Alle uns selbst kennen, so ist eben für Wollen
doch ein Bewußtsein die notwendige Voraussetzung; denn als
das Wollende findet sich ausnahmslos in allen Fällendes Wollens
ein Bewußtsein, also ein Einzelwesen, dessen Wesen Wissen
ist. Wir Alle nun sind Bewußtseinswesen, die sich selbst, als
Wollende kennen, und wenn wir uns daher anschicken, das
Wollen klarzulegen, so ist es das Selbstbewußtsein, das einem
Jeden von uns dazu Gelegenheit gibt. Uns Allen ist das Wort
„ich will“ bekannt und vertraut; wir kennzeichnen uns in ihm
als ein wollendes Bewußtsein. Wenn aber wir von uns selbst
sagen „ich will“, finden wir uns als vorstellendes, also als
gegenständliches Bewußtsein. Denn es zeigt sich, daß in jedem
Falle, da wir uns als Wille (Wollendes) wissen, wir etwas
wollen, das wir gegenständlich als Vorstellung haben. Dieses
Vorgestellte heißt dann „Gewolltes“ und gehört zu jedem Fall
eines Wollens. Demjenigen, der uns sagte „ich will“ und auf
unsre Frage „was willst Du?“ antwortete, das weiß ich nicht,
würden wir ohne weiteres erklären müssen, daß er nicht wolle.
Wer will, der will etwas, und dies sagt, wer will, erweist sich
in allen Fällen als gegenständliches, insbesondere als vorstellen-
des Bewußtsein, denn das Gewollte ist immer Vorgestelltes
auch in dem besonderen Sinne, daß dieses eben als Gewolltes
(noch) nicht Wirkliches ist.
Der „Wille“, d. h. das wollende Bewußtsein ist also
immer vorstellendes Bewußtsein; dies ist indes nicht so zu
fassen, als ob Wollen ein besonderes Vorstellen wäre, jedoch
auch nicht so, als ob Wollen mit Vorstellen zusammengehörte,
wie z. B. die menschliche Seele in jedem Augenblick gegen-
ständliches und zuständliches Bewußtsein zugleich ist. Wir
werden noch zeigen, wie das alte Wort von „Denken, Fühlen und
Wollen“ als den angeblichen drei besonderen Bestimmheiten
76
menschlichen Bewußtseinswesens in die Irre geht, da das
Wollen einer solchen Nebenordnung sich schlechterdings nicht
fügt. So ist auch irrig zu meinen, daß Wollen und Vorstellen
als zwei besondere Bestimmheiten, die zusammengehörten, sich
zeigten. Was die Tatsachen lehren, ist vielmehr dieses, daß zu
jedem W« Cf en Vorstellen gehört, also das Bewußtsein, wann
immer es Wille (Wollendes) ist, als dieses Wollende vorstellen-
des Bewußtsein ist, aber doch — was betont werden muß — mehr
als nur vorstellendes Bewußtsein bedeutet. Denn, wäre
dies Letzte nicht der Fall, so stände der Wille d. i. das wollende
Bewußtsein nur als besonderes gegenständliches Bewußtsein da.
Zum Bewußtsein als Wille (Wollendes) gehört nicht nur
gegenständliches Bewußtsein mit dem Vorstellen des „Ge-
wollten“, sondern auch zuständliches Bewußtsein; zu jedem
Wollen gehört nämlich ausnahmslos Unlusthaben an etwas1,
und da menschliches Bewußtsein niemals Unlust und Lust zu-
sammen und zugleich hat, so weist das wollende Bewußtsein
als zuständliches Bewußtsein immer nur Unlust an etwas auf.
Jenes Vorstellen und dieses Unlusthaben gehören aber nicht
nur zu jedem wollenden Bewußtsein, sondern sie sind auch
die notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit jedes
Wollens; jenes Vorstellen einer Veränderung5, — denn das Ge-
wollte ist immer eine Veränderung — und dieses Unlusthaben
weist also das Bewußtein schon auf, bevor es wollendes Be-
wußtsein ist, woraus für das Wollen überhaupt schon zu ent-
nehmen ist, daß es nicht selbst eine besondere Bestimmtheit neben
Vorstellen und Unlusthaben bedeuten kann, was übrigens auch
dadurch schon ausgeschlossen ist, daß diese beiden Bestimmt-
heiten, die gegenständliche und die zuständliche Bewußtseinsbe-
stimmtheit, zu dem Wollen menschlichen Bewußtseins gehören;
1 Siehe Rehmke, „Lehrbuch der allgemeinen Psychologie1 2 3 S. 483fr.,
.Die Seele des Menschen“5 S. 117fr.
1 Siehe Rehmke, „Die Willensfreiheit“ S. ii3f.
3 Siehe Rehmke, „Die Seele des Menschen“5 S. 47fr.
77
denn die Bestimmtheit eines Einzelwesens kann wohl mit einer
anderen zusammen diesem zugehören, nicht aber auch einer ande-
ren Bestimmtheit zugehören. So kann denn, da Vorstellen einer
Veränderung und Unlusthaben an etwas zweifellos einem jeden
Wollen zugehören und beide ebenso zweifellos Bestimmt-
heiten menschlichen Bewußtseins sind, das WoBen, zu dem
sie beide gehören, selbst nicht eine Bestimmtheit der
Seele bedeuten. Nichtdestoweniger müssen wir daran festhalten,
daß jene beiden Bestimmtheiten tatsächlich zu dem menschlichen
Bewußtsein, wenn es Wille (Wollendes) ist, gehören und anderer-
seits auch schon eine Voraussetzung jedes Wollens ausmachen.
Wir haben jedoch mit dem Vorstellen einer Veränderung
und dem Unlusthaben an etwas noch keineswegs, was uns die
Tatsache des Wollens vorträgt, erschöpft und damit zugleich
auch noch nicht alles aufgedeckt, was zu der notwendigen
Voraussetzung für die Möglichkeit des Wollens überhaupt das
menschliche Bewußtsein aufzuweisen hat. Das „ich will'" zeigt
nämlich in allen Fällen noch, daß das Gewollte d. i. die vor-
gestellte Veränderung dem Bewußtsein „im Licht der Lust
steht ein Umstand, der ganz besonders herausgestellt zu werden
verdient, da er vor Allem verstehen läßt, daß die vorgestellte
Veränderung zu dem das Wollen Bedingenden gehört. Nicht
freilich steht es so, wie wohl diejenigen meinen, die vom Willen
als Ursprünglichem und Wesenhaftem, vom Willen als Grund-
funktion der Seele sprechen, daß das „im Licht der Lust1’ Stehen
der vorgestellten Veränderung zukomme, weil sie gewollt werde,
sondern die Veränderung ist Gewolltes, weil sie im Lichte der
Lust steht. „Im Lichte der Lust stehen“ heißt aber nicht für
das Bewußtsein mit Lust verknüpft sein, als ob etwa das
jene Veränderung Vorstellende an dieser Veränderungvorstellung
Lust hätte; dies müßte schon dadurch abgewiesen sein, daß das
Bewußtsein, wenn es Wille (Wollendes) ist, ausnahmlos Un-
lust hat, kein Bewußtsein aber Lust und Unlust zugleich
haben kann.
7 8
Wir kennen keinen Augenblick menschlichen Bewußtseins,
der als sein Zuständliches Lust und Unlust aufwiese; das Märchen
vom „gemischten Gefühl“ müssen wir den Dichtern überlassen.
„Im Lichte der Lust stehen“ heißt also dem betreffenden Be-
wußtsein mit Lust Vorstellung, nicht aber mit Lust verknüpft
sein, und so bringen wir eine altbekannte Tatsache zum Aus-
druck, wenn wir sagen, daß das Gewollte dem vorstellenden
Bewußtsein im Lichte der Lust steht.
Jedoch die Bedingungen für das Wollen sind auch dann noch
nicht ganz erfüllt, wenn wir darauf hinweisen, daß die vor-
gestellte Veränderung uns im Lichte der Lust stehe, so bedeut-
sam und unerläßlich auch dieser Umstand als Voraussetzung
für jegliche ursächliche Selbstbeziehung d. h. für das Wollen
des menschlichen Bewußtseins ist. Ein letzter Umstand ist viel-
mehr noch herauszustellen, daß nämlich die im Lichte der Lust
stehende vorgestellte Veränderung als solche in Gegensätzlich-
keit steht zu der mit Wirklichem des betreffenden Augenblicks
verknüpften Unlust? Wir nennen diese Gegensätzlichkeit den
praktischen Gegensatz, weil erst durch diese Gegensätzlich-
keit das Bewußtsein zum WTollen, zur ursächlichen Selbst-
beziehung auf die im Lichte der Lust stehende vorgestellte Ver-
änderung kommt und eben kommen muß. Das Wollen ist
die notwendige Folge dieser Gegensätzlichkeit im mensch-
lichen Bewußtseins1, und die im Lichte der Lust stehende vor-
gestellte Veränderung, die das eine Glied des praktischen Gegen-
satzes ausmacht, ist dann das Gewollte d. i. der Zweck des
wollenden Bewußtseins.
b)
Gegen die Gleichstellung der Worte „Gewolltes1" und „Zweck“
mögen etwa Bedenken aufkommen, die sich zugleich gegen
unsre Behauptung, daß nurdieim Lichte derLust stehende
vorgestellte Veränderung Gewolltes sei, richten. Wir weisen
nun darauf hin, daß man mit dem Worte „Zweck“ entweder
1 Siehe Rehmke, „Die Seele des Menschen“5 S. 125I.
79
nur eine einzelne Veränderung meint, oder aber eine Reihe
von Veränderungen, die freilich nicht nur in zeitlicher Folge
(nacheinander), sondern in Einheit d. h. in notwendigem Zu-
sammen gewollt sind. Demgemäß unterscheiden wir „einfachen
Zweck“ und „Reihenzweck1“2, wobei bemerkt sei, daß „Reihen-
zweck“ und „Zweckreihe“ nicht zu vertauschen sind, da das
letzte Wort seinerseits von mehreren zeitlich aneinander ge-
reihten einzelnen Zwecken spricht, nicht aber von Einem
Zweck, der aus einer Reihe notwendig verknüpfter Ver-
änderungen besteht, wie der Reihenzweck. Handelt es sich
also beim Reihenzweck eben immer um Einen Zweck, so
kann auch der Einwand gegen unsre Behauptung, nur im Lichte
der Lust vorgestellte Veränderung könne gewollt d. h. Zweck
sein, nicht stichhaltig sein, da vielfach in einem Reihenzweck
einzelne Veränderungen — freilich die Endveränderung der
Reihe ausgenommen — als solche dem wollenden Bewußtsein
im Lichte der Unlust stehen. In dem Reihenzweck kommen
eben diese Veränderungen aber nicht als für sich Gewolltes,
als „einfacher“ Zweck, sondern nur als zum Reihenzweck
gehörige in Betracht. Selbstverständlich kann keine vorgestellte
Veränderung, die uns als solche im Lichte der Unlust steht,
einfacher Zweck sein, für sich gewollt werden; wann immer
es sich aber um einen Reihenzweck handelt, ist eben die Ver-
änderungsreihe als Einheit das Gewollte, der eine Zweck,
einerlei ob nun eine jede der zu diesem Zwecke gehörigen
Veränderungen uns im Lichte der Lust Vorgestelltes ist oder
ob gar alle bis auf die Endveränderung im Lichte der Unlust
Vorgestelltes sind. Die letzte Veränderung jedes Reihenzweckes
immerhin steht auch für sich betrachtet im Lichte der Lust,
kann als im Lichte der Lust stehendes Vorgestelltes darum ein-
facher Zweck sein. Daraus ist meines Erachtens auch die Auf-
teilung der Veränderungen des Reihenzwecks in „Mittel und
Zweck“ zu verstehen, obwohl doch beides zu dem Einen Ge
1 Siehe Rehmke, .Willensfreiheit“ S. 24ff., 39f.
80
wollten, zu dem Einen Zweck, dem Reihenzweck gehört. Was
wir nämlich gegenüber den „Mitteln“ den „ Zweck “ im Reihen-
zweck nennen — und nur der Reihenzweck hat „Mittel
und Zweck“ auf zu weisen —, ist zunächst dem wollenden
Bewußtsein für sich selbst schon freilich eben Gewolltes d. i.
einfacher Zweck gewesen, was wir ja auch als Selbstzweck
bezeichnen, und darauf erst erweitert sich für dieses Bewußt-
sein sein Gewolltes (Zweck) durch diejenigen vorgestellten Ver-
änderungen, deren Verwirklichung die Verwirklichung des
Selbstzwecks (einfachen Zwecks) erst möglich macht, die also,
wie man sagt, als „Mittel zum Zweck“ dienen.
Unsere Erkenntnis, daß, was immer „Zweck“ eines wollen-
den Bewußtseins ist, sei dieser nun Eine Veränderung als ein-
facher Zweck („Selbstzweck“) oder die Einheit einer Reihe von
Veränderungen als Reihenzweck, im Lichte der Lust Vor-
gestelltes ist, und daß in keinem Fall eine im Lichte der Un-
lust stehende Veränderung je für sich gewollt, also Selbstzweck
(einfacher Zweck) ist, — diese Erkenntnis haben wir nun noch
nach einer bestimmten Seite auszuführen, die nämlich das „im
Lichte der Lust Stehen“ angeht. Wir haben darüber schon ge-
sagt, daß „eine Veränderung steht mir im Lichte der Lust“
nicht bedeute „ich habe Lust an der vorgestellten Veränderung,
diese Veränderungsvorstellung ist mir mit Lust verknüpft“, in-
dem wir darauf hinwiesen, daß menschliches Bewußtsein nie-
mals Unlust und Lust zugleich, und das Bewußtsein, wann immer
es Wille ist, ausnahmslos Unlust habe. Das „im Lichte der
Lust stehen“ heißt für die vorgestellte Veränderung soviel wie
„mit Lustvorstellung verknüpft sein“, aber Lustvorstellung
haben und Lusthaben sind eben nicht dasselbe, das eine bedeutet
eine gegenständliche, das andere eine zuständliche Be-
stimmtheit menschlichen Bewußtseins. Wer, wie dasjenige
Bewußtsein, dem die vorgestellte Veränderung im Lichte der
Lust steht, eine Lustvorstellung hat, also Lust vorstellt, stellt
aber immer seine eigene Lust vor, was man auch aus dem
6 Rehmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
8l
Worte „die VeränderungsVorstellung steht mir im Lichte der
Lust“ heraushören wird. Wir heben dies aber besonders hervor,
weil grade dieses für die Ethik von Bedeutung ist. Wenn das
„im Lichte der Lust1' nicht die Vorstellung der eigenen Lust
des wollenden Bewußtseins, sondern die vorgestellte Lust eines
anderen Bewußtseins vielmehr träfe, so würde auch von jenem
Gegensatz, den wir als Bedingung jeglichen Wollens genannt
haben und als den praktischen Gegensatz bezeichnen, nicht zu
reden sein, da es doch die eigene Unlust ist, die dabei in Frage
kommt, und es dämm auch die vorgestellte eigene Lust sein
muß, die hier nur gemeint sein kann; denn wie sollte zwischen
eigener Unlust und vorgestellter fremder Lust irgendwie
Gegensätzlichkeit bestehen können.
Nachdem nun der Sinn des „im Lichte der Lust stehen"
klargestellt ist, erhebt sich noch einmal die Frage nach dem
Gewollten, dem Zweck überhaupt.
Daß Wollen dasselbe sagt wie „Wirkenwollen", dürfen
wir, wenn anders Wollen ein sich ursächlich auf eine vor-
gestellte Veränderung Beziehen des menschlichen Bewußtseins
ist, als wahr unterstellen; „wirkenwollen“ als dem „wollen“
gleichdeutiges Wort heißt dann aber nicht „Wirken wollen“,
als ob „Wirken“ das Gewollte wäre, sondern heißt nicht
mehr und nicht weniger als „wollen" und wenn wir das Wort
„wirkenwollen“ doch etwa verwenden, so geschieht es, um die
ursächliche Selbstbeziehung des Bewußtseins auf eine vor-
gestellte, und zwar als seine Wirkung vorgestellte Veränderung
hervorzuheben.
Wenn nun jedes besondere Gewollte, also sowohl der ein-
fache Zweck (Selbstzweck) als auch der Reihenzweck, eine vom
wollenden (wirkenwollenden) Bewußtsein vorgestellte Wirkung,
also Veränderung1 bedeutet, und andererseits, wie wir behaupten,
1 Jede Wirkung ist Veränderung, weist also einen Wechsel von Be-
stimmtheitsbesonderheiten des in Frage stehenden Einzelwesens auf,
denn jede Veränderung ist Verlust und Gewinn zugleich für das Einzel-
82
diese Veränderung als gewollte im Lichte der Lust vorge-
stellt ist, so fragt sich, ob die vorgestellte eigene Lust, die mit
der vorgestellten Veränderung in jedem Falle eng verknüpft
erscheint, was ja das ,,im Lichte der Lust stehen“ zum Aus-
druck bringt, selbst zu dem Gewollten des einzelnen Willens-
falles mitgehört, ob diese eigene Lustvorstellung, in die eben
die fragliche vorgestellte Veränderung gleichsam eingewickelt
dem Bewußtsein gegeben ist, nur gleichsam den Einführungs-
dienst leistet zum Wollen, nicht aber selbst zu dem Gewollten,
sei dieses einfacher Zweck, sei es Reihenzweck, gehört.
Ist das erste der Fall, gehört die vorgestellte eigene Lust mit
zu jedem Gewollten, mag es einfacher Zweck, mag es Reihen-
zweck sein, und die Tatsache, daß die vorgestellte eigene Lust
nicht nur in dem das Wollen erst bedingenden ,,praktischen
Gegensätze“, sondern auch noch in dem Wollen sich findet,
läßt uns ohne weiteres diesem zustimmen: so bietet sich in jedem
Wollen neben der Veränderung, von der wir sagen, daß sie
im Lichte der Lust stehe, die vorgestellte eigene Lust als zum
Gewollten gehörig, macht also mit jener zusammen den Zweck
im Wollen d. i. das Gewollte aus. Und wenn wir nun das,
was wir als die im Lichte der Lust stehende Veränderung das
Gewollte oder den Zweck (einfachen und Reihenzweck) nannten,
genauer bestimmen, so weist das Gewollte in jedem Willens-
fall zwei Veränderungen auf, die aber nicht, wie die Verände-
rungen im Reihenzweck, hintereinander, sondern nebeneinander
liegen: es sind die Veränderung (einfacher Zweck) oder Ver-
änderungsreihe (Reihenzweck), die „im Lichte der Lust“ steht,
und die Veränderung von eigener Unlust zu eigener Lust des
wollenden Bewußtseins. Das eine Glied dieser zweiten Ver-
änderung tritt schon deutlich heraus in der Kennzeichnung der
ersten Veränderung als „im Lichte der Lust stehende“; da eben
„vorgestellte eigene Lust“ schon deshalb nicht in einem Ge-
wesen; siehe Rehmke „Philosophie als Grundwissenschaft“, S. 163 fr.,
„Die Willensfreiheit“, S. 6ff., „Die Seele des Menschen“5, S. 57f.
6*
83
wollten neben jener ersten Veränderung sich finden kann,
weil, wann immer neben einer vorgestellten Veränderung im
Gewollten noch Anderes gefunden wird, das also nicht zu
jener Veränderung gehört, dieses eine andere Veränderung sein
muß (siehe den Reihenzweck), was vorgestellte eigene Lust er-
sichtlich nicht ist. Die zweite Veränderung bietet sich neben
der „im Lichte der Lust stehenden“ vorgestellten Veränderung uns
ebenso deutlich, wie diese im „ich will etwas“. Jedes mensch-
liche Bewußtsein — es bedarf keiner langen Selbstprüfung —
wird feststellen können, daß es, wann immer es will, die Ver-
änderung seiner selbst als zuständlichen Bewußtseins und
zwar immer nur diejenige will, die es als seine Veränderung
von „Unlust zu Lust“ anspricht; keinen menschlichen Willen
gibt es, dem die eigene Veränderung von „Lust zu Unlust“, die
uns allen freilich nicht unbekannt ist, zu seinem Gewollten je
gehört. Daß sich aber überhaupt in jedem Fall, in dem es sich
um das menschliche Bewußtsein handelt, das besondere Gewollte
als vorgestellte Veränderung erweist, leuchtet schon daraus ein,
daß alles Wollen Wirkenwollen ist und demgemäß das Gewollte
als vorgestellte Wirkung eben vorgestellte Veränderung sein muß.
Wir haben demnach in dem Gewollten eines jeden Willens-
falles zwei besondere, aber innig ineinander verflochtene vor-
gestellte Veränderungen vor uns, die vorgestellte Veränderung
„von eigener Unlust zu eigenerLust“ und die im Lichte
der Lust stehende vorgestellte Veränderung. Es sei hierbei
nochmals betont, daß diese zwei Veränderungen nicht etwa eine
zeitliche Reihe darstellen, und wenn ich sagte, daß sie im Neben-
einander innig vereint vorzustellen seien, so sollte dieses Bild
nur die Tatsache erläutern, daß das wollende Bewußtsein sie
als beide zugleich zu Verwirklichendes vorstellt. Darum
finden wir beide vorgestellten Veränderungen als das eigentliche
Gewollte (Zweck) auch, wenn ein Wille nur einfachen d. h.
keinen Reihenzweck aufzuweisen hat, und andererseits ist die
vorgestellte Veränderung „von eigener Unlust zu eigener Lust“,
84
bei einem Reihenzweck nicht etwa mit einer Veränderung
aus der ganzen Reihe allein innig verflochten, sondern mit der
Veränderungsreihe d. i. der Einheit dieser als aufeinander folgend
vorgestellten Veränderungen.
Die Tatsache aber, daß gar vieles Gewollte, das wir nach
„seinem im Lichte der Lust Stehenden einen Reihenzweck“
nennen, eine zeitliche Reihe von Veränderungen betrifft,
legt, wie die Erfahrung lehrt, die Versuchung nahe, auch jene
beiden Veränderungen, die jedes Gewollte tatsächlich aufweist,
als nacheinander zu Verwirklichendes dem alltäglichen
Vorbilde des Reihenzweckes entsprechend sich zurechtzulegen.
Augenscheinlich verfährt man in der Tat ganz nach dem
Muster „Reihenzweck4*, indem die vorgestellte Veränderung
„von eigener Unlust zu eigener Lust“ als eigentlicher Zweck,
die im Lichte der Lust stehende Veränderung oder Verände-
rungen als „Mittel zum Zweck“ hingestellt wird.
Nennen wir kurzweg die zum „eigentlichen Zweck“ erhobene
Veränderung „von eigener Unlust zu eigener Lust“ Lustzweck,
so ist es wohl verständlich, daß man diesen selbst als Zweck alles
Wollens erklärt hat; so verschieden auch das Wollen mensch-
lichen Bewußtseins sich zeigt, so stimmt alles Wollen doch
darin überein, daß die „Veränderung von eigener Unlust zu
eigener Lust“ niemals im Gewollten fehlt, jedes Wollen also
Lustwollen ist. Aber diese unbezweifeibare Tatsache be-
rechtigt doch noch keineswegs zu der Behauptung, daß für alles
Wollen die Lust d. i. die vorgestellte Veränderung „von Un-
lust zu Lust“ der „Zweck“, alle übrigen vorgestellten Ver-
änderungen im Gewollten aber „Mittel zum Zweck“ seien.
Wir kennen die Ethiker, die von dieser Auffassung als Voraus-
setzung ausgehen, es sind die Klugheitethiker, die Eudämonisten,
die darum als das Gewollte des sittlichen Bewußtseins nur den
Reihenzweck kennen, und die Lust als den eigentlichen ein-
zigen Zweck, um dessentwillen alles übrige gewollt wird.
Ob sie auf dem richtigen Wege sind, muß sich klarstellen lassen
85
aus der Untersuchung, ob mit Recht die Lust für sich allein
als Zweck angesprochen werden kann. Wenn es sich um Ge-
wolltes im Sinne von „Reihenzweck“ handelt, wird unsere
Untersuchung schwerlich zu einer klaren Antwort führen, da
die Frage, ob die Veränderung „von eigener Unlust zu eigener
Lust“ auf eine „im Lichte der Lust stehende“ in Wirklichkeit
folgt oder zugleich eintritt, schwer zu entscheiden ist. Aber
soviel ist sicher, daß, wenn jene Veränderung tatsächlich „Zweck"
in einem Gewollten, das wir Reihenzweck nennen, wäre, sie
auch als Zweck für sich müßte auftreten können, wissen wir
doch sonst von dem Gewollten, das „Zweck“ im Reihenzweck
(Mittel und Zweck) ist, daß es, bevor es Zweck im Reihenzweck
geworden, schon für sich Gewolltes, also sogenannter einfacher
Zweck war.
c)
Das Wort vom Lustwollen als einem besonderen Wollen,
dessen Gewolltes eben nur die eigene Lust oder, was uns hier
ja dasselbe sagt, die vorgestellte Veränderung „von eigener Un-
lust zu eigener Lust" und nicht dazu auch eine mit ihr im
Zugleich verknüpfte vorgestellte Veränderung wäre, ist ja
freilich von altersher im Schwange; nichts destoweniger müssen
wir darauf bestehen, daß Lust für sich allein d. i. Veränderung
„von eigener Unlust zu eigener Lust" als einfacher Zweck eines
Wollens niemals sich findet. Man prüfe sich nur genau, wenn
man sagt „Ich will nur meine Lust“ und man wird feststellen
können, daß das Gewollte nicht nur die Lust, sondern auch noch
etwas, das „meinen Körper" oder mich, diese Seele, in anderer
als zuständlicher Bestimmtheit noch betrifft, mit ausmacht. Der
Meinung, daß ein Wollen mit der Lust als „einfachem Zweck“
möglich und somit die Lust auch in einem Reihenzweck den
„Zweck“ gegenüber dem „Mittel" ausmachen könnte, stellt
sich, abgesehen davon, daß wir ein Wollen, das rein und allein
Lustwollen wäre, überhaupt nicht kennen, auch die Über-
legung entgegen, daß in solchem Willensfall die vorgestellte
86
eigene Lust, da sie allein das Gewollte in diesem Fall aus-
machte, also in dem Gewollten auch nicht das, in dessen Lichte
eine andere vorgestellte Veränderung stände, bedeuten kann,
selber im Lichte der Lust stehen müßte, so daß die angebliche
Tatsache des einfachen Lustwollens zwar ihre „Brutalität"
verlöre, aber dafür nur den Gallimathias eintauschte: „die im
Lichte der Lust stehende Lust“ oder genauer „die mit der vor-
gestellten eigenen Lust in inniger Verflechtung stehende vor-
gestellte eigene Lust". Indes legen wir auf diese Überlegung,
ob es ein Wollen, das schlechtweg nur Lustwollen sei, geben
könne, nicht so viel Gewicht, denn wir stützen die Behaup-
tung, daß die eigene Lust im Reihenzweck nicht den eigent-
lichen „Zweck“ gegenüber den anderen vorgestellten Verände-
rungen als „Mittel“ in dem Gewollten ausmacht, vor allem
auf die Tatsache, daß wir kein Wollen kennen, dessen Ge-
wolltes rein und allein „eigene Lust“ wäre, was eben der
Fall sein müßte, wenn die eigene Lust, wie behauptet wird,
in jedem Reihenzweck der „eigentliche“ Zweck gegenüber
dem „Mittel“ ist; denn was immer in einem Reihenzweck der
„Zweck" ist, war dem betreffenden Bewußtsein vorher schon
Zweck für sich d. i. „einfacher Zweck".
So bestimmt wir nun aber auch ab weisen, daß die eigene
Lust, wie die Klugheitethik behauptet, den „Zweck“ in jedem
Reihenzweck ausmacht, und auch abweisen, daß überhaupt in
irgendeinem Willensfall, handle es sich um einfachen oder
um Reihenzweck, den „Zweck" nur die eigene Lust aus-
mache, ebenso bestimmt müssen wir daran festhalten, daß
keinem einzigen Gewollten, sei es einfacher Zweck, sei es Rei-
henzweck, die eigene Lust als das zu ihm Gehörige fehlt.
Insofern stehen wir unentwegt zu dem Wort: „kein einziges
Wollen ohne „eigene Lust wrollen“, aber stets auch zu
dem Worte: „kein einziges Wollen, dessen Zweck die
eigene Lust allein ist.“ Das zweite Wort stellt uns mit den Klug-
heitethikern in scharfen Gegensatz, das erste läßt uns mit ihnen
87
das eigene Lust Wollen bei jedem Wollen betonen, wenn es uns
auch nicht nur, wie den Klugheitethikern, allein für den Reihen-
zweck, sondern auch für den einfachen Zweck gilt. Die Klug-
heitethiker kennen ja auch tatsächlich kein Wollen mit ein-
fachem Zweck, der also nicht eine zeitliche Reihe von Ver-
änderungen darstellt, denn dies müßte eben nach ihnen ein
reines „eigene Lust Wollen“ sein, was aber kein menschliches
Bewußtsein kennt. Die Klugheitethik krankt eben an dem
Fehlgriff, daß sie, was als Gewolltes d. h. als vorgestellte be-
sondere Veränderungen ineinander verflochten ist, auseinan-
der reißt, die Veränderung „von eigener Unlust zu eigener
Lust“ und die „im Lichte der Lust stehende Veränderung4",
und somit, wenn sie der Tatsache, daß ein „bloßes Lust-
wollen“ sich nicht findet, die Ehre gibt, erklären muß, daß
jegliches Wollen einen Reihenzweck biete, also das Wollen,
dessen Zweck nicht eine zeitliche Reihe von Veränderungen
vorstelle, schlechthin zu leugnen sei. Nun aber weiß jeder
solche Willensfälle, deren Gewolltes nicht eine zeitliche Reihe
von Veränderungen darstellt, also nicht Reihenzweck, sondern
einfacher Zweck ist; dem Klugheitethiker geht es eben, wie dem
Glockengießer zu Breslau, „er sieht’s und will’s nicht sehn“. So
konnte es denn geschehen, daß er das schlechthin ineinander
Verflochtene auseinanderriß und bei der Behauptung landete:
„was immer das menschliche Bewußtsein außer der eigenen
Lust (Glückseligkeit) sonst noch will, das will es um der eigenen
Lust willen“, und er wurde sich darüber nicht klar, daß mensch-
liches Bewußtsein das, um dessentwillen es anderes will,
selbst schon für sich gewollt, als einfachen Zweck gehabt
haben muß. Da nun aber die eigene Lust niemals einfacher
Zweck eines wollenden Bewußtseins ist, so ist das Wort „um
der eigenen Lust d. i. um der Glückseligkeit willen etwas wollen",
zu den sinnleeren zu stellen, und die Klugheitethik ist auch
hiermit als Wissenschaft gerichtet.
Daran aber halten wir fest, daß jedes Wollen mensch-
88
lischen Bewußtseins Lust wollen ist d. h. daß zu dem Ge-
wollten stets die vorgestellte Veränderung „von eigener
Unlust zu eigener Lust“ gehört, und mit dem „zu dem
Gewollten eines jeden Willensfalles, also auch bei dem ein-
fachen Zweckwollen, gehören“ ist eben deutlich zum Aus-
druck gebracht, daß Lustwollen allein nicht schon irgendein
besonderes Wollen selbst darstellt, sondern daß das Gewollte
eines jeden Willensfalles und zwar nicht etwa nur, wenn es
Reihenzweck, sondern auch wenn es „einfachen Zweck“ bedeu-
tet, überdies noch die im Lichte der Lust stehende vorgestellte
Veränderung, die mit der vorgestellten Veränderung „von eigener
Unlust zu eigener Lust“ innigst verbunden auftritt, uns bietet.
In unserem Satze „alles Wollen ist Lustwollen“, sind also die
Worte „Wollen1“ und „Lustwollen“ nicht etwa gleichdeutig,
als ob „Lustwollen“ ein überschüssiges Wort für „Wollen“
schlechtweg bedeutete, wie „wirkenwollen“ ein überschüssiges
Wort für „wollen“ ist; und ebensowenig soll das Wort „Wollen“
in unserem Satze etwa „besonderes Lustwollen“ bedeuten. Der
Sinn ist kein anderer als: zu jedem besonderen Wollen des
menschlischen Bewußtseins gehört als notwendiges Stück das
eigene Lust Wollen, also zum Gewollten eines jeden Willens-
falles, sei es einfacher Zweck, sei es Reihenzweck, gehört die
vorgestellte Veränderung „von eigener Unlust zu eigener Lust“.1
Sprechen wir nun von „Lust wollen",so liegt allerdings die Ver-
suchung nahe, Lustwollen für ein besonderes Wollen neben
anderem Wollen zu halten, ein Irrtum, in den so viele verfallen
und vor dem man in der Tat besonders auf der Hut sein muß.
Eben weil restlos zu jedem Wollen menschlichen Bewußt-
1 Dies bekannte, schlicht und offen, das einleitende Vorwort zu dem
in meiner Knabenzeit in die Volksschule Schleswig-Holsteins eingeführten
kleinen Katechismus Luthers, das mit folgender Frage und Antwort be-
gann: ^Wünschen wir nicht alle vergnügt und froh zu sein? Wir Menschen
wünschen alle vergnügt und froh zu sein.* Und niemand von uns Knaben
und Mädchen hatte irgendwelches Bedenken, dieser Antwort rundweg
beizustimmen.
»9
seins „eigene Lust wollen“ gehört, kann „Lustwollen“ nicht
selbst ein besonderes Wollen bedeuten, wie es zu behaupten
der Klugheitethiker (Eudämonist) schlechthin genötigt wird, da
ihm die Glückseligkeit (die eigene Lust) schon den eigentlichen
Zweck allein ausmacht und alles andere Gewollte Mittel zum
Zweck bedeutet. „Glückseligkeit wollen“ d. i. die zuständliche
Veränderung von eigener Lust zu eigener Unlust wollen ge-
hört, wie die Tatsachen lehren, zu jedem Wollen: das ist
das Körnchen Wahrheit in der Klugheitethik, dem „Eudämonis-
u
mus . ,
Jedoch mit diesem Lust wollen ist es bei keinem Wollen schon
getan; jedes einzelne Wollen erweist sich, was sein Gewolltes
betrifft, als ein Doppelwollen, dessen Gewolltes eben die zu-
ständliche Veränderung von eigener Unlust zu eigener Lust
und eine im Lichte der Lust stehende Veränderung ausmachen.
Da alles Wollen in dem ersten zusammentrifft, so ist nur das
zweite, die im Lichte der Lust stehende Veränderung, das
eigentliche Besondernde dieses Wollens. Darum pflegen
wir auch auf die Frage nach dem Gewollten im bestimmten
Falle mit dieser Veränderung allein zu antworten, ohne der
anderen Veränderung zu gedenken, die doch jedes Wollen in
seinem Gewollten eben aufzuweisen hat.
Gehört aber zu jedem Wollen Lustwollen und eine im Lichte
der Lust stehende Veränderung wollen, wie läßt sich hiermit
der Gegensatz „Glückseligkeit wollen” und „selbstloses Wollen“
reimen? Besteht dieser Satz zu Recht, so muß in dem als „Glück-
seligkeit wollen“ Bezeichneten mehr zum Ausdruck kommen,
als „Lustwollen“, nämlich noch eine im Lichte der Lust stehende
Veränderung wollen; das „selbstlose“ Wollen andererseits muß
eine andere besondere Bedeutung haben, als die sich uns wohl
zunächst aufdrängende, daß zu selbstlosem Wollen nicht gehöre
„eigene Lust wollen“. Denn dabei müssen wir bleiben, daß
zu jedem Wollen Lustwollen gehört, jedes Wollen, also auch
das Wollen mit einfachem Zweck ein Doppelwollen ist.
90
Bezeichnen uns nun „Glückseligkeit wollen” und „selbstloses
Wollen” je ein besonderes Wollen, und fragen wir demge-
mäß nach der im Lichte der Lust stehenden Veränderung des
„Gewollten” in dem einen und dem anderen Fall, so machen
wir nicht selten die Entdeckung, daß das so verschieden bezeich-
nete Wollen in seinem Gewollten selbst durchaus sich deckt,
das Gewollte selbst demnach hier ein und dasselbe ist. So
kann z. B. „ich will dich retten” Ausdruck sowohl eines
Glückseligkeitwollens als auch eines selbstlosen Wollens sein.
Dieser Umstand aber lehrt uns, daß das Besondernde des soge-
nannten „selbstlosen“ Wollens, durch das dieses sich von dem
sogenannten Glückseligkeitwollen unterscheidet, nicht in einem
besonderen Gewollten zu suchen ist, da selbstloses Wollen und
Giückseligkeitwollen ja vielfach in dem Gewollten völlig Zu-
sammentreffen. Scheidet demnach das Gewollte als Besondern-
des hier aus, so bleibt nur das wollende Bewußtsein selbst
übrig, an das wir uns zu wenden haben, um das selbstlose
Wollen als besonderes Wollen zu fassen.
Vorerst sei darauf hingewiesen, daß wir Wollen nicht ohne
Wollendes und zwar dieses Wollendeals ein Bewußtseins wesen ken-
nen: wir lernen uns als wollendes Bewußtsein, als Einzelwesen, die
da wollen, kennen. Reden wir vom „Willen”, so müssen wir
uns gegenwärtig halten, daß der Sprachgebrauch das Wort
„Wille'* in dreierlei Bedeutung bietet: Wille = Wollendes
(das menschliche Bewußtsein als Wille), Wille = Wollen (gegen
meinen Willen), Wille = Gewolltes (das Testament als „letzter
Wille”): in allen drei Bedeutungen aber ist „Wille“ eine An-
gelegenheit des Bewußtseins oder, was hier dasselbe sagen mag,
des Geistes, also eines Einzelwesens. Darum müssen wir auch in
allen drei Bedeutungen dasWort „unbewußterWille“ abweisen,
das seit Schopenhauer die Welt erobert hat, wie auch die Worte
„unbewußtes Vorstellen” oder „unbewußtes Denken” sich als
sinnleer erweisen, da „Vorstellen” und das psychologische Denken1
1 Siehe Rehmke „Die Seele des Menschen“, S. 108.
91
doch Bestimmtheiten eines Einzelwesens, aber das Gegebene
überhaupt, das Wirkliche und auch das Nichtwirkliche, uns im
Stich läßt, das Vorstellen und das psychologische Denken als Be-
stimmtheiten eines Einzelwesens, das nicht Bewußtseinswesen
ist, zu finden.
Aber selbst wenn uns Einzelwesen, das nicht Geist d. h. ein
Bewußtsein ist, (wir kennen freilich nur Dinge d. i. Körper als
solche Einzelwesen), mit den Bestimmtheiten Vorstellung und
psychologisches Denken gegeben wäre, so daß von unbewußtem
Vorstellen und Denken, will sagen von Bestimmtheiten eines
Nichtgeistes, eines Nichtbewußtseins zu reden wäre, so stände
doch vieles noch im Wege, um das Wort „unbewußtes Wollen“
hinzunehmen. Denn wir wissen, daß der Wille (Wollendes),
das sich selbst ursächlich auf eine im Lichte der Lust stehende
vorgestellte Veränderung beziehende Wesen, und Wollen „sich
ursächlich auf eine Veränderung beziehen“ bedeutet. Abgesehen
davon, daß Wollen nicht, wie Vorstellen, eine Bestimmtheit ist,
sondern ein sich selbst Beziehen auf eine Veränderung, geht
aus dem letzten ohne weiteres deutlich hervor, daß das Wollende
ein Bewußtseinswesen sein muß und das Wort „unbewußtes
Wollen“ d. i. sich selbst unbewußt auf eine Veränderung be-
ziehen ein Widerspruch in sich ist. Die Zergliederung jeder
Willenstatsache zeigt unmißverständlich, daß das Wort „unbe-
wußtes Wollen“ weder als Wollen eines Einzelwesens, das nicht
ein Bewußtsein ist, noch als Wollen eines Bewußtseins, daß
sich seiner selbst nicht bewußt ist, eine gesicherte Unterkunft
finden kann.
Wer immer das „ich will1" kennt, wird erkennen, daß das
wollende Bewußtsein sich selbst weiß. Wer da will, weiß auch
immer, was er will und daß er will, so daß wir mit Recht sagen
können: ohne Sebstbewußtsein kein wollendes Bewußt-
sein. Daß es diesem Selbstbewustsein (dem sich selbst wissen)
des wollenden Bewußtseins vielfach an Klarheit gebricht und
es vielfach in die Irre geht, tut der Behauptung, daß das mensch-
92
liehe Bewußtsein, wann immer es will, Selbstbewußtsein hat
d. i. sich selbst weiß, keinen Abbruch.
Wenn nun aber der menschliche Geist als Wollendes sich
selbst weiß, so weiß er sich eben als wirkenwollendes
Wesen, wenn anders „wollen“ seine richtige Erläuterung in
dem „sich selbst ursächlich auf eine Veränderung beziehen“
gefunden hat. Wollen und „wirkenwollen“ sagen darum durch-
aus ein und dasselbe, und „wirkenwollen“ ist ein überschüssiges
Wort für „wollen“ schlechtweg. Wann immer wir wollen,
wollen wir wirken; es bedeutet im „Wirkenwollen“ aber das
Wort „wirken“ nicht etwa das Gewollte, das, was wir wollen.
Diese Klarstellung nun, daß Wollen und Wirkenwollen das-
selbe sagen, also im Worte „wollen“ schon der Hinweis auf
Wirken liegt, läßt wiederum ein besonderes Licht auf das
wollende Bewußtsein fallen, was für die Beantwortung der
Frage „was ist sittlich?“ von besonderer Bedeutung ist.
Wir kennen schon den Sinn des Wortes „wirken“, er heißt:
„Bedingungsein für die Veränderung eines anderen Einzelwe-
sens.“1 2 Niemals wirkt etwas unmittelbar auf sich selbst, ge-
schweige denn, daß es gar sich selbst wirke, was ja schon da-
durch ausgeschlossen ist, daß das Wirkende der Wirkung vor-
hergeht, somit etwas sich selbst vorhergehen müßte. Wirkendes
und Wirkungerfahrendes sind Wirkliches, das Wirkende aber
ist ein Wirkliches, das sich in der Wirklichkeit behauptet oder
durchsetzt, während das Wirkungerfahrende Wirkliches ist,
das Veränderung erfährt.
Wenn wir nun von wirkenden Einzelwesen reden, so wissen
wir sehr wohl, daß das die Veränderung des anderen Einzel-
wesens Bedingende, also das „eigentlich“ Wirkende in allen
Fällen nicht das Einzelwesen als solches, von dem wir zwar
das Wirken aussagen, sondern ein zu diesem Einzelwesen ge-
höriges Allgemeines ist; da dieses Allgemeine aber immer einem
1 Siehe Rehmke, „Die Willensfreiheit“, S. 3 ff, 8, 15.
2 Siehe Rehmke, „Philosophie als Grundwissenschaft“, S. 288.
93
Einzelwesen zugehört, so dürfen wir auch von dem Einzelwesen
selbst sagen, daß es wirke, was noch ganz besonders sich emp-
fiehlt, wenn es sich um „bewußtes Wirken“ d. i. das Willens-
wirken eines Bewußtseins handelt. Denn die hier in Frage
kommende Wirkung hat zu ihrer wirkenden Bedingung zwar
die Augenblickeinheit des betreffenden Bewußtseins, die dieses
Bewußtsein als wollendes, als Wille darstellt und selber ein All-
gemeines ist, aber das Bewußtsein ist sich selbst seines Wirken -
wollens in diesem Augenblick bewußt und erkennt demgemäß
die von jener Augenblickeinheit gewirkte Veränderung als die
von ihm gewollte Wirkung.
Wir wissen freilich, daß keineswegs jede Veränderung, die
als Handlung (Wirkung) eines Bewußtseins angesprochen zu
werden pflegt, eine Willenshandlung ist; kennen wir doch viel
unbewußtes Wirken menschlichen Bewußtseins, zu dem ins-
besondere auch das sogenannte Triebhandeln gehört, in dem
das Wirkende ein Gefühl menschlichen Bewußtßeins bedeutet.
Im Triebhandeln eben setzt sich das Gefühl als Trieb durch,
ohne daß das Bewußtsein, zu dem das Gefühl gehört, davon
weiß; dieses erfährt höchstens von dem Triebwirken durch die
Veränderung (Triebwirkung), von der es später Kunde erhält.
Von dem unbewußten Wirken menschlichen Bewußtseins
hebt sich das bewußte Wirken dadurch deutlich ab, daß hier
nicht eine Bestimmtheit, sondern eine Augenblickeinheit des
Bewußtseins die wirkende Bedingung ist, und eine solche, in
der das Bewußtsein ein Wille ist und sich selbst als Wille
(Wollendes) weiß: so bedeuten denn „Willenswirken“ und „be-
wußtes Wirken“ dasselbe.
Es ist für die Ethik als Wissenschaft vom Sittlichen nicht
ohne Bedeutung, den Unterschied von bewußtem und unbe-
wußtem Wirken des menschlichen Bewußtseins klar herauszu-
stellen, da, wie wir sehen werden, was von uns als „sittlich“
bestimmt wird, einzig und allein auf das Wollen und demge-
mäß auf das Willenswirken menschlichen Bewußtseins bezogen
94
werden kann. Darin tritt denn auch schon der Unterschied
zwischen „sittlich“' und „der Sitte gemäß“ hervor, denn wenn
sie auch beide auf vom Bewußtsein Gewirktes, auf Handlungen
gehen, das Sittliche doch nur die Willenshandlungen, das der
Sitte Gemäße auch die Triebhandlungen menschlichen Bewußt-
seins hereinnimmt. Für die Fragestellung nach dem Sittlichen ist
es schon nicht gleichgültig, ob Willenshandlung und Triebhand-
lung gleichsam für Geschwister angesehen werden, wie wir es
bei Schopenhauer und ganz besonders bei W. Wundt finden,
oder ob erkannt wird, daß sie nicht von demselben Stamme
sind, da „Trieb“ ein Gefühl als „treibendes“ d. i. wirkendes,
also eine Bewußtseinsbestimmtheit, Wille aber das Bewußtsein
selbst in besonderem Augenblicke bedeutet.
Um das Wollen allein aber handelt es sich in der Ethik als
Wissenschaft vom Sittlichen. Das Wollen jedoch zeigt sich uns
noch von zwei verschiedenen Seiten, nämlich als „Wirkenwollen"
und als „Sichdurchsetzenwollen“, jenes zeichnet das wollende
Bewußtsein in seiner Beziehung zur „Wirkung“ als dem Ge-
wollten, dieses dagegen das wollende Bewußtsein in seinem
Selbstbewußtsein. Um diese Seite des Wollens geht es in der
Ethik, um das „Sichdurchsetzenwollen“; nicht das Gewollte,
sondern das Wollende gibt dem Worte „sittlich“ seinen Sinn.
Jedes Wollen ist, wie „Wirkenwollen“, so auch „Sichdurch-
setzenwollen“, aber ebensowenig wie „Wirken“ im Worte „Wir-
kenwollen“, bedeutet „Sichdurchsetzen“ im Worte „Sichdurch-
setzenwollen“ den Zweck des Wollens, also das Gewollte.
Wenn es wahr ist, daß der Zweck jedes besonderen Wollens
eine im Lichte der Lust stehende Veränderung ist, so läßt
sich schon deshalb weder das Wirken noch das Sichdurchsetzen
als Zweck des Wollens begreifen, da beides nicht als eine Ver-
änderung behauptet werden kann.
In der Bestimmung des WTollens als „Sichdurchsetzenwollen“
liegt aber auch deutlich der Hinweis auf das Selbstbewußtsein,
das Sich selbst wissen des wollenden Bewußtseins; das Wollen
95
des Bewußtseins ist eben im Selbstbewußtsein verankert; das
Selbstbewußtsein ist die notwendige Voraussetzung für Wollen
überhaupt, und eben deshalb nennen wir mit Grund die Rede
vom „unbewußten Willen” einen Widerspruch in sich: jedes
Wollende weiß sich selbst. Dieses Selbstbewußtsein, das
Sichselbsthaben des Bewußtseins bedeutet freilich nicht schon
„sich selbst fraglos klar haben“, bedeutet also nicht schon so
viel wie „Erkenntnis seiner selbst“, sondern schlechtweg nur
„sich selbst wissen“, abgesehen davon, ob dieses Sichselbstwissen
in Betreff seiner selbst eine Irrung in sich schließt oder nicht.
d)
Wie aber läßt sich mit der Feststellung, daß jedes Wollen
eben Sichselbstdurchsetzenwollen bedeute, wenn anders jedes
Wollen ein Wirkenwollen ist, die Behauptung eines „selbst-
losen“ Wollens als besonderen Wollens reimen? Scheint doch,
wenn jedes Wollen ein Sichselbstdurchsetzenwollen ist, das Wort
„selbstloses Wollen“ ein Widerspruch in sich zu sein. Diesen
Schein indes zu zerstreuen, daran liegt uns ganz besonders, weil
die christliche Ethik von jeher auf das sogenannte „selbstlose“
Wollen und Handeln abgestellt und es als das Sittliche hinge-
stellt hat. Man kennzeichnet das selbstlose Wollen auch als
das Wollen aus Liebe, weshalb wir die christliche Ethik
auch Liebesethik heißen. Und wenn wir auch der christlichen
Ethik als einer Religionsethik ebenso wenig wie ihrer Schwester,
der von uns als Pflichtethik bezeichneten Religionsethik, und
aus demselben Grunde nicht den Titel „Ethik als Wissenschaft“
zubilligen können, so ist doch für uns, die wir der Frage „was
ist sittlich?“ eine Antwort suchen, unausweichlich, der Tat-
sache, die in der christlichen Ethik das Wollen aus Liebe und
von anderen auch das selbstlose Wollen genannt ist, weiter nach-
zugehen und sie klarzustellen.
Weder das Wort „selbstlos“, noch das Wort „aus Liebe* gibt
uns ohne weiteres eine sichere Führung zu dem besonderen
96
Wollen, das sie als solches kennzeichnen sollen; „selbstlos“ als
verneinendes Wort sagt uns nur, daß das „Selbst“ bei diesem
Wollen irgendwie nicht in Frage komme; mit dem Worte
„Liebe“ wären wir schon besser daran, wenn dieses Wort ein-
deutig durch unseren Sprachgebrauch liefe, aber es krankt an
Zweideutigkeit. Freilich darin stimmt doch der zwiefache Ge-
brauch des Wortes „Liebe“ oder „lieben“ überein, daß es „Wis-
sen“ bedeutet, Wissen jedoch nicht in dem Sinne von „Er-
kennen“ oder „fraglos klar haben“, sondern im allgemeinsten
Sinne. Beiderlei Gebrauch setzt also als „Liebendes“ ein Be-
wußtsein (Wissendes), und in der „Liebe“ handelt es sich stets
um ein besonderes Wissen dieses Einzelwesens.
In dem einen Falle nun bezeichnet „Liebe“ (lieben) so viel
wie „etwas als Lustbringendes, Lustquelle wissen“ und
zwar als Lustquelle für das Bewußtsein, das „liebt“. So
sagen wir „ich liebe dieses Haus, diese Gegend, diese Musik,
diesen Menschenschlag, diese Jugend, und in all diesen Fällen
bedeutet das „Geliebte“ eine Lustquelle für mich und
die „Liebe“ (das Lieben) das Wissen solcher Lustquelle. Wir
wollen diese Liebe als Liebe1 bezeichnen.
Die alte Übung, die Liebe ein Gefühl zu nennen, von der
Liebe also zu behaupten, sie sei eine zuständliche Bestimmtheit
der Seele, wird von den Tatsachen Lügen gestraft, wenigstens
soweit es Liebe1 betrifft: „ich liebe den Sonnenschein“ ist ein
wahrer Satz in dem Augenblicke, da mich die Sonne bescheint
und ich Freude (Lust) habe, aber es ist auch ein wahrer Satz
in dem Augenblicke, da ich im Regen stehe und Unlust habe.
Wäre Liebe1 ein Gefühl und käme Gefühl haben, Lust oder
Unlust haben, in dem Worte Liebe1 zum Ausdruck, so müßte
Liebe1 immer entweder Lust oder Unlust, könnte aber nicht
in dem einen Augenblick Lust, in dem anderen aber Unlust
bedeuten. Und wäre Liebe1 ein Lustgefühl, so wäre in dem
angeführten zweiten Fall zu Unrecht von „Sonnenschein lieben“
geredet: was doch sicherlich niemand Wort haben will. Liebe1
[je ioC
A
7 Rehmke, Grundlegung der Ethik ela Wissenschaft.
97
ist nicht ein Gefühl, insbesondere auch nicht Lustgefühl, Liebe1
oder lieben1 sagt vielmehr „etwas als Lustquelle wissen“.
Diese Tatsache mag freilich dazu verführen zu meinen, wenn
ein Bewußtsein etwas „liebt“ 1 d. h. als seine Lust quelle weiß,
zugleich auch Lust habe, was ja gewiß oft der Fall ist und
dadurch zu dem Irrtum verleitet, „Lustgefühl haben“ sei lieben1.
Hiergegen legen indes Verwahrung ein die Fälle, in denen wir
etwas „lieben“, und das „liebende1“ Bewußtsein Unlustge-
fühl hat. Daß freilich in diesen Fällen das „Geliebte1“ dem
„Liebenden1“ mit Lust Vorstellung verknüpft ist, werden wir
nicht leugnen, aber niemand wird auch bestreiten, daß Lust-
vorstellung und Lust doch Zweierlei sind, da jene ein
Gegenständliches, diese ein Zuständliches der Seele bedeutet.
Es bleibt dabei, Liebe1 ist keinGefühl, denn „lieben1“ ist
ein besonderes Wissen, nämlich „etwas als Lustquelle, als Lust-
bringendes wissen“, wobei außer Frage bleibt, ob dieses Wissen
in die Irre geht oder nicht.
Das Gebiet der Liebe1 ist dem menschlichen Bewußtsein nicht
etwa auf einen besonderen Ausschnitt des Gegebenen überhaupt
beschränkt, sondern es umfaßt das Wirkliche und das Nicht-
wirkliche, das Veränderliche und das Unveränderliche, das Ein-
fache und das Zusammengesetzte, das Einzige und das All-
gemeine, und zwar dies Alles sowohl in dem Dinggegebenen
als auch in dem Geistgegebenen.
Anders steht es mit Liebe2, die wir als „Sicheinswissen
mit Anderem“ auslegen; ihr Gebiet ist, wie wir sehen werden,
auf die Bewußtseinswesen im Wirklichen des Gegebenen be-
schränkt, und hat zu ihrer notwendigen Voraussetzung nicht
nur, wie die Liebe1, ein Bewußtseinswesen als Liebendes, sondern
wenigstens noch ein Bewußtsein als das Geliebte2. Die Liebe2
spielt sich also nur zwischen Bewußtseinswesen ab, wie wir
nun genauer darlegen wollen.
Ist Liebe2 das Sicheinswissen eines Geistes mit anderem,
so sagt dies, das betreffende Bewußtsein „wisse“, daß es „eins
98
sei“ mit anderem; dieses Bewußtsein, das sich eins weiß mit
anderem, setzt das Einssein mit diesem voraus; wir werden daher,
was Sicheinswissen, also Liebe2 bedeutet, nur verstehen, wenn
wir vorerst über den Sinn des Einsseins ins Klare gekommen
sind.
„Einssein“ sagt nicht dasselbe, wie „Einessein“, denn
es handelt sich beim Einssein immer um Mehreres, nicht um
Eines, und das Mehrere ist auch nicht etwa durch das Einssein
Eines, sondern es ist und bleibt Mehreres. Was aber sagt denn
„Einssein“ und was bedeutet demnach „Sicheinswissen“ mit
Anderem, wenn „Einssein“ nicht in dem Sinne von „Eines-
sein“ besagt, daß das Mehrere Eines ausmacht, Eines aus
Mehrerem besteht? Denn niemals finden wir das „Einssein“
des Mehreren ausgesprochen, wenn von Mehrerem, das eine
Einheit bildet, die Rede ist; was wir aber ohne weiteres aus
dem „ Einssein “ heraushören, ist das „Gleichsein“ des Mehreren.
Indes auch nicht von jedem Mehreren, das irgendwie gleich
ist, sagen wir das Einssein aus, sei das Mehrere nun Allgemeines,
sei es Einziges; weder von zwei mathematischen Figuren, die
in der Größe gleich sind, noch von zwei Dingen, die etwa in
der besonderen Größe und Gestalt gleich sind, sagen wir, daß
sie eins seien in der Größe oder in der Größe und Gestalt.
Von Einssein ist in der Tat nur die Rede, wenn das Mehrere,
das für das Einssein in Betracht kommt, Bewußtseinswesen
ist; nicht von Dingen sagen wir, daß sie eins, sondern immer
nur, daß sie gleich seien, und nur von Einzelwesen, nicht aber
auch von Allgemeinen sagen wir, daß sie eines seien: und
auch nur von Geistwesen, nicht aber ebenfalls von Dingen
geht diese Rede. Das Einssein, können wir sagen, ist ein Gleich-
sein und doch ist es mehr als dieses, was eben in der Eigen-
tümlichkeit des Einzelwesens, das wir ein Bewußtsein oder
einen Geist gegenüber dem Einzelwesen, das wir ein Ding
oder einen Körper nennen, begründet sein wird.
Das Ding und das Bewußtsein, beide sind Einzelwesen, beide
7*
99
also Veränderliches, das sich darstellt als eine Einheit von
Augenblickeinheiten im Nacheinander, die eine jede aus einer
Mehrzahl von Allgemeinen, die wir Bestimmtheiten des Einzel-
wesens nennen, besteht. Das Ding weist in jedem seiner Augen-
blicke drei Bestimmtheiten auf: eine Größe, eine Gestalt und
einen Ort. Jede dieser drei Dingbestimmtheiten irgendeiner
Augenblickeinheit irgendeines Dinges erweist sich aber als
eine besondere Größe, eine besondere Gestalt und einen
besonderen Ort, erweist sich also als eine Einheit von
Größe schlechtweg und Besonderheit, von Gestalt schlecht-
weg und Besonderheit, sowie von Ort schlechtweg und Be-
sonderheit. Diese Tatsache, daß jeder Dingaugenblick be-
sondere Größe, besondere Gestalt und besonderen Ort,
die alle drei also nicht etwa Einfaches, sondern Einheiten (Zu-
sammengesetztes) sind, aufweist, läßt uns verstehen, daß das
Ding in allen seinen Bestimmtheiten, in der Größe, in der
Gestalt und in dem Orte, Veränderung d. h. Besonderheit-
wechsel erfahren kann.
Das Bewußtsein seinerseits hat als Veränderliches oder Einzel-
wesen ebenfalls in jeder seiner Augenblickeinheiten Bestimmt-
heiten aufzuweisen, die sich auch als Einheiten darstellen, da das
Bewußtsein in diesen eine Veränderung d. h. Besonderheitwechsel
erfahren kann. Während aber das Ding in jeder seiner Be-
stimmheiten sich verändern kann, mithin jede der Bestimmt-
heiten jedes Dingaugenblickes eine Einheit (Zusammengesetztes)
darstellt, hat jede Augenblickeinheit des Geistes eine Bestimmt-
heit und zwar immer eine und dieselbe Bestimmtheit aufzu-
weisen, die nicht eine Einheit darstellt, sondern Einfaches
ist, so daß eben in dieser schlechthin einfachen Bestimmtheit,
die allen Bewußtseins wesen gemein und eigen ist, kein Geist
sich verändern kann. Wir nennen diese schlechthin einfache,
allen Bewußtseinswesen gemeine Bestimmtheit die „Subjektbe-
stimmtheit“ des Geistes, die für unsere Erkenntnis des Geist-
wesens dieselbe Bedeutung hat, wie die Ortbestimmtheit für
1 oo
die Erkenntnis des Dinges, weshalb wir, wie die Ortbestimmt-
heit die einheitstiftende Bestimmtheit jeden Dingaugen-
blickes, so die Subjektbestimmtheit die einheitstiftende
Bestimmtheit jeden Bewußtseinsaugenblickes nennen.
Jedes Bewußtsein, das sich selbst weiß, wird an sich selbst
feststellen können, daß es, welchen Augenblick seiner selbst
man auch zergliedern mag, noch nicht restlos damit getan ist,
wenn die drei Bestimmtheiten, Wahrnehmen-Vorstellen, Fühlen,
Unterscheiden-Vereinen, also die gegenständliche, zuständliche
und denkende Bestimmtheit als dem betreffenden Bewußtseins-
augenblick zugehörig aufgezählt sind. Bedeutet doch für jedes
Bewußtsein sein einzelner Augenblick nicht bloß ein Wahr-
nehmen-Vorstellen, ein Fühlen, ein Unterscheiden-Vereinen,
sondern „ich nehme wahr — stelle vor, fühle, unter-
scheide — vereine“. Jedem menschlichen Geiste muß sich
ohne weiteres aufdrängen, daß, wer mit der Aufzählung der
gegenständlichen, zuständlichen und denkenden Bestimmtheit
schon genug getan zu haben meint für die Darstellung des
einzelnen Bewußtseinsaugenblickes, doch noch etwas, das immer
auch zu jedem Bewußtseinsaugenblicke mitgehört, unaus-
gesprochen ist; er wird sich sagen: zwar gehören jene auf-
gezählten drei Bestimmtheiten zu mir in diesem Augenblick,
aber ich bin noch mehr in diesem Augenblick, als diese drei
zusammen, mehr als eine Einheit dieser drei Bestimmtheiten,
die ohne dies schon selbst als in der Einheit dieses meines
Augenblickes Gegebenes nach einer einheitstiftenden Bestimmt-
heit schreien, da keine von ihnen als einheitstiftende Bestimmt-
heit sich darstellt, ebensowenig wie auch die Bestimmtheiten des
Dingaugenblickes „Größe“' und „Gestalt“ sich als einheitstiftende
Bestimmtheit zeigen. Wie wir beim Dinge die Ortsbestimmt-
heit als dritte und insbesondere als die einheitstiftende Bestimmt-
heit gefunden haben, so stellt sich unserer Prüfung des Bewußt-
seinsaugenblickes als dessen einheitstiftende Bestimmtheit jene
vierte Bewußtseinsbestimmtheit vor, die wir die „Subjekt*
101
bestimmtheit“ nennen und die eben als ein und dieselbe nun
jeder Augenblickeinheit aller Bewußtseinswesen zugehört.
Das Wort „Subjektbestimmtheit“ kann mißverstanden werden;
es soll nicht bedeuten „Bestimmtheit eines Subjektes“, sondern
eine Bestimmtheit „Subjekt“, die mit der gegenständlichen, zu-
ständlichen und denkenden Bestimmtheit zusammen die Augen-
blickeinheit menschlichen Geistes ausmacht. Daß ich zur Be-
zeichnung dieser einheitstiftenden Bestimmtheit nicht mit dem
Worte „Subjekt“ mich zufrieden gebe, sondern das Wort „Sub-
jektbestimmtheit1'’ (nicht Subjektsbestimmtheit) zum Ausdruck
für die Bewußtseinsbestimmtheit „Subjekt“ wähle, hat
seinen Grund darin, daß ich vor allem den Fehlgriff nicht
heraufbeschwören wollte, diese „Bestimmtheit“, wenn sie bloß
mit „Subjekt“ bezeichnet würde, in ein Einzelwesen, ein Sub-
jekt zu wandeln. Denn diese einheitstiftende Bewußtseins-
bestimmtheit ist ja nicht Einziges, sondern Allgemeines und
zwar allen Bewußtseinswesen in allen ihren Augenblickeinheiten
gemeine besondere Bestimmtheit, die sich, wie schon hervor-
gehoben ist, als schlechthin Einfaches von allen anderen
Bestimmtheiten der Einzelwesen überhaupt, die sämtlich eine
jede sich als besondere Einheit darstellen, deutlich abhebt.
Diese einheitstiftende Bewußtseinsbestimmtheit, die nicht
etwa, wie die einheitstiftende Ortbestimmtheit des Dingaugen-
blickes, auch Besonderheiten zu zeigen hat, so daß es nicht ver-
schiedene gibt, sondern sie, so viele Bewußtseinswesen sich
auch finden mögen, in allen dieselbe, schlechthin einfache Be-
stimmtheit des Bewußtseins ist — diese Bewußtseinsbestimmt-
heit ist es, die das Bewußtseinswesen als Einzelwesen in einem
ganz besonderen Verhältnis zu seinesgleichen zeigt, wie es
zwischen Ding und Ding sich nicht findet.
Vergleichen wir zwei Dinge miteinander, so zeigen sie sich,
mögen sie auch in den Bestimmtheiten der Größe und Gestalt
sowie in allen Eigenschaften dasselbe bieten, in der Besonderheit
ihrer Ortbestimmtheit verschieden, während zwei Bewußtseins-
102
wesen, mögen sie auch sonst in keiner anderen Bestimmtheit
oder Eigenschaft zusammenfallen, in ihrer einheitstiftenden
Subjektbestimmtheit niemals verschieden sind. Eine Mehrzahl
von Dingen muß immer durch die Besonderheit ihrer einheit-
stiftenden Bestimmtheit „Ort“ getragen sein, eine Mehrzahl von
Bewußtseinswesen kann nicht durch ihre einheitstiftende ein-
fache Subjektsbestimmtheit, sondern nur durch die Besonderheit
der anderen Bestimmtheiten begründet sein. Und wenn wir
nun zwei Geistwesen finden, die in einer dieser anderen Be-
stimmtheit zusammenfallen, so sind sie nicht nur in dieser
anderen Bestimmtheit dasselbe, sondern in dieser und der
Sub j ektbestimmtheit, die ja in allen Bewußtseinswesen die-
selbe ist und stets mit jeder anderen Bewußtseinsbestimmtheit
aller Bewußtseins wesen in Einheit sich findet.
Es liegt in diesem Fall also die Gleichheit zweier Bewußt-
seinswesen nicht nur in einer oder mehreren Bestimmtheiten,
sondern in einer Einheit von Bestimmtheiten vor, da die
Subjektbestimmtheit mit einer jeden anderen Bewußtseins-
bestimmtheit notwendig in Einheit gegeben ist. Die Notwendig-
keit dieser Einheit mit jeder anderen Bewußtseinsbestimmtheit
ist aber in der schlechthinigen Einfachheit der Subjektbestimmt-
heit begründet. Und wenn wir dann von Bewußtseinswesen
sprechen, die in einer anderen Bestimmtheit dasselbe bieten,
so bringen wir dies zum Ausdruck nicht, indem wir sagen,
die beiden Geistwesen sind gleich, sondern sie sind eins
in dieser Bestimmtheit, indem das Wort „eins“ die Tatsache
zum Ausdruck bringt, daß das Gleichsein dieser Geistwesen nicht
nur die genannte Bestimmtheit, sondern die Einheit dieser
und der einfachen Subjektbestimmtheit in dem Bewußt-
seinswesen trifft. Aber ein sicheres Zeichen dafür, daß die für
das „ Gleichsein“ hier eingesetzte besondere Bestimmung „Eins-
sein“ eben der allen Bewußtseinswesen zukommendeneinfachen
Bestimmtheit, die wir die Subjektbestimmtheit nennen, insonder-
heit auf Rechnung zu schreiben sei, ist der Umstand, daß wir
105
von zwei Dingen wohl Gleichsein, niemals aber Einssein in
einer Bestimmtheit, z. B. in der Gestalt aussagen. Die Dinge
haben eben keine besondere Bestimmtheit aufzuweisen, die
schlechthin Einfaches und allen Dingen gemein wäre, denn
alle Bestimmtheiten eines jeden Dingaugenblickes, die einheit-
stiftende Bestimmtheit „Ort“ eingeschlossen, sind Einheiten,
weisen also Besonderheit auf. Die einheitstiftende Bewußt-
seinsbestimmtheit „Subjekt“ dagegen ist allen Bewußtseins wesen
und in jedem ihrer Augenblicke dasselbe schlechthin Einfache,
woher es sich auch wohl schreiben mag, daß diese besondere
Bestimmtheit menschlichen Bewußtseins durchweg gar nicht
als besondere bemerkt wird. Wir bemerken sie eben nicht als
Besonderes, obwohl wir doch, wann immer wir uns selbst wissen,
die Subjektbestimmtheit, da sie zu uns gehört, wissen müssen. Der
scheinbare Widerspruch, der hierin liegt, löst sich leicht: was
wir stets haben (wissen), bemerken wir zunächst nicht, sondern
erst bei näherer Untersuchung — das wußten schon die alten
Pythagoreer von der „Harmonie der Sphären“ zu sagen, das
zeigt auch der Müller, der wohl den Gang der Mühlräder hört
(„weiß“), aber nicht bemerkt.
Das Allgemeine „Subjekt“ also, das alle Bewußtseinswesen
in seiner Einfachheit bindet und für jedes Bewußtsein die ein-
heitstiftende Bestimmtheit jeden Augenblickes bedeutet, läßt
uns allein die Behauptung vom Einssein zweier Bewußtseins-
wesen verstehen, das weder mit „Einessein" n och mit „Gleich -
sein“ zusammenzuwerfen ist, sondern gleichsam zwischen beiden
die Mitte hält. Das „Einssein“ setzt immer wenigstens zwei
Einzelwesen und zwar Bewuß tseinswesen d. h. Einzelwesen,
deren einheitstiftende Bestimmtheit ein und dasselbe schlecht-
hin einfache Allgemeine ist, voraus, deren Zweiheit nicht
irgendwie durch das Einssein beeinträchtigt oder gar aufgehoben
wird. Das „Einssein“ aber hebt die Schranken auf, wie sie
zwischen Einzelwesen stehen, die des schlechthin Einfachen als
einheitstiftender Bestimmtheit ermangeln und die als Dinge uns
104
bekannt sind. Zwischen Bewußtseinswesen bestehen keine Schran-
ken, so verschieden sie auch in Bestimmtheitsbesonderheiten
sich zeigen mögen; die einheitstiftende Bestimmtheit „Subjekt“,
in der sie sich alle finden, ist das sie alle bindende, ihr Einssein
bedingende Allgemeine, ihrer Aller Eine Einheitsgrund ,
der jedes Bewußtsein trägt und jedem Geiste zugehört.
Das Einssein der Bewußtseins wesen macht sich nun gegen-
über dem Gleichsein der Dinge noch in einer besonderen
Richtung geltend. Wir betrachteten bisher nur Gleichsein und
das Einssein zweier Einzelwesen in der und der besonderen
Bestimmtheit, wobei es sich auch um den Einzelwesen zu-
gehöriges Allgemeines handelte, das sich als Einheit von „iden-
tischem Allgemeinen und Besonderheit“1 darstellt. Nun aber
sprechen wir auch von Gleichsein und Einssein zweier Einzel-
wesen im „Wresen“, indem wir unter „Wesen“ eines Einzel-
wesens die Einheit von Allgemeinem verstehen, die das Einzel-
wesen in jedem seiner Augenblicke aufzuweisen hat1 2. Auch
in diesem Falle sagen wir von zwei Dingen, die in ihrem Wesen
dasselbe bieten, daß sie wesensgleich, von zwei Bewußtseins-
wesen aber, daß sie wesensseins sind. Und wenn wir nun die
Einheit von Bestimmtheiten, die das Wesen eines Dinges be-
deuten, mit irgendeiner Augenblickeinheit dieses Dinges ver-
gleichen, so ergibt sich, daß diese zwei Einheiten, die ja beide
Allgemeines sind, sich so voneinander unterscheiden, daß eine
jede der das Wesen des Dinges ausmachenden Bestimmtheiten
das identische Allgemeine einer von den die Augenblick-
einheit ausmachenden Bestimmtheiten ist3. Die Augenblick-
einheit eines Dinges erweist sich demnach in jeder ihrer Be-
stimmtheiten (Größe, Gestalt und Ort) als Besonderung des
Wesens des Dinges, also jede ihrer Bestimmtheiten als die Ein-
heit von identischem Allgemeinen und Besonderheit.
1 Siehe Rehmke, Logik1 S. 261L, 226ff., Logik* S. 257f., 272 ff.
5 Siehe Rehmke, Logik1 S. 226f., 465, Logik* S. 259f., 417.
3 Siehe Rehmke, Logik1 S. 251 f., Logik* 217L
105
Anders steht es, wenn wir das Wesen eines menschlichen
Bewußtseins mit einer Augenblickeinheit dieses Einzelwesens
vergleichen; denn hier können wir die bemerkenswerte Tat-
sache feststellen, daß nicht jede Bestimmtheit des Bewußtseins-
augenblickes Besonderung einer der das Wesen des menschlichen
Geistes ausmachenden Bewußtseinsbestimmtheiten ist, indem
die einheitstiftende Bestimmtheit des Bewußtseinsaugenblickes,
das „Subjekt“, mitgehört zum Wesen des Bewußtseins als beson-
dere Bestimmtheit mit anderen, die allerdings nur das iden-
tische Allgemeine der außer der Subjektbestimmtheit noch
zum Bewußtseinsaugenblick gehörenden Bestimmtheiten sind. Das
also ist das Eigentümliche, das in dieser Beziehung das Bewußt-
seinssubjekt aus der Summe der übrigen Bewußtseinsbestimmt-
heiten heraushebt: es gehört zweifellos zum Wesen mensch-
lichen Geistes und doch nicht minder als besondere Bestimmt-
heit zu jedem Bewußtseinsaugenblick. Diese Tatsache ist
es darum auch, die uns veranlaßt, von zwei Bewußtseins wesen
zu sagen, sie seien nicht nur im Wesen gleich, sondern eins.
„Im Wesen einssein“ bedeutet für diese Einzelwesen nicht, daß
sie Eines seien, was ja der bare Widerspruch in sich wäre.
Die einfache Subjektbestimmtheit, die eben allen Geist wesen
einunddieselbe ist, läßt uns allerdings erst die in dem „Sich-
einswissen“ liegende Behauptung vom Einssein der Bewußt-
seinswesen verstehen; aber sie darf uns nicht dazu verführen,
das einheitstiftende „Subjekt“ in ein Einzelwesen zu ver-
kehren oder gar die Vielheit der Bewußtseins wesen in Eines
aufzuheben. Wenn sich ein Geist auch „einsweiß“ mit einem
anderen, so unterscheidet er sich trotz alledem von diesem;
„Einssein“ ist eben nicht „Einessein“.
e)
Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein bedeutet in allen
Fällen „Sichwesenseinswissen“, wenn man von „Liebe2"
und „lieben2“ redet; man hat dabei nicht eine besondere Be-
106
stimmtheit, in der etwa zwei Bewußtseinswesen gleich sind,
sondern diese Bewußtseinswesen als Einzelwesen im Auge:
Einzelwesen steht zu Einzelwesen im Wesenseinssein, und
sich in diesem Wesenseinssein mit einem anderen besonderen
Bewußtsein wissen heißt dieses Bewußtseins wesen lieben2. Man
wird die Tatsache der Liebe2 nicht verstehen, wenn man nicht
zuvor das Wesenseinssein der Bewußtseins wesen verstanden
hat: denn Liebe2 bedeutet sich wesenseinswissen mit anderem Be-
wußtsein. Jedoch die Tatsache der Liebe2, die Tatsache eines
liebenden2 Bewußtseins hat keineswegs zur Voraussetzung, daß
es sich zuvor fraglos klar sein müsse über das Wesenseinssein
der Bewußtseinswesen, bevor es sich mit einem anderen Bewußt-
sein wesenseins wissen, also ein anderes Bewußtsein lieben2
könne. Wer aber Liebe2 kennt, wer je liebte2, der muß be-
stätigt finden, daß er sich wesenseins mit anderem Bewußtsein
wußte, auch wenn er noch gar nicht darüber klar geworden ist,
daß dieses Einssein jedem Bewußtsein in Beziehung zu jedem
anderen Bewußtsein an und für sich zukommt. Ein Anderes
eben ist „Einssein“, ein Anderes „ Sich wesenseins wissen “; das
Einssein hat keineswegs auch das Sichwesenseinswissen zur not-
wendigen Folge, sonst müßte ja Liebe2 jedem Bewußtsein,
mit welchem anderen Bewußtsein es sich auch zusammenfände,
zukommen. Immerhin aber dürfen wir behaupten, daß ein
Bewußtseinswesen sich nicht eins mit einem anderen wissen
könnte, wenn nicht die Bewußtseinswesen überhaupt wesens-
eins wären; daher verbürgt die Tatsache der Liebe2 d. i. die
Tatsache, daß ein Bewußtsein sich eins weiß mit einem anderen,
uns die Wahrheit, daß alle Bewußtseins wesen überhaupt wesens-
eins sind.
Dieses Sicheinswissen eines Bewußtseins mit einem anderen
wird aber nicht durch Erkenntnis erworben, ist nicht wissen-
schaftlich vermitteltes „Wissen“, sondern stellt sich unter be-
stimmten Bedingungen, die aus dem Zusammenleben mit
anderem Bewußtsein für das einzelne Bewußtseinswesen sich
107
ergeben, diesem ein, da ja die grundlegende Bedingung für das
sich eins wissen, wesensseins mit anderem Bewußtsein zu sein,
in ihm als Bewußtseinswesen ohne weiteres gegeben ist.
Setzt also Liebe1 (etwas als Lustquelle wissen) nicht not-
wendig mehr als nur ein Bewußtsein voraus, so Liebe2 immer
wenigstens zwei Bewußtseinswesen und überhaupt nur Bewußt-
seinswesen, weshalb das Geliebte in Liebe2 auch einzig und
allein Bewußtseinswesen ist, während das Geliebte in Liebe1
Geist und Ding, Geistiges und Dingliches sein kann. Aber
wenngleich Liebe2 d. i. „sich wesenseins wissen“ eine Mehr-
zahl von Bewußtseinswesen unbedingt voraussetzt, so gehört
doch nicht zu dieser notwendigen Voraussetzung, daß die Be-
wußtseinswesen auch in irgendeiner Einheit, sei es Herrschafts-
einheit, sei es Lebenseinheit, sich finden. Die Liebe2 bedarf
solcher Einheiten für die Bewußtseinswesen nicht, daher ist
ihrem Liebenden2 auch das, was wir Pflicht nennen, für sein
Wollen völlig fremd.
Alles Wollen des Liebenden2 bezieht sich aber auf das Ge-
liebte2, denn dessen Veränderung steht ihm im Lichte der Lust,
während alles Wollen des Liebenden1 seinen besonderen Zweck
in dem Liebenden1 selbst hat. Daraus ist ersichtlich, wie wichtig
es ist, den Unterschied von „lieben1“ und „lieben2“ fest im
Auge zu behalten. Wir sprechen viel von der Selbstliebe, die
wir der Selbstlosigkeit entgegenstellen, ohne den Gegensatz von
Liebe1 und Liebe2 zu beachten, der hier unvermerkt mitspielt,
da ohne ihn jener Gegensatz Selbstliebe—Selbstlosigkeit allen
Sinn verliert. Denn Selbstliebe, Eigenliebe, ist in allen Fällen
Liebe1; das sich selbst liebende Einzelwesen weiß sich als Lust-
quelle für sich selbst; das Selbstbewußtsein (Sichsel.bstwissen)
allein ist die Voraussetzung für die Selbstliebe, die aber niemals
Liebe2 bedeuten kann. Liebe2, das Sicheinswissen, hat nicht
nur das Selbstbewußtsein des Liebenden, sondern auch anderes
Bewußtsein zur Voraussetzung; wenn nicht wenigstens zwei
Bewußtseinswesen gegeben sind, findet Liebe2 keinen Platz. Ein
108
Bewußtsein kann sich nicht mit sich einswissen, sondern sich
immer nur eines wissen, und wenn es sich und ein anderes
Bewußtsein weiß, so kann es sich wohl einswissen mit diesem,
niemals aber sich mit dem anderen Bewußtsein zusammen als
eines wissen.
Liegt die Selbstliebe ganz auf dem Gebiete der Liebe1, so
das selbstlose Wollen ganz auf dem der Liebe2, insofern dieses
Wollens „im Lichte der Lust stehende Veränderung“ ausnahms-
los das andere Bewußtsein und nicht das Selbst („selbstlos“)
des wollenden Bewußtseins betrifft.
In dem bekannten Worte „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst“ haben wir deutlich eine Vermischung von Liebe1 und
Liebe2 vor uns. „Liebe deinen Nächsten “ meint zweifellos Liebe2,
dagegegen „wie Du dich selbst liebst“ Liebe1, und so fordert
dieses Wort Unmögliches, denn Liebe1 und Liebe2 lassen sich
gar nicht vergleichen („wie“). Deutet man aber die Liebe in
beiden Fällen wie „etwas als Lustquelle wissen“, so streitet
jenes Wort offensichtlich gegen die Lehre dessen, dem es zu-
geschrieben wird. Die Deutung aber, daß „Liebe“ in beiden
Fällen Liebe2 sage, fällt ohne weiteres aus, da „Liebe2 zu
sich selbst“ unmöglich ist, weil Liebe2 nicht nur ein, sondern
wenigstens zwei Bewußtseinswesen voraussetzt und das Sich-
selbstwissen nicht zwei Bewußtseinswesen benötigt, obwohl es
Wissendes und Gewußtes bietet, denn im Selbstbewußtsein sind
Wissendes und Gewußtes nicht zwei, sondern ein und dasselbe
Einzelwesen.
Aber so scharf auch Liebe1 undLiebe2 auseinanderzuhalten sind,
so gilt doch von Liebe2 dasselbe, wie von Liebe1, daß auch sie
nämlich nicht als „Gefühl“ anzusprechen ist. Gehörte etwa
zu dem Sicheinswissen ein Gefühl des Sicheinswissenden, so
müßte es ein bestimmtes Gefühl, entweder eine Lust oder eine
Unlust sein, und dasselbe wäre zu fordern, wenn mit dem Sich-
einswissen ein besonderes Gefühl zusammengehörte. Aber nur
den letzten Fall brauchen wir überhaupt noch zu erwägen,
109
denn es leuchtet ohne weiteres ein, daß im „Sicheinswissen“
nicht irgendein Gefühl mit zum Ausdruck kommt als diesem
zugehörig. Jedoch auch Zusammengehörigkeit eines
bestimmten Gefühls (entweder Lust oder Unlust) mit dem
Sicheins wissen für den Sich eins wissenden wird durch die Tat-
sachen Lügen gestraft; denn der Sicheins wissende — das sagt
uns die eigene Erfahrung genugsam — hat in dem betreffen-
den Augenblicke das eine Mal Lust, das andere Mal Unlust.
Und wenn man sich auch darauf zurückzöge, daß stets mit dem
Sicheinswissen doch irgendein Gefühl verknüpft sei, so könnte
dies doch niemals ausreichen, um die Behauptung, die Liebe2
selbst sei ein Gefühl, auch nur irgendwie zu sichern.
So mag es immerhin Wunder nehmen, daß die Liebe als ein
„Gefühl“ überall und anstandslos umgeht. Vielleicht läßt sich
dies darauf zurückführen, daß die Übung weitverbreitet ist, „Füh-
len“ im Sinne eines „Wissens“ zu verwenden und man somit
statt „Sicheinswissen“ eben „Sicheinsfühlen“ sagt. Diese
Vermutung liegt in unserem Falle um so näher, als dann unter
„Fühlen“ ein nicht vermitteltes unmittelbares Wissen, wie man
es vom Selbstbewußtsein überhaupt auszusagen pflegt, verstanden
wird und das „Sicheinswissen" offenbar ein Selbstbewußtsein
bedeutet. Wer diesen Sinn des Wortes „Fühlen“ im Auge hat,
wenn er vom „Gefühl der Liebe" spricht, wird sich wohl auf
die alte Bedeutung von „Fühlen“ als Tasten, Berühren etwa
noch berufen. Ohne uns weiter in die Überlegung, ob es
zweckdienlich sei, dem Worte „Fühlen“ neben dem üblichen
psychologischen Sinn noch diesen besonderen Wissens sinn
überhaupt zu behalten, wird unsere Behauptung, die Liebe sei
kein Gefühl (Lust oder Unlust) durch eine Behauptung, „lieben“
sei ein besonderes W i s s e n, nicht nur nicht erschüttert, sondern
sogar noch gestärkt.
Es wäre allerdings wünschenswert, daß wenigstens im wissen-
schaftlichen Sprachgebrauch die Worte „wissen“ und „fühlen“
streng auseinandergehalten würden, so daß mit „fühlen“ nicht
110
mehr, wie es z. B. in der Zeit der Romantik (es sei nur auf
Schleiermacher hingewiesen) so stark getrieben wurde, ein be-
sonders bedingtes Wissen zum Ausdruck gebracht wird. Dann
ließe sich auch hoffen, daß andererseits auch nicht mehr vom
Pflichtgefühl, anstatt vom Pflichtbewußtsein, nicht mehr
vom „Gefühl“ der Verantwortlichkeit, vom „Gefühl“ der
Schuld usf., anstatt vom Bewußtsein (Wissen) der Verant-
wortlichkeit, vom Bewußtsein der Schuld usf. geredet wird;
dasselbe gilt aber auch vom „Gefühl der Liebe“,
Indes noch von einer anderen Seite wird man unsre Behaup-
tung zu widerlegen suchen, indem man darauf hinweist, daß
doch das liebende2 Bewußtsein mitfühle mit dem geliebten2
Bewußtsein, sei es nun ein Lustfühlen, sei es ein Unlustfühlen.
Daß das „Mitfühlen mit dem geliebten2 Bewußtsein im Wollen
aus Liebe2 eine bedeutsame Rolle spiele, werden wir noch dar-
legen. Aber allem Mitfühlen, sei es Lusthaben, sei es Unlust-
haben, liegt das Selbstbewußtsein, das einSicheinswissen
mit dem anderen Bewußtsein bedeutet, liegt also Liebe2 des
mitfühlenden Bewußtseins zum anderen Bewußtsein zugrunde.
Wenn ein Bewußtsein sich nicht einsweiß mit anderem Be-
wußtsein, kann es nicht zum Mitfühlen mit diesem kommen,
und es heißt in der Tat den Esel beim Schwanz aufzäumen,
wenn man behauptet, Mitfühlen führe erst den menschlichen
Geist zum Sicheinswissen mit dem anderen, dieses besondere
Selbstbewußtsein habe mithin das Mitfühlen zur notwendigen
Voraussetzung, und solches Mitfühlen werde dann eben durch
das Wort „lieben“ zum Ausdruck gebracht. Stände es so mit
dem Verhältnis von Mitfühlen und Sicheinswissen, dann
ließe sich allerdings auch nichts dagegen sagen, daß Liebe2 ein
Gefühl genannt wird, wie dies ja auch durchaus üblich ist;
und wir würden auch gar nicht einen Wortstreit, ob „Liebe“
das „Mitfühlen“ oder das „Sicheinswissen“ bedeute, erheben.
Aber in der Sache, behaupten wir, steht es eben umgekehrt, so
daß das Mitfühlen zu seiner notwendigen Voraussetzung
111
das Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein hat. Und da wir
uns, was den Gebrauch des Wortes „Liebe“ angeht, auf eine
alte Übung, die in ihm das Sicheinswissen mit anderem
Geiste zum Ausdruck bringt, berufen können, so halten wir,
um der Eindeutigkeit willen, uns berechtigt, diesem Sicheins-
wissen für sich allein das Wort „Liebe“, und zwar als Liebe2,
zu behalten. Ja, auch auf einen Vergleich könnten wir uns
nicht einlassen, der dahin ginge, in dem Wort „Liebe“ jenes
Sicheinswissen mitsamt seiner Folge, dem Mitfühlen, zum
Ausdruck zu bringen. Diesem Vergleiche stände nämlich sozu-
sagen alles entgegen, wenn nämlich, wie wir, auch der Gegner
auf seinem Standpunkt verharrt, so daß er zu der Folge „Mit-
fühlen—Sicheinswissen“, wir dagegen zu der Folge „Sicheins-
wissen—Mitfühlen“ halten, und somit würde es doch nicht
zu der erstrebten Eindeutigkeit des Wortes „Liebe“ kom-
men.
Mit der Klarlegung dessen, was wir Liebe nennen und als
Liebe1 und Liebe2 kennen, haben wir nun wenigstens den
Boden für eine Beantwortung der Frage „was ist sittlich?“ vor-
bereitet, und zwar einen neuen Boden, den wir suchen mußten,
da wir die Pflichtethik sowie die Klugheitethik für unzuläng-
liche Versuche zu einer Ethik als Wissenschaft haben erklären
müssen. Wenn wir die Suche nach einer zureichenden Antwort
auf jene Frage mit der Erörterung des Sicheinswissens und der
Liebe eingeleitet haben, so ist uns dazu Veranlassung gewesen
die neben der Klugheitethik und der Pflichtethik in der Ge-
schichte vorliegende christliche Ethik, die wir als Liebesethik
bezeichnen, weil sich ihr das Sittliche auf die Liebe als Sich-
einswissen gründet. Den vom Christentum als der „Beligion
der Liebe“ vorgezeichneten Weg zu einer Beligionsethik
können wir in der Suche nach einer zureichenden Beantwortung
unserer Frage freilich nicht einschlagen, da diese Ethik, wie alle
Religionsethik, auf wissenschaftlich unzulänglichem Boden ge-
gründet ist, aber wir halten es nicht für einen Raub, dem
112
Christentum die Uebe als das für das Sittliche Bedeutsame und
Grundlegende auf Prüfung hin zu entnehmen.
Wir haben nun klargestellt, was Liebe2 bedeutet, und daß
in allen Fällen das Liebende ein Geist, ein Bewußtsein ist,
Liebe1 aber das Wissen von einem Lustbringenden, Liebe2
das Sichselbsteinswissen mit anderem Geiste bedeutet. Durch
die Feststellung ferner des ,,selbstlosen Wollens“ als eines
Wollens aus Liebe2 haben wir einen sichereren Halt, als uns
das Wort „selbstlos“ für dieses besondere Wollen gibt, gefunden.
Denn „selbstlos“ sagt uns nur von einem Wollen, daß die im
Lichte der Lust stehende Veränderung (der besondere Zweck)
nicht eine Veränderung des Wollenden selbst ausmacht. Mit
solcher verneinenden Bestimmung eines W'ollens ist dieses aber
nocht nicht sicher erfaßt, was man daraus ersieht, daß das Wort
„sittliches Wollen ist selbstloses Wollen“, die Deutung zuläßt,
das alles Wollen, dessen besonderer Zweck nicht eine Ver-
änderung des Wollenden selbst bedeutet, sittliches Wollen
sei: nach dieser Deutung würde auch vieles Pflichtwollen sitt-
liches Wollen sein.
o
Wir haben aber dargelegt, daß, wenn sittliches Wollen
selbstloses und das heißt „Wollen aus Liebe2“ bedeutet, dieses
Wollen immer mindestens zwei Bewußtseinswesen voraus-
setzt, das Liebende2 und das Geliebte2. Sicherlich gibt es in
einer Lebenseinheit Pflichten gegen sich selbst, niemals
aber im Sittlichen eine Selbstliebe2, und dies nicht nur, weil
sittliches Wollen selbstloses Wollen bedeutet, sondern vor
allem, weil kein Bewußtsein mit sich selbst eins sein und
sich mit sich selbst eins wissen kann. Selbstliebe gibt es also
nicht als Selbstliebe2, wohl aber, und auch nur allein, als
Selbstliebe1, als sogenannte Eigenliebe, in der es sich aller-
dings mit sich selbst eines, nicht jedoch mit sich selbst
eins weiß. Angesichts der Selbstliebe, die nur als Liebe1 be-
stehen und verstanden werden kann, zeigt sich auch wiederum
8 Rehmke, Grundlegung der Ethik als IViss* näcbafi
115
deutlich, daß Liebe1 und Liebe5 nicht etwa auf einer und der-
selben Linie stehen, also nicht Besonderungen eines und
desselben Allgemeinen „Liebe“ bedeuten, wie das gleichlautende
Wort „Liebe“ annehmen lassen mag. Ein ganz besonderer Be-
leg aber dafür, daß Liebe1 und Liebe 5 nicht zwei Besonderungen
eines Allgemeinen „Liebe“ bedeuten können, ist die Tatsache,
daß ein menschliches Bewußtsein zu einem und demselben
Bewußtsein in ein und demselben Augenblick Liebe1 und Liebe1
zeigen, es also dieses andere Bewußtsein zugleich als Lustquelle
wissen und mit ihm sich eins wissen kann. Denn dieses Zu-
gleich wäre schlechthin ausgeschlossen, wenn Liebe1 und Liebe 2
jeeine „besondereLiebe“ d. i. verschiedene Besonderungen eines
und desselben Allgemeinen „Liebe“ wären; kann doch auch
kein Ding zwei Besonderungen von Gestalt, also zwei besondere
Gestalten zugleich aufweisen. Sprechen wir aber doch wohl
von Liebe1 als einer „besonderen“ Liebe, so darf dies nur
sagen, daß hier das Wort „Liebe“ in einer besonderen Be-
deutung gegenüber der anderen Bedeutung desselben Laut-
gebildes „Liebe“ in dem Worte „Liebe2“ Verwendung findet:
zwei Bedeutungen, die sich eben nicht in einem und demselben
Allgemeinen treffen, sondern nur das Lautgebilde „Liebe“
gemein haben. Solche Zweideutigkeit hat ja immer ihr Miß-
liches, aber dieser zwiefache Gebrauch des Wortes „Liebe“ ist
ein so tief eingewurzelter, daß wir uns mit ihm abfinden und
ihn durch die Klarstellung der Zweideutigkeit unschädlich
machen müssen. Ein Versuch, das „Wissen von etwas als Lust-
q uelle (Liebe1)“ durch „Wissen von etwas als Wert“, „lieben
also durch „werten“ zu ersetzen, möchte wohl vielleicht ratsam
scheinen, um die verhängnisvolle Zweideutigkeit zu beseitigen.
Freilich setzte dieses voraus, daß das zur Beseitigung der Zweideu-
tigkeit des Wortes „Liebe“ herangezogene Wort „Wert“ nicht
selbst unter Zweideutigkeit leide, was aber leider der Fall ist.
Zunächst finden wir im gemeinen Sprachgebrauch die Zwei-
deutigkeit „Wert — Lustquelle“ und „Wert = Zweckdienliches
114
(Mittel zum Zweck)“ vor, die uns immerhin schon zu schaffen
machen würde, dann aber kommt auch neuerdings in wissen-
schaftlichen Kreisen eine besondere Verwendung von „Wert“ noch
hinzu, die nicht etwa mit „Wert — Lustquelle“ und nicht mit
„Wert = Zweckdienliches“ zusammentrifft, ja nach der über-
haupt „Wert“ kein Beziehungswort, sondern ein Wesens-
wort sein soll. Schon diese beiden Umstände bei der Verwen-
dung des Wortes „Wert“ lassen es nicht ratsam erscheinen, statt
„lieben1“ das Wort „werten“ im Sinne von „etwas als Lust-
quelle wissen“ einzusetzen, da die Eindeutigkeit doch nicht
erreicht wäre, ja der Klarheit noch mehr Abbruch getan würde
durch die neue Verwendung von „Wert“ als einem Wesens-
worte, das uns allerdings bisher immer nur noch in mystischem
Dunkel vorgeführt worden ist.
Indem nun aber Liebe1 und Liebe2 in Ansehung eines und
desselben Bewußtseinswesens zugleich einem Bewußtsein eigne
sein können, läßt sich verstehen, daß das eine dem anderen den
Weg bereite, Liebe1 das betreffende Bewußtsein zu Liebe2 und
ebenfalls auch Liebe2 es zu Liebe1 führe, und gerade dieser
Umstand mag dazu beigetragen haben, für das so verschiedene
Wissen ein und dasselbe Wort „Liebe“ zu gebrauchen, indem
der Übergang des betreffenden Bewußtseins von dem einen zum
anderen ganz unbemerkt blieb. Zudem haben wir auch schon
darauf hingewiesen, daß die Liebe2 eines Bewußtseins d. i. sein
Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein die notwendige Vor-
aussetzung für sein Mitfühlen mit diesem anderen sei: nur wer
sich eins weiß mit anderem Bewußtsein, kann mit diesem mit-
fühlen. Dieser innige Zusammenhang des Mitfühlens mit dem
Sicheinswissen mag es vor allem veranlaßt haben, daß man als
Liebe2, unter der man das Sicheinswissen eben verstand, dieses
und das Mitfühlen zusammenfaßte und nun um so geneigter
war, das Gan2e als ein Gefühl der Liebe (gleichsam pars pro
toto) zu bezeichnen. Wir müssen aber auch gegen dieses Zu-
sammenschweißen von Sicheinswissen und Mit fühlen schon
8
J15
deshalb Einsprache erheben, weil sich vielfach Sicheinswissen
ohne die besondere Folge eines „Mitfühlens“ mit dem anderen
Bewußtsein zeigt, wie wir noch darlegen werden.
Immerhin hat das Mitfühlen (Mitfreude und Mitleid) noch
eine besondere Bewandtnis. Wir haben schon darauf hinge-
wiesen, daß Einssein zweier Bewußtseinswesen in zweifacher
Weise sich feststellen läßt, nämlich als Einssein im Wesen
und als Einssein in der Besonderheit einer Bestimmtheit oder,
wie wir kurz sagen können, besonderer Besti mmtheit. Dem
entsprechend kennen wir ein doppeltes Sicheinswissen eines Be-
wußtseins mit einem anderen: Sicheinswissen im Wesen und in
besonderer Bestimmtheit. Dieses doppelte Sicheinswissen (im
Wesen und in besonderer Bestimmtheit) ist eben in dem Worte
mitfühlen“ immer beschlossen, wenn es auch nur das Sich-
einswissen in besonderer Bestimmtheit, nämlich im Gefühl der
Lust oder Unlust (Freude und Leid) an Gegebenen demselben
tatsächlich zum Ausdruck bringt. Daß aber Mitgefühl (Mit-
freude und Mitleid) mehr bedeutet als sich Einswissen mit
anderem Einzelwesen in Lust oder Unlust an einem und dem-
selben, mag schon dadurch belegt werden, daß, wenn ein Be-
wußtsein dieselbe Unlust an einem Bühnenstück, wie ein anderes
Bewußtsein hat, keineswegs davon die Rede ist, daß jenes Bewußt-
sein Mitgefühl habe mit diesem Bewußtsein. Und wenn man
auch dieses Beispiel ablehnt und betont, daß vom Mitfühlen
nur dann die Rede sei, wenn das, an dem beide Bewußtseins-
wesen Lust oder Unlust haben, durch das sie also in ihrer zuständ-
lichen Bestimmtheit eins sind, mithin das „mitfühlende“
Bewußtsein sich eins weiß mit dem anderen, etwas dem anderen
Einzelwesen Zugehöriges z. B. eine bestimmte Veränderung ist,
die es erfahren hat, so bleibt es, trotz dieser durchaus berechtig-
ten Einschränkung, immerhin dabei, daß in jedem Mitfühlen
auch das im Wesen mit dem anderen Bewußtsein Sicheins-
wissen und nicht nur das in besonderer Bestimmtheit Sicheins-
wissen steckt. Wer das erste übersieht und nur das zweite sieht,
wird vor der Tatsache der Mitfreude und des Mitleids als un-
lösbarem Rätsel stehen bleiben müssen, wenn er nicht, wie
Schopenhauer, in einer metaphysischen Dichtung die Lösung
sucht.
Betrachten wir aber Schopenhauers metaphysische Ausdeu-
tung des Mitleids, so beruht sie augenscheinlich auf einer Um-
dichtung des Einssein im Wesen mit anderem Bewußtsein
in Einessein der zwei Bewußtseinswesen, die eben als zwei
„Objektivationen“ des Einen „Willens“ auftreten. Dieser meta-
physische Versuch, das sich Einswissen in besonderer Bestimmt-
heit („Mitleid haben“) auf Eines zurückzuführen, ist tatsäch-
lich nur eine Bestätigung für unsere Behauptung, daß dem
„Mitleid“ das im Wesen sich eins wissen mit dem anderen
Bewußtsein unterliegt. Jegliches Mitgefühl, sei es Mitfreude,
die wir trotz Schopenhauer als Tatsache buchen, sei es Mit-
leid, ist eben in der Liebe2 d. i. dem sich im Wesen Einswissens
mit anderem Bewußtsein verankert. Die Liebe2 allein läßt
uns mitfühlen, und Mitfreude sowie Mitleid finden klärlich in
der Liebe2 ihren Grund. Wer nicht liebt2, kann nicht mit*
fühlen, und jedes Wollen, das durch Mitleid veranlaßt wird,
ist zweifellos ein Wollen aus Liebe2.
Wir haben demnach in der Ethik Schopenhauers, die das
Mitleid für das „Fundament der Moral“ erklärt, den Ver-
such einer Liebesethik vor uns, da Mitleid nur auf dem
Boden der Liebe2, des Sichwesenseinswissens mit dem anderen
Bewußtsein sprießt, und doch müssen wir dieses von Schopen-
hauer verkündete „Fundament der Moral“ ablehnen. Wir stim-
men ihm freilich in der Bestimmung des Sittlichen, da er das
Mitleidswollen das sittliche Wollen nennt, darin zu, daß sitt-
liches Wollen als Wirken wollen immer und allein auf das andere
Bewußtsein und seine Veränderung zielt, also als selbstloses in-
sonderheit ein „altruistisches“ Wollen bedeutet. Und auch
darin müssen wir Schopenhauer zustimmen, daß, vorausgesetzt
freilich, für das Wollen aus Liebe2 komme insbesondere auch
117
das Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein in besonderer
zuständlicher Bestimmtheit in Betracht, die Mitfreude
ohne weiteres für das durch Mitgefühl veranlaßte Wollen in
Wegfall kommt und nur von Mitleidswollen die Rede sein
könne. Die Lust (Freude) veranlaßt ja niemals ein Wollen, son-
dern immer nur die Unlust (Leid); gibt es aber kein durch
Lust veranlaßtes Wollen, so muß zweifelsohne alles durch Mit-
gefühl veranlaßte Wollen Mitleidswollen sein.
Gäbe es nun kein anderes Wollen aus Liebe2 als das Mit-
leidswollen, das ja zweifellos Wollen aus Liebe 2 ist, so müßten
wir auch der Schopenhauerschen Gleichung „Mitleidswollen =
sittliches Wollen“ zustimmen. Wieviel Wollen aus Liebe1
aber kennen wir, in dem doch von Mitleid nichts zu finden ist,
in dem das wollende Bewußtsein zwar Unlust an dem anderen
Bewußtsein hat — wie könnte es sonst überhaupt wollen —,
aber diese Unlust ist nicht Mitleid und kann es in manchen
Fällen nicht sein, weil das andere Bewußtsein selbst nicht Leid,
sondern Freude hat. Als Beispiel diene der Vater, der seinen
in schlechter Gesellschaft fröhlich lebenden Sohn retten will;
hier läßt sich wohl vom Leid des Vaters, aber nicht vom Mit-
leid sprechen, und wenn wir genauer zusehen, so finden wir,
daß in dieser Liebe2 des Vaters nichts von einem Sicheinswissen
mit dem Sohne in besonderer Bewußtseinsbestimmtheit,
wie es im Mitleidswollen immer in den Vordergrund tritt, sich
findet, sondern allein das sich im Wesen mit dem Sohne Eins-
wissen vorliegt.
Hieraus entnehmen wir aber den Wink, daß wir für eine
zureichende Beantwortung der Frage „was ist sittlich?“ von
einer als Mitleidsethik aufgebauten Liebesethik keine Hilfe
zu erwarten haben, obgleich sie uns immer dahin führt zu er-
kennen, daß, wenn anders „sittlich“ mit der Liebe2 zusammen-
hängt, nicht das Sicheinswissen in besonderer Bestimmtheit,
sondern das „sich im Wesen Einswissen“ für die Bestimmung
dessen, was „sittlich“ ist, allein in Frage kommt. Denn wer
118
nur einmal die Schopenhauersche Liebesethik, der eben das
Sittliche im Mitleid wurzelt, näher betrachtet, wird finden,
daß ihr das „sittliche“ Wollen ganz auf Unlustverlust und
Lustgewinn des anderen Bewußtseins eingestellt ist. Wir können
sie daher „altruistischen Eudämonismus“ nennen, in dem das sitt-
liche Bewußtsein auf des Anderen Lust, wenn es auch nach
Schopenhauer immer nur tatsächlich Verringerung der Unlust
bringen wird, zielt. Es kommt eben in dieser Ethik das Sich-
wesenseinswissen vor dem Sicheinswissen in der Bestimmtheit
„Unlusthaben an etwas dem anderen Bewußtsein Zugehörigen“
für das Wollen des Sicheinswissenden nicht zur Geltung, ob-
wohl es doch nicht etwa fehlt, da ja ohne das Sichwesens-
einswissen mit dem anderen Bewußtsein das Sicheinswissen
in einer Bewußtseinsbestimmtheit (Unlust haben) gar nicht
möglich ist, also auch das Mitleid nicht eintreten kann. In dieser
Hinsicht läßt sich die Ethik Schopenhauers als eine verkrüppelte
Liebesethik bezeichnen, die dadurch, daß sie das Sichwesens-
einswissen mit anderem Bewußtsein nicht in ihre Rechnung
einbezieht, diejenigen Fälle eines Wollens aus Liebe2 unbe-
achtet läßt, die nicht aus Mitleid veranlaßt und darum nicht
auf das Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein in zuständ-
licher Bewußtseinsbestimmtheit zurückzuführen sind.
Daß es aber Wollen aus Liebe2 ohne das Mitleid mit dem
anderen Bewußtsein gibt, steht außer aller Frage, so daß wir
mit Grund unterscheiden können zwischen Mitleidswollen und
mitleidslosem Wollen aus Liebe2, die jedoch beide auf Sich-
wesenseinswissen des Wollenden mit dem anderen Bewußt-
sein sich gründen, nur daß das Mitleids wollen als seinen be-
sonderen Zwek die Veränderung des anderen Bewußtseins in
seiner zuständlichen Bestimmtheit (von Unlust zu Lust,
oder von Unlust zu geringerer Unlust) hat, das mitleidslose Wollen
aus Liebe2 aber die Veränderung des anderen Bewußtseins in
seinem Wesen: eine Verschiedenheit, die für die Beantwor-
tung der Frage „was ist sittlich?“ von Bedeutung werden mag,
wenn man nicht über diese Verschiedenheit hinwegsieht und
Wollen aus Liebe5 (einerlei ob Mitleidswollen oder mitleids-
loses Wollen aus Liebe5) mit „sittlichem“ Wollen zusammen-
fallen läßt, indem uns ja „sittliches Wollen“ nun so weit klarge-
stellt ist, daß es auf das Wesen, in dem die beiden Bewußt-
seinswesen eins sind und in dem das Wollende auch sich eins
mit dem anderen Bewußtsein weiß, gestellt ist.
Ob nun „aus Liebe2 wollen“ und „sittliches Wollen“ eine
Gleichung ausmachen, lassen wir noch dahingestellt, so viel
indes dürfen wir schon sagen, daß sittliches Wollen ein Wollen
aus Liebe2 sei und demgemäß „sittlich“ wenigstens zwei Be-
wußtseinswesen voraussetzt, denn Liebe2 bedeutet Sicheinswissen
mit einem anderen Bewußtseinswesen. Aber Liebe2 bedarf
auch zweier besonderer Bewußtseins wesen nur schlechtweg
und nicht etwa noch in einerEinheit, der beide zugehörten oder
in der sie sich finden müßten, sei es Herrschaftseinheit oder
Lebenseinheit. Ist demnach sittliches Wollen ein Wollen aus
Liebe2, so kann für dieses weder Gebot noch Gesetz, die
ja beide notwendig Bewußtseinswesen in einer Einheit vor-
aussetzen, in Frage kommen. Die Ethik als Wissenschaft weiß
daher nichts von einem „Sittengesetz“.
Ebenso wenig aber, wie das in eine Einheit Gebundensein
seiner Bewußtseinswesen, kennt das sittliche Wollen als das
WTollen aus Liebe2 auch keine Schranken zwischen seinen Be-
wußtseinswesen, wie sie trotz des in eine Einheit Gebunden-
seins die einer Einheit zugehörigen Bewußtseinswesen gegen-
einander noch aufweisen. Die Liebe2, das Sichwesenseinswissen
reißt alle Schranken nieder, ohne doch die Besonderheit der
Bewußtseinswesen aufzuheben: das liebende2 Bewußtsein weiß
sich mit dem anderen zwar eins, aber nicht eines.
Wenn das Sittliche an irgendwelche Einheit von Bewußt-
seinswesen gebunden wäre, so würde es eben nicht auf alles
menschliche Bewußtsein zutreffen können, will sagen, es würde,
was sittlich sei, immer nur eine besondere Einheit treffen und
130
auf unsere Frage „was ist sittlich?“ würden so viel Antworten
erfolgen müssen, als es besondere Einheiten von Bewußtseins-
wesen gibt. Eine die Bewußtseinswesen überhaupt treffende
Antwort würde aber ausbleiben müssen, weil es eine Einheit,
sei es Herrschaft, sei es Gesellschaft oder Gemeinschaft, auch
nur aller menschlichen Bewußtseinswesen nicht gibt.
Das aus Liebe" Wollen eines menschlichen Bewußtseins zielt
nun, wie wir wissen, auf das andere dabei in Frage kommende
Bewußtsein, und was es aus Liebe2 will, das will es eben —
Schranken bestehen dem Liebenden2 in keiner Beziehung —
für das andere Bewußtsein, und zwar steht dieses „für“ da mit
doppelter Bedeutung: 1. um seinetwillen und 2. an seiner
Statt, indem die erste auf das Zweisein der in Rede stehen-
den Bewußtseinswesen gestellt und in den Gegensatz „um meinet-
willen — um seinetwillen“ gespannt ist, der von selbstischem
und selbstlosem Wollen reden läßt, die zweite auf das Sich-
einswissen des Wollenden mit dem anderen Bewußtsein ab-
stellt. WTenn wir bei der ersten Bedeutung des „für das andere
Bewußtsein wollen“ des Gegensatzes „selbstisch — selbstlos“
erwähnen, so sei darauf hingewiesen, daß wir in ihn gar kein
Werturteil hineingelegt haben wollen, sondern daß selbstisches
Wollen nur ein Wollen besagt, dessen besonderer Zweck eine
Veränderung des wollenden Bewußtseins selbst ist, da-
gegen das selbstlose Wollen ein Wollen bedeutet, dessen be-
sonderer Zweck eine Veränderung des anderen Bewußtseins
ist. Das Wort „selbstlos“, in diesem bestimmten Sinne von einem
Wollen menschlichen Bewußtseins gebraucht, fühlt uns aber
einzig und allein zu demjenigen Wollen, das wir das Wollen
aus Liebe2 nennen, so daß wir mit dieser Bedeutung von
selbstlosem WTollen zu der Gleichung stehen werden „selbstloses
Wollen = Wollen aus Liebe2 und sittliches Wollen ein selbst-
loses Wollen nennen dürfen.
Indes das aus der Liebe2 Wollen ist ja nicht nur ein Wollen
für das andere Bewußtsein im Sinne des selbstlosen d. i. die
121
oj0
Veränderung des anderen Bewußtseins als besonderem Zweck
setzenden Wollens, sondern auch in dem Sinne, daß das liebende1
Bewußtsein an Stelle des anderen, also stellvertretend für
das andere Bewußtsein will. Es ist kein Zufall, daß der Ge-
danke der Stellvertretung im Christentum, der Religion der
Liebe2, eine so hervorragende Stellung einnimmt. Beides hat das
Wollen aus Liebe2 in allen Fällen aufzuweisen: es ist selbst-
loses und stellvertretendes Wollen zugleich. Beides findet
sich immer zusammen, wenn ein Wollen aus Liebe2 gegeben
ist; wer die Veränderung eines anderen Bewußtseins als beson-
deren Zweck will, der tritt stellvertretend für das andere Be-
wußtsein ein, und wer stellvertretend für ein anderes Bewußt-
sein will, der will die Veränderung des anderen Bewußtseins
als besonderen Zweck.
Nun setzt dieses selbstlose und stellvertretende Wollen zwar
immer zwei Bewußtseinswesen voraus, aber doch nur das eine
als ein wollendes, während das andere nur schlechtweg als
Bewußtseins wesen, das eben als Einzelwesen Veränderliches ist,
in Betracht kommt, indem seine Veränderung den besonderen
Zweck jenes wollenden Bewußtseins bedeutet. Das Wollen aus
Liebe2 kommt also nicht auf Gegenseitigkeit, wie es z. B.
beim Dingwirken sich in der Wechselwirkung zeigt, hinaus
was ja auch schon bei dem Sichernswissen nicht der Fall ist.
Ein Bewußtsein kann ja ein anderes lieben2, ohne daß auch
dieses andere sich eins wüßte mit jenem. Aber wenn auch
Gegenseitigkeit nicht notwendig mit dem Sich einswissen und
mit dem Wollen aus Liebe2 vermacht ist, so ist es doch keines-
wegs ausgeschlossen, daß beide Bewußtseinswesen miteinander
sich eins wissen und als Liebende2 ein jedes eine Veränderung
des anderen zum besonderen Zweck haben; immerhin haben
wir es bei solcher Gegenseitigkeit aber mit von einander unab-
hängigen Fällen der Liebe2 und des aus Liebe2 Wollens zu tun.
Das Wollen aus Liebe2 aber wäre kein Wollen, wenn nicht das
liebende2 Bewußtsein Unlust hätte und zwar Unlust an dem
122
anderen Bewußtsein, „für“ das es will; denn ohne das Unlust-
gefühl kommt menschliches Bewußtsein überhaupt nicht zum
Wollen.1 Also nur wenn wir Unlust haben an dem Bewußt-
sein, das wir lieben1, können wir „für“ dieses Bewußtsein
wollen.
Wenn Schopenhauer auf das Mitleid alles Wollen „für“
anderes Bewußtsein gestellt sieht, so greift er insoweit fehl, als
er das Leid (Unlust) an dem anderen Bewußtsein, ohne das ein
Bewußtsein nicht zum Wollen „für“ dieses kommen kann, nur
als Mitleid anerkennt, als nicht nur das wollende, sondern
auch das andere Bewußtsein in allen Fällen des Wollens „für“
anderes Bewußtsein Leid (Unlust), haben läßt. Um das Wollen
des Liebenden 2 zu erklären, bedarf es nicht unvermeidlich auch
der Unlust des anderen Bewußtseins, sondern eben nur der Un-
lust des Wollenden an dem anderen Bewußtsein, das selber nicht
selten Lust haben kann, so daß dann vom Mitleid des Wollen-
den nicht zu reden ist. Schopenhauer also trifft mit dem Mit-
leid als angeblichem „Fundament der Moral“ nicht den sprin-
genden Punkt in dem Wollen „für“ anderes Bewußtsein, was
sich daraus erklärt, daß er das hinter dem Mitleid stehende und
dieses begründende Sichwesenseinswissen nicht sieht und daher
die Fälle des Wollens „für“ anderes Bewußtsein, in denen zwar
das wollende, nicht aber das andere Bewußtsein Unlust (Leid)
hat, gänzlich übersieht: woran eben seine Metaphysik letzten
Endes schuld ist.
Das jedoch bleibt bestehen, daß ein mit anderem Bewußt-
sein sich einswissendes Bewußtsein, wenn es „für“ das andere
aus Liebe2 will, Unlust an diesem haben und Veränderung
dieses anderen zum besonderen Zweck haben muß.
Sicherlich kennen wir aber Wollen aus Liebe1, das nicht
Mitleids wollen, also Wollen aus Liebe2, wobei das andere Be-
wußtsein kein Leid (Unlust) aufzuweisen hat. In diesen Fällen
kann daher das wollende Bewußtsein zum besonderen Zweck nicht
1 Siehe Rehmke „Lehrbuch der allg. Psychologie“2, S. 484 ff.
125
die zuständliche Veränderung des anderen Bewußtseins von Un-
lust zu Lust oder (nach Schopenhauer) von größerer Unlust zu
geringerer Unlust haben, wie im Mitleidswollen, aber auch nicht
Veränderung in einer anderen Bestimmtheit als der zuständlichen
des betreffenden Bewußtseins. Gibt es nun Fälle des Wollens
aus Liebe2, in denen der besondere Zweck des aus Liebe2
Wollenden keine Veränderung des anderen Bewußtseins weder
in zuständlicher noch in anderer Bewußtseinsbestimmtheit
bedeutet — und solche Fälle kennt jeder — so muß in diesen
der besondere Zweck als Veränderung des anderen Bewußtseins
in seinem Wesen sich darstellen.
So haben wir denn zweierlei Wollen aus Liebe2 zu verzeich-
nen, von dem das eine auf Veränderung des anderen Bew ußt-
seins in zuständlicher Bestimmtheit (von Unlust zu Lust)
geht, also Bestimmtheitveränderung des anderen Bewußt-
seins als den besonderen Zweck des Wollenden meint, während
das andere Wollen aus Liebe2 als besonderen Zweck Wesen-
veränderung des anderen Bewußtseins aufzuweisen hat. Die
Verschiedenheit des zweierlei Wollens aus Liebe2 springt in die
Augen, in dem ersten handelt es sich um Besonderheits-
wechsel in einer Bestimmtheit, in der zweiten um Besonder-
heitswechsel im Wiesen des anderen Bewußtseins.
Beiderlei Wollen aus Liebe2 wrürde nun, wenn eben das Wort
„sittlich“ doch uneingeschränkt menschliches Bewußtsein über-
haupt trifft, also die in Betracht kommenden Bewrußtseinswesen
nicht auch zu irgendeiner besonderen Einheit, sei es Herr-
schaftseinheit, sei es Lebenseinheit, gehören müssen, anscheinend
auf die Bezeichnung „sittliches Wollen“ Anspruch machen können,
wenn nicht doch das Mitleidswollen ausscheiden müßte, weil
dieses besondere Wollen aus Liebe2 gegenüber dem anderen,
das auf Wesen Veränderung des geliebten2 Bewußtseins geht,
das sittliche WTollen ein schränkte auf Bewußtseinswesen, deren
zuständliche Bestimmtheit die Unlust ist. Schlechthin unein-
geschränkt auf menschliches Bewußtsein in der Tat geht nur
124
dasjenige Wollen aus Liebe2, das auf das Wesen des geliebten
Bewußtseins als solches zielt.
Auch den Vorschlag, das Wort „sittlich“ nicht einem von
beiden Wollen aus Liebe2 zuzuerkennen, sondern beide als „sitt-
liches Wollen“ zu bezeichnen, also „sittliches Wollen“ dem Wol-
len aus Liebe2 schlechtweg gleichzusetzen, können wir nicht
billigen, weil die Verschiedenheit des Wollens aus Liebe2 nicht
auf verschiedene Besonderheit des in Frage kommenden Ge-
liebten2, nicht auf verschiedene zuständliche Bestimmtheit dieses
Bewußtseins geht, sondern sich eine Bestimmtheit zuständ-
lichen Bewußtseins (Unlust) und das Wesen des Geliebten2
gegenüberstehen.
Wie wir auch diese Frage erwägen mögen, es stellt sich immer
heraus, daß die Uneingeschränktheit, die dem Wollen, das wir
„sittlich" nennen, für menschliches Bewußtsein überhaupt
zukommen muß, nur bei demjenigen Wollen aus Liebe2 zu
finden ist, das auf Wesenveränderung des anderen Be-
wußtseins geht.
g)
Indem wir uns somit in der Frage „was ist sittlich?“ nun-
mehr einzig und allein auf das Wollen aus Liebe2, das den be-
sonderen Zweck „WesensVeränderung des anderen Bewußtseins“
aufzuweisen hat, hingewiesen sehen, betonen wir zugleich, daß
uns in der Bestimmung dieses besonderen Wollens aus Liebe2
als des sittlichen Wollens nicht ein Werturteil gegenüber
dem Mitleids wollen, wie überhaupt kein Werturteil enthalten
ist, sondern nur zum Ausdruck kommt, daß das fragliche Wollen
aus Liebe2 gegenüber dem durch Mitleid veranlaßten und auf
Veränderung in der zuständlichen Bestimmtheit (von Un-
lust zu Lust) des anderen Bewußtseins zielenden Wollens aus
Liebe2 eine Wesens Veränderung des anderen Bewußtseins zum
besonderen Zweck habe.
Mit dieser Bestimmung des „sittlichen“ Wollens ist allerdings
die Frage „was ist sittlich?" noch keineswegs restlos beantwortet;
125
denn, wenn man auch zustimmen muß, daß Veränderung des
Bewußtseins in seiner zuständlichen Bestimmtheit etwas
anderes bedeute, als eine Veränderung des Bewußtseins in seinem
Wesen, so wird man wohl stutzen vor der Behauptung einer
„Wesensveränderung“, will sagen, Veränderung menschlichen
Bewußtseins in seinem Wesen. Freilich ist ein menschliches
Bewußtsein ein Einzelwesen, also Veränderliches, und die Be-
hauptung, daß ein Einzelwesen in seinen verschiedenen Be-
stimmtheiten Veränderung, also Wechsel von Bestimmtheits-
besonderheiten erfahre, wird niemand beanstanden; aber in sol-
cher Veränderung des Einzelwesens bleibt doch sein Wesen be-
stehen, und wo immer wir wenigstens in der Dingwelt uns
umsehen, ist Wesens Veränderung eines Dinges niemals anzu-
treffen. Sagen wir von einer Anzahl Dingen, sie seien gleichen
Wesens oder, was dasselbe sagt, eines und desselben Wesens, so
erweist sich ein jedes als eine Besonderung dieses Wesens,
mag dieses nun „Ding“ oder „Kernfrucht“ oder „Apfel“ heißen.1
Aber in seinem Wesen verändert sich das besondere Ding, die
besondere Kernfrucht, der besondere Apfel trotz aller Verände-
rung in seinen Bestimmtheiten gar nicht, es bleibt vielmehr
immer desselben Wesens, oder aber es vergeht überhaupt.
Indes nicht alles, was vom dinglichen Einzelwesen gilt, trifft
auch für das geistige Einzelwesen, das Bewußtsein zu, und wenn
es auch wahr ist, daß die Dinge in ihrem Wesen keine Verände-
rung erfahren, ist hiermit doch keineswegs auch einer Wesens-
veränderung des Geistes schon das Urteil gesprochen, da das
Wesen der Bewußtseinswesen Wissen ist, das Wesen der Ding-
wesen dagegen eine Summe von einfachen Bestimmtheiten aus-
macht, die eine jede mit einer Besonderheit in Einheit ver-
knüpft die Augenblickeinheit eines Dinges bilden, so daß mit
Recht jedes Ding eine Wesensbesonderung ist d. i. ein be-
sonderes Ding heißt. Ganz anders, als um den Körper, steht
es aber um das geistige Einzelwesen, dessen Wesen ja „Wissen“
1 Siehe Rehmke „ Logik“1, S. 446 u. ö., „Logik* s, S. 401 u. ö.
ist. Freilich ist auch dieses Einzelwesen in jedem seiner Augen-
blicke eine Einheit von besonderen Bestimmtheiten, aber diese
sind nicht sämtlich wieder eine Einheit von einfacher Bestimmt-
heit und Besonderheit, da vielmehr die bedeutsame Subjektbe-
stimmtheit jedes Bewußtseinsaugenblickes dieselbe schlechthin
einfache Bestimmtheit ist. Darum ist es ausgeschlossen, daß, wie
jedes Ding eine Besonderung des Wesens „Ding“ darstellt, jeder
Geist als eine Besonderung des Wesens „Wissen“ begriffen
werden könnte.
Dieses Wesen des Geistes, ein beziehungsloses Haben nennen
wir es,1 zeigt sich in zweierlei Verschiedenheit als unklar Wissen
und klar Wissen, so daß menschliches Bewußtsein in seinem
Wesen Veränderung erfahren von Unklarheit zur Klarheit
sowie von Klarheit zur Unklarheit.
Sprechen wir nun von einem Wollen aus Liebe 2, dessen be-
sonderer Zweck nicht Veränderung in der zuständlichen Be-
stimmtheit des anderen Bewußtseins (von Unlust zur Lust)
bedeutet, so kann, wenn anders nicht zu bezweifeln ist, daß es
ein Wollen aus Liebe1 d. h. aus dem Sichwesenseinswissen mit
dem anderen Bewußtsein gibt, der besondere Zweck dieses
Wollens nur eine Wesens Veränderung des anderen Bewußt-
seins im Wissen sein: von Unklarheit zur Klarheit oder von
Klarheit zur Unklarheit.
Von diesen zwei Möglichkeiten fällt aber wiederum die eine,
die auf Veränderung des Bewußtseins von Klarheit zur Unklar-
heit geht, rundweg aus, da das Wollen aus Liebe2 ja stellver-
tretendes Wollen ist und ein liebendes2 Bewußtsein demnach
für das geliebte2 niemals Unlustwollendes sein kann, wie denn
ja alles Wollen überhaupt nachgewiesenermaßen Lustwollen ist,
alles Wollende also Unlust hat, die es entwirklichen will. Es
gibt kein Unlustwollen, und da nun dem menschlichen Be-
wußtsein Unklarheit immer mit Unlust verknüpft ist, so
gibt es auch in dem Wollen aus Liebe2 keinen Fall, in dem
* Siehe Rehmke „Logik“1, S. 39f. u. ö., „Logik“2, S. 55f. u. ö.
127
das Wollende für das andere Bewußtsein eine Wesen Veränderung
„von Klarheit zur Unklarheit“ wollte. Es bleibt uns demnach
für „sittliches“ Wollen aus Liebe2, da wir das Mitleids-
wollen schon vorher haben abweisen müssen, nur das selbst-
lose und stellvertretende Wollen übrig, das auf Klarheit des
anderen Bewußtseins zielt.
Jedoch auch diese Antwort auf die Frage „was ist sittlich?“:
„aus Liebe2 dem anderen Bewußtsein Klarheit wirkenwollen“,
also Wesens Veränderung dieses Bewußtseins von Unklarheit zu
Klarheit wollen: bedarf noch einer näheren Bestimmung. Denn
nicht dahin ist das Klarheit wollen für anderes Bewußtsein zu
verstehen, daß dieses gewollte Klarwissen sich auf alles Gegebene
erstrecke, sondern das sittlich wollende Bewußtsein hat allein
im Auge das Selbstbewußtsein des anderen Bewußtseins.
Um die Veränderung des anderen Bewußtseins im Selbstbe-
wußtsein, im Sichselbstwissen, handelt es sich allein für
das sittlich Wollende, um die Veränderung von unklarem
zu klarem Selbstbewußtsein des anderen Geistes, was
wir auch kurzweg Selbsterkenntnis des anderen Bewußtseins
nennen können, wenn uns dieses Wort nichts mehr als „klares
Selbstbewußtsein“ bedeutet, also nicht den Gedanken des wis sen -
schaftlich erfaßten Selbst einschließt. Denn nicht um wissen-
schaftliche Einsicht in das eigene Wesen handelt es sich, wenn
wir vom „klaren“ Selbstbewußtsein reden, sondern nur um
Sichselbstwissen des betreffenden Einzelwesens, was es in Wahr-
heit ist. Wir könnten darum auch, anstatt von klarem und un-
klarem, von wahrem und falschem Selbstbewußtsein reden, und
dieses klare oder wahre Selbstbewußtsein menschlichen Geistes
ist nicht an wissenschaftliche Erkenntnis gebunden. Der Kron-
zeuge hierfür ist die Tatsache, daß auch „schlichtes“ mensch-
liches Bewußtsein lieben1 d. i. mit anderem Bewußtsein sich
einswissen kann: dieses Sicheinswissen aber ist dem mensch-
lichen Geist ohne klares Selbstbewußtsein nicht möglich.
Wir alle kennen aus eigener Erfahrung die Verschiedenheit
des Selbstbewußtseins, wie das verschiedene Selbstbewußtsein in
unserem Leben sich ablöst und miteinander wechselt, und wir
können deutlich dreierlei Selbstbewußtsein unterscheiden. In
dem einen haben (wissen) wir uns als besonderes Ding (mensch-
licher Körper): dieses Selbstbewußtsein nimmt uns manche Jahre
unseres menschlichen Lebens ganz allein gefangen, und vielleicht
ist es nicht ein geringer Bruchteil menschlicher Bewußtseins-
wesen, die bis an den Tod nur dieses Selbstbewußtsein aufzu-
weisen haben. Ein zweites Selbstbewußtsein freilich stellt sich
bei vielen von uns dann später ein, in dem wir uns haben
(wissen) als ein leiblich-geistiges Einzelwesen „Mensch'*, und
wiederum später ein drittes Selbstbewußtsein, in dem wir uns
haben (wissen) als menschliche Seele, das will sagen, als ein
Bewußtsein oder Geist. Aber auch, wenn wir zu dem dritten
Bewußtsein vorgedrungen sind, schwanken wir während unseres
Lebens noch hin und her zwischen diesem dreierlei Selbstbe-
wußtsein. In allen Fällen aber, in denen wir uns einswissen
mit anderem, also ein anderes Einzelwesen lieben 2, wissen wir
uns als Seele, also als Geist oder Bewußtsein; denn nur ein
Bewußtsein kann sich einswissen, und auch nur mit einem
Bewußtsein. Einem Ding und ebenso einer Einheit von Ding
und Bewußtsein kann Sicheinswissen mit anderem Einzelwesen
nicht beschieden sein, wie ohne weiteres einleuchtet.
In jedem Selbstbewußtsein, das wir kennen, ist selbstverständ-
lich demnach das Einzelwesen ein Bewußtsein, nur daß dieses
Einzelwesen, wenn es sich ein Ding (menschlicher Körper) oder
einen Menschen (aus Körper und Geist bestehendes Einzelwesen)
weiß, unklares Selbstbewußtsein aufweist, und klares Selbstbe-
wußtsein allein, wenn es sich als ein Bewußtsein weiß.
Sittliches Wollen eines menschlichen Geistes würde nun
nimmer aufkommen, wenn das andere Bewußtsein, mit dem
er sich eins weiß, auch klares Selbstbewußtsein aufwiese; denn
sittliches Wollen bedeutet klares Selbstbewußtsein für das andere
Bewußtsein wollen, dies also setzt voraus, daß das andere Be-
9 Rehmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
129
wußtsein in diesem Falle unklares Selbstbewußtsein aufweise,
ansonst von dem besonderen Zweck des sittlichen Wollens, die
wir die Veränderung von unklarem zu klarem Bewußtsein nennen,
nicht die Rede sein kann. Und andererseits kommt dem Einzel-
wesen, das als sittlich wollendes sich eins weiß mit dem anderen
Bewußtsein, selber klares Selbstbewußtsein d. h. das „sich selbst
als Geist oder Bewußtsein wissen“ zu. Indessen aber kann das sitt-
lich wollende Bewußtsein in dem klaren Selbstbewußtsein sich
einswissen mit einem anderen Bewußtsein, das unklares Selbstbe-
wußtsein aufweist, denn Sicheinswissen heißt ja nicht sich eines
d. i. dasselbe wie das andere Bewußtsein wissen. Vielmehr gerade
unterschieden vom anderen muß sich dieses wollende Bewußt-
sein wissen, und insbesondere als klares Bewußtsein vom unklaren
Bewußtsein. Ohne Unlust gibt es aber nun für menschliches
Bewußtsein kein Wollen, also ohne Unlust an dem Bewußtsein,
mit dem sich menschliches Bewußtsein wesenseins weiß, für
dieses kein sittliches Wollen. Hätte daher das Bewußtseins-
wesen, mit dem sich menschliches Bewußtsein einsweiß, nicht
unklaresSelbstbewußtsein aufzuweisen, an dem dieses in seinem
klaren Selbstbewußt&ein d. i. sich selbst als Geist wissende Wesen,
das sich mit jenem einsweiß, Unlust haben muß, so wäre eben
die unabweisliche Bedingung für sittliches Wollen nicht erfüllt.
Das sittliche Wollen hat zur notwendigen Voraussetzung klares
Selbstbewußtsein des wollenden und unklares Selbstbewmßt-
sein des anderen Geistes, so daß jener sich selbst als Geist (Be-
wußtsein), dieser als menschlicher Leib oder als Mensch weiß,
und dazu kommt als dritte Voraussetzung, daß der „andere“ Geist
Wesenveränderung von Unklarheit zur Klarheit im Selbst-
bewußtsein erfahren kann.
Die Tatsache freilich, daß menschliches Bewußtsein, also
geistiges Einzelwesen, in seinem Selbstbewußtsein sich als
menschlichen Körper oder als Menschen „hat“, mag Ver-
wunderung genug erregen; aber an ihr läßt sich doch nichts
abdingen, und sie erklärt sich auch unschwer in dem einen
130
Fall aus der Zu sammengehörigkeit von Körper und Geist, so-
wie in dem anderen Fall ausder Zugehörigkeit des Geistes zur
Wirkenseinheit „Mensch“. Im ersten Fall übersieht sich
das menschliche Bewußtsein freilich selbst völlig vor dem
menschlichen Leibe, im zweiten Fall hält es den Menschen für
ein Einzelwesen, dessen Teil wesen Leib und Seele seien.
Beide Irrungen stehen als unklares Selbstbewußtsein mensch-
lichen Bewußtseins dem klaren Selbstbewußtsein gegenüber,
in dem sich das Bewußtsein als vom Körper schlechthin
verschiedenes Einzelwesen „hat“, als solches sich aber
eins weiß mit anderem Einzelwesen, das gleichen Wesens
mit ihm ist, wenn dieses auch mit seinem Selbstbewußtsein in
die Irre geht, also unklares Selbstbewußtsein aufweist.
Auf die Klarheit des „anderen“ Bewußtseins im Selbstbewußt-
sein zielt eben dasjenige Wollen aus Liebe2, das wir das sitt-
liche nennen. Die Veränderung des anderen Bewußtseins im
Selbstbewußtsein von Unklarheit zur Klarheit ist der besondere
Zweck alles sittlichen Wollens, ist also das, was in jedem
einzelnen Falle dieses selbstlosen und stellvertretenden Wollens
dem wollenden Bewußtsein im Lichte der Lust steht. Dieses
Letzte setzt aber voraus, daß dem Wollenden die zu ent wirk-
lichende Unklarheit des anderen Bewußtseins Unlustquelle
ist, das Wollende also an dieser Unklarheit Unlust hat, ansonst es
überhaupt eben zum Wollen nicht kommen könnte. Die Unlust
an der Unklarheit des anderen Bewußtseins freilich setzt
voraus, daß das wollende Bewußtsein sich eins weiß mit dem
anderen Bewußtsein, setzt also Liebe2 zu diesem voraus. Es
wäre aber gefehlt, wenn man meinte, die das sittliche Wollen
veranlassende Unlust an der Unklarheit des anderen Bewußtseins
wäre „Mitleid“, denn gerade die Fälle des Wollens aus Liebe2
erweisen sich durchweg als solche, in denen das andere Be-
wußtsein an seiner Unklarheit keineswegs „leidet“ d. h. Unlust
hat, sondern an der nur das mit ihm sicheinswissende Bewußt-
sein „leidet“. An anderen Bewußtseins Unklarheit im Selbst-
9'
131
bewußtsein kann indes nur ein Bewußtsein leiden, das sich
selbst klar, und das will sagen, sich Geist weiß. Diesem aber
muß dann auch Unklarheit im Selbstbewußtsein des Wesens,
mit dem es sicheinsweiß oder das es liebt2, Unlustquelle
sein.
Hat nun der liebende2 Geist Unlust an der Unklarheit des
anderen Bewußtseins, so ist die notwendige Folge, daß er
„für“ dieses Bewußtsein dann wieder Veränderung „von Unklar-
heit zu Klarheit im Selbstbewußtsein“, also dessen Wesens-
veränderung will. Dieses Wollen ist darum nur dem mensch-
lichen Bewußtsein mit klarem Selbstbewußtsein beschieden,
also demjenigen, das sich weiß, was es wahrhaftig ist: reiner
Geist oder reines Bewußtsein. Denn jenes Wollen ist ja
Wollen aus Liebe2, und Sicheinswissen mit anderem Einzel-
wesen kann nur ein Bewußtsein, das nicht nur, gleichwie das
andere Einzelwesen, Geist ist, sondern das sich selbst auch
Geist weiß. Ohne dieses Selbstbewußtsein gibt es also
keine Liebe2, kein Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein,
und wer ohne dieses Selbstbewußtsein doch von „Liebe“ zu
anderem Einzelwesen spricht, der hat es nicht mit Liebe2, son-
dern mit Liebe1 zu tun.
Man möchte wohl fragen, warum denn ein Bewußtsein (Geist)
sich nur, wenn es sich selbst weiß, was es seinem Wesen
nach ist, eins wissen könne mit anderem Bewußtsein, und
das Wesenseins sein an sich nicht schon genüge zu dem Sich-
einswissen. Der Fragende wird indes bald erkennen, daß er
dabei „Einssein“ oder „Wesenseinssein“, das ein Beziehungswort
ist, zu einem Wesenswort gestempelt hat; sonst hätte er die
Frage gar nicht aufgeworfen und sich gesagt, daß die in dem
Sicheinswissen liegende Beziehung zu einem anderen Einzel-
wesen das Selbstbewußtsein des Sicheinswissenden voraus-
setzt.
Fehlt einem menschlichen Geiste im Zusammenleben mit
anderem Bewußtsein die Liebe2, so können wir sicher sein, daß
132
er, wenn er auch ein „Selbstbewußtsein“ aufweist, doch nicht
sich Geist, sondern eben entweder nur einen menschlichen
Körper oder aber einen Menschen weiß. In beiderlei Verirrung
kann er sich aber trotz des unbestreitbaren Wesenseins sei ns
mit anderem Geiste doch nicht einswissen mit diesem, also
weder wenn er sich einen Körper, noch wenn er sich ein aus
Körper und Geist zusammengesetztes Einzelwesen „Mensch“
weiß.
Klares Selbstbewußtsein d. h. sich selbst Geist wissen
ist für das menschliche Bewußtsein im „Leben“ d. i. wann
nur immer es mit anderem Bewußtsein zusammen sich findet,
stets mit Sicheinswissen verknüpft, dem sich als drittes,
sofern sich das andere Bewußtsein als nicht sich Geist wissendes
erweist, sofort das sittliche Wollen des sich Geist wissenden
Geistes für das andere Bewußtsein anschließt, ein Wollen, dessen
besonderer Zweck demnach klares Selbstbewußtsein des anderen
Geistes bedeutet. Daß aber menschlicher Geist sich selbst Geist
wissen, also klares Selbstbewußtsein haben könne, bezeugt un-
mißverständlich wieder die Tatsache sittlichen Wollens, da
ja nur ein Geist mit klarem Selbstbewußtsein einem anderen
Bewußtsein klares Selbstbewußtsein wirken wollen und der
wollende Geist auch das „sich Geist wissen“ nur aus sich selbst
wissen kann. So ist es denn auch schlechthin ausgeschlossen,
daß der menschliche Geist, solange er sich nicht reinen Geist,
sondern vielmehr einen menschlichen Körper oder auch einen
Menschen weiß, anderem Bewußtsein das „Sichgeistwissen"
wollen könne.
Nur sich selbst klar wissendes Bewußtsein kann auch klares
Selbstbewußtsein für anderes Bewußtsein wollen und zwar
nur, wie sich freilich von selbst versteht, für solches Bewußt-
sein, das selber unklares Selbstbewußtsein aufweist, also sich als
menschlichen Körper oder als einen Menschen weiß. Denn
sich selbst klar wissender Geist kann ja als solcher die Wesens-
veränderung von Unklarheit zu Klarheit nicht erfahren.
133
Nun steht es allerdings nicht so, daß ein Bewußtsein, das zu
klarem Selbstbewußtsein gelangt ist, in diesem nun weiterhin
verharre, also nie wieder sich als menschlichen Körper oder
doch als Menschen wisse. Das Leben menschlichen Bewußt-
seins. das auch wohl klares Selbstbewußtsein aufweist, pendelt doch
zwischen klarem und unklarem Bewußtsein hin und her und
zeigt demnach in mehr oder weniger bunter Folge Wesensver-
änderung des menschlichen Geistes von Unklarheit zu Klarheit
und von Klarheit zu Unklarheit des Selbstbewußtseins.
Diese Wesen Veränderung, insbesondere auch die von Unklar-
heit zu Klarheit des menschlichen Bewußtseins in seinem Selbst-
bewußtsein, ist keineswegs ausschließlich auf ein Bewußtsein,
das die Veränderung des ersten Bewußtseins will, ange-
wiesen, sondern tritt auch unter mancherlei anderen wirkenden
Bedingungen auf. Wer behauptete, daß wenigstens die Wesen-
veränderung des menschlichen Bewußtseins von Unklarheit zu
Klarheit des Selbstbewußtseins nur allein durch ein Bewußt-
sein gewirkt werden könne, das aus Liebe^ selbstlos und stell-
vertretend diese Wesen Veränderung wolle, der sähe vor sich das
„erste“ menschliche Bewußtsein, das von unklarem zu klarem
Selbstbewußtsein kam, als unlösbares Rätsel stehen, denn
vor diesem „ersten“ gab es noch kein Bewußtsein mit klarem
Selbstbewußtsein. Freilich möchte man sich, wenn man dabei
bleibt, daß das ursprüngliche Selbstbewußtsein unklar ist, aus
der Verlegenheit zu helfen meinen, indem man auf Gott als das
jene Wesenveränderung zur Klarheit des Selbstbewußtseins
wirkende Bewußtsein hinweist, oder daß man, indem man die Vor-
aussetzung des ursprünglich unklaren Selbstbewußtseins lallen
läßt, zur Behauptung sich versteigt, das menschliche Bewußt-
sein habe ursprünglich klares Selbstbewußtsein aufzuweisen, sei,
um mit Rousseau zu sprechen, „von Natur gut“. Beide Rettungs-
versuche aber lassen sich wissenschaftlich nicht rechtfertigen,
und gegen den zweiten müssen wir überdies die Tatsache fest-
halten, daß, soweit eben unsere Erfahrung reicht, jedes mensch-
154
liehe Bewußtsein, wenn es zum Selbstbewußtsein kommt, zu-
nächst unklares Selbstbewußtsein aufweist. Im übrigen aber
kann auch kein Zweifel sein, daß Wesenveränderung des Be-
wußtseins, sei es nun von Unklarheit zu Klarheit, sei es von
Klarheit zu Unklarheit, auch ohne ein menschliches Bewußt-
sein, das die wirkende Bedingung der Wesenveränderung wäre,
eintritt, also die wirkende Bedingung auch anderes Gegebenes
als ein wollendes Bewußtsein ausmacht.
Dies indes sei in bezug auf die Wesen Veränderung des Be-
wußtseins nochmals betont, daß diese Wesenveränderung eines
menschlichen Geistes nicht von diesem selbst gewollt
sein kann, denn, wer sich Geist weiß, kann das „sich Geist
wissen“ nicht für sich wollen, da er ja dieses „sich Geist
wissen“ schon aufzuweisen hat. Kommt daher das Wollen
eines Bewußtseins als wirkende Bedingung der Wesen Veränderung
eines Bewußtseins, insbesondere also der Wesenveränderung
von Unklarheit zu Klarheit in Frage, so ist dieses wollende Be-
wußtsein niemals dasjenige Bewußtsein, das die Wesenver-
änderung erfährt, sondern immer anderes Bewußtsein, dessen
selbstloses und stellvertretendes Wollen eben die wirkende Be-
dingung der in Rede stehenden Wesen Veränderung bedeutet.
Und zwar hat hier das stellvertretende Wollen noch einen ganz
besonderen Sinn, als das wollende Bewußtsein für ein Be-
wußtsein etwas will, das es für sich selbst gar nicht wollen
kann. In der christlichen Religionsethik kommt dieses zum
Ausdruck durch „nicht aus eigenem Verdienst und Würdigkeit,
sondern aus göttlicher Güte und Barmherzigkeit“, wobei eben
an die Stelle des die Wesen Veränderung1 des anderen Bewußtseins
wollenden menschlichen Geistes der göttliche Geist getreten ist.
Nunmehr haben wir unserer Frage „was ist sittlich“ die
volle Antwort gefunden: Sittlich ist das Wollen mensch-
1 Vgl. Luther im kleinen Katechismus, der die Wesenänderung so
zum Ausdruck bringt: »daß der alte Adam soll ersäufet werden und
auferstehen ein neuer Mensch“.
155
liehen Geistes, in dem dieser aus klarem Sei bstbewußt-
sein das klare Selbstbewußtsein anderen Bewußtseins
zum besonderen Zweck hat.
Sprechen wir vom „sittlichen Bewußtsein“, dann sagt dies
immer soviel wie „sittlich wollendes Bewußtsein“, und
„sittliche Handlung“ bedeutet immer „sittlich gewollte
Handlung“. Sittliches Bewußtsein also ist ein menschlicher
Geist, der anderem Bewußtsein die Wesen Veränderung von Un-
klarheit zu Klarheit wirken will, was wir auch auf den kürzeren
Ausdruck bringen können: Sittliches Bewußtsein will
sittliches Bewußtsein. Denn wir wissen, daß mit der vom
sittlichen Bewußtsein gewirkten Klarheit des anderen Bewußt-
seins sich diesem auch das Sicheinswissen mit anderem Be-
wußtsein einstellen und weiter auch, sofern dieses ein unklares
Selbstbewußtsein aufweist, das sittliche Wollen einstellen
muß. Das Sittliche betrifft immer das Wollen menschlichen
Bewußtseins; sprechen wir von „sittlicher“ Handlung, so be-
trifft es immer eine Willenshandlung, nicht die Handlung als
besondere Veränderung im Wirklichen, sondern das besondere
Wollen, das ihre wirkende Bedingung ist, macht sie zur „sitt-
lichen“, nämlich dasjenige Wollen, in dem menschliches Be-
wußtsein selbstlos und stellvertretend für anderes Bewußtsein
das „Sichgeistwissen“ wirken will.
In dem „Sichgeistwissen“ ist eben, wie das Sicheins-
wissen mit anderem Bewußtsein, soauchdas sittliche Wollen
selbst beschlossen; denn in dem Sichgeistwissen wurzelt alle
Liebe2 und somit auch alles sittliche Wollen; also diese drei
sind in der Tat für das Sittliche überhaupt ein Dreieiniges,
das an die Dreieinigkeitslehre der christlichen Kirche erinnert
„Vater, Sohn und heiliger Geist“ und in die Formel gebracht
werden kann: „Geist, Liebe2 und sittlicher Wille“.
Sittliches Wollen also gründet sich auf und hängt notwendig
zusammen mit der Liebe2 d. i. dem Sicheinswissen mit anderem
Bewußtsein und durch dieses wieder mit dem grundlegenden
136
„Sichgeistwissen“ menschlichen Bewußtseins, so daß wir sagen
dürfen: ohne Sichgeistwissen keine Liebe2 und ohne Liebe2
kein sittliches Wollen.
Es hat aber mit dem doppelten Unterbau sittlichen Wollens,
dem „Sicheinswissen mit anderem Bewußtsein (Liebe2)“ und
dem „Sichgeistwissen“ des betreffenden Bewußtseins insofern
noch eine besondere Bewandtnis, als wir aus diesen Worten keines-
wegs etwa dasselbe herauszuhören haben, wie aus den Worten
„Wissen, daß man ein Geist sei“ und „Wissen, daß man eins
(wesenseins) sei mit anderem Bewußtsein“. Denn in den letzten
beiden Sätzen bedeutet „Wissen“ die Erkenntnis eines Be-
wußtseins, daß es Geist sei und wesenseins mit anderem Bewußt-
sein, während in den ersten beiden Sätzen das „Wissen“ ein
sich unmittelbar als Geist und wesenseins mit anderem Bewußt-
sein „haben“ bedeutet, was man denn wohl, um es von dem Erkennt-
niswissen zu unterscheiden, wie wir schon bemerkt haben, mit
dem irreführenden Worte „fühlen“ (Gefühl) noch heute viel-
fach belegt. Es wäre hiergegen nichts einzuwenden, wenn nicht
das Wort „fühlen“ im Sinne von „Lust oder Unlust haben“,
wie es doch heute im Gebrauche ist, störend und verwirrend
hineinredete. Und daran ist doch nicht zu rütteln, daß das
„Sichgeistwissen“ und „Sicheinswissen mit anderem
Bewußtsein“, also Liebe2, schlechterdings nichts von Gefühl
(Lust oder Unlust) an sich selbst aufzuweisen hat.
Daß freilich das sittliche Wollen auch mit dem zuständlichen
Bewußtsein zu tun hat, läßt sich nicht leugnen, da ja jedes
Bewußtsein als wollendes Unlust hat und seine eigene Lust
will, da ja alles Wollen ausnahmslos (eigene) Lust wollen
ist. Aber der „besondere“ Zweck des sittlichen Wollens, der
ja das andere Bewußtsein betrifft, geht nicht, wie wir dargelegt
haben, auf irgendeine Bestimmtheitveränderung des an-
deren Bewußtseins, also auch nicht auf die zuständliche Be-
stimmtheitveränderung von Unlust zu Lust, sondern auf die
Wesenveränderung des anderen Bewußtseins von Un-
137
klar heit zu Klarheit. Diese und nur diese allein macht den
besonderen Zweck alles sittlichen Wollens aus. Wer darum
die zuständliche Bestimmtheitsveränderung von Unlust zu Lust
eines anderen Bewußtseins will, ist nicht deshalb schon ein
sittlicher Wille zu nennen, wenn auch sittlich wollendes Be-
wußtsein vielfach als ein Mittel zum Zweck solche Bestimmt-
heitsveränderung des anderen Bewußtseins will und somit „aus
Liebe2“ will. Aber zum eigentlichen sittlichen Zweck ge-
hört nicht die Lust oder die Glückseligkeit des anderen
Bewußtseins, was auch daraus erhellt, daß in manchen Fällen
sittlichen Wollens Unlust des anderen Bewußtseins als Mittel
zu sittlichem Zweck gewollt wird, wie dies dem Erzieher wohl-
bekannt ist.
Schopenhauer, dessen Mitleidsethik sichtlich in den Spuren
der Liebesethik geht, irrt eben darin, daß er das, was wohl das
Mittel zum sittlichen Zweck sein kann, nämlich die Lust
oder, wie er es ausdrückt, Verringerung der Unlust des anderen
Bewußtseins, für den sittlichen Zweck selbst ausgibt, obwohl er
in seiner metaphysischen Grundlegung der Ethik sich, wenn auch
dunkel, des rechten Weges bewußt gewesen zu sein scheint
(s.S. 117). Das Wollen aus Liebe2 zielt eben nichtaufLust
oder Glückseligkeit des Geliebten2, sondern aufKlarheit
seines Selbstbewußtseins: „Wollen aus Liebe2“ und „sittliches
Wollen“ decken sich in der Tat.
Sittlich wollendes Bewußtsein oder, kurz gesagt, sittliches
Bewußtsein ist aber, darin stimmen wir mit Schopenhauer über-
ein, ausnahmslos auf anderes menschliches Bewußtsein einge-
stellt, d. h. der besondere Zweck alles sittlichen Wollens be-
trifft einzig und allein anderes menschliches Bewußtsein, und
zwar eben dessen We s e n s Veränderung. Zweckt aber alles sitt-
liche Wollen auf anderes menschliches Bewußtsein ab, so
kann von „sittlich“ und „Sittlichkeit“ gar nicht die Rede sein,
wenn außer einem wollenden Bewußtsein nicht wenigstens
noch ein anderes Bewußtsein vorausgesetzt ist. Es erübrigt sich
138
daher, von einem einsam lebenden Robinson als sittlichem
Bewußtsein zu reden. Andererseits aber bedarf es zum sitt-
lichen Wollen auch nicht mehr als des einfachen Zusammens
d. h. des in Wirkenszusammenhang Stehens zweier menschlicher
Bewußtseinswesen überhaupt. Dieses einfache Zusammen ge-
nügt, daß ein menschliches Bewußtsein sittlich wollen kann.
Sittlichwollen eben deckt sich mit „aus Liebe 2 wollen“, und nur
dem mit anderem Bewußtsein sich eins wissenden Geiste
kann die Wesen Veränderung jenes Bewußtseins Selbstzweck
sein.1
In allen Fällen des Wollens aus Liebe2 also geht es nur
auf anderes menschliches Bewußtsein und niemals auch etwa
auf das wollende Bewußtsein selbst; kann doch menschliches
Bewußtsein sich nicht selbst lieben2 d. h. sich mit sich selbst
eins wissen, sondern nur, sofern es Selbstbewußtsein hat, sich
selbst lieben1 d. h. sich selbst als seine Lustquelle wissen.
Der besondere Zweck des sittlichen Wollens eben ist einzig
und allein die Wesensveränderung des anderen menschlichen
Geistes von Unklarheit zu Klarheit des Selbstbewußtseins d. i.
mit anderen Worten „das sich Geist Wissen“ des anderen
Bewußtseins, und dies sagt uns in der Tat schon dasselbe, was
wir in dem anderen Satz ausgesprochen haben: „Sittliches
Bewußtsein will sittliches Bewußtsein.“ Denn ein mensch-
licher Geist, der klares Selbstbewußtsein hat, also sich Geist
weiß, muß, sobald er mit anderem menschlichen Geist sich
zusammenfindet, mit diesem sich eins wissen und, sobald er
diesen als unklares Bewußtsein weiß, sittlich wollen d. h. ihn
zum sittlichen Bewußtsein machen wollen, ein Wollen, dessen
Zweck wiederum mit dem klaren Selbstbewußtsein oder sich
Geistwissen des anderen Bewußtseins anhebt und in ihm sich
gründet.
Im klaren Selbstbewußtsein des Wollenden wurzelt eben das
sittliche Wollen und des dreieinigen sittlichen Zweckes (Sich-
1 Siehe Rehmke, «Die Willensfreiheit“, S. 25fr., 55ff.
l59
geistwissen — sich mit anderem Bewußtsein eins wissen — We-
senveränderung des anderen Bewußtseins) erstes Stück ist das
klare Selbstbewußtsein des anderen Geistes. Klares Selbst-
bewußtsein oder sich Geistwissen ist das A und O aller
Sittlichkeit. Im sittlichen Zweck ist dämm auch nichts von
Lust oder Glückseligkeit des anderen Bewußtseins zu finden, und
wann immer das sittliche d. i. aus Liebe7 wollende Bewußtsein
Lust oder Glückseligkeit des anderen Bewußtseins will, ist
diese immer nur als Mittel zum sittlichen Zweck gewollt.
Die Ethikfrage „was ist sittlich?“ hat nunmehr ihre Beant-
wortung gefunden: sittlich ist ein menschliches Bewußtsein,
das anderem menschlichen Geiste klares Selbstbewußtsein wir-
ken will. Es ist dämm nur ein kleines Gebiet des Wollens
überhaupt, das für das Sittliche in Betracht kommt, denn alles
menschliche Wollen, das nicht die Wesen Veränderung anderen
Bewußtseins zur Klarheit als seinen besonderen Zweck auf-
zuweisen hat, ist nicht sittliches Wollen.
Wenn aber auch nur ein sehr begrenztes Gebiet des Wollens
überhaupt das Sittliche trifft, so steht ihm doch die Gesamt-
heit menschlicher Bewußtseinswesen offen: wann immer zwei
menschliche Geister im Wirkenszusammenhang sich finden, ist
auch Platz für das Sittliche. Dabei aber bedarf es nicht auch
noch einer besonderen Einheit von menschlichen Bewußtseins-
wesen, sei sie Herrschaftseinheit, sei sie Lebenseinheit (Gesell-
schaft oder Gemeinschaft): somit ist auch im Gebiet des Sitt-
lichen nicht von Pflicht die Rede, und das WTort „sittliche
Pflicht“ ist ein Irrwort, wie das Wort „Pflichtgefühl“, denn
„Pflicht“ wächst nur auf dem Boden einer Einheit von Be-
wußtseinswesen.1
Das Wort „sittlich“ ist uns darum auch nicht, wie den Pflicht-
ethikern und Klugheitethikern ein Beziehungswort — jenen
1 Siehe Rehmke, Besprechung von ‘Carl Stange, Hauptprobleme der
Ethik’ in „Grundwissenschaft“, phüos. Zeitschr. d. Joh.-Rehmke-Gesell-
schaft, Bd, V (1924), S. i94f.
140
heißt es „dem Gebot oder dem Gesetz entsprechend'4, diesen
„Lust oder Glückseligkeit bringend'4 — sondern ein Wesens-
wort1 und bezeichnet menschliches Bewußtsein, das anderem
menschlichen Bewußtsein klares Selbstbewußtsein wirken will.
Insofern nun aber Wollen und Wirkenwollen dasselbe sagen,
ist im Wollen eben der Gedanke möglichen Wirkens mit
beschlossen, und so verstehen wir, daß sich, sobald die Ethik-
frage „was ist sittlich?“ ihre Erledigung gefunden hat, als neue
Frage die einstellt, mit welchen Mitteln das sittliche Bewußt-
sein seinen Zweck verwirkliche. Diese Frage muß sich aber
ohne weiteres einstellen, weil wir unvermitteltes Wirken
eines menschlichen Bewußtseins auf das andere überhaupt nicht
kennen. Soll demnach das sittliche Wollen eines menschlichen
Bewußtseins nicht ein totes Wirkenwollen sein, so muß das
sittliche Bewußtsein auch die Mittel kennen und zu verwenden
wissen, mit denen ihm möglich ist, den sittlichen Zweck, jene
Wesensverändenmg, zu verwirklichen. Wir nennen diese Mittel
zur Verwirklichung des sittlichen Zweckes die Handlungen des
sittlichen Bewußtseins oder kurzweg die sittlichen Hand-
lungen.
So unmittelbar und sachgemäß sich uns indessen auch an
die Beantwortung der Ethikfrage „was ist sittlich?“ die Frage
nach den besonderen Handlungen als Mittel zum sittlichen Zweck
anschließt, so fällt ihre Beantwortung doch nicht in dieEthik
selbst. Der Gegenstand der Ethik als Wissenschaft ist einzig
und allein das sittliche Wollen. Mit dem Wirken des sitt-
lichen Bewußtseins, mit all den Willenshandlungen, die der
Verwirklichung des sittlichen Zweckes zu dienen haben, hat
die Ethik selbst nichts zu tun. Die Ethik ist keine Anwei-
sung zum sittlichen Leben, sondern sie ist die Wissen-
schaft vom sittlichen Wollen und nichts weiter.
Wir nennen aber die Handlungen des sittlichen Bewußtseins,
insofern sie dem sittlichen Zwecke dienen, „sittlich gute“
1 Siehe Rehmke, „Logik*1, S. 526, »Logik*2, S. 293.
141
oder auch kurzweg „gute“ Handlungen; das Beziehungswort
„gut“ kennzeichnet sie eben als Mittel zum sittlichenZweck,
als „gut“ zur Verwirklichung dieses Zweckes. Jedoch die Frage
des sittlichen Lebens d. i. der Betätigung sittlichen Bewußt-
seins, mithin die Frage nach den Handlungen menschlichen
Bewußtseins, die dem sittlichen Zwecke, daß anderes Bewußt-
sein sich Geist wisse und somit sittliches Bewußtsein werde,
dienen, mithin „gute“ Handlungen heißen, gehört als solche in
die Wissenschaft von der Erziehung, in die Pädagogik; in der
Tat ist alles Wirken sittlichen Bewußtseins auf anderes mensch-
liches Bewußtsein erziehliche Tätigkeit. So reicht denn die
Ethik der Pädagogik die Hand.
NAMENVERZEICHNIS
Aristoteles 6
Christus 6
Cicero 6
Fichte 57
Hegel 74
Kant igf., 35, 56, 44, 55 ff.
Luther 46, 47, 48, 135
Paulus 46
Pythagoreer 104
Rousseau 134
Schleiermacher 46, 111
Scholastiker 15
Schopenhauer 75, 74, 91, 95, 117L,
123, 158
Schwarz 37
Sokrates 43, 68
Spinoza 52L
Stange 140
Stoiker 34, 52 f.
Wundt 95
★
SACHVERZEICHNIS
A
„Abhängigkeit, schlechthinige“ 46
Abhängigkeitsgefühl 46
Allgemeines (vgl. Besonderheit),
Sitte, Vernunft, Sinnlichkeit,
Wirkendes, Subjekt 19, 20, 21,
35, 36. A. nicht = Einziges (Ein-
zelwesen) ig, 20, 21, 36. Iden-
tisches A. 105, xo6.
Altruismus 117, 119; altruistischer
Eudämonismus 119
, Autonomie“ (vgl. Freiheit) 56, 59
B
bedingt 20, 21; b er (hypotheti-
scher) Imperativ 20, 21, 31
Bedingung (vgl. bedingt, unbe-
dingt, hypothetisch, kategorisch)
20. 29
Befehlen) (vgl. Gebieten, Gebot,
Gesetz, Sitte, Sollen, Möglich-
keit) 12 ff., 35, 36. B. erfordert
zwei Bewußtseinswesen 36, 57
Befriedigung (vgl Freude, Pflicht,
Reue, Schmerz) 37
Besonderes 21
Besonderheit (vgl. Allgemeines,
Bestimmtheit, V eränderung,W e-
sen) ioof., 125
Besonderung (vgl. Wesen) 105,114,
126, 127
Bestimmtheit (vgl. Einheit, Eins-
wissen, Ort, Sicheinswissen, Ver-
änderung, Wollen, Subjekt) 74f.,
ioof., n6f.; zuständl. B. 77, 81,
86, 90, 98, 101, 102, 116, 119,
i25; gegenständl. B, 77, 81;
Dingb. ioof.; Bewußtseinsb.
ioof.
Bewußtsein (,vgl. Bestimmtheit,
Einssein, Einswissen, Ethik,
Fordern, Gebieten, Gemein-
schaft, Gesellschaft, gut, Geist,
Gott, Lebenseinheit, Liebe, Na-
tur, Selbstbewußtsein, Sitte, sitt-
liche, Sollen, Staat, Urteil, Vater-
land) 18, 19, 24, 26, 42, 48, 49,
143
5L 52, 53» 59> 6o> 74*-. 126,127;
gleich — .ungleichgestelltes B.
18, 24, 26, 42; B.: (einfaches)
Einzelwesen 16, 19, 91, 99; We-
sen des B.: Wissen 84L, 126,
127; gegenständl. B. 76, 77, 84,
137; B. vom Körper schlecht-
hin verschiedenes, unkörperl.
Einzelwesen 53, 74, 75, 131;
menschl. als Wirkliches 48,
49) 535 „zusammengesetztes
B.“ 59, 60; B. nicht Teilwesen
eines anderen 51, 52, 53
Beziehung 5, 21
Beziehungswort (vgl. Wort, We-
senswort) 5, 115, 132, 140
Brauch: vgl. Sitte
c
christlich, Christentum (vgl. Ethik)
73' 122
D
Diener (vgl. Gebieter, Knecht,
Untertan) 29, 55
Ding (vgl. Bestimmtheit, Bewußt-
sein, Ort) 22, 99ff., 126, 127,
129
„Doppel-Ich“ 25, 38
E
Eigenliebe (vgl. Liebe, Selbstliebe)
108, 113
einfach (vgl. Bewußtsein. Einzel-
wesen, Reihenzweck, Zweck)
7,8,9, 16, 80 f., ioof.; einfacher
Zweck 7, 8, 9, 80 f.
Einheit (vgl. Herrschaftseinheit,
Lebenseinheit, Staat, Wirkens-
einheit) 7, gf.. 16, 32, 42, 43.
56, ioof., 108. E. als Gewoll-
tes gf., 27ff.; E. von Bewußt-
seinswesen 42, 56, 108; E.stif-
tende Bestimmtheit ioof.
Einsicht (vgl. Erkenntnis, Klarheit,
Klugheit, Einswissen, Sicheins-
wissen) 68 f., 128; E. in die
Glückseligkeitsmittel 68 f.
Einessein 99 f., 117.
Einssein ggf., n6f., 132; E. in
Wesen oder Bestimmtheit n6f.
Einswissen, Sicheinswissen (vgl.
Einessein, Einssein, Geist,
Gleichsein, Liehe, Wesen) 39,
98 ff.. 132 f.; E. setzt zwei Be-
wußtseinswesen voraus 99, 104
Einzelwesen: vgl. Allgemeines,
Bewußtsein, Lebenseinheit,
Mensch, Vernunft
Einziges: vgl. Allgemeines, Be-
wußtsein, Gott, Herrschaftsein-
heit, Lebenseinheit, Mensch,
Sitte, Staat
Endzweck s. u. Zweck
Erfahrung; „innere E.“ 49
Erkenntnis (vgl. Einsicht, Ethik,
Kenntnis, Klugheit, Selbster-
kenntnis) 1, 4, 68, 69, 96, 97,
107, 137
Erziehung (vgl. Pädagogik) 138,
142
Ethik als Wissenschaft vom Sitt-
lichen; (vgl. Staat, Lebensein-
heit, Herrschaftseinheit; Ge-
meinschaft, Gesellschaft; Pflicht,
Liebe, Religion,Theologie,Gott;
Sitte, sittlich) 5, 6, 35, 36, 42 ff.,
50 f., 57, 69. E. setzt Wirkliches
voraus 47, 48, 56, 57, 69; E.
setzt wollendes Bewußtsein vor-
aus 47, 48, 141; „ Pflicht-E. “
42f., 47, 50ff., 96, 112; Staats-E.
43; Herrschafts-E. 44 f.; Reli-
gions-E. 36, 44 ff., 75, 96, 112,
135; Liebesethik 73, 96 ff., 138.
Klugheits-E. 68 f., 85, 87, 88,
90, H2 Mitleidsethik 117^;
E. u. Pädagogik 42; Ethik nicht
= Pflichtwissenschaft 44
ethisch (vgl. Ethik, moralisch,
sittlich) = moralisch = sittlich 6
Eudämonismus (vgl. Altruismus,
Glückseligkeit, Klugheit) 66 f.,
85» 9°, “9
F
Fordern, Forderung (vgl. Befehlen,
Gebieten, Gebot, Lebenseinheit,
Müssen, Sitte, Sollen) 11 f.
H4
Freiheit (vgl. Autonomie, Wollen,
Zwang) 18, 19, 24, 54, 37 f., 46,
54f., 65, n6f. F und Notwen-
digkeit 24, F. und Zwang 18,
19, 34» 38f-, 46, 47» 545 freies
Wollen 19, 54, 38f., 46, 54, 56,
65; fr. = ungezwungen 39, 65
Freude (vgl. Befriedigung, Glück-
seligkeit, Leid, Lust, Mitfreude,
Reue, Schmerz) 37, n6f
Fühlen (vgl. Gefühl, zuständliches
Bewußtsein) 101, 109L, 137;
F. nicht = Wissen nof., 137
für (vgl. sittliche, Liebe) = 1. um
des andern willen, 2. an seiner
statt 121,
Furcht: vgl. Gott
G
Gebieten, Gebot (vgl. Befehl, For-
dern, Gehorchen, Gesetz, Gott,
Herrschaft, Lebenseinheit, Sitte,
sittlich, Sollen, Untertan) 12 ff.,
21 ff-, 35, 36» 38» 41» 5off-, 62f-,
120, 140, G. erfordert gebie-
tendes und gehorchendes Be-
wußtsein 36, 57, 59; Gebot —
Pflicht 21 ff., 35,36, 38, 41, 50 ff.,
Gebot — Gesetz 12L, 18, 22ff.,
35, 58» 5° ff-, HO
Gebunden (heit), Gebundensein
(vgl. Pflicht) 33, 38, 39, 41, 50
Gefühl (vgl. Fühlen, Pflicht, Be-
wußtsein), „gemischte G.e“ 79;
als Wirkende» (= Trieb) 94, 95;
Liebe angebl. G. 97, 98, 109L,
115, 116
Gegebene? 1, 2, 48, 49
Gegensatz: praktischer G. 79, 82,
83
Gegenstand, der Wissenschaft 1;
G. der Ethik 5
Gegenständliches (vgl. Bewußtsein,
Bestimmtheit) 76, 77, 81, 98,
101, 102
Gehorchen (vgl. Herrschaft, Ge-
bieten, Befehlen, Untertan) 21 ff.,
57
Geist (vgl. Bewußtsein, Selbstbe-
wußtsein, sittliches Wollen) 74,
9G 92» 99, 132 ff-, sich als G-
wissen 132 ff.
Gemeinschaft (vgl. Gesellschaft;
Herrschaft, Lebenseinheit) 7L,
17, l8» 52, 34, 39f-, 56, 65, iai,
140
Gesellschaft (vgl. Gemeinschaft;
Herrschaft, Lebenseinheit) 7L,
17» l8» 32> 39f-, 56, 65, *21,
140
Gesetz (vgl. Lebenseinheit, Mög-
lichkeit, Sitte, sittlich, Pflicht,
Wollen, Sollen, Müssen, Sitten-
gesetz) 12 f., 22 f., 35, 38, 41,
50 f., 61, 60. G. und Gebot 12L,
18, 19, 2 2 f, 35, 38, 41, 50 ff.,
140; G. und Sollen i8f., Naturg.
—Lebenseinheitg. 22ff., 32; G.
und (Pflicht 38), 41, 42, 53f;
unter — außer dem G. 17, Ge-
bundensein (vgl. Pflicht) 57, 58
Gewirktes: vgl. Wirken, Wollen,
Handlung, Pflicht
Gewissen (vgl. Pflicht, Reue, Urteil)
37L; G. = Urteilendes 37, Va-
terlandsg. 57; „Weltg.“ 37
Gewißheit inbetr. der Gottwirk-
lichkeit 48, 49
Gewolltes (vgl. Wille, Wollen,
Wirken, Veränderung, Zweck,
Lebenseinheit, Einheit) 7f., 35 f„
65, 76 f.; G.: im Lichte der Lust
Stehendes 35 f., 65, 78f.
Glauben (vgl. Gott, Wirklichkeit)
49, 50
Gleich(sein); (vgl. Einessein, Eins-
sein, Einswissen) 99, 103, 104,
125, 126
Gleichheit (vgl.Bewußtsein, Sollen,
Herrschaft) 18, 24, 26, 42, 50
Glied (vgl. Mitglied, Gemein-
schaft, Gesellschaft) g, 10, 11,
13, *5,. 16, 34, 56, 65
Glückseligkeit (vgl. Mittel zum
Zweck, Klugheit, Lust, Wollen,
selbstlos) 60,61 f., 66f., 85, 90, 91,
137, 138.; G. angebl. alleiniger
Zweck des Wollens 66f., 85,
137; G. nicht Zweck des sittl.
Wollens 138; G.smittel 68 f.
Glückwürdigkeit 61
Io Kehmke, Grundlegung der Ethik als Wissenschaft.
145
Gnade: vgl. Gott
Gott (vgl. Natur, Pantheismus,
Theismus, Pflicht, Religion) 17,
22, 36, 46ff, 54, 55, 63, 134,
135: G. der Herr 47, 49; G.es-
beweis 49, G.esfurcht 47, 54,
G. esstaat 17; Gebote' G.es 17,
46, 47, 49 f.; Reich G.es 17, 46;
Wille G.es 46, 47; Gnade G.es
46; Glaube an G. 4,9 50; Liebe
zu G. 47, 54, 55; angebl. Wirk-
lichkeit G.es 48, 49; G. ist
Einziges 50, 53; angebl. zu-
sammenges. Bewußtsein 52, 53
Grundwissenschaft 2, 3
gut (vgl. sittlich, Glückseligkeit)
42, 68, 69, 141, 142; sittlich g.
141, 142
H
Haben: vgl. Wissen
Handeln, Handlung (vgl. sittlich)
42, 46, 47, 94, 136, 141, 142;
H. = Willenswirken 46, 47, 94,
136
Heiligkeit 17, x8
Herr: vgl. Gebieten, Befehlen,
Gott, Herrschaft
Herrschaft(seinheit); (vgl. Herr,
Lebenseinheit, Wollen, Möglich-
keit) i6f., 21, 24f., 36, 52 f.,
44* 46, 47» 5°> 56f-* 62 f > 12°*
121, 124; H. — Lebenseinheit
i6ff., 38L, 50, 56, 108; H. auf
dem Wollen des Gebieters be-
ruhend 18, 27, 28; H. und Sollen
i8f., 41
Heteronomie (vgl. Autonomie,
Gesetz) 58, 59
hypothetisch; vgl. Imperativ.
I
Ich; Doppelich 25
Imperativ (vgl. Sollen) 30, 55, 36,
57 f.; hypothetischer I. 50; kate-
gorischer I. 35, 56, 57f.
K
Kenntnis 1, 4
Klar(heit); (vgl. Erkenntnis, Selbst-
bewußtsein'l 1, 4, 96, 97, 107 ff.;
als Ziel der Wissenschaft 1, 4;
als Ziel des sittl. Wollens 127^.
Klugheit (vgl. Einsicht, Erkennt-
nis) 68 f.; K.sethik s. Ethik
Knecht: vgl. Gebieten, Befehlen,
Herrschaft
König( reich); (vgl. Heiligkeit,
Staat) 17, 18
L
Lautgebilde; (vgl. Wort) 48, 114
Leben, Zusammenleben; (vgl. Le-
benseinheit) 107, 132, 133, 139,
142
Lebenseinheit (vgl. Gemeinschaft,
Gesellschaft, Gebot, Gesetz,
Herrschaft, Wollen, Möglich-
keit, Sitte, Staat, Müssen, Pflicht)
7fr., 18, 25f-, 50, 51, 56f.; L.
auf gemeinsam. Wollen beru-
hend 7ff., 18, 26; L. = Einheit
v. (wollenden) Bewußtseins-
wesen 7 ff., 16, 18, 19, 22 f„ 56,
61; L. — Willenseinheit 22; Ge-
setz der L. 22ff., 42, 62, 63;
L. als Zweck der ihr zugehöri-
gen Bewußtseins wesen 9 f.; 27 ff.;
L. ist Einziges J2f., nicht Ein-
zelwesen 12 f., nicht Bewußt-
seinwesen i2f.; L. angebl. Ge-
bietendes 15, 16; L. und Not-
wendigkeit (Müssen) 20ff., 51,
57, 58 ; angebl. L. aller Bewußt-
seinswesen 56, 6if.; L.: Vor-
aussetzung für Gesetz 61, 62;
L ler gf., 16, 17, 27ff.; L.ler
sein — dem Gesetz der L. ent-
sprechend wollen gf., 27ff.
Lebensführung (vgl. Sitte) gf.. 42
Leib; (vgl.Mensch, Seele, Bewußt-
sein)
Leid(en): (vgl. Freude, Mitleid,
Mitfreude) n6f., 151
Liebe (vgl. Einswissen, Sicheins-
wissen, Lust, Wert, Religion,
Gott, Pflicht, Wollen, Glück-
seligkeit, sittlich, Gefühl, Selbst-
liebe, Eigenliebe, Gott, Ethik)
39. 73; 96ff-5 i98f-> L-
146
nicht = sich mit jem. in einer
Einheit wissen, sondern = sich
mit jem. einswissen 59, L. er-
fordert mehrere Bewußtseins-
wesen 98, 108, 109, 113; L. er-
fordert Selbstbewußtsein i3of.,
L.1 = etw. als Lustquelle, Lust-
bringendes wissen 97L, io8f.;
L.2 = sich mit jem. einswissen
39, 98f., io8f.; L. und Mitleid
n6f., Wollen aus L. 96 ff.
Lust (vgl. Glückseligkeit, Klug-
heit, Freude, Wollen, Pflicht,
Zweck, Liebe) 33 f-, 65, 78 f.,
85L, 98, io8f., 131, 137, 138;
L. angebl.alleiniger Zweck 85 f ;
im Lichte d. Lust 33 f., 64, 78 f.,
io8f., 131, 137, 138
M
Materialismus 52, 53
Mathematik 1,5
Mensch 15, 74, 131
Mitfreude (vgl. Mitleid, Leid,Lust,
Liebe) n6f.
Mitfühlen, Mitgefühl 111, 110,
115L
Mitglied (vgl. Glied, Gesellschaft,
Gemeinschaft) 11, 13, 15, 16,
40, 56, 63
Mitleid (vgl. Mitfreude, Unlust,
Liebe) 73, n6f., 131, 138; M.s-
ethik s. u. Ethik
Mittel zum Zweck (vgl. Zweck,
Reihenzweck, Wollen, Glück-
seligkeit, Wert) 7f„ 18, 20, 32 f.,
40, 60, 65, 67, 68 f., 80 f., 158,
141, 142
Mögliches (vgl. Wirklichkeit],
Gott) 48, 56, 57, 60, 65
Möglichkeit: zweifache Möglich-
keit zu wollen, dem Gebot oder
Gesetz entsprechend oder wider-
sprechend (vgl. Sollen, Müssen,
Lebenseinheit, Herrschaft) 14ff.,
23 f., 30 f., 39, 57 f.
moralisch 6, 117
Müssen (vgl. Sollen, fordern, Ge-
bot, Freiheit, Möglichkeit, Ge-
setz, Sitte) 9 ff., 20 ff., 31, 41,
49, 51, 58, 60, 61; M. —Wollen
iof., 25> 31» 35- 495 M- nicht
= Sollen iof., 16, 2off., 41, 51,
58, 60, 61
N
Natur (vgl. Gesetz, Müssen, Le-
benseinheit, Gebot) 22 f., 31,52,
52, 58; N. und Staat 22ff., N.-
gesetz 22ff., 3i;N.-gesetz — Le-
benseinheitsgesetz 22 ff., 31, 32,
58; N. ist Wirkenseinheit 22,
23; N. — Gott 52
Neigung (vgl. Pflicht) 60, 64, 65
Notwendigkeit (vgl. Freiheit, Sol-
len, Gesetz, Gebot) n, 20, 22f.
N. = Müssen 11, 22, nicht =
Sollen n; N. - Forderung nf.;
N. — Gesetz 22L
0
Ort (vgl. Ding), Bestimmtheit,
Subjekt) 100 f.
P
Pädagogik (vgl. Erziehung) 142
Pantheismus 44, 50, 52 f.
Pflicht (vgl. Gesetz, Gebot, Ethik,
sittlich, Neigung) 33ff., 43, 49f.,
61, 63, 64L, 108, 111, 140; P.
erfordert Bewußtseinswesen
35ff-> 53» 66 J P. = Gebunden-
sein an (Gesetz oder Gebot
einer) Einheit 33, 35, 38, 39, 43,
5°) 53 65» 6l> 63i Oesetzesp.
62, Gebotsp. 62; P.erfüllung 61,
„P.gefühl“ 111, 140; P.bewußt-
sein 37 f., 50, 57, 111; Zwangsp.
55; p.gemäß 37; p.widrig 37;
P.wollen 35ff., 64L. 113; »sitt-
liche P.‘ 45, 50, 66, 140; P.-
Ethik s. u. Ethik
praktisch: vgl. Vernunft, Gegen-
satz
Physik 25
Psychologie 3, 23
io
147
R
Reihenzweck (vgl. Zweck, Mittel,
einfacher Zweck, Selbstzweck)
7f->, 34> 35» 67, 80 f-
Relativität der Sitte 45
Religion 36, 44f., 49f., 122; R.s-
ethik 36, 44 ff.
Reue (vgl. Gewissen, Pflicht) 37
S
Schmerz (vgl. Reue, Gewissen, Be-
friedigung, Unlust, Lust, Freude)
37
Seele: vgl. Bewußtsein, Mensch
Selbstbewußtsein (vgl. Bewußtsein,
Geist, Sicheinswissen, Wollen,
Erkenntnis) 38, 49, 74f., 92, 93,
99, m, 128L, klares S,: Vor-
aussetzung der Liebe 130L; un-
klares S. als Mitbedingung für
sittl. Wollen 130
selbstisch 121
Selbstliebe (vgl. Liebe) 113
selbstlos (vgl. selbstisch, Liebe,
Glückseligkeit) 61 ff., 90, 91,
96, 9-, 108, 109, 113, 121, 128;
s. — Glückseligkeit 61 f.
Selbstzweck (vgl. Wollen, Reihen-
zweck, Zweck) 32, 34, 70, 71,
8l> 139.
Sicheinswissen: vgl. Wissen, Eins-
wissen, Einssein
Sinnlichkeit (vgl. Vernunft) 36,
59 f.; S. ist Allgemeines 35
Sitte (vgl. Gesetz, Gebot, Forde-
rung, Lebenseinheit, Sollen, Re-
lativität) 5, gf., 13L, 18, 41, 42,
44, 45, 66, 95, 120; S. nicht
ohne Lebenseinheit, Lebensein-
heit nicht ohne S. 7, 9, 18; =
Lebensführung des Bewußtseins
als Gliedes oder Mitgliedes einer
Lebenseinbeit gf.; S. erfordert
mehrere wollende Bewußtseins-
wesen 11, 42, 45; S. angebl. For-
derndes, Befehlendes 14 f.; S.
nicht = Gebot, Befehl 13, 15;
„S.ngesetz“ 42, 120; S. = Gesetz
der Lebenseinheit 13, 18, 44;
S. — Sollen 13L, 19; „der S. ge-
mäß“ 5, 41 f, 64, 66, 95
sittlich (vgl. Pflicht, Gebot, Gesetz,
gut, Selbstbewußtsein, Wollen,
Liebe, Klarheit, Geist, Ethik,
moralisch gut, Glückseligkeit,
Lust) 3, 42f; 45, 46, 48, 49, 55,
64, 60, 94, 95, 112, 120 ff., 135f.,
141, 142; s. erfordert zwei Be-
wußtseinswesen 120, 136 f., doch
keine Lebenseinheit 120, 140;
s. betrifft weder Gebot noch
Gesetz 120, 140; s. erfordert
Wollen 55, 64, 94, 95; betrifft
Wirkliches 48, 49; s.er Zweck
128L, 135L ; s. — nicht = Lust-
quelle 140; s.e Handlungen 141,
142; s. für den andern wollen
121 121 f.; s.es Wollen 61, 67,
72, 127 fr.; s. wollen mit „sich
als Geist wissen“ verbunden
152L; s. angebl. Glückseligkeits-
mittel wollen 67 f, 138; Ge-
schichte des Wortes s. 42f., 55,
64, 70, 112; s. gut 141, 142;
Uneingeschränktheit des S. 45,
55, 56, 66, 124, 125, 140
Solipsismus 50, 55
Sollen fvgl. Fordern, Imperativ,
Gebot, Gesetz, Müssen, Not-
wendigkeit, Wollen, Möglich-
keit, Pflicht, Sitte, sittlich) iof.,
19, 20 ff., 51, 35, 41, 58 ff.; S.
nicht ohne (mehrere) Bewußt-
seinswesen 12, 19, 21, 35; S.—
Fordern, Gebot 12 ff., 47; S.—
Müssen iof., 16, 20 ff., 41;
S. — Sitte 13L, 19; S. — Herr-
schaft i8f., 25L; S. — Wollen
21, 23, 35, 60
Staat (vgl. Lebenseinheit, Gesetz,
Herrschaft, Gesetz) 12L, 16, 17,
22 f., 42, 43; Staat = Einheit von
(wollenden) Bewußtseinswesen
13,2 2; S.: eine Lebenseinheit 12f.,
16, 17, 22; S.: ein Einziges 13,
kein Einzelwesen 15; angebl.
Organismus 13; S. — Natur 22f.,
Gottes-S. 17; S. und Königreich
17, 18; S.sethik s. Ethik, S.s-
gesetz 23; S.sphilosophie 13
148
stellvertretend wollen (vgl. für,
Liebe) 121, 122, 128, 135
Subjekt bestimmtheit) (vgl. Ort,
Einheit) ioof., 127; S. ist All-
gemeines 102 f., ist Einfaches
102 f.; S. ist einheitstiftende Be-
stimmtheit ioof.
Sünde 46
T
Theismus 54
Trieb(wirken); (vgl. Wille, Wir-
ken, Gefühl) 94, 95; T. — Wille
94, 95
u
unbedingt; u.er = kategorischer
Imperativ 20, 21
unbewußt (vgl. Bewußtsein, Wol-
len) 75, 91, 92, 94, 96; u.es
Wirken 94
Uneingeschränktheit: vgl. sittlich
unfrei vgl. Zwang, Freiheit
Unklarheit (vgl. Klarheit, sittlich,
Liebe, Unlust) i27ff.; U. mit
Unlust verbunden 127, 131, 132;
Beseitigung der U. als Ziel sittl.
Wollens 127 ff.
Unlust (vgl. Unklarheit, Lust,
Schmerz, Leid, Mitleid, Wollen)
33ff-, 6°, 65> 77fM i<>9f-> l27»
130; U. haben 77f., 1 i6ff., 122f.,
i3of., 137, 138; U. als Voraus-
setzung des Wollens 77, iogf.,
130; U. und Mitleid n6f., 138;
U. wollen nicht möglich 127;
im Lichte der U. 33 f., 60, 65,
80, 81, 109
Untertan (vgl. Gebieten, Befehlen,
Gehorchen, Herrschaft) 24,44,57
Ursächlich: vgl. Wollen
Urteilen (vgl. Gewissen) 37, 38 V
V
Vaterland (vgl. Lebenseinheit,
Staat) 37, = Einheit von Be-
wußtseinswesen 37
Veränderung (vgl. Wirken, Hand-
lung, sittlich, Bestimmtheit)
77 f., 82 ff., 100, 124!, i54f.;
V. als Gewolltes 77f., 82ff.;
V.: Gewinn und Verlust 82;
V.=Wechselvon Besonderheiten
100; gewollte V.: im Lichte der
Lust stehend 78 f., Wesensv.
124f-, 13°, 134f-».i37, !38
Verein (vgl. Gemeinschaft, Ge-
sellschaft)) 8, 11, 12, 16
Vernunft (vgl. Sinnlichkeit, Be-
wußtsein, kategorischer Impe-
rativ, Gebot) i9f., 35, 36, 59 f.;
„praktische V.“ 19, 20, 21; V.
ist Allgemeines 19L, 35, 36, 62,
63; V. und Sinnlichkeit 36, 59 f.
Vorstellen (vgl. Lust, gegenständ-
lich, Wollen, Zweck) 75, 77
w
Welt (vgl. Gott, Gewissen, Vater-
land), „W.-Gewissen“ 37
Wert(en): (vgl. Lust, Liebe) W.
ein Beziehungswort 115; W. und
Lustquelle 114, 115; W. und
Liebe 114, 11g
Wesen (vgl. Bewußtsein, Be-
stimmtheit, Besonderheit, Eins-
wissen, Sicheinswissen, Liebe,
Veränderung) 74h, 105f., 124L ;
W.sgleichheit 105, W. und Be-
sonderung 105, 126, 127
Wesenswort (vgl. Beziehungswort)
132, 140
Wille (vgl. wollen, Trieb, Lebens-
einheit, Gott, Zweck, Zwang,
Freiheit, Notwendigkeit, Wir-
ken; unbewußt) jf-, 18, 58, 59,
75f> 91* 94> 95) ll6- 1365
W. = 1. wollen, 2. Wollendes,
3. Gewolltes 74, 77, 91; frem-
der — eigener W. 58, 59
Wirken (vgl.Wirkenseinheit,Wirk-
liches, Veränderung, Handeln)
46) 47) ?3f-) x36; W. = Bedin-
gung sein für Veränderung 93;
W.s-Wirken (-Handeln) —Trieb
94, 95; Allgemeines als eigentl.
W.des 93, 94; bewußtes W.
= Willensw. 94; unbewußtes
W. 94
Wirkenseinheit: vgl. Mensch, Le-
benseinheit, Wirken
Wirkliches: vgl. Wille, Wirken,
sittlich, Ethik, Gott
Wissen (vgl. Erkenntnis, Einsicht,
Liebe, Bewußtsein, Wesen, Füh-
len, Geist, Pflicht, Gebunden-
sein, sittlich), W.= beziehungs-
loses Haben 127; Sicheinsw. 39,
98 ff., 132f.; sich pflichtig w. 37;
Wissenschaft (vgl. Klarheit, Ein-
sicht) 1 f, 42 f.
wollen (vgl. Wille, Wirken, sol-
len, müssen, Lebenseinheit,
Zweck, Unlust, Lust, Sitte,
selbtlos, Liebe, Religion, Gott,
autonom, sittlich, Zwang, Frei-
heit, Glückseligkeit) 7 ff., 14 ff.,
«» 27 f., 35f » 38ff-, 54f-> 85,
74L, 82, 84, 92L, göff.. w. =
wirkenw. 47, 48, 82, 84, 93,95,
96, 133, 141; w. = sich durch-
setzenw. 95f., w. erfordert Be-
wußtsein 91, 92; Pflichtw. 35 f.,
38ff., 64, 113; Glückseligkeitw.
66 ff, w. nicht ohne Selbstbe-
wußtsein 74L, 92, 93; w. =ur-
sächl. Selbstbeziehung 79, 82,
92, 93, 95; w. schließt stets
Lustwollen ein 84 f.; zweifache
Möglichkeit zu wollen: dem
Gesetz oder Gebot entsprechend
oder widersprechend 14 ff., 23,
24, 26, 27, 30, 39, 57f.; w. ist
keine Bestimmtheit (Grund-
funktion) 74F, 78; w. aus Liebe
g6ff.; sittl. Wollen 152L; stell-
vertretendes W. i3i, 122, 128,
135
Wort (vgl. Lautgebilde, Wesens-
wort, Beziehungswort, sittlich)
2 f., 48, 114
Z
Zeit 85
Zusammenleben: vgl. Leben
Zuständliches (vgl. Bestimmtheit,
Lust, Unlust, Gegenständliches)
90, 98, 101, 102, 119
Zwang, Zwangswollen (vgl. Wol-
len, Zweck, Freiheit, Notwen-
digkeit) 17, 19, 34, 38 f., 46, 47,
54K, 60, 64, 65
Zweck (vgl Wollen, Reihenzweck,
Mittel zum Zweck; sittlich)
7f-> *9> 32, 66> 67i 79f-> 93; z-
= Gewolltes 79^,95; Endzweck
67, 71; einfacher Z. 7, 8, 9, 80 f.
Druck fehlerverzeichnis
Es muß heißen:
S. 6, Anm.: zo tf&os dno zov c&ove J*lv Miojvvpiav.
S. 34, Anm.: xa&ijxov.
S. 37, Z. 1 v. u.: Gewissen.
S. 38, Z. 8 v. o.: Mißbilligung.
S. 41, Z. 3 v. u.: der Sitte gemäß.
S. 48, Z. 6 v. u.: aufgebaut.
S. 49, Z. 2 v. u.: wollen, was.
S. 52, Z. 13 v. u.: iV.
S. 57, Z. 18 v. o.: Bewußtseinswesen.
S. 58, Z. 4 v. u.: nun unbemerkt.
S. 60, Z. 4 v. o.. Gehöriges.
S. 68, Z. 3 v. u.: aoff bi aya&cs.
S. 92, Z. 4 v. u.: Selbstbewußtsein.
15°
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lichen Arbeiten unseres Altmeisters der Philosophie behandelt
vorwiegend erkenntnistheoretische Probleme. Der Gang seiner
Entwicklung führte den Verfasser топ dem anfänglich dogma-
tischen zum kritischen Realismus, dazwischen lag ein erneutes
Studium Kants. Diese Entwicklung spiegelt sich naturgemäß in
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scharfsinnigen Gedankenarbeit dieses tiefschürfenden Denkers.
Eine Mittelstellung zwischen Realismus uud Idealismus einneh-
mend, bahnt Riehl sich den Weg zu den Grundfragen der Er-
kenntnis, um auf ihnen ein System des Wissens aufzubauen.
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Führende
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.Wenn ein so hervorragender Gelehrter wie Riehl aus der Fülle
seiner Arbeiten die beeten gesammelt einem weiteren Kreise zu-
gänglich macht, so ist das ein literarisches Ereignis. In der
Tat Übertreffen diese Essays wohl alles, was über die großen
Forscher und Denker der Vergangenheit geschrieben wurde. Riehl
blickt tief ln die Psyche jener Männer, würdigt in kritischer
Klarlegung ihre Systeme und eröffnet die Erkenntnis ihres Schaf-
fens. Er zeigt an hervorragenden Beispielen, wie in der Geistee-
geschichte die Philosophie als geistige Macht im Leben der
Menschen hervorgetreteu und swar im Bunde mit dem Wissen
ihrer Zeit, aber darüber hinaus als Mitschöpferin der Kultur.“
Deutsche Blätter für erziehenden Unterricht.