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ARTHUR LIEBERT
ARTHUR LIEBERT
GEISTund WELT
DER DIALEKTIK
19 2 9
PAN.VERLAG KURT METZNER G. M. B. H.
BERLIN W 9
ARTHUR LIEBERT
GEISTund WELT
DER DIALEKTIK
I. BAND
GRUNDLEGUNG
DER DIALEKTIK
19 2 9
PANLVERLAG KURT METZNER G. M. B. H.
BERLIN W 9
COPYRIGHT 1929 By PAN -VERLAG KURT METZNER G.M.B.H.
BERLIN W 9
MARGA BRIE
Motto:
ò f*èv yàg ovvozizoiòg öiaXexzixog, ò öe fit] ov
Platon, Staat 537c.
Vorwort.
Für die Kennzeichnung und Verdeutlichung derjenigen Absicht, die
dem vorliegenden Buche als Leitgedanke dient, wüßte ich keine
bessere Formulierung als die berühmte Fragestellung Kants ,,Wie
ist Metaphysik überhaupt möglich?*4. Nun gehört die Be-
schäftigung mit dieser Frage zu den Hauptanliegen und Haupt-
tätigkeiten der Philosophie unserer Zeit, für die, wie oft und mit
Recht hervorgehoben worden ist, die Wendung zur Metaphysik
eine ebenso wohlbegründete als charakteristische Bedeutung hat.
Werden jedoch das Aufwerfen jener Frage und die Anteilnahme an
ihr im wesentlichen nur durch zeitgeschichtlich bedingte Strömungen
ausgelöst und durch den Hinweis auf solche Strömungen gesichert,
dann bleibt es schwer, die Würdigung der Metaphysik und die Auf-
deckung ihres Rechtsgrundes von mehr oder minder zufälligen und
bald wieder verklingenden Tages- und Modestimmungen frei zu
halten. Um der Metaphysik gerecht zu werden, bedarf es von
vornherein der Erhebung zu einer ihrer Idee gemäßen überzeit-
lichen und übergeschichtlichen Geisteshaltung. Wie die Metaphysik
selber ewig im Mittelpunkte der Philosophie steht, so bilden auch
die Liebe zu ihr, ferner ein vorurteilsloses Verständnis für ihren un-
vergleichbaren und unersetzlichen Wert und nicht zuletzt die ganz
positiv gerichtete Beschäftigung mit ihr eine maßgebende Gruppe
von ewigen und unaufgebbaren Forderungen und Bedingungen für
alle Formen echter philosophischer Bemühung. Dabei kommt es
gar nicht so sehr darauf an, unter welchen geschichtlichen Um-
ständen und Voraussetzungen diese Bemühungen zum Ausbruch
und Austrag gelangen, und welche Gestalt sie unter dem Einfluß
VIII
Vorwort
geschichtlicher Antriebe annehmen. Das Recht der Metaphysik
und das Recht zur Metaphysik fließen aus der Idee und
aus dem Rechte der Philosophie selber.
Jede gedankliche Unternehmung, die darauf abzäelt, zu dieser
Idee und zu diesem Rechte der Philosophie vorzudringen und sich
mit dieser Idee und mit diesem Rechte auseinanderzusetzen, sieht
sich nicht bloß immer wieder vor die Aufgaben und Fragen der
Metaphysik gestellt, sondern sie erweist sich auch selber immer als
getragen von metaphysischen Kategorien und erfüllt von einer meta-
physischen Gesinnung. Kein Zug in einer wirklich philosophischen
Leistung vermag der metaphysischen Gesichtspunkte und der
Heranziehung metaphysischer Konstruktionsprinzipien zu ent-
behren. Aus diesem Grunde ist auch die Bearbeitung der eingangs
erwähnten Frage nur von einer metaphysischen Einstellung und
von einer Metaphysik aus in Angriff zu nehmen und durchzuführen.
Jede Behandlung dieser Frage erfolgt, wenn sie dem Geiste der
Metaphysik gerecht werden will, bereits im Geiste der Metaphysik
und stellt mithin selber einen Beitrag zur Metaphysik und ein Stück
Metaphysik dar.
Wenden wir diese Erkenntnis auf unseren Fall an. Es zeigt sich
dann auch die vorliegende Arbeit als die sachlich gebotene
Verbindung von zwei zusammengehörigen und eng mit-
einander versponnenen Untersuchungen, wie das jeder
philosophischen Betrachtung eigentümlich ist, die den
kritischen Charakter wahren, also ihre Beziehung zum
kantischen Kritizismus nicht preisgeben will. Denn die
einzigartige Problematik der Metaphysik bekundet sich nach einer
Richtung in der unabweisbaren Forderung, daß jeder metaphysische
Versuch, wenn er nicht der außerphilosophischen Haltung des Dog-
matismus verfallen will, seine eigene Möglichkeit und Berechtigung
prüfen und die Geltung jedes seiner Schritte von Anfang an kritisch
beglaubigen muß. Schon der Ansatz zu einer Metaphysik verlangt
nach einem begründeten Ausweis; d. h. die Metaphysik hat die
Pflicht, ihre Voraussetzungen und ihre Ergebnisse nicht einfach
vor uns auszubreiten, sondern sie aus der Vernunft abzuleiten,
durch die Vernunft zu verbürgen, also ihre Autonomie durch sich
und in sich zu verankern.
Deshalb bezieht sich die eine Untersuchungsreihe der
Metaphysik, die wir auf den folgenden Blättern vorlegen, auf
die Aufgabe einer kritischen Phänomenologie der Meta-
Vorwort
IX
physik. Wir wollen mit anderen Worten die Voraussetzungen und
das Wesen, die Grund- und Aufbauformen und nicht zuletzt die
Haupttypen der Metaphysik entwickeln. Diese Untersuchung er-
streckt sich demnach auf die Frage nach der „Möglichkeit“ der Meta-
physik und ihren konkreten Erscheinungsformen, sie sucht den Geist
und die Welt der Metaphysik zu erfassen. Wir werden aber diese
Begriffe des Geistes und der Welt der Metaphysik in dem ganzen
Umfange ihres Sinnes nehmen und zu klären suchen. Wir be-
trachten es als unsere Obliegenheit, sowohl die erlebnismäßigen als
auch die formalen und die logischen, sowohl die personalen als auch
die objektiv-konstruktiven, sowohl die aus individuellen Über-
zeugungen und geschichtlichen Lageverhältnissen als auch die aus
der Systematik der Philosophie hervorgehenden Voraussetzungen
der Metaphysik aufzuzeigen. Von Anfang an bedeutet uns die Meta-
physik eine Geistesgestalt von so hoher äußerer und innerer Ver-
wickeltheit, daß mit ihr in dieser Beziehung keine andere Form der
Kultur zu wetteifern oder einen Vergleich auszuhalten vermag. Die
Autonomie und die Eigenart der Metaphysik werden durch die Be-
sonderheit dieser antinomisch-dialektischen Struktur ebenso deut-
lich charakterisiert wie sichergestellt. Die Metaphysik gilt uns
als die überzeugendste und umfassendste Erscheinungs-
form der Dialektik innerhalb des Reiches des Gedankens.
Auf Grund dieser Erkenntnis benutzen wir die Dialektik not-
wendigerweise auch als Methode zur Erfassung und zur Erreichung
eines angemessenen Verständnisses und einer objektiven Würdigung
der Metaphysik. Die Idee der Dialektik ist sowohl die
apriorische Bedingung und die maßgebende Kraft für
den Aufbau der Metaphysik als auch das entscheidende
Werkzeug, um in das Wesen der Metaphysik einzudringen,
dieses Wesen zu studieren und zu verstehen.
Indem wir die Idee der Dialektik aber in dem angedeuteten Sinne
auffassen und gebrauchen, widmen wir uns nicht bloß der
„Kritik“ der Metaphysik, sondern wir treiben dadurch
bereits Metaphysik selber. Das ist die andere, die zweite
Untersuchungsreihe unserer Arbeit. Sie bedingt es, daß
unsere kritische Grundlegung der Metaphysik sich zu dem Ver-
suche eines „Systems der Metaphysik“ erweitert. Über die Meta-
physik sprechen, kann bei einem angemessenen und gerechten Ver-
hältnis zu ihr nur bedeuten, sich an ihrem Aufbau und Ausbau
positiv beteiligen. Auch bei Plato, bei Kant, bei Hegel, unseren
X
Vorwort
eigentlichen Vorbildern, sind die Betrachtungen über die Meta-
physik, über ihre Möglichkeit und ihr Wesen, über die Grund-
gestalten, in denen sie sich verkörpert, und in denen sie zu gegen-
ständlichem Dasein gelangt, bei ihnen sind ferner die Betrachtungen
über die Stellung der Metaphysik im System der Philosophie und
im System der wissenschaftlichen und geschichtlichen Kultur ver-
woben mit der schöpferischen Ausbildung ihrer Metaphysik selber.
Wie sie die Aufgabe einer solchen Grundlegung dadurch erfüllen,
daß sie sich der Methode der Dialektik als der Methode der Kritik
bedienen, so gewinnen sie die Errichtung ihrer Systeme gleichfalls
mittels dieser Dialektik als Methode und als des maßgebenden Kon-
struktionsprinzips.
Doch nicht bloß diese geschichtlichen Vorbilder sind es, die uns
den Weg zur Erkenntnis der grundlegenden und konstruktiven Be-
deutung der Dialektik für die Philosophie weisen. Systematische
Erwägungen verhelfen und drängen nicht minder unabweisbar zu
jener Erkenntnis. Deshalb mußte auch unsere Arbeit, die sich um
die Einsicht in den Geist und in die Welt der Metaphysik
bemüht, sich ganz von selbst zu einer Untersuchung und Darstel-
lung des Geistes und der Welt der Dialektik gestalten. Unsere
Überlegungen besitzen, wie gesagt, ihre Wegweisung und ihren
methodischen Halt an der Frage „Wie ist Metaphysik überhaupt
möglich?“. Unter der Leitung dieser Frage werden wir unaus-
bleiblich zu der Antwort geführt, daß die Metaphysik möglich
ist als Dialektik, daß sie in der Dialektik und durch
diese ihre Begründung erfährt, daß ihr Aufbau sich
gleichfalls nach dem Gesichtspunkt der Dialektik voll-
zieht, und daß ihre Struktur und ihr Geltungswert von
ausgesprochen dialektischer Natur sind.
Aber wie wir den Begriff der Metaphysik in der Totalität seines
Sinnes auffassen und gebrauchen, so verstehen wir auch die Idee
der Dialektik in der ganzen Tiefe und in dem uneingeschränkten Um-
fang ihres Wesens. Zu einer derartigen Auffassung zwingt die
grundlegende Bedeutung, die sie durch das platonische Vorbild als
die klassische Methode für die Philosophie bewährt und bestätigt hat.
Wesen und Schicksal der Metaphysik sind vom Wesen und Schick-
sal der Dialektik nicht abzulösen. Zu jener Auffassung und Ver-
wendung der Idee der Dialektik veranlaßt uns außerdem die Ab-
sicht, an der in unseren Tagen vor sich gehenden Erneuerung
der Metaphysik mitzuarbeiten. Wie sollte angesichts des engen
Vorwort
XI
Wechselverhältnisses zwischen Metaphysik und Dialektik jene Er-
neuerung durchführbar sein ohne gleichzeitige Erneuerung der
Dialektik? Der Renaissance der Metaphysik kann nur dann ein
dauernder, aussichtsreicher, von der Geltung gegenwärtig herrschen-
der Neigungen und Wünsche unabhängiger Erfolg beschieden sein,
wenn jene Bewegung nicht dem Wiederaufleben dieser oder jener
metaphysischen Sonderrichtung zugute kommt, so machtvoll die
Stellung einer solchen Sonderrichtung in der Vergangenheit ge-
wesen sein mag. Die seit einer ganzen Reihe von Jahren und von
den verschiedensten Seiten aus ins Werk gesetzten Versuche um eine
Wiedererstehung der Philosophie sind über Versprechungen und An-
kündigungen, über Vorbereitungen und über die Stufe von An-
sätzen nicht allzu weit hinausgediehen; die Hoffnungen, die auf
diese Renaissance gesetzt worden sind, haben noch keine restlose
Erfüllung gefunden. Trotz aller Bestrebungen hat die Philosophie
ihre alte klassische Geltung noch nicht wiedergewonnen; noch bildet
sie nicht wieder den Mittelpunkt und Hauptpunkt der geistigen
Interessen, wie das im 17., 18. und im ersten Drittel des 19. Jahr-
hunderts der Fall war.
Die Abwendung von der allgemeinen Teilnahme an der Philosophie
ist damit begründet worden, daß diese als eine überlebte und außer
Spiel gesetzte, als eine im wesentlichen nur noch historische und
antiquarische Bedeutung in sich schließende Größe hingestellt wurde.
Diese Motivierung für das Zurücktreten und für die etwas neben-
sächliche Rolle der Philosophie ist nicht stichhaltig. Die Wurzel
für jenes nur halbe Gelingen ihrer Renaissance besteht in der Halb-
heit und damit in der Unzulänglichkeit desjenigen Ausgangspunktes,
der die Stütze der Bemühungen um die Rückeroberung der
Herrschermacht der Metaphysik bildete und bildet. Dort war es
die Hinwendung zu der alten Ontologie, hier die liebevolle An-
hänglichkeit an den kritischen Idealismus kantischer Prägung, in
einem anderen Falle die Befürwortung des spekulativen und abso-
luten Idealismus oder der philosophischen Romantik und Mystik,
die die Grundlage für die Empfehlung der betreffenden Standpunkte
und philosophischen Schulen darstellten. Daraus aber konnte doch
immer nur die Erneuerung jener Spezialrichtungen, also die Er-
neuerung von Spielarten der Metaphysik hervorgehen, nicht die-
jenige der Metaphysik selber. Die volle Renaissance der Meta-
physik ist gebunden an die Renaissance des Vollsinnes der Meta-
physik. Sie ist gebunden an das Wiederaufleben der Idee der Meta-
XII
Vorwort
physik in der ganzen vielverschlungenen und vielgliedrigen Einheit
und Totalität dieses Begriffes ihrer Idee! Mit dieser Einsicht ist aber
die andere Einsicht verbunden, daß sich jene Einheit und Totalität
in der Idee der Dialektik ausprägen. Auf welchem anderen Wege
vermag die Metaphysik zur Selbsterfassung und Darstellung ihrer
selbst und des ganzen Reichtums ihres Gehaltes zu gelangen als
auf dem der Dialektik? Ist in der Dialektik nicht jener höchste,
jener universale Gesichtspunkt gewonnen, der der Universalität der
Metaphysik gemäß ist? Und zwar darum gemäß, weil die Dia-
lektik die Verwirklichung der schöpferischen Tätigkeit
des Geistes selber darstellt, weil der Logos sein Schaffen in
die Form der Dialektik gießt. Demnach sind metaphysisches
Denken und dialektisches Denken ein und dasselbe, und
die verschiedenen Gestalten und Typen der Metaphysik sind nichts
anderes als die verschiedenen Gestalten und Typen der Dialektik,
die in jeder von ihnen ihre synthetische Einheit und ihre Kraft zu
synthetischer Vereinheitlichung bekundet.
Werfen wir nun bloß noch einen Blick auf die synthetische
Leistung der Dialektik, d. h. auf ihre Fähigkeit zur Zusammen-
fassung und Überwindung der einzelnen Gestalten und der sich
untereinander bekämpfenden Typen der Metaphysik. Alsdann zeigt
sich, um hier nur in aller Kürze die wesentliche Verrichtung und
die wesentliche Richtung dieser Synthese anzudeuten, daß in der
Dialektik und kraft ihrer die ganze Fülle der altbekannten
und immer wieder auftretenden Einseitigkeiten philo-
sophischer Entwicklungsreihen „aufgehoben“ ist. Sie um-
faßt und verbindet die Gegensätze von Idealismus und Realismus,
von Rationalismus und Irrationalismus, von Absolutismus und
Relativismus, die die Einheit der Metaphysik immer wieder in un-
philosophische Vereinzelung zerreißen. Die Aufrechterhaltung dieser
Einzelstandpunkte widerspricht nicht bloß dem umfassenden Be-
griff der Philosophie, sie verhindert auch die einheitliche und folge-
richtige Ausgestaltung der Metaphysik. Sie führt zur Parteiung, wo
wechselseitige Bezugnahme geboten ist. Sie veräußerlicht den im-
manenten Kampf, der sich aus dem Wesen der metaphysischen
Gedankenbildung von selbst ergibt, zu einer Fehde zwischen äußer-
lich getrennten Heeren und Lagern. Sie veranlaßt dazu, einen
wesentlichen Teil der philosophischen Kraft auf einen entbehr-
lichen und oft unergiebigen Streit gegen die Bollwerke des Gegners
oder auf die Rechtfertigung des eigenen Standpunktes gegenüber
Vorwort
XIII
von Angriffen zu verwenden und zu verschwenden. Ohne Zweifel
hat auch das Ringen der philosophischen Schulen und Richtungen
untereinander sein Gutes; es ist notwendig, weil es sich nicht zuletzt
aus der konflikthaltigen Dialektik der Metaphysik speist. Aber
einen wirklich philosophischen Wert trägt es doch nur dann, wenn
jeder Streiter sich bewußt bleibt, seinen Kampf unter der über-
legenen Idee der Metaphysik zu führen, und wenn er demgemäß
handelt.
Denn die Idee der Metaphysik selber ist allen diesen Gegen-
sätzlichkeiten überlegen, sie alle dialektisch umfassend, weil sie die
dialektische Einheit in der Wechselbeziehung aller ge-
danklichen Gegensätze bedeutet. Die Dialektik stellt nicht
bloß die formale Untersuchung des Rechtes bzw. des Unrechtes der
einzelnen metaphysischen Richtungen dar. Sie steht ihnen nicht
bloß als die Richterin über ihre Ansprüche gegenüber und ent-
scheidet nicht bloß über das Ausmaß ihrer Geltungen. Sie hebt
vielmehr jene Gegensätzlichkeiten sachlich und inhaltlich in sich
auf, trägt sie als Wesensseiten und Einzelzüge in sich. Deshalb ist
sie nicht nur in ihrer äußeren Weite, sondern gerade um ihrer
inneren Verwickeltheit und um der spontan erwirkten Bewegtheit
ihres Gewebes willen in ihrer Dialektik die Versöhnung der Pole.
Ihr Versöhnungsgeschäft vernichtet diese Pole aber nicht, sie bejaht
und erneuert, gebraucht und vertieft die Gegensätzlichkeiten fort
und fort. Denn die Spannung zwischen den Polen ist ihr notwendig;
und wie sie die Polarität als die Grundform ihrer Struktur in sich
trägt, so offenbart sie auch diese Spannung als den wesentlichen
und fruchtbaren Ausdruck der Vernunft.
In der sozusagen rücksichtslosen und beinahe mitleidslosen
Durchführung der Dialektik unterscheiden sich unser Standpunkt
und unser Verfahren von der überlieferten und klassischen Form
der dialektischen Philosophie. Bei Plato und noch stärker bei
Hegel, minder stark hingegen bei Kant erfährt der Dialektizismus
eine merkwürdige Abschwächung, die ihm schließlich einen guten
Teil seiner Strenge und Schärfe nimmt. Humanistische und harmo-
nistische, glättende und versöhnende Tendenzen wirken hier auf
ihn ein, so daß die geistige Gestalt, in der er erscheint, vielleicht
als der harmonistische und humanistische Typus der Dia-
lektik bezeichnet werden kann. Die folgenden Ausführungen
suchen die Wesensart dieser Form der Dialektik und die Be-
dingungen für ihre Entstehung des genaueren zu schildern.
XIV
Vorwort
Da sich jedoch die philosophischen und geschichtlichen, ferner
die seelischen und die moralischen Bedingungen, die jenen dialekti-
schen Typus hervorriefen, gewaltig geändert haben, da wir mit der
Gegenwart in eine neue, von höchsten Krisen und Antinomien
getragene Geisteslage eingetreten sind, so mußte auch diejenige
Dialektik, die wir vertreten, einen neuen Zug annehmen. Die alte
und klassische Form stand im Dienst eines überstarken Harmonie-
gedankens; sie war ein Werkzeug und eine Form für die Beilegung
aller Zwiespältigkeiten und für die Gewinnung der erlösenden Ein-
heit, deren sichere Erreichung auch nicht dem leisesten Zweifel aus-
gesetzt war. Der abgewandelte Typus der Dialektik hingegen, d. h.
jene Gestalt, die wir als das notwendige Ergebnis der neuen Ent-
wicklungen auf philosophischem und geschichtlichem, auf seelischem
und sittlichem Gebiete vorfinden und in unserer Arbeit vertreten,
muß jener harmonistischen Züge und humanistisch-humanisierenden
Tendenzen in gewissem Umfange entbehren. Er muß mit anderen
Worten einen tragischen Charakter tragen; wir können demgemäß
von einem tragischen Typus der Dialektik sprechen, dessen
Wesen und Wert, dessen Entstehung und Recht unsere Darlegungen
kennzeichnen werden.
Erst die Vertretung eines derartigen „Tragismus“ scheint mir
der prinzipiellen Eigenart und Bedeutung der Dialektik in ihrer
vollen Strenge zu entsprechen und gerecht zu werden und zugleich
der geistigen Verfassung gemäß zu sein, die sich in den letzten Jahr-
zehnten unter dem unwiderstehlichen Drucke schwerster äußerer
und innerer Erlebnisse gebildet hat. Wir verkennen keinen Augen-
blick die einzigartige Größe und Schönheit der klassizistisch-huma-
nistischen Gemütsverfassung und Lebensgesinnung und ihrer Aus-
wirkung in der Kunst und in der Erziehung. Und uns dünkt die
Sehnsucht nach einer Erneuerung jener Lebensstimmung und
Lebensweise mehr als begreiflich. Dennoch dürfen wir den un-
geheuren Einfluß gleichfalls nicht verkennen, den die geschichtliche
Entwicklung in der Fülle ihrer neuen Probleme und Leistungen auf
unser Seelenleben und auf unsere Weltauffassung, auf unseren
Glauben und auf die Gestaltung der Wirklichkeitsdeutung unauf-
haltsam ausgeübt hat. Das Zeitalter der Technik und der Wirt-
schaft, der sozialen Kämpfe und der übergreifenden Organisationen
des Handels und des Gewerbes hat eine Weltanschauung und eine
Lebensvorstellung entstehen lassen, die uns von der klassizistischen
Daseinsgesinnung doch weit entfernt hat, und die den Idealen,
Vorwort
XV
denen das Zeitalter des Klassizismus huldigte, keine unmittelbare
und ungebrochene Wirkungsmöglichkeit und Selbstverständlichkeit
zubilligen kann. Wir befinden uns heute in einer sehr ernsten und
tiefen Auseinandersetzung mit den Bildungsideen des Humanismus
und des harmonistischen Klassizismus, und diese Auseinander-
setzung macht einen nicht geringen Teil der geistigen Krisis der
Gegenwart aus. Die Entscheidung wird uns um so schwerer ge-
macht, als wir sie ohne Zugeständnisse nicht erkaufen können. Denn
wir kennen jetzt die Gewalt der dialektischen Spannungen des
inneren und des äußeren Daseins mit einer Deutlichkeit, die die
Aussicht auf eine harmonische Einigung des Lebens als einen
schönen Traum erscheinen läßt. Ist nun, nach einem bekannten
Worte Hegels, eine Philosophie die begriffliche Erfassung des
Wesens und des Gehaltes ihrer Zeit, dann muß, da auch unsere
Philosophie die Beziehungen zur Gegenwart nicht verleugnen kann
und nicht verleugnen will, auch in unserer Arbeit der dialektische
Charakter der gegenwärtigen Geisteslage anklingen.
So verbinden sich in der hier vorliegenden Philosophie über-
zeitliche Gesichtspunkte mit zeitlich gegebenen Fragen und Ein-
stellungen gemäß der fruchtbaren und niemals zu tilgenden Wechsel-
seitigkeit von Unzeitlichem und Unzeitgemäßem mit Zeitlichem und
Zeitgemäßem. Sie verbinden sich zu einer Philosophie und Lebens-
deutung, die den Charakter einer dialektischen Metaphysik und
einer metaphysischen Dialektik aufweist. Was dieser Begriff einer
dialektischen Metaphysik und einer metaphysischen Dialektik be-
sagen will, von welchen Voraussetzungen aus eine solche Dialektik
sich erhebt, welches ihre gedankliche Reichweite und Wesensart ist,
das ist in unserer Arbeit über „Geist und Welt der Dialektik“ ein-
gehend entwickelt. Von dieser Arbeit erscheint nunmehr der erste
Band, der die „Grundlegung“ der dialektischen Metaphysik und
der metaphysischen Dialektik enthält. Aber über die unmittelbare
Aufgabe einer Grundlegung hinaus gewährt er auch mehr oder
minder weit geführte Ausblicke in das Gebiet der Sittlichkeit, der
Kunst und der Religion. Diese Ausblicke sollen die Fruchtbarkeit
unseres dialektischen Prinzips, das von ihm beherrschte Strahlungs-
feld, die Mannigfaltigkeit seiner konkreten Verzweigungen und die
Möglichkeit und Berechtigung seiner Anwendung auf den ver-
schiedensten Gebieten und für die verschiedensten Gebiete des
objektiven Lebens verdeutlichen.
Berlin, den 10. November 1928.
Arthur Liebert.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort................................................................Vli
Einleitung
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik.......... 1
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie.......................... 18
A. Dialektik und Leben.............................................. 45
B, Dialektik und Philosophie........................................ 53
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik und Kritik
dieser Einwände:
1. Prinzipieller Wert dieser Einwände........................... 57
2. Kants Kritik der Metaphysik............................... 60
3. Haupttypen der Einwände..................................... 67
a) Einwand aus dem Hinweis auf die Entwicklung der positiven
Wissenschaften und auf die durch diese Entwicklung bedingte
allgemeine Aufklärung: Dilthey............................. 67
b) Psychologische und psychologistische Kritik der Metaphysik;
Metaphysik als subjektive Begriffsdichtung: Friedrich Albert
Lange 79— Friedrich Nietzsche 82 — Hans Vaihinger 85 79
c) Auflösung der Metaphysik durch die kantische und neukantische
Erkenntnistheorie: Alois Riehl............................. 86
4. Allgemeine Kritik dieser Einwände........................... 92
II. Von der Pflicht zur Metaphysik und von den vier Moti-
ven dieser Pflicht:
1. Allgemeiner Teil.............................................101
2. Das intellektuelle Motiv....................................105
a) Der metaphysische Rationalismus als Theorie und Macht . . 105
b) Der metaphysische Rationalismus und die Wissenschaft ... 111
c) Die Dialektik des metaphysischen Rationalismus ...... 123
XVIII Inhaltsverzeichnis
Seite
3. Das moralische Motiv..........................................125
a) Die Verbindung des Rationalen mit dem Moralischen .... 125
b) Die Dialektik zwischen dem Wahren und dem Guten ... 127
c) Der Primat der WeltbeWertung...............................130
d) Die metaphysische Tendenz zur Freiheit: Die Dämonie der Frei-
heitsidee .....................................................131
e) Die sittliche Aufgabe und Leistung der Metaphysik .... 136
4. Das ästhetische Motiv.........................................140
5. Das religiöse Motiv...........................................147
a) Metaphysik und Religion....................................147
b) Die Umdeutung des Erscheinungsbegriffs.....................149
c) Die Erlösungsfunktion der Metaphysik.......................153
d) Die Erlösung als metaphysisches Problem....................155
III. Der dialektische Idealismus:
1. Die Idee der Synthese bei Kant..................................161
2. Die Idee der Dialektik bei Kant.................................163
3. Die Idee der Dialektik überhaupt................................166
4. Der sittliche Wert der Dialektik................................169
5. Dialektik — Freiheit — Humor..................................173
6. Die Dialektik im System der Philosophie:
Die Dialektik zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik ... 176
7. Dialektizismus — Identitätssystem — Parallelismus................179
8. Platon und kein Ende..........................................187
9. Die Autonomie der Metaphysik..................................190
10. Die „Wissenschaftlichkeit“ der Metaphysik und das Problem des
Scheins...........................................................195
11. Der „Grund“ der Dialektik......................................200
12. Der Freiheitsmythos............................................205
13. Die kritische Geisteshaltung...................................213
14. Das Numenose der Dialektik.....................................230
IV. Die Metaphysik der Dialektik:
1. Die Dialektik der philosophischen Lösungen:
Die Dialektik der Form............................................237
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen:
Die Dialektik des Problems........................................242
3. Der Urgrund des dialektischen Problems:
Die Angst als seelisches Urphänomen...............................265
Inhaltsverzeichnis XIX
Seite
V. Hauptformen der Dialektik:
1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik. . . 297
2. Die Dialektik der Geschichte:
Dialektik als Kategorie der Geschichtswissenschaft.........302
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik zu der einseitigen,
humanistisch-ausgleichenden Dialektik Platos, Hegels, Schleier-
machers, Schellings..................................306
4. Die Dialektik aus Formwert und Gehaltwert......................320
5. Der tragische Begriff der Dialektik............................326
VI. Die Dialektik der Metaphysik:
1. Die Beanstandungen der Metaphysik...............................336
2. Die Krisis der Metaphysik......................................345
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis......................350
4. Die Autonomie des „Metaphysischen“.............................365
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik.............373
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart:
1. Einleitung......................................................392
2. Die Wendung zur Dialektik:
Ihre Voraussetzungen und Motive und einige ihrer Hauptvertreter 394
a) Von den Geisteswissenschaften und der Theorie derselben aus 394
1. Wilhelm Dilthey...........................................394
2. Emst Troeltsch..........................................396
3. Jonas Cohn...............................................401
4. Paul Hofmann..............................................403
5. Heinrich Rickert..........................................403
b) Von der Metaphysik und der Theologie aus....................409
1. Georg Simmel.............................................410
2. Alfred Vierkandt..........................................415
3. Theodor Litt..............................................418
4. Karl Barths dialektische Theologie........................421
c) Vom Neukantianismus und Neuhegelianismus aus:
1. Allgemeines...............................................424
2. Nicolai Hartmann..........................................426
XX
Inhaltsverzeichnis
Seite
VIII. Dogma und Kritik:
Vorbemerkung.................................................... 437
1. Die Idee der Philosophie als Einheit..........................439
2. Die beiden philosophischen Grundgestalten:
Dogmatismus und Kritizismus....................................441
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten:
a) Erkenntnistheoretische Überlegung.........................448
b) Ethische Überlegung........................................450
c) Metaphysische Überlegung...................................456
d) Religionsphilosophische Überlegung.........................458
463
466
Register:
A. Personenregister
B. Sachregister . .
Einleitung.
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik.
Gleich wie das Wesen des Geistes sein Leben und seine Eigenart
in der schöpferischen Funktion der Dialektik offenbart und aus-
wirkt, so entwickelt auch die Metaphysik als die Wissenschaft vom
Wesen des Geistes ihren Sinn und Gehalt, ihre Form und ihren
Aufbau kraft der aus ihrer Idee hervorgehenden dialektischen
Methode. Denn das Leben und sein philosophischer Niederschlag
in der Metaphysik verfügen über kein tauglicheres, über kein kräfti-
geres, über kein ihrer Substanz und ihrem Begriff angemesseneres
Mittel zur Entfaltung als über das der Dialektik. Während für die ge-
schichtliche Wirklichkeit die Dialektik die Geltung einer realen
Macht und einer schicksalshaften Gesetzlichkeit besitzt, weist sie
für die Gedankenarbeit der Metaphysik, deren Ziel stets die syste-
matische Erkenntnis der Lebensdialektik ist, die Eignung metho-
disch-gestaltender Form auf, bewährt sie sich hier als organisierende
Prägung der Begriffsbildung, dient sie derselben schließlich auch
als Kriterium für die Bestimmung ihres sachlichen Wertes.
Diese spontane und darum unaufhebbare Wechselbeziehung
zwischen der Metaphysik und der Dialektik bedingt es, daß
jede Wendung zur Metaphysik und jede Form ihrer Erneuerung stets
Hand in Hand gehen mit dem Aufkommen und mit einer Re-
naissance der Dialektik, die diesen Vorgängen als Werkzeug, als
systematische Stütze, als Brücke zu ihrer Verwirklichung dient.
Welches auch immer die persönlichen und die grundsätzlichen Aus-
gangspunkte und Wurzeln eines philosophischen Systems sein
mögen, so vollziehen doch die wahrhaft klassischen Typen der Meta-
physik ihre Fundierung und ihren Aufbau nach demjenigen Ver-
fahren, durch das Plato, der Begründer der wissenschaftlichen
Philosophie, seine Schöpfung logisch ermöglicht, und durch das er
ihr die Unabhängigkeit eines objektiven Gebildes verliehen hat.
Diese schöpferische Wechselwirkung von Metaphysik und
Liebert, Dialektik. 1
2
Einleitung
Dialektik tritt uns auch in der Gegenwart angesichts der Ver-
suche einer Erneuerung der metaphysischen Spekulation entgegen.
Alle diese Bemühungen bekunden und bestätigen mit vollkommener
Deutlichkeit, sofern der wissenschaftliche Geist Platos in ihnen am
Werke ist, daß eine sachliche, über Stimmungsausbrüche erhabene
und aus dem Verständnis für die Sache erfolgende Grundlegung der
Metaphysik nur durch die Dialektik vollzogen werden kann. Das
Heil und die Aussichten der Renaissance der Metaphysik sind nicht
von dem so oft rühmend hervorgehobenen Wiedererwachen des
Interesses für die Philosophie abhängig — dieses Interesse ist eine
nur allzu fragwürdige Größe —, sondern sie sind bedingt durch den
Geist derjenigen Dialektik, die der philosophischen Systematik
innerlichst zugehört, da sie der Quellgrund ihrer Ideen und das
ständig formende Prinzip ihrer Erkenntnisse ist.
Ohne Zweifel machen sich als treibende Kräfte für die Wendung
zur Metaphysik auch subjektive Bedürfnisse, besonders in der Form
der Sehnsucht nach einer Überwindung des Bloß-Zeitlichen und
Relativen zugunsten der Herrschaft einer absolutistischen Sinn-
tendenz, geltend. Ohne die Wirksamkeit subjektiver und gefühls-
mäßiger Faktoren gelingt niemals die Bildung eines metaphysischen
Systems. Doch ist die Bedeutung dieser Momente nicht allzu hoch
zu veranschlagen, als wären sie die ausschlaggebenden Triebkräfte
und die allein ausreichenden Gesetzlichkeiten für eine solche Schöp-
fung. Eine derartige Überschätzung der subjektiven Bedingungen
war zur Zeit des Vorwiegens jenes Positivismus eingetreten, der
von etwa 1850 bis zum Schluß des Jahrhunderts möglichst alle Ge-
stalten der Kultur durch eine psychologische und psychologistische
Betrachtungsweise erklären und je nachdem anerkennen oder ab-
lehnen zu können vermeinte.
Solange der Blick nur von der Seite des Subjektes aus auf die
Metaphysik gerichtet wird, und solange man lediglich vom Subjekt
ausgeht, ist weder ein adäquates Verständnis für ihr Wesen zu ge-
winnen, noch ein objektives System der Metaphysik zu erzeugen.
Die Leistungen solcher Art sind ganz und gar von der Aufstellung
und von der systematischen Anwendung einer objektiven und
objektivierenden Bildungsgesetzlichkeit abhängig, in deren Kraft
die Metaphysik ihrer Möglichkeit nach a priori verankert ist. —
Ist diese Bildungsgesetzlichkeit nun eine andere und kann sie
eine andere sein als diejenige, in der die Wirklichkeit des Lebens
sich autonom ausspricht? Fassen wir den Begriff der Meta-
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik
3
physik seinem sachlichen Vollgehalt nach ins Auge, also in jener
Totalität, die bei einer wirklich und eigentlich philosophischen Be-
trachtung geboten ist, z. B. in der von Hegel vertretenen Totalität
ihres Wesens. Alsdann verstehen wir jenen Begriff in einem ihm ent-
sprechenden Ausmaße, wenn wir ihn als die in die Höhe des
Logos erhobene ideelle dialektische Synthese aller Be-
züge und Wertschichten der Lebenswirklichkeit überhaupt
würdigen. Wir betonen die Korrelation zwischen Meta-
physik und Dialektik. Wir betonen nicht minder die
Korrelation zwischen dem Begriff der metaphysischen
Wahrheit und demjenigen der Lebenswirklichkeit. Auch
hier obwaltet das spontane und unzerstörbare Verhältnis dialekti-
scher Wechselbeziehung. In dem erstgenannten Begriff sind in eine
konstruktive Einheit alle diejenigen Sinngehalte zusammengefaßt,
die wir meinen, wenn wir von „Leben“ und „Wirklichkeit“ sinnhaft
sprechen. Deshalb ist alle wahre Metaphysik im genauesten Ver-
stände „Lebensphilosophie“. Die Metaphysik ruht auf dem
schöpferischen Grunde des Lebens und seines Geistes,
und der schöpferische Grund des Lebens gelangt in der
Metaphysik zu begrifflichem, d. h. in den Begriff ge-
faßtem und im Begriff verstandenem Ausdruck.
Damit sind wir einem tiefgemeinsamen Zuge in den verschiede-
nen metaphysischen Systemen und Weltbildern begegnet. Hinter
allen Ausprägungen und Formen der metaphysischen Gedanken-
bildungen, auch hinter denen, die dahin neigen, sich in eine erden-
ferne Abstraktheit zu verlieren, ist die Dialektik des Lebens in ihrer
Autonomie wirksam. Ohne dialektische Geisteshaltung und
ohne dialektische Einstellung zum Leben ist keine Ge-
stalt der Metaphysik möglich. Selbst in denjenigen meta-
physischen Systemen, die scheinbar ausschließlich aus dem Geiste
der Statik erschaffen und ganz an die Methode der mathematisch-
mechanischen Naturwissenschaft gebunden sind, wie etwa in dem des
Descartes, arbeitet die Bewegtheit der Dialektik. Für die Rich-
tungen der sogenannten Lebensphilosophie braucht die Berechtigung
dieser Behauptung von der schöpferischen Geltung der Dialektik
nicht besonders erhärtet zu werden. In der Mehrzahl der Fälle
erweisen sie sich sogar in der Form einer ausdrücklichen Zustim-
mung als Niederschläge des Bekenntnisses zur Dialektik. In allen
anderen Fällen liegt ihre Abhängigkeit von der Dialektik schon in
der Problemstellung und dann in der Begriffsbildung, nicht zuletzt
4 Einleitung
auch in der Form und in dem Inhalt der Ergebnisse, zu denen sie
kommen, klar am Tage. —
Wird demnach die Metaphysik grundsätzlich nicht erst dann
und nur dann über die Einseitigkeiten des schulmäßigen mathemati-
sierenden Rationalismus und der irrationalistischen und irrationali-
sierenden Lebensphilosophie hinausgeschoben, vermag sie die Totali-
tät ihrer Idee nicht erst dann und nur dann zu verwirklichen, wenn
sie sowohl in ihrer Fragestellung als auch in der Technik ihres Ver-
fahrens wieder der Totalität der dialektischen Methode
vollen Spielraum zugesteht? Das soll keine Absage an den
Rationalismus bedeuten. Denn den Rationalismus kann keine
Philosophie, kann keine Metaphysik entbehren. Auch die Lebens-
philosophie darf und kann nicht in einen vollkommenen Gegensatz
zu ihm gebracht werden, will sie nicht von vornherein und grund-
sätzlich auf jede logisch geklärte und begrifflich klärbare Erkenntnis
Verzicht leisten. Es handelt sich für die Metaphysik nur darum,
einen solchen Begriff der philosophischen Erkenntnis zu gewinnen,
der, ohne die Sicherheit begrifflicher Formung zu verleugnen, als
adäquater Ausdruck der Dialektik des Lebens gelten kann. Eine
der Hauptaufgaben der vorliegenden Arbeit wird sich aus diesem
Grunde auf die Gewinnung eines Formbegriffs beziehen, der der
eigentümlichen Doppelseitigkeit einer Dialektik der Metaphysik ge-
recht zu werden vermag. Die dialektische Metaphysik ist dem
Leben gegenüber begreiflicherweise viel weniger abge-
schlossen, alsdas bei dem mathematisch-formalistischen
Rationalismus der Fall ist. Da sie aber Philosophie, also doch
begriffliche Einsicht in das Wesen des schöpferischen Geistes sein
will, kann sie nicht umhin, sowohl in ihren Grundlagen als auch in
dem ganzen Gefüge ihrer Systematik die Beziehung zur wissen-
schaftlichen Vernunft durchgehend zu wahren und aufrechtzu-
erhalten, eine Beziehung, die sich in der Logizität ihres Erkenntnis-
wertes und in dem objektiven Gebrauch logischgebundener Kate-
gorien äußert.
So wird die Dialektik der Metaphysik sich mit anderen Worten
von dem festen Standpunkt der Erkenntnis aus auf das Leben be-
ziehen, um dessen Problematik und Irrationalität Herr zu werden;
aber sie wird zugleich für ihre wissenschaftlichen Zwecke vom Stand-
punkt des Lebens aus die Rationalität der Erkenntnis in sich ein-
beziehen. Ein philosophisches Erfassen des Lebens an sich, wie
das z. B. Henri Bergson fordert und versucht, und eine Stellung-
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik
5
nähme ganz und restlos innerhalb der Strömungen des Lebens sind
logisch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Metaphysik der Lebens-
dialektik muß und wird genau und hingebungsvoll die vielver-
schlungenen Strömungen der Wirklichkeit behorchen, die reizvolle
Buntheit und das paradoxe Wechselspiel ihrer Gestalten beachten.
Sie muß und wird bemüht sein, neue Tiefen und neue Struktur-
verhältnisse des Lebens zu ergrübeln und aufzudecken, um die
Paradoxie des Lebens in aller ihrer Bewegtheit soweit widerzu-
spiegeln, als es einer theoretischen, also vom Leben doch immer in
irgendeiner Weise abgezogenen Betrachtungsart überhaupt ver-
gönnt ist. An einer Dialektik der Metaphysik arbeitet sozusagen
das Leben selber mit. Aber auch umgekehrt fördert eine solche
Dialektik das Dahinströmen des Lebens, weil sie ihm dazu verhilft,
seinen eigenen Sinn zu erfassen, seine Voraussetzungen, sein Wollen
und seine Ziele zu verstehen, mit anderen Worten ihm das Mittel
bietet, um seinen in ihm ruhenden Logos zu erfassen. Also darf eine
Metaphysik der Lebensdialektik weder die Urwüchsigkeit des Lebens
selber noch die verpflichtende Formkraft einer in Kategorien sich
aussprechenden Erkenntnis geringachten oder gar mißachten. Ihr
tiefstes Ringen wird vielmehr darauf gerichtet sein, im Unterschiede
von dem alten und traditionellen Formbegriff, einen solchen Form-
begriff zu erarbeiten, der in seiner Struktur die Problematik der
Lebenswirklichkeit ahnen und anklingen läßt, ohne dabei die logi-
schen Forderungen begrifflicher Bestimmtheit hintanzusetzen.----
Aus diesen Gründen umschließt auch die Wendung zur Meta-
physik und die ganze Entwicklung der metaphysischen Forschung
der Gegenwart eine eigentümliche Wendung und Entwicklung des
Rationalismus. Wir sehen aller Orten Bestrebungen am Werke, die
auf die Ausbildung bzw. auf die Umbildung des traditionellen
Rationalismus und Idealismus zu einem dialektischen
Rationalismus und dialektischen Idealismus hindrängen.
Das geschieht sogar noch weit über diejenige Stellung hinaus, die
Hegel bei seiner dialektischen Auffassung und Verwendung des
Begriffs und bei seiner ganzen dialektischen Erkenntnisart einnahm.
Zwar hat bereits Dilthey in seiner bahnbrechenden „Jugend-
geschichte Hegels“ (1905) das immer wieder gläubig und kritiklos
aufgenommene Dogma von dem Rationalisten und Panlogisten
Hegel widerlegt. Er hat in Hegel mehr als einen irrationalen Ein-
schlag entdeckt; und so kann die Bezeichnung, mit der Ludwig
Feuerbach 1839 die Philosophie Hegels dadurch zu brandmarken
6
Einleitung
meinte, daß er sie eine „rationelle Mystik“ nannte, nicht bloß als
eine zutreffende, sondern auch als eine im Sinne höchster Anerken-
nung zu verstehende Charakteristik angesehen werden. Die Er-
neuerung der Hegelschen Philosophie ist in unseren Tagen nicht nur
darum eingetreten, weil Hegel der bis jetzt größte Geschichts-
philosoph, der bis jetzt größte Geschichtsmetaphysiker ist, und weil
unsere Zeit aus den verschiedensten und ernstesten Motiven heraus
nach einer umfassenden spekulativen Deutung der geschichtlichen
Wirklichkeit verlangt. Diese Renaissance trat auch ein, weil Hegel
die Dialektik des Begriffs erschlossen und die Logik der Dialektik
und die Dialektik der Logik in einer den entwickeltsten Bedürfnissen
und Einsichten entsprechenden Weise zu vertreten schien. Kraft
seiner Dialektik war Hegel über die Enge des beliebten Gegensatzes
von Rationalismus und Irrationalismus ebenso hinausgewachsen
wie über den Gegensatz von Idealismus und Realismus. In seiner
Methode hatte er, so hatte es wenigstens den Anschein, in Über-
legenheit über alle Dialektiker vor ihm ein Denkinstrument ge-
wonnen, das der Philosophie die Möglichkeit zur uneingeschränkten
Erfassung und Darstellung der vollen Tiefe und Verschlungenheit
ihrer Idee an die Hand gab. Denn nur da kann von Philosophie im
höchsten Sinne des Wortes die Rede sein, wo das Denken sich der
Totalität der Idee bemächtigt. Und nur da ist die Totalität dieser
Idee verstanden, und nur da bleibt diese Totalität uneingeschränkt
in Geltung, wo die metaphysische Spekulation sowohl über jene
wie auch über alle anderen Gegensätze synthetisch hinausgeschritten
ist, wo alle diese und alle anderen Gegensätze in ihr,»aufgehoben“ sind.
Ob die Hegelsche Dialektik allerdings allen Denkrichtungen und
Forderungen, die in der Totalität der Idee der Philosophie einge-
lagert und wirksam sind, restlos genügt, ob sie nicht gewisse dialekti-
sche Züge, die Kant mit überlegener Genialität erkannt und betont
hatte, vermissen läßt, ist eine andere Frage. Diese Frage wird uns
im Verlaufe unserer Betrachtungen noch mehrfach beschäftigen,
und wir werden auf sie mit absichtlichem Nachdruck eingehen.
Doch um das schon vorweg zu sagen: Der Dialektik Hegels und der
von ihm entwickelten Auffassung ihres Wesens haften trotz allem
noch Spuren des etwas einseitigen traditionellen Logismus an. Dar-
unter leiden die Problemträchtigkeit und Problemhaltigkeit und die
Aporetik seiner Begriffe.
Wir wissen, daß er, dieser tiefe und aufgeschlossene Kenner des
geschichtlichen Lebens und dieser vorurteilslose Betrachter der Anti-
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik
7
nomien der Wirklichkeit, die Dialektik von der Geschichte her auf-
griff und verstand, weil er sie zunächst in der Wirklichkeit des ge-
schichtlichen Lebens vorfand. Aber indem er sie nun mit Recht als
systembildende Methode verwendete, gestaltete er sie unter dem Ein-
fluß auch einer formalen Logik, deren von ihm durchschaute und geta-
delte Unzulänglichkeiten und Härten doch gerade er zu durchbrechen
und zu überwinden suchte. Sein ungeheuer freier und offener Blick für
die tragische Problematik des Daseins verengte sich in merkwürdiger
Weise unter dem Einfluß von Tendenzen, die aus seiner Neigung zu
formalistischer Konstruktion im Sinne einer logischen Schemati-
sierung der Geschichte und aus seiner wurzelhaften Verbundenheit
mit christlich-religiösen und humanistisch-harmonistischen Lebens-
auffassungen und Lebensbewertungen seltsam gemischt sind.
Christentum und Humanismus sind im Verein auch bei ihm maß-
gebende Bedingungen und Formungen für seine geistige Existenz
und für seine philosophische Arbeit. Darauf beruht die Eigenart
seiner so machtvollen Stellung; darin sprechen sich aber auch die
Grenzen seiner Leistung und seines Einflusses aus. Darf nicht die
Behauptung gewagt werden, daß in dem Grade, in dem die Geltung
jener geistesgeschichtlichen Bedingungen sich minderte, gleichfalls
eine Minderung des Einflusses Hegels eintreten mußte? Man spricht
so oft von dem Zusammenbruch, der das Hegelsche System alsbald
nach dem Tode seines Schöpfers betroffen habe. Und für die Ent-
stehung dieser Katastrophe werden die verschiedenartigsten Um-
stände namhaft gemacht. Zwar ist es viel zuviel, weil sachlich un-
zutreffend, von einem solchen Zusammenbruch als einer objektiv
feststellbaren Tatsache zu sprechen. Doch wie immer sich die
weitere Geschichte der Hegelschen Philosophie gestaltet haben mag,
so waren für sie das Ansehen, in dem jene oben genannten Tendenzen
in dem Bewußtsein der Menschen standen, von einschneidender
Tragweite. Jedenfalls ist das eine sicher, daß unter der Einwirkung
dieser Tendenzen die Hegelsche Dialektik eine vorzeitige Ab-
schwächung erfuhr, eine Abschwächung, die sich nicht selten der
Grenze einer Preisgabe der Dialektik gefährlich nähert.
Hegel, der von vielen so oft und so nachdrücklich als der größte
Dialektiker der Philosophie gepriesen wird, verdient diese An-
erkennung, jedoch nicht in restlos erschöpfendem Sinne. Wir werden
wiederholt sehen, daß und in welcher Weise er hinter den von Kant
erreichten Begriff der Dialektik zurückgetreten ist. Er überdeckte
und milderte auf Grund eines in seiner Gemütsverfassung angelegten,
8
Einleitung
schon in seinen Jugendschriften deutlich ausgesprochenen und
während seiner ganzen philosophischen Entwicklung immer wieder
hervorbrechenden Harmonismus und Humanismus, die ihre tiefste
Wurzel vielleicht in seiner christlich-religiösen Natur haben und
somit von der Idee der Erlösung beherrscht werden, die tiefe Tragik,
die im Wesen der Dialektik liegt, und die fort und fort berücksichtigt
und in ihrer Tragik anerkannt und aufrechterhalten werden will.
Seine gewaltige systematische Kraft meistert die Dialektik in zu
souveräner Form: Hinter ihr erhebt sich die herrschende Kraft
eines Monismus, der die Gegensätze im Wesen des Begriffs und die
tragischen Verschlingungen in der Aporetik der Wirklichkeit zu-
gunsten der Einheit der Vernunft immer wieder „aufhebt"1). Hat
ihm gegenüber der „Dualist“ Kant die Aporetik der Wirklichkeit
und die Problematik des Begriffes nicht unentwegter und gleichsam
heroischer festgehalten? Hegel beseitigt die immanente Krisis, die
das unausrottbare Kennzeichen aller wahren Dialektik ist; er gibt
sich dieser Krisis nicht bis zu ihrem letzten und sei es auch risiko-
erfüllten Ende hin. Er traut der Vernunft die unbedingte Über-
legenheit zur Lösung aller Probleme und zur Bemeisterung aller
Antinomien des Daseins zu. Kant, der Kritiker, behält hingegen
sein Auge immer offen für die Krisis der Dialektik und gebraucht
die dialektische Methode weniger als Werkzeug zum Ausgleich und
zur Lösung der Probleme, als vielmehr zu ihrer Erarbeitung, Auf-
stellung und Durchleuchtung, um gerade das, was sie an problem-
erzeugender Kraft in sich tragen, in Bewegung zu setzen.
In der Art, wie beide Denker die Dialektik verstehen und ver-
wenden, prägt sich ein Urgegensatz von philosophischen
Typen und von weltanschaulichen Einstellungen zur
Problematik der Wirklichkeit aus. Kraft der Dialektik denkt
*) Diese „Aufhebung” der Dissonanzen der Wirklichkeit berechtigt in ge-
wissem Sinne zu der Behauptung, daß Hegel die Wirklichkeit vergewaltigt
habe. Denn was ist eine Wirklichkeit, deren Gegensätzlichkeiten getilgt oder
nicht als Gegensätzlichkeiten anerkannt bleiben, sondern deren Sein restlos
aus der Vernunft abgeleitet und also zur Harmonie geglättet wird? Die De-
duktion der Wirklichkeit nimmt, wie Heinrich Maier treffend sagt, bei Hegel
den Charakter einer „Verquickung des inhaltlich-dynamischen Gesichtspunktes
mit dem transzendental-deduktiven” an und die auf diese Weise gewonnene natur-
und geistesphilosophische Spekulation hat zu der oft getadelten „metaphy-
sischen Vergewaltigung der positiv-wissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis”
geführt (Heinrich Maier, Wahrheit und Wirklichkeit S. 552).
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik
9
Kant die Probleme als Probleme, erdenkt er sie in ihrer Problematik
— denkt Hegel die Probleme von Anfang an als eingebettet in die
beruhigende Einheit problemlösender Vernunft, denkt er sie gleich-
sam als aufgetragen auf dem Hintergrund einer bereitstehenden
Lösung, erdenkt er sie als a priori „aufgehoben“ in der Allmacht
des Logos, der, gleich Gott, jenseits aller Problematik steht und
waltet in der stillen Erhabenheit des unbewegten Bewegers des
Aristoteles. Für Hegel liegen die Probleme in dieser Allmacht nicht
als Probleme, die die Autonomie ihrer Problematik uneingeschränkt
und der Dynamik ihres Sinnes gemäß wahren. Dem charakteristi-
schen Gedanken der Antinomie, wie Kant ihn vertritt, hat Hegel
schon in den theologisch-historischen Fragmenten seiner Frühzeit
widersprochen; er hat an die Stelle des berühmten kantischen Gegen-
satzes von subjektiv-individueller Neigung und objektiv-allgemeiner
Pflicht ihre Vereinigung durch die Liebe, wie sie durch Christus
verkörpert wird, zu setzen gesucht. Schon damals formuliert er in
seiner Polemik gegen Kant den Satz, die wahre „Moralität ist Auf-
hebung einer Trennung im Leben“. Es ist ihm seelisch unerträglich
und scheint ihm den Geboten der Logik zu widersprechen, daß die
moralische Gesinnung sich lediglich in einem Kampfe gegen wider-
strebende Triebe auszuwirken und zu erweisen vermöge. Alle Tren-
nung und Entgegensetzung, alle Zweiheit und Spannung sind nach
ihm in dem wahren Prinzip der Moralität überwunden und aufge-
hoben, in dem Prinzip der Liebe, das in seiner Totalität alle Wider-
sprüche und Disharmonien versöhnt. Die sittliche Freiheit rennt
nicht vergeblich oder nur in der Form einer unendlichen Über-
windung gegen Schranken, also gegen Triebe und Neigungen, gegen
die Liebe und die Sinnlichkeit an, sie erfaßt und verwirklicht viel-
mehr ein „Ideal der Einigkeit“, wo alle Entzweiung aufhört. „Die
Einigkeit des ganzen Menschen“ ist ihm mehr als eine regulative
Idee und Norm, sie ist ihm ein sicher zu erreichender Besitz, dessen
Erwerb durch die Freiheit des Geistes unbedingt gewährleistet ist.
In diesen Gedanken ist Hegel der Anwalt eines sittlich-religiösen
Harmonismus und Monismus, den wir auch bei einem anderen
Gegner Kants, bei Schleiermacher wiederfinden (vgl. Dilthey, Die
Jugendgeschichte Hegels).
Für Kant liegen natürlich auch die Probleme in dem Wesen der
Vernunft; auch für ihn sind sie durch deren Methodik gesetzlich
bedingt, aber bedingt als Probleme. Gerade wenn die Vernunft
sich um die Bewältigung ihrer höchsten Aufgabe müht, verstrickt
10
Einleitung
sie sich unweigerlich und mit innerer Notwendigkeit in Antinomien,
erzeugt sie eine Dialektik, besser ausgedrückt: bestätigt und bewährt
sie sich als Dialektik. Ist das tadelnswert ? Für Kant doch nur dann,
wenn diese dialektische Leistung mit dem unhaltbaren Anspruch
auftritt, positive Erkenntnis im Sinne der Naturwissenschaft zu
sein, und wenn dieser Anspruch gläubig hingenommen wird, so daß
er einem System der Metaphysik als Grundlage dient. Aber bei
einer vorurteilslosen und gerechten Würdigung dieser Dialektik, die
auf allen Betätigungsgebieten und in allen Funktionsweisen der Ver-
nunft zum Ausbruch gelangt, muß die Philosophie zu der Einsicht
kommen, daß die Dialektik kein Zeichen des Versagens und der
Unzulänglichkeit der Vernunft ist, sondern daß sie mittels der
Dialektik sich eben die überempirische Seite der Wirklichkeit, also
das Reich des Absoluten öffnet. Deshalb muß nach Kant die
Dialektik der Philosophie die Dialektik der Probleme nicht bloß
unberührt lassen und anerkennen, sondern sie muß diese Dialektik
vertiefen und in ihrer tragischen Herbheit gegenständlich machen,
in ihrer Antithetik aufzeigen und in der Sprache der Begriffe formu-
lieren. Sollte darin nicht der eigentliche Grund für jene Eigenart
des kantischen Kritizismus liegen, die gewöhnlich als ,,Dualismus“
bezeichnet und gerügt wird? Problem und Lösung gehören wohl
zusammen, aber nicht im Sinne einer Autorität der Lösung gegen-
über der Autonomie des Problems. Die Methode des Kritizismus
zwingt dazu, die Autonomie der Probleme nicht um der Autorität
der Lösungen willen herabzusetzen. Das „Problem“ ist und bleibt
eine autonome Bedingung der Erkenntnis und der Philosophie.
Der berühmte dialektische Gegensatz von Autonomie und Autori-
tät, der uns sonst gewöhnlich in der Sphäre der Sittlichkeit begegnet
und die Ethik beschäftigt, tritt uns somit in dem Begriff der Dialektik
selber und in dem verschiedenartigen Gebrauche, den die Philo-
sophie von diesem Begriffe macht, in bezeichnender Weise ent-
gegen. Geschieht das etwa deshalb, weil die Idee der Dialektik
überhaupt und ihre Verwendung in den philosophischen Systemen
aus einer letzten, nicht weiter ableitbaren und nicht weiter begründ-
baren sittlich-religiösen Einstellung des philosophischen Genius zur
Wirklichkeit stammen? Dem einen Typus erschließt und recht-
fertigt sich der Sinn der Wirklichkeit dann, wenn das Leben bei
aller Anerkennung seiner Spannungen doch als auf endgültige
Harmonie angelegt aufgefaßt werden kann. Dem anderen Typus
bleibt die Dialektik bis zu ihrer letzten Tiefe erhalten, und statt
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik JJ
der Harmonie ist die Tragik derjenige Wert, der hier das Dasein
und seinen Sinn beglaubigt. Der Versuch einer „Grundlegung“ der
Dialektik, den wir im Vorliegenden im Auge haben, führt bis zu der
Frage nach dem Ethos, aus dem die Dialektik stammt, und das
gemäß der Verschiedenheit seiner Eigenart in den einzelnen meta-
physischen Systemen auch in einer Verschiedenheit der Dialektik
zum Ausdruck kommt. Es mag genügen, hier auf die Frage nach
dem Ethos der Dialektik als solche hingewiesen zu haben. Ihre
eigentliche Behandlung hat an späterer Stelle zu erfolgen (vgl.
auch S. 45 ff., 53 ff.).
Jetzt handelt es sich erst um die grundsätzliche Forderung, daß
es nötig ist, die Dialektik im dialektischen Geiste zu denken und
sie restlos dialektisch zu verwenden. Von dieser Forderung aus darf
gesagt werden, daß Hegel zu schnell die unendliche Fruchtbarkeit
und Komplikation vereinfachte und verhärtete, die in der Idee der
Dialektik liegen. Er war, was von seinem engen Verhältnis zum
harmonisierenden Logismus aus allerdings begreiflich ist, ein zu eil-
fertiger Gegner der kantischen Idee von der ewigen Antinomik und der
großartigen Erneuerung und Vertretung des Antinomienbegriffs
durch Kant. So sehr seine Dialektik auch nach der Seite der Dyna-
mik neigt und dynamische Züge trägt, so durchbricht sie dennoch
die Schranken einer relativen Statik nicht entschieden genug. Diese
statiisierende Eindämmung der Dialektik macht sich in den zu stark
vereinheitlichenden Gesichtspunkten merkbar, unter die Hegel das
unendliche Kräftespiel der Geschichte und die zahllosen Aspekte
ihrer Gestalten bringt. Vereinfachende Zusammenfassungen in der
Form apriorischer Synthesen gehören zu den Bedingungen der
Philosophie und der Wissenschaft. Die Frage, wo die Grenze für
die Zulässigkeit solcher Vereinheitlichungen zu ziehen ist, wird sich
für jeden einzelnen Fall schwerlich von vornherein mit apodiktischer
Gewißheit beantworten lassen. Hier sind die äußerlichen Formu-
lierungen natürlich nicht das Entscheidende. Es kommt vielmehr
auf den Geist dieser Synthesen an. Und da wird der ausschlag-
gebende Gesichtspunkt darin bestehen, bei dem Erdenken und
bei der Aufstellung derartiger Synthesen zwei deutlich voneinander
unterschiedene und zu unterscheidende Typen zu beachten.
Der eine Typus der Synthese bekundet sich in der Tendenz, das
unentbehrliche logische Hilfsmittel der Vereinheitlichung für die
Absicht einer möglichst radikalen Lösung und damit zu einer Be-
seitigung der Probleme auszunutzen. Dieser Neigung folgen nicht
12
Einleitung
etwa nur die ausgesprochenen „Systematiker“, deren Systemsucht so
oft die überwiegende Schuld an der Vereinfachung und Entleerung,
an der Nivellierung und Verengung der Probleme beigemessen wird.
Denn was wir soeben in bezug auf die Notwendigkeit apriorischer
Synthesen andeuteten, das gilt mit nicht minderem Rechte auch
für die Notwendigkeit der Verwendung des Systemgedankens. Ist
doch im höchsten Sinne dieser Systemgedanke die eigentlich grund-
legende apriorische Synthese, ist er doch die Idee aller dieser Syn-
thesen überhaupt, die für jede philosophische Leistung schlechthin
unentbehrlich ist.
Wenn wir hier gegen Hegel, bei aller tiefen Anerkennung seiner
Größe als Dialektiker, dennoch den Vorwurf wagen, daß er die
urwüchsige Kraft der Dialektik nicht zu voller Entfaltung gelangen
ließ, sondern vorzeitig eingedämmt und harmonisiert habe, so erfolgt
jener Einwand also keineswegs im Hinblick auf seine vielleicht zu
leidenschaftliche Vorliebe für die Idee des Systems und auf die nicht
selten etwas harte Durchführung dieser Idee. Der Einwand besitzt
seinen Grund in der Erkenntnis, daß Hegel das Denkinstrument
der Dialektik im Dienste einer vor- und überdialektischen Grund-
überzeugung verwendet hat, die auf die innere Gewalt der Dialektik
und auf ihre ungehinderte Entladung allzu mildernd und ausgleichend
eingewirkt hat. Es ist schwer, das Wesen dieser Grundüberzeugung
mit einfachen Worten zu kennzeichnen, weil dadurch wieder in die
dünne Luft der Begriffe eine seelische und metaphysische Grund-
verhaltungsweise emporgehoben wird, die vor und jenseits aller Be-
grifflichkeit wirksam ist. Soll sie trotzdem in ihrem Charakter um-
schrieben werden, so wäre wohl am besten ein Ausdruck aus der
Erlebniswelt der Religion und aus der Gedankenwelt der Theologie
zu gebrauchen und von der Grundstimmung der Erlösungshoffnung
und der Erlösungsgewißheit als maßgebende Regulative für die Hegel-
sche Begriffsbildung zu sprechen. Wir werden im Verlauf unserer
Darlegungen bei der Erörterung des Wesens der Hegelschen Dialektik
noch mehrfach Gelegenheit nehmen, auf diese religiöse Grundstim-
mung des Philosophen unseren Blick zu werfen und der charakte-
ristischen Abschwächung zu gedenken, die durch diese Stimmung
der Freiheit der Dialektik und der Dialektik der Freiheit zuteil wird.
Die Harmonie in der Dialektik ist zu stark, als daß gegen sie die Dia-
lektik in der Vernunft aufkommen und ihre Autonomie durchsetzen
könnte. Das heißt: Hegel treibt die Vernunft nicht bis in die Höhe
eines letzten, heroischen und tragischen Wagnisses. Ihr Sieg bleibt
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik
13
trotz aller Spannungen und Konflikte, trotz aller Leidenschaften und
Widersprüche keinen Augenblick zweifelhaft; er ist kein Erfolg, der in
der Geschichte erst zu erstreiten ist, sondern eine, derGeschichte voraus-
liegende Sicherheit. Er ist kein Problem, sondern eine sichere Lösung.
Der andere Typus der Synthese läßt der Freiheit der Dialektik
vollen Spielraum. Nicht so, als ob er alle begrifflichen Vereinheit-
lichungen und alle klärenden systematischen Zusammenfassungen
überhaupt ablehne oder vermeide. Ohne sie kommt, wie wir schon
sagten, überhaupt keine Philosophie zustande. Würde dieser zweite
Typus, bewußt oder unbewußt, die für die Erkenntnis notwendigen
Synthesen geringschätzig außer acht lassen, so würde er in dem
lockeren Rahmen eines Spieles bleiben und für die Absichten und
Zwecke der Philosophie glattweg bedeutungslos sein. Auch er drängt
zur Erarbeitung vereinheitlichender begrifflicher Formen und
Formulierungen und zur Gewinnung eines logischen Schematismus
und einer systematisierenden Architektonik. Außerdem ist es
keineswegs so, als ob er hinter diesen Vereinheitlichungen ein Frage-
zeichen setzte und sie lediglich unter der Einschränkung eines Vor-
behaltes, eines Vielleicht aussprechen würde.
Denn die volle und reinliche Wahrung der Idee der Dialektik
hat mit einem Skeptizismus nichts gemein. Und es sei schon in
dieser „Einleitung“ betont, daß die vorliegende Arbeit, wenn sie
auch oder weil sie aus prinzipiellen und methodischen Gründen für
die entschlossene Aufrechterhaltung der Dialektik sich einsetzt, in
keiner Zeile als die Sonderart irgendeines Skeptizismus gemeint und
zu verstehen ist. Wir nehmen die Idee der Dialektik durchaus in
dem Sinne eines apodiktischen und positiv-konstruktiven Prinzips.
Ebenso wie von jedem Skeptizismus, so sind wir auch von jeder
Gattung des Fiktionalismus weltenweit entfernt. Skeptizismus und
Fiktionalismus sind Ausgeburten eines unhaltbaren und für die
Philosophie nicht minder als für das Leben schlechthin verhängnis-
vollen Relativismus. Sie sind logische und weltanschauliche Halb-
heiten, ja Unmöglichkeiten. Unsere ganze Arbeit will einen Be-
leg für die positiv-konstruktive und autonom-apodik-
tische Geltung der regulativen Idee der Dialektik dar-
bieten. Es wird aus zahlreichen Stellen hervorgehen, wie diese
Behauptung gedacht und auf welche Weise sie gerechtfertigt ist.
Führen jedoch die Forderung eines dialektischen Gebrauches
der Dialektik und die strenge Wahrung der Freiheit ihrer Idee trotz
14
Einleitung
aller jener Ablehnungen des Skeptizismus, des Fiktionalismus und
des Relativismus nicht dennoch unaufhaltsam in die Gefahren
jener begrifflichen Zerweichung, die den soeben angegebenen und
abgelehnten Standpunkten zum Verderben gereicht? Wohin würde
— dieses Bedenken wird sich melden — das Denken geraten, wenn
es sich dem Strudel der Dialektik ohne Zurückhaltung und ohne
Bindung an die Festigkeit überdialektischer Begriffe hingeben
würde? Die Gefahren eines solchen, die begriffliche Systematik
auflösenden Gebrauches der Dialektik sind zu offenkundig, als daß
für uns auch nur von ferne die Möglichkeit bestünde, in diese Un-
tiefen zu geraten und einen logischen Schiffbruch zu erleiden. Die
Idee der Dialektik, diese sowohl als reale Macht und als Schick-
sal als auch als Leitprinzip für die metaphysische Gedankenbildung
verstanden, gilt uns, wie bereits im Eingänge dieser Betrachtungen
angedeutet wurde, als unmittelbarer Ausdruck und als
immanente Funktion der schöpferischen Kraft des Logos.
Indem wir sie so als den realen und als den ideellen Prozeß der Ent-
faltung des Logos auffassen, sind wir jedoch nicht bloß in einem
Lager, in dem kein Skeptizismus und kein Relativismus eine Stätte
haben, sondern wir sind mit der Anerkennung eines solchen „Dia-
lektizismus“ auch über den üblichen Gegensatz von Idealismus
und Realismus hinausgelangt. Wir gebrauchen hier mit anderen
Worten die Idee der Dialektik sowohl im ,,kritischen“, im heuristi-
schen und erkenntnisbegründenden Verstände, also so, wie Kant
den Begriff der Idee verstand und verwendet sehen wollte, als auch
im „ontologischen“, im realistischen und wirklichkeitsbegründenden
Sinne, also so wie die Ontologisten die Geltung der Idee dachten und
noch gebrauchen. Ein metaphysisches Prinzip ist niemals bloß seins-
begründet, sondern es ist selber ein Seiendes; es ist, schon indem
es vom Logos gedacht und als Logosfunktion angesehen wird, ein
Reales oder vielmehr: es ist ein Ideales und ein Reales zugleich, und
zwar kraft des Wesens des Logos, das die vollkommene Idealität
und die vollkommene Realität zugleich bedeutet.
Aber nicht jenes Merkmal unseres dialektischen Standpunktes,
nämlich der Umstand, daß in ihm der Gegensatz von idealistischer
und realistischer Erkenntnisweise und Wirklichkeitsauffassung über-
wunden, „aufgehoben“ ist, eine Synthese, die wir im folgenden
noch genauer ins Auge fassen werden, ist es, das uns gerade jetzt
beschäftigt. Wir müssen vielmehr noch den Sinn und das Recht
des zweiten Typus jener dialektischen Synthese erhellen, der sich
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik
15
von dem von Hegel vertretenen Typus abhebt. Allerdings abhebt
nicht in der Form, daß er jenen ersten Typ gänzlich ablehnt und
ausschließt, sondern so, daß er ihn als ein Teilmoment seiner
Dialektik umgreift. Auch der zweite Typus hält die Idee der systema-
tischen Einheit in Ehren, und zwar aus der Erkenntnis heraus, daß
ohne diese Idee eine Erkenntnis nicht möglich ist, daß ohne ihn jede
Erkenntnis schon in ihrem Ansatz ins Wesenlose zerflattert.
Aber wie ist dann dieser zweite Typus der Dialektik gemeint?
Auch er stiftet Einheit, aber weniger die Einheit abschließender
Lösungen, als vielmehr diejenige Einheit, die das Recht der Lösung
in der Tiefe des Problems entdeckt. Es ist das diejenige Einheit,
die nicht das Problem von seiner Lösung, auch nicht, was ebenso
einseitig wäre, die Lösung von dem Problem abhängig sein läßt,
sondern zwischen Problem und Lösung die Korrelation schöpfe-
rischer Dialektik ständig aufrechterhält. Bei Hegel ist das Problem
in der Lösung „aufgehoben“, bei den reinen Problemdenkern ist die
Lösung im Problem „aufgehoben“: Für uns erweist eine Lösung
nur dann ihr Recht, wenn sie problemschöpferisch ist,
und ein Problem besitzt für uns nur dann eine meta-
physische Berechtigung, wenn es aus dem strengen Geiste
systematischen Denkens hervorwächst, also kein Kind des
Einfalls oder des Zufalls ist. Man könnte sich veranlaßt sehen, von
einer Korrelation zwischen Problem und Lösung zu sprechen. Diese
Bezeichnung würde darum nicht ungeschickt sein, weil sie den Ge-
danken widerspiegelt, daß sowohl dem Problem als auch der
Lösung der Charakter logischer Autonomie eignet. Dennoch reicht
sie nicht ganz aus. Denn gemeint ist von uns nicht bloß diese
Doppelautonomie, die eine etwas statische Prägung hat, sondern
gemeint ist die merkwürdige Dialektik sowohl des Problems als auch
der Lösung, die darin besteht, daß das Problem zugleich Problem
und Lösung und die Lösung zugleich Lösung und Problem ist.
Beiden Ideen, derjenigen des Problems und derjenigen der Lösung,
soll dadurch in Klarheit Rechnung getragen werden, daß ihrer beider
Dialektik uneingeschränkt anerkannt wird und anerkannt bleibt.
Denn was würde anderenfalls aus der Dialektik, wenn der Primat
der einen Idee zugunsten der anderen Idee geschmälert oder gar
geopfert würde? Diese Dialektik hatten wir im Auge, als von dem
zweiten Typus der Idee der dialektischen Synthese die Rede war.
Auch dieser Typus wahrt die Idee der Harmonie; er verleugnet
ebenfalls nicht die einheitsstiftende Kraft des Systems. Aber er
16
Einleitung
erkauft diese Einheit und Harmonie nicht auf Kosten der Idee des
Problems bzw. derjenigen der Lösung; er beeinträchtigt nicht die
unwiderlegbare dialektische Autonomie, die jeder dieser beiden
Ideen unabstreifbar zukommt. Er entwickelt nicht, wie das Hegel
tut, die Harmonie aus dem Ausgleich der Gegensätze und läßt nicht
die Gegensätze über jede endliche Lösung hinaus in eine endgültige
Erlösung einmünden. Der auch für ihn maßgeblich leitende
Harmoniegedanke ist selber in jedem Atemzuge Problem und Lösung
zugleich. Er bleibt demnach von der Fruchtbarkeit schöpferischer
Spannungen ununterbrochen erfüllt und bewegt. Es handelt sich
hier, wenn das Wort erlaubt ist, um einen sozusagen tragischen
Harmoniegedanken, um eine Harmonie ohne die Aussicht auf
lösende und erlösende Bewältigung aller Aufgaben, es handelt
sich um eine Harmonie, die in der Aussicht auf ewige Weiter-
führung des dialektischen Prozesses nach innen und nach außen sich
auswirkt.-----
Überschauen wir nun in einem zusammenfassenden Überblick
den hier vertretenen „Geist der Dialektik“, so gelangen wir zu
folgendem Ergebnis: Der auf den vorliegenden Blättern entwickelte
Standpunkt soll keine Sonderrichtung innerhalb einer allgemeinen
dialektischen Philosophie zum Ausdruck bringen und deshalb auch
in keinen Gegensatz zu einer bestimmten Einzelausprägung einer
solchen Philosophie treten. Grundlegend und maßgebend für die
Fundierung und für die systematische Durchführung unserer Ge-
danken ist vielmehr die Idee der Dialektik als solche. Wir
verstehen diese Idee in derjenigen Universalität ihres
metaphysischen Sinnes, die ihr zuerst durch Plato er-
rungen worden ist.
Demgemäß ist in unserem ganzen Zusammenhang die Dialektik
erstens aufgefaßt als theoretisches Regulativ für die Bildung der
Begriffe, die aus dem Quellgrund der Dialektik emporsteigen und
in ihrer Struktur wie in ihrer objektiven Geltung an das Prinzip
dialektischer Entfaltung gebunden bleiben. Doch darüber hinaus
wohnt der Dialektik zweitens eine praktisch-normative Bedeutung
inne. Das heißt: Die Dialektik besitzt die Kraft einer schöpferischen
und leitenden Norm für die Realität des Lebens. Alle Farben und
Figuren dieses Lebens, sein ganzes Werden und sein ganzer Wert
tragen die unaufhebbaren Züge schicksalshafter Dialektik und dialek-
tikerfüllten Schicksals. Wir können sagen: Die Dialektik gilt uns
1. Allgemeine Grundlegung der Dialektik der Metaphysik J7
als „bloße“ Idee und zugleich als reale Macht, als „Wahrheit“ und
zugleich als „Wirklichkeit“; wir fassen sie in einem idealistischen
und in einem realistischen Sinne auf. Unter den Denkern der Gegen-
wart hat, wenngleich von anderen Voraussetzungen ausgehend als
denen, die für unsere Darlegungen maßgebend sind, den Gedanken
der immanenten Wechselbeziehung von „Wahrheit“ und „Wirk-
lichkeit“ in gewissem Sinne auch Heinrich Maier in seinem Werke
„Wahrheit und Wirklichkeit“ mit eindringender systematischer Be-
gründung und durchgreifender Erhellung dargelegt.
Darf durch die Besonderheit unserer Auffassung der Gegensatz
von Idealismus und Realismus als überwunden angesehen werden,
so will unser Standpunkt, wie bereits weiter oben angedeutet wurde,
außerdem den Gegensatz von Rationalismus und Irrationalismus in
sich aufheben. Er will dadurch erkennen lassen, daß es sich auch
in diesem Falle um ein Wechselverhältnis zwischen zwei Gedanken-
richtungen handelt, das sowohl seiner Möglichkeit nach auf dem
Begriff der dialektischen Korrelation beruht als auch zur Aner-
kennung einer solchen Korrelation unweigerlich zwingt. Der Be-
griff des Rationalismus setzt den des Irrationalismus voraus und
umgekehrt, ebenso wie der Begriff des Idealismus ohne denjenigen
des Realismus und umgekehrt undenkbar und gegenstandslos ist. —
Dieser „Dialektizismus“ bedeutet demnach die gemeinsame und
übergreifende Voraussetzung für alle Mannigfaltigkeiten des Denkens.
Aus dieser Voraussetzung gehen infolge einer erst späteren Differen-
zierung die verschiedenen philosophischen Standpunkte in ihrer
Einzelheit und Vereinzelung hervor; sie können aus jener Voraus-
setzung ohne große Mühe abgeleitet werden. Für sie alle hat der
Begriff der Dialektik die Geltung des Apriori. Die Kraft dieser
Gemeinsamkeit gibt dem Dialektizismus schließlich auch die Mög-
lichkeit und die sachliche Berechtigung, allen jenen Mannigfaltig-
keiten als synthetischer Überbau zu dienen.
Wollten wir nun den tiefsten Grund für die dialektische Zu-
sammengehörigkeit jener Gegensatzpaare und für die Gesetzlich-
keit in der Polarität ihrer Beziehungen angeben, so müßten wir auf
dieschöpf erische Urkraft des Logos verweisen. Einenanderen
Grund kann die Metaphysik der Dialektik nicht aufdecken. Wir
werden im Verlaufe unserer Darlegungen noch eine ganze Reihe von
Sonderfunktionen, Spielarten, Verzweigungen dieser Urkraft kennen-
lernen und in unserer Phänomenologie der Dialektik noch mannig-
Liebert, Dialektik. 2
18
Einleitung
fache Bilder von dieser schöpferischen Betätigung des Logos zeichnen.
Aber etwas grundsätzlich anderes auszusagen, als daß sein Wesen
und sein Sinn sich in dem konstruktiven Spiel der Dialektik bewegt
und darstellt, vermögen wir nicht. Aus jener schöpferischen Ur-
kraft wachsen in immer erneuter Gegensätzlichkeit die polaren
Strömungen des Lebens hervor. Sie bedingt in gleicher Weise die
ewige Dialektik der Erkenntnis. Es ist nun die Aufgabe der Meta-
physik, in ihrem erkenntnistheoretischen Teil diese Dialektik des
Wissens und in ihrem geschichtsphilosophischen Teil jene Dialektik
des Lebens zu verstehen und zu entwickeln.
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie.
Nach der Kennzeichnung des allgemeinen Prinzips, das die
Grundlegung und Systematik des hier vertretenen Standpunktes
gewährleistet, entsteht nun als nächste Frage die Überlegung, wie
und wo dieses Prinzip der Dialektik seine erste und
nächste Objektivation vollzieht. Denn schließlich offen-
baren sich die Eigenart und der Wert eines metaphysischen Prin-
zips am deutlichsten und am überzeugendsten da, wo es sich in
unmittelbare Wirksamkeit umsetzt, wo es Gestalt annimmt. Wir
gelangen damit zu dem zweiten Teile unserer Arbeit, der die
dialektische Geschichtsphilosophie enthält.
Der nächste und unmittelbare Schauplatz für die reale schick-
salshafte Tätigkeit der Dialektik ist nämlich der Prozeß des ge-
schichtlichen Lebens in der ganzen Fülle seiner Begebenheiten und
Einrichtungen, in dem Gewimmel seiner Menschen und aller ihrer
Pläne und Leistungen, in dem Wechsel ihres Glückes und Unglückes,
in ihren Erfolgen und ihren Niederlagen und in allen den Para-
doxien ihrer Größe und ihrer Kleinheit. Das zeigt jede Stufe inner-
halb einer phänomenologischen und konstruktiven Metaphysik, die
den Logos in seiner Dialektik zu beleuchten sucht. Auf Schritt
und Tritt führt sie zu der Erkenntnis, die wir soeben ausgesprochen
haben, aber absichtlich wiederholen, daß die geschichtlich-gesell-
schaftliche Wirklichkeit jene erste objektive Entfaltung innerhalb
der Selbstverwirklichung des dialektischen Geistes verkörpert.
Dieser Punkt wird uns in dem zweiten Bande, der der Darstellung
der Entwicklung der Dialektik in der Geistigkeit der Geschichte
gewidmet ist, ausführlich beschäftigen. Er wird den Nachweis dafür
zu erbringen suchen, daß und weshalb nicht die Wirklichkeit der
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
19
Natur als die erste objektive Stufe in der realen Selbstbestimmung
der Dialektik anzusehen ist, und weshalb die Metaphysik der Natur
nicht der Metaphysik der Geschichte in einem System der Dialektik
vorangehen kann. Die ,,Natur“ stellt eine viel spätere und dem
Kern schon fernerliegende Objektivationsart des Geistes dar als das
geschichtlich-gesellschaftliche Leben. Der theoretische Niederschlag
derjenigen Bemühungen, die auf die Erfassung der Dialektik des
Geistes innerhalb seiner geschichtlichen Auswirkung abzielen, sind
die Geisteswissenschaften. In ihnen und durch sie spricht sich
logisch und erkenntnismäßig die Dialektik in der ihrem Wesen
nächstliegenden Form aus. Aus diesem Grunde läßt sich diese
Dialektik auch an der Struktur der Geisteswissenschaften unmittel-
barer ins Auge fassen und studieren, als das bei den Naturwissen-
schaften der Fall ist.
Diese Bemerkungen sollen in keiner Weise eine Bewertung dieser
beiden Wissenschaftsgruppen und in keiner Weise die Höher-
schätzung der einen Gruppe gegenüber der anderen aussprechen.
Es kann für die Naturwissenschaften sogar ein Moment des Vor-
zuges damit gegeben sein, daß ihre Erkenntnisform in eine größere
Entfernung zur Dialektik getreten ist, worüber wir jetzt noch nichts
ausmachen wollen. Wichtig werden unsere Bemerkungen erst dann
werden, wenn wir der Frage der systematischen Gliederung der
Wissenschaften uns nähern. Das Prinzip für eine solche Gliederung,
und ohne ein solches Prinzip ist eine Gliederung nicht möglich, ist
die Idee der Entfaltung der Dialektik. Und die Stelle, die im
System der Wissenschaften eine bestimmte Wissenschaft einnimmt,
ist durch die Stufe charakterisiert, durch die eine Wissenschaft
eine bestimmte Stelle in der Dialektik verkörpert.
In dem vorliegenden Zusammenhang erscheint es zweckmäßig,
mit einigen grundsätzlich gemeinten Strichen anzudeuten, weshalb
auf den ersten Band, der die ,,Grundlegung der Dialektik“ ent-
hält, derjenige Band folgen wird, der ein Bild der dialektischen
Geschichtsphilosophie zu entwerfen sucht. —
Die ungeheure Entwicklung der historischen Wissenschaften im
neunzehnten Jahrhundert hat immer mehr den Blick dafür ge-
öffnet und uns in dem Verständnis gefördert, daß der Mensch nicht
bloß ein Lebewesen im Sinne der Naturwissenschaften, besonders
der Biologie ist. Vielmehr hat sie uns darüber aufgeklärt, daß der
Boden und die geistige Luft der geschichtlichen Welt seine eigent-
2*
20
Einleitung
liehe, d. h. seine geistige Heimat darstellen, und daß die Gesetze
und Mächte der geschichtlichen Wirklichkeit von nicht geringerem
Gewichte für das Sein und Werden des Menschen sind als die Gesetze
der Naturwirklichkeit. Wie aber diese Erkenntnis aus den histo-
rischen Wissenschaften hervorgegangen ist, so hat sie auch umge-
kehrt eine immer mehr sich vertiefende Beachtung und Pflege dieser
Wissenschaften gezeitigt. Man darf sagen, daß wir auch von Seiten
der Wissenschaft her und durch ihre Vermittlung in eine inten-
sivere Vertrautheit mit der geschichtlichen Welt gelangt sind, als
frühere Zeiten und Geschlechter aufzuweisen haben. Es gibt wohl kein
deutlicheres Anzeichen und keinen stärkeren Beleg für diese enge
Verschlungenheiten des Menschen der Gegenwart mit den Bezügen
der Geschichte als der Umstand, daß uns die geschichtliche Welt
im großen und im kleinen zum „Problem“ geworden ist. Unsere
tiefsten Nöte und Sorgen beziehen sich auf die Bewältigung dieses
Problems, so z. B. auf die Frage nach dem Recht der Tradition,
auf die Frage nach der Anhänglichkeit gegenüber der geschicht-
lichen Vergangenheit, auf die Frage nach der Geltung der geschicht-
lichen Einrichtungen, nach dem Einfluß, den sie berechtigtermaßen
auf uns ausüben dürfen, nach ihrem Gehalt an Sittlichkeit usw.
Es gehört zu den schwierigsten und ernstesten Problemen der Ge-
schichte, daß wir in eine Überlegung darüber eingetreten sind, ob
und in welchem Umfange wir ihr verpflichtet sind und ihrer Macht
uns hingeben sollen, oder ob jene Autorität, die sie in sich trägt,
und deren Anerkennung sie fordert, nicht in einem bedrohlichen
Wettstreit mit jener Freiheit und Autonomie steht, die wir als sitt-
liche Persönlichkeit in uns tragen, und die zu den unaufgebbaren
Bedingungen unserer geistigen Existenz ebensogut gehört wie unsere
zweifellose Verbundenheit mit den Wirkungszusammenhängen der
Geschichte.
Dieses gehalt- und eindrucksvolle Hervortreten gerade der
historischen Wissenschaften bietet nun die Voraussetzung und die
Veranlassung für die außerordentlich aussichtsreiche und deshalb
unbedingt gebotene Verbindung zwischen ihnen und der Philosophie.
Ein Vorgang, dem ähnlich und vergleichbar, der im siebzehnten
und achtzehnten Jahrhundert die fruchtbare Beziehung zwischen
der Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften auf
der einen Seite und einer mathematisch und naturwissenschaftlich
begründeten und entsprechend orientierten Philosophie auf der an-
deren entstehen ließ. Was nun die historischen Wissenschaften,
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
21
z. B. die klassische Philologie, die Literatur- und Kunstwissenschaft
in ihren verschiedenen Zweigen, die Wissenschaften vom Recht und
vom Staat, von der Wirtschaft und der Technik, der Religion und
dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben, sowohl in formaler und
methodischer Hinsicht als auch in inhaltlicher Beziehung zutage
gefördert haben, das kann und darf die Philosophie auf keinen Fall
außer acht lassen, sobald sie sich wieder auf ihre metaphysischen
Aufgaben und Pflichten besinnt und eine allgemeine, nicht bloß die
Naturwirklichkeit berücksichtigende metaphysische Deutung des ge-
samten Lebens in Angriff nimmt. Stets hat eine im wissenschaft-
lichen Geiste betriebene Metaphysik in einer engen und ergebnis-
reichen Verbindung mit den konkreten und positiven Wissenschaften
gestanden. Diese Verbindung bildet geradezu eines der Kennzeichen
für die Wissenschaftlichkeit der Metaphysik. Und wir wollen niemals
übersehen, daß jeder Klassiker der Philosophie in einem ganz nahen
Verhältnis zu einer bestimmten positiven Wissenschaft stand und
diese als eine der inhaltlichen Voraussetzungen für seine Systematik
verwendete. Nicht in letzter Linie besitzt die Metaphysik in dieser
Beziehung ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber allem Dilettan-
tismus und aller nur aus Liebhabereien hervorgehenden Beschäf-
tigung mit der Metaphysik.
Solange Mathematik und Naturwissenschaften sich sowohl in
ihrer Ausbildung als auch in bezug auf ihr Ansehen in dem unbe-
strittenen Besitz wissenschaftlicher Alleinherrschaft befanden und
sozusagen den Geist der Wissenschaftlichkeit konkurrenzlos ver-
körperten, war es ebenso natürlich wie geboten, daß die Metaphysik
sich vornehmlich auf jene Wissenschaften bezog und unter Inan-
spruchnahme ihrer Hälfe ein Weltbild von mathematisch-natur-
wissenschaftlicher Prägung aufbaute. Wie im Mittelalter keine
Frage darüber aufkommen konnte, ob noch neben der Theologie
eine andere Wissenschaft zur Verwendung in philosophischer Hinsicht
in Betracht zu ziehen wäre, so galt es während der Aufklärung als
selbstverständlich und unabweisbar, daß in erster Linie Mathematik
und mathematische Naturwissenschaften für die Zwecke der Philo-
sophie heranzuziehen seien. Die Geschichte der Philosophie wird
zu einem Hauptteil durch das Verhältnis bestimmt, in welchem die
Metaphysik eine bestimmte positive Wissenschaft benutzt. Der
Wandel In diesem Verhältnis führt auch zu einer Abwandlung in
der Geschichte der Philosophie, wenngleich diese Abwandlung natür-
lich nicht ausschließlich von dem Charakter dieses Verhältnisses
22
Einleitung
abhängig ist. Denn auf die Entwicklung der philosophischen Arbeit
wirken der Motive viele ein, gleich wie auch das System der Philo-
sophie auf einer Vielheit verschiedenartigster Bedingungen und Trieb-
kräfte beruht. Zu solchen Bedingungen gehören Beweggründe per-
sönlicher Natur, die aus der seelischen und moralischen Eigenart
des betreffenden Philosophen, aus seinem Lebenstemperament, seiner
Gemütsverfassung und Begabung, seinen wissenschaftlichen und
künstlerischen Neigungen, der Richtung und Qualität seiner Kennt-
nisse, seiner Stellung zur Religion usw. stammen. Das aber ist nur
eine Gruppe von Voraussetzungen, die durch eine biographische
und psychologische Betrachtung aufzudecken sind. Zu ihr kommt
ein Kreis von Bedingungen, die aus der inneren Bewegung der philo-
sophischen Begriffsbildung und aus der geschichtlichen Entfaltung
der Philosophie hervorgehen, Voraussetzungen, die sozusagen nur
dem Geiste der Philosophie selber angehören. Da jedoch die Philo-
sophie in vielseitiger Wechselbeziehung zu dem allgemeinen geistig-
geschichtlichen Leben steht, so ist es unausbleiblich, daß auf sie
auch von dieser Seite her bestimmte Wirkungen einfließen. Zu
diesen Einwirkungen sind auch die Einflüsse zu zählen, die ihr durch
die positiven Wissenschaften als Glied der objektiven Kultur in sehr
verschiedenem Grade zuteil werden.
Wie sich nun das Verhältnis zwischen der Metaphysik und den
mathematischen Naturwissenschaften gestalten wird, seitdem über
dieses Erkenntnisgebiet eine Art von Krisis hereingebrochen ist,
oder seitdem es wenigstens in das Stadium eines Wandels hineinkam,
der sogar ihre bis dahin als unerschütterlich angesehenen Grund-
lagen ergriffen hat, das läßt sich nicht Voraussagen. Besonders
schwierig, wenn nicht unmöglich ist es, schon jetzt zu bestimmen
oder auch nur zu erörtern, ob jener Wandel in den genannten Wissen-
schaften wirklich einen solchen fundamentalen Umbau schon des
Grundstockes der Metaphysik nötig macht, wie das von mancher
Seite prophezeit wird. Vielleicht wird doch hier und da die Trag-
weite jener Krisis bezüglich ihrer Einwirkung auf die Metaphysik
überschätzt. Doch Erwägungen in dieser Richtung gehören nicht
in den Zusammenhang, der uns im Augenblicke beschäftigt.
Für uns steht jetzt im Mittelpunkte unserer Überlegungen die
Frage nach der Beziehung zwischen der Metaphysik und den Geistes-
wissenschaften. Wir wiesen schon oben darauf hin, daß die blühende
und glänzende Ausbildung, zu der diese Wissenschaften etwa seit
dem ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts gelangt sind,
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
23
ihre Berücksichtigung durch die Philosophie nicht bloß als nahe-
liegend, sondern geradezu als ein Gebot erscheinen läßt. Die Folge
einer solchen Beachtung sowohl des Geistes, aus dem heraus die
Methoden dieser Wissenschaften erwachsen, als auch ihrer inhalt-
lichen Ergebnisse wird die Gewinnung einer Geschichtsphilosophie
sein, die bei aller Verwandtschaft mit der spekulativen Geschichtsmeta-
physik des deutschen Idealismus doch von derselben in mehr als einer
Richtung abweicht. Alois Riehl hat einmal den treffenden Ausspruch
getan, daß sich die Wissenschaften wandeln, und daß sich mit ihnen
auch die Philosophie wandelt. Wie reich ist besonders die Entwicklung
auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften, und wie anders muß dem-
nach eine Geschichtsphilosophie aussehen, die diese Entwicklung in
Rechnung zieht und deshalb von der alten Spekulation abweicht.
Die Tatsache und die Forderung einer solchen Beziehung zwischen
Philosophie und historischen Wissenschaften sind also an sich nicht
neu. Wir betrachten die spekulative Geschichtsphilosophie in
mancher Hinsicht als Vorgängerin und in gewissem Sinne auch
als Vorbild. Denn sowohl Fichte als besonders Hegel haben ihre
Philosophie der Geschichte unter Zugrundelegung und intensiver
Heranziehung ihrer geschichtlichen Studien aufgebaut. Zwar pflegt
der Umfang dieser Studien nicht selten unterschätzt zu werden.
Das Maß der historischen Bildung und die Kraft des geschichtlichen
Bewußtseins jener Denker sind jedoch nicht gering zu veranschlagen.
Es ist keineswegs so, daß sie sich in einseitiger Weise und in einem
blinden Draufgängertum der Verlockung durch apriorische Kon-
struktionen ausschließlich hingegeben hätten und für den Stoff der
Geschichte im wesentlichen voller Geringschätzung gewesen seien.
Aber als Philosophen, als Metaphysiker hatten sie natürlich zu
diesem Stoff ein anderes Verhältnis als der Historiker. Wir können
nicht umhin, das Recht zu zwei selbständigen Auffassungen und
Behandlungsarten dieses Stoffes anzuerkennen. Die Art dieser Be-
trachtungsformen bildet begreiflicherweise einen Gegenstand in dem
betreffenden Kapitel des zweiten Bandes. In dieser „Einleitung“
wollen wir nur allgemein darauf hinweisen, daß wir dem Vorbild
jener konstruktiven Geschichtsphilosophen insofern folgen, als wir
gleich ihnen den Mut zu einer metaphysischen Deutung der geschicht-
lichen Wirklichkeit aufbringen möchten. —
Die Zeiten, die zwischen der Gegenwart und jenen Jahren liegen,
in denen die machtvollen Bauten der idealistischen Geschichts-
24
Einleitung
konstruktion geschaffen wurden, können, wie gesagt, für die philo-
sophische Arbeit so wenig fruchtlos geblieben sein, wie sie es für
die Ausbildung der historischen Wissenschaften tatsächlich waren.
In der Zwischenzeit sind nun die metaphysischen Systeme von
Lotze, Fechner, Eduard von Hartmann und von der Seite des Neu-
kantianismus dasjenige Cohens hervorgetreten, um von anderen
minderbedeutsamen metaphysischen Gedankenbildungen im Augen-
blick nicht zu sprechen. Aber diese metaphysischen Systeme sind
in der Hauptsache noch immer von der Mathematik oder von den
Naturwissenschaften abhängig, etwa von der Physik oder von der
Entwicklungslehre und von der Biologie. Und vielleicht ist in diesem
Umstand der Grund dafür gegeben, daß die Geschichte der Meta-
physik allen jenen Systemen keinen eigentlichen Fortschritt ver-
dankt, daß sie durch diese Systeme im Prinzip nicht über denjenigen
Standpunkt hinausgewachsen ist, der seit den Tagen von Leibniz von
unserer klassischen Philosophie bereits gewonnen war. Wilhelm
Windelband hat den eigentümlichen Wert der genannten Systeme
dadurch ausgezeichnet charakterisiert, daß er in ihnen Belege des
Eklektizismus erblickte, ohne durch diese Bezeichnung ihren Gehalt
herabsetzen zu wollen.
Bei einem universellen Blick auf das Große und Ganze und unter
Absehung von dem in metaphysischer Hinsicht nicht allzu gewich-
tigen Vorstoß von Ludwig Feuerbach, sind nur zwei Versuche mit
besonderer Betonung zu berücksichtigen, die von der Grundlage
der historischen Wissenschaften aus eine Deutung der geschichtlich-
gesellschaftlichen Welt vollziehen, die Leistungen von Friedrich
Nietzsche und Wilhelm Dilthey. Und es wäre eine reizvolle und
lohnende Aufgabe, den Beziehungen nachzugehen, in denen Nietz-
sches bzw. Diltheys systematische Arbeiten auf dem Gebiete der
Philosophie zu denjenigen konkreten Geisteswissenschaften stehen,
die ihnen im besonderen Ausmaße vertraut waren. Daß beide Denker
zu den Schöpfern der so wichtig gewordenen geisteswissenschaft-
lichen Psychologie gehören und unter Verwendung derjenigen Ge-
sichtspunkte, die für diese Psychologie charakteristisch sind, eine
eigentümliche Auffassung vom Werden und Gehalt der geschicht-
lichen Welt vor uns ausbreiten, das ist ohne ihre enge Beziehung zur
klassischen Philologie nicht denkbar. Hier beobachteten sie den
Gebrauch von Gedankenformen, von geistigen ,,Gestalten“, von
geschichtlichen Einheitsbildern, die nach Form und Inhalt grund-
sätzlich abweichen von denjenigen kategorialen Formungen der Er-
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
25
kenntnis, die eine mehr naturwissenschaftlich gegründete und im
naturwissenschaftlichen Verstände aufgebaute Philosophie den
Naturwissenschaften zu entnehmen vermag. Die so oft aufge-
stellte, in ihrem Recht jedoch so oft bestrittene Unterscheidung
von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft bzw. Kulturwissen-
schaft tritt uns auch in der Auseinanderhaltung von zwei Typen
philosophischer Systematik entgegen, in der Gegenüberstellung des
naturwissenschaftlichen und des geisteswissenschaftlichen Typus des
philosophischen Denkens. Während aber für den erstgenannten
Typus die Art seiner Abhängigkeit von der Methodik und dem
ganzen Gefüge der Naturwissenschaften bereits in eingehenden
Untersuchungen aufgedeckt ist, z. B. bei Descartes, bei Hobbes,
bei Leibniz, auch bei Kant, fehlen uns entsprechende Forschungen
für den zweiten Typus. Ohne Zweifel würden sie den entscheidenden
Anteil beleuchten, den die modernen Geisteswissenschaften auf die
Ausbildung einer bedeutenden Form philosophischer Weltinter-
pretation ausgeübt haben. —
Die Entstehung der modernen Philosophie im Zeitalter der aus-
gehenden Renaissance wird mit gutem Grund mit der Entstehung
der modernen mathematischen und exakten Naturwissenschaften
in Zusammenhang gebracht. Der neue naturwissenschaftliche Typus
des Denkens unterschied sich eben dadurch von der mittelalterlichen
Art des Philosophierens, daß dieser Philosophie eine „Geisteswissen-
schaft“ in der Gestalt der Theologie zugrunde lag. Wenn sowohl
Francis Bacon als auch Descartes die Scholastik anklagten und
geringschätzten, weil sie in leeren Begriffsstreitigkeiten und in einem
gehaltlosen Formalismus steckengeblieben sei, und wenn sie im
Gegensatz dazu eine Form der Erkenntnis forderten und als Me-
thode darzustellen suchten, die den Menschen in den Stand setze,
die Wirklichkeit der Natur zu erfassen und ihrer in theoretischer
und in praktischer Hinsicht tatsächlich Herr zu werden, so prägt
sich in derTiefe der Ablehnung der Scholastik der Kampf gegen eine
Geisteswissenschaft aus. Der oft hörbare und nicht immer be-
gründete Tadel von seiten einzelner Vertreter der Naturwissen-
schaften über eine gewisse Anmaßlichkeit der spekulativen Philo-
sophie, die nur sich als wahre und eigentliche Wissenschaft gelten
lassen wolle und auf die konkreten Wissenschaften, zumal auf die
Naturwissenschaften, mit einer verletzenden Überheblichkeit herab-
blicke, kann auch im Namen der Geisteswissenschaften in be-
stimmten Fällen gegen die Naturwissenschaften ausgesprochen wer-
26
Einleitung
den. Der Stolz der exakten Naturwissenschaften hat eine nur zu
berechtigte Grundlage. War es während des siebzehnten und acht-
zehnten Jahrhunderts jedoch vollauf verständlich, daß jene Wissen-
schaften sich als die einzig legitimen Repräsentanten des Geistes
strengster objektiver Erkenntnis betrachteten, so hat sich das Bild
nunmehr in nicht geringem Grade gewandelt. Die tiefe Reform-
bedürftigkeit der Mathematik und der mathematischen Natur-
wissenschaften, von der uns angesehene Naturwissenschaftler eine
so eindringliche Mitteilung geben, hat die Wertschätzung der
Geisteswissenschaften um nicht wenige Striche in die Höhe gehoben.
Nunmehr wird auch diesen Wissenschaften die Berechtigung zur Ver-
tretung des Wissenschaftsbegriffs zuerkannt; außerdem klärt sich mit
zunehmender Entschiedenheit das Anrecht auch der Geisteswissen-
schaften darauf wieder, zur Grundlegung der Philosophie ihren
Beitrag beizusteuern, wie sie das schon einmal im Mittelalter getan
haben. Und sollte nicht die verständnisvolle Würdigung, die seit
einiger Zeit, dank der Bemühungen von Hertling, Baeumker und
anderen katholischen Erforschern der mittelalterlichen Philosophie,
der Scholastik zuteil wird, in einem einleuchtenden Zusammenhänge
mit der Erkenntnis desjenigen Wertes stehen, den die Geisteswissen-
schaften für die Substruktion und für den Autbau einer philo-
sophischen Systematik haben? Verhehlen wir es uns nicht: Zwischen
der Naturwissenschaft auf der einen Seite und der Kulturwissen-
schaft auf der anderen herrscht eine gewisse Rivalität. Diese Rivali-
tät tritt in einer Doppelform ans Licht. Einmal neigt jede Wissen-
schaftsgruppe aus einer Art von natürlichem Selbsterhaltungstriebe
dahin, für sich den Wissenschaftsprimat in Anspruch zu nehmen. Als
wenn sie eigentlich und ausschließlich alle diejenigen Forderungen
restlos erfülle und allein zu erfüllen imstande sei, die an den Begriff der
Erkenntnis gestellt werden können, die in ihm liegen, und die eine
„wahre Wissenschaft“ erfüllen müsse. Andererseits tritt diese Rivali-
tät in dem Wunsche und in dem Rechte zutage, über dieses theoretische
Primat hinaus ein überlegenes Ansehen in bezug auf ihre praktische
Bedeutung einzuernten und zu genießen. Was diese praktische Bedeu-
tung anlangt, so handelt es sich, von ganz banalen Auswertungen ab-
gesehen, um diejenige Wichtigkeit, die eine der beiden Gruppen der
positiven Wissenschaften für die Entwicklung einer umfassenden Welt-
anschauung und Lebensdeutung zu besitzen bzw. zu gewinnen vermag.
Damit ist die so ungemein anregende Frage nach der Leistungs-
fähigkeit der positiven Wissenschaften für die Philosophie aufge-
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
27
worfen, eine Frage, deren Behandlung unter den verschiedensten
Gesichtspunkten zu den Aufgaben unserer späteren Darlegungen
gehört. In der „Geschichtsphilosophie“ werden wir, gewollt oder
ungewollt, mittelbar oder unmittelbar, diesen Einfluß berühren.
Doch wollen wir schon hier das programmatische Bekenntnis ab-
legen, daß eine Geschichtsphilosophie eine leere Kombination von
Gedankenspielereien bleibt, wenn die ununterbrochene Bezugnahme
auf die historischen Wissenschaften, auf ihre Form und auf ihren
Gehalt, auf ihren Begriff und auf ihre Ergebnisse mangelt. Zwischen
den Zeilen der positiven Geschichtsforschung ist oft eine sehr deut-
liche Geschichtsphilosophie zu lesen, deren Herausarbeitung in der
Form begrifflicher Klärung eine nicht nebensächliche Aufgabe der
fachlichen Geschichtsphilosophie darstellt.
Mit diesem Hinweise stoßen wir bereits auf eine Beziehung von
sozusagen umgekehrter Art zwischen den Geisteswissenschaften und
der Geschichtsphilosophie. Wir deuteten oben an, daß die Philo-
sophie der Geschichte den historischen Wissenschaften zu Dank
verpflichtet wäre, weil sie ihr für ihre Begründung und Entfaltung
mannigfache und unentbehrliche Hilfe in formal-methodischer und
in inhaltlich-gegenständlicher Beziehung leiste. Nun aber sahen wir
soeben, daß auch die historischen Wissenschaften aus der Geschichts-
philosophie einen ihnen wesentlichen Nutzen ziehen können und tat-
sächlich auch ziehen. Denn die Philosophie der Geschichte klärt in
bewußter und beabsichtigter begrifflicher Gestaltung jene Wissen-
schaften über den weltanschaulichen Sinn auf, den sie, nicht selten
ohne es zu wollen und zu wissen, ausdrücken und dem sie dienen. Gewiß
befindet sich auch in dieser Richtung die Geschichtsphilosophie in
einer gewissen Abhängigkeit von den Geisteswissenschaften, die für
sie ebenso unvermeidlich wie fruchtbar ist. Denn wie könnte eine
Geschichtsphilosophie ein Weltbild von objektiver Zuverlässigkeit
und sachlicher Berechtigung entwickeln ohne die Inanspruchnahme
der positiven Wissenschaften des geschichtlichen Lebens?
In der Welt beruhen jedoch alle Dankverhältnisse auf einer
Wechselseitigkeit. Das gilt auch für die Beziehung zwischen der
Geschichtsphilosophie und den positiven historischen Wissen-
schaften. Die Richtigkeit dieser Behauptung bekundet sich nach
einer anderen Seite, die wir mit ausdrücklicher Betonung jetzt
unterstreichen müssen, weil sie für die konkreten Geisteswissen-
schaften von nicht geringerer Bedeutung als für die Geschichts-
philosophie ist. Die historischen Wissenschaften sind für die Ge-
28
Einleitung
Schichtsphilosophie darum schlechthin unentbehrlich, weil sie der
letzteren das Material für die Entwicklung einer Weltanschauung
und Metaphysik zur Verfügung stellen. Aber sie liefern für die
Geschichtsphilosophie ein Material noch nach einer anderen Rich-
tung. Nicht nur das, was von ihnen in inhaltlicher Beziehung ge-
boten wird, wenn sie uns eine Erkenntnis der geschichtlichen Wirk-
lichkeit schenken, bildet ein Material für die Geschichtsphilosophie,
sie sind für dieselbe auch insofern ein unentbehrlicher Gegenstand,
als an ihnen und für sie die Philosophie ihre erkenntnis-
theoretische Aufgabe zu erfüllen hat. Indem die Philosophie
die Erledigung dieser Pflicht übernimmt, klärt sie die konkreten
Geisteswissenschaften weniger über das auf, was diese Wissenschaften
uns in inhaltlicher Hinsicht über die „historische Wirklichkeit“ zu
erkennen geben, sondern sie klärt sie über die formalen und methodi-
schen Bedingungen auf, mittels deren sie, diese Geisteswissen-
schaften, eine Erkenntnis dieser geschichtlichen Wirklichkeit er-
arbeiten.
Wir stehen damit vor der Aufgabe, die man als „Grundlegung“
der historischen Wissenschaften, als „Kritik der historischen Ver-
nunft“, als „Transzendentallogik der Erkenntnis der Kultur“, mit
der besten Formulierung wohl als „Kategorienlehre der historischen
Wahrheit“ bezeichnet hat. Die reiche Ausbildung der Geistes-
wissenschaften ebenso wie die der Philosophie seit den Tagen Platos ur-
eigene, z. B. in dem Dialog „Theaitetos“, ausdrücklich formulierte
erkenntnistheoretische Aufgabe weisen zur Übernahme dieser Arbeit
hin, in deren Mitte wir uns jetzt befinden. Welch ein reiches For-
schungsgebiet hat sich in dieser Beziehung vor der Geschichts-
philosophie aufgetan. Soweit ich sehe, ist das Thema einer solchen
Erkenntnistheorie zuerst durch die spekulative Geschichtsphilo-
sophie angeschlagen worden. Emil Lask hat in einer scharfsinnigen
Untersuchung in Fichte denjenigen Denker entdecken wollen, der
dieses Thema sich gestellt habe. Ferner finden sich bereits bei Hegel,
wie sich unschwer zeigen ließe, weitgediehene Ansätze zu einer
Kritik der historischen Wissenschaften. Doch bei beiden Denkern
scheint mir die materiale Geschichtsphilosophie noch nicht streng
genug von der formalen Geschichtsmethodologie abgelöst zu sein.
Kein Zweifel, daß diese beiden Grunddisziplinen des Systems der
Geschichtsphilosophie wechselseitig aufeinander bezogen sind und
zusammengehören. Aber um die Kraft und den Charakter der
zwischen ihnen hin- und herlaufenden Fäden ermessen und um ihre
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
29
Einheit verstehen zu können, müssen sie auf zwei verschiedene
Bereiche der Untersuchung verteilt, muß jede dieser Disziplinen in
ihrer Eigenart und in der Kompetenz ihrer Geltung klargestellt
werden.
Ein besonders wichtiger und mehr als interessanter Gegenstand
der Überlegung wäre die Erörterung, ob überhaupt, und dann in
welchem Sinne und in welchem Ausmaße die von Kant ins Leben
gerufene Transzendentalkritik der Aufgabe einer solchen erkenntnis-
theoretischen Grundlegung der historischen Wissenschaften ge-
wachsen ist. Oder versagt sie, wie von vielen Seiten aus behauptet
wird und trotz aller Aufklärungen durch Vertreter des Kantianismus
und des Neukantianismus immer wieder zu hören ist, bereits im
Prinzip vor der Forderung nach einer sinngemäßen Erfüllung dieser
Pflicht? Da der Verfasser der vorliegenden Schrift in vielen grund-
sätzlichen Punkten auf kantischem bzw. neukantischem Boden
steht oder sich jedenfalls in einem engen Zusammenhang mit diesen
Standpunkten weiß, so wird er sich veranlaßt sehen, jener soeben
aufgeworfenen Frage an gegebener Stelle nachzugehen und die
Möglichkeit und die Fähigkeit der kantischen Erkenntnistheorie für
die Einlösung jener Pflicht zu prüfen. Die Ansicht, daß die Er-
kenntnistheorie Kants im wesentlichen nur für die Grundlegung der
Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft zuständig
und geeignet sei, weil sie lediglich aus der kritischen Diskussion ma-
thematischer und naturwissenschaftlicher Probleme hervorgegangen
ist, ist so allgemein verbreitet und dem wissenschaftlichen Bewußt-
sein so fest eingewurzelt, daß sie das Ansehen eines Dogmas an-
genommen hat. Und auch wir wollen keineswegs behaupten, daß die
Transzendentallogik so, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft und
in den Prolegomena niedergelegt ist, in allen ihren Zügen bereits
für die Kritik der Geisteswissenschaften ausreicht und keinerlei
Ergänzung und Ausbildung weiter unterworfen zu werden braucht.
Doch wie diese Frage im einzelnen auch immer entschieden
werden mag, so können wir schon jetzt sagen, daß die Leistungsfähig-
keit der kantischen Erkenntnistheorie, vornehmlich diejenige der
transzendentalen Methode, auch für das kritische Geschäft einer
Theorie der historischen Wissenschaften ohne prinzipielle Bean-
standung bleiben wird. Wir verneinen nicht die Erforderlichkeit
einer Ergänzung, bejahen und behaupten aber ihre prinzipielle Zu-
ständigkeit als Kritik auch der geschichtlichen Erkenntnis. Und
ihr erstes Anrecht auf die Anerkennung ihrer Zuständigkeit ist darin
30
Einleitung
begründet, daß es schon die kantische Fragestellung als solche ist,
die wie keine andere die Philosophie in die Lage versetzt, ihre
erkenntnistheoretische Arbeit auch gegenüber der geschichtlichen
Erkenntnis in Angriff zu nehmen. Mit unbeirrbarer methodischer
Sicherheit richtet diese Fragestellung sich auf die Kennzeichnung
und auf die Prüfung der objektiven Bedingungen, die jene Wissen-
schaften als Wissenschaften ermöglichen. Die transzendentaleMethode
lehrt uns, nicht die Geschichte der Geisteswissenschaften, ebensowenig
die subjektiven Erlebnishintergründe, aus denen diese stammen,
in den Blickpunkt der Überlegung zu rücken, sie lehrt uns, weder
soziologisch noch psychologisch oder sonstwie historisch, sondern
eben erkenntnistheoretisch vorzugehen und nach dem „Wesen“ der
Wissenschaft, nach ihrem „Begriff4, nach ihrem „Geltungswert“,
den sie als Wissenschaft hat, zu fragen. Denn nicht die Geschichte
der Wissenschaften, nicht ihre Ausbildung innerhalb der allgemeinen
oder persönlichen Entwicklungsformen des gesellschaftlichen Da-
seins steht zur Untersuchung, vielmehr ist es im strengsten Sinne
ihr Begriff, ihr objektiver, sich in ihrer theoretischen Leistung aus-
drückender Sinn, dem die erkenntnistheoretische Kritik gilt.
Diese Richtung der Forschung spricht sich mit unüberbietbarer
Klarheit in der kritischen Fragestellung aus: Wie sind die histori-
schen Wissenschaften als Wissenschaften überhaupt möglich? Auf
welchen begrifflich-sachlichen Bedingungen beruhen ihre Eigenart
und ihre Geltung? Welches sind ihre Prinzipien und ihre Grenzen?
Aber diese Frage nach ihrem Woher und Wieweit sind in logischem
und nicht in psychologischem oder historischem Sinne aufzufassen.
Um eine Geschichte oder eine Psychologie der Geisteswissenschaften
überhaupt unternehmen zu können, ganz gleich, in welcher Absicht
und in welcher Ausführung derartige Forschungen erfolgen, so muß
vorher doch der Begriff dieser Wissenschaft seinem Prinzip nach
aufgehellt, er muß definiert und in seiner objektiven Bedeutung
klargestellt sein. Jene Forschungen müssen ihn als apriorischen
Gesichtspunkt, als Wegweiser, als Leitidee anerkennen und sich
auf ihn als ihre Voraussetzung berufen, wenn anders sie überhaupt
wissen, was sie wollen, und wenn anders sie die Richtung und die
Sicherheit ihres Weges nicht verlieren wollen. Wir werden jedoch
sehen, daß auch über den heuristischen Wert jener Fragestellung
hinaus und nicht zuletzt gerade auf Grund ihrer in methodischer
Beziehung vorbildlichen Genauigkeit die kantische Erkenntnis-
theorie prinzipiell der Aufgabe der kritischen Begründung der
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
31
historischen Erkenntnis Genüge zu leisten vermag. Und zwar in so
weitem Umfange, daß sie, unbeschadet aller erforderlichen Er-
gänzungen, die angemessenen Gesichtspunkte und Kriterien für
eine „Kritik der historischen Vernunft“ darzubieten vermag.---------
Erwägen wir nun in einer zusammenfassenden Betrachtung den
Charakter jenes von uns betonten Wechselverhältnisses zwischen
der Philosophie und den Geisteswissenschaften. Wir werden dadurch
eine Art von Disposition für die Gesamtaufgabe einer systematischen
Geschichtsphilosophie gewinnen.
a) Die Untersuchung des formalen Aufbaus der Geisteswissen-
schaften bildet den Gegenstand der Erkenntnistheorie und
Methodologie der historischen Erkenntnis. In dieser Be-
ziehung besteht ein Hauptkapitel des Systems der Geschichts-
philosophie in einer Theorie der „historischen Wahrheit“, die der
Aufgabe dient, diejenigen Kategorien und Ideen aufzudecken und
in ihrer objektiven wissenschaftlichen Bedeutung zu kennzeichnen,
die diese historische Wahrheit ermöglichen und ihren Begriff kon-
stituieren. Auf den unmittelbar vorangehenden Seiten wurde der
Charakter dieser Aufgabe etwas näher bestimmt.
b) Die Heranziehung und Auswertung der inhaltlichen Ergeb-
nisse der historischen Wissenschaften hingegen bilden den Gegen-
stand der Geschichts- und Lebensmetaphysik. Sie hat es
mit der systematischen Konstruktion und der metaphysischen Aus-
deutung dessen zu tun, was uns die historischen Wissenschaften im
Rahmen ihrer empirisch-positivistischen Darstellung über die Er-
scheinungen des geschichtlichen Lebens mitteilen, was sie uns von
dem Spiele des Werdens und des Unterganges seiner politischen und
rechtlichen, seiner sittlichen und wirtschaftlichen, seiner wissen-
schaftlichen, künstlerischen und religiösen Schöpfungen künden und
von dem Schicksale derer berichten, die ihre Tatkraft durch die Er-
zeugung solcher objektiven Leistungen ausgewirkt und belegt haben.
In beiderlei Hinsichten steht die Geschichtsphilosophie, sei es
als Erkenntnistheorie und Methodologie der geschichtlichen Erkennt-
nis, sei es als Metaphysik der geschichtlichen Wirklichkeit in einem
unmittelbaren Verhältnis zu den historischen Wissenschaften. Und
wenn wir auf den Anfangsseiten der vorliegenden „Einleitung“ ganz
allgemein davon sprachen, daß für die philosophischen Bemühungen
der Gegenwart die Wendung zur Metaphysik bezeichnend wäre, so
können wir nunmehr den Grundzug dieser Wendung genauer be-
32
Einleitung
stimmen. In dem Mittelpunkte der metaphysischen Arbeit unserer
Zeit steht die spezifische Wendung zur Geschichtsphilo-
sophie. Und indem wir auf diesen Grundzug aufmerksam machen,
erklären sich auch Wesen und Ziel des metaphysischen Verlangens
der gegenwärtigen Generation, die viel stärker als ein früheres Zeit-
alter das Bewußtsein dafür erworben hat, daß für uns und für das
menschliche Leben überhaupt die Geschichte als Problem ein
Schicksal und als Schicksal ein Problem ist. Unzweifelhaft und ganz
naturgemäß hat sich mit dem Fortschritt der historischen Wissen-
schaften auch unser Gefühl für das Wesen der Geschichte als solche
gewandelt. Indem von jenen Wissenschaften eine Schicht der Ver-
gangenheit nach der anderen aufgedeckt worden ist und wir mit dem
Tumult des geschichtlichen Lebens auch seine Fragwürdigkeit
kennengelernt haben, bedrängt uns das Problem, wie denn seine
unleugbare Relativität mit seiner ebenso unleugbaren Anspruchs-
und Machtfülle, die sich uns wie eine absolute Gesetzlichkeit auf-
zwingt, zu vereinigen sei. Auf der einen Seite erscheint das ge-
schichtliche Leben so sehr von Halbheiten und Unzulänglichkeiten
erfüllt und in der Vergänglichkeit jeder seiner einzelnen Stufen sich
so in sich selbst zu verneinen, daß es das fortgesetzte und selbst-
quälerische Bekenntnis seiner Ohnmacht ablegt. Fort und fort
deckt es seine Blöße auf; es verrät seine Schwäche, da es sich immer
von derjenigen Entwicklungsphase abhängig zeigt, die entweder
als Vergangenheit hinter ihm oder als Zukunft vor ihm liegt.
Nirgends steht es für sich, überall sucht es nach transzendenten An-
lehnungen und Autoritäten, nach übergeschichtlichen Werten und
Taten. Trotzdem drängt es danach, uns ganz für sich in Anspruch
zu nehmen, seine empirische Existenz als sittlich berechtigtes
Schicksal hinzustellen und die Rolle einer schlechthin autoritativen
Macht zu bekleiden. Je stärker es aber derartige Rechtsansprüche
zu verwirklichen trachtet, um so mehr stößt es auf einen Widerstand,
der aus zwei Quellen hervorgeht. Die eine Quelle ist das Bewußtsein
der sittlichen Autonomie, das der Mensch um keiner Tradition
willen preisgeben kann, und das mit dem Gefühl seiner Individualität
unabtrennbar verbunden ist. Die andere Quelle besteht in der
Erkenntnis der Relativität aller geschichtlichen Werte, die das
Festhalten an jener soeben angedeuteten Rolle als eine glatte
Usurpation erscheinen läßt.
So ergeben sich aus der Vertiefung der historischen Erkenntnis
und aus der Verfeinerung des geschichtlichen Bewußtseins neue
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
33
seelische Verhaltungsweisen des Menschen gegenüber der Geschichte,
die sich ihm jetzt in ihrer ganzen tragischen Gewalt, in ihrer ganzen
Problematik entschleiert. In tatsächlicher Beziehung war die Macht
der Geschichte in bezug auf den Menschen immer die gleiche; aber
sein Bewußtsein von dieser Macht hat sich geändert: An die Stelle
der Naivität trat die Kritik. War die Geschichte vordem für ihn die
Macht zur Lösung der Probleme, an deren selbstverständlicher
Heiligkeit er nicht mit vorwitziger Frage rührte, oder gegen die er
nicht mit bohrenden Zweifeln und Bedenken anging, so ist sie nun
in das Licht der Kritik gerückt worden. Und wie sie sich der Prüfung
nicht entziehen darf, so ist auch die Frage wach geworden, ob sie
wirklich die Wiege und Heimstätte für unseres Wesens besten Teil
bedeutet.
Das alles sind metaphysisch-religiöse und seelisch-sittliche
Probleme, die uns Heutigen deshalb viel stärker quälen, weil, wie
gesagt, uns unsere Zugehörigkeit zur Geschichte und die Geschichte
selber zu Problemen geworden sind. Doch abgesehen davon, so
harren der wissenschaftlichen Philosophie auch nach der Seite der
erkenntnistheoretischen Forschung die Inangriffnahme und Erledi-
gung noch besonders dringender und lohnender Aufgaben. Das heißt:
Für eine Kategorienlehre der „historischen Vernunft“ als dem
Prinzip der geistigen Wirklichkeit ist noch viel zu tun. Ohne un-
gerecht zu sein, darf man wohl sagen, daß die Philosophie der Gegen-
wart in dieser Beziehung über Ansätze nicht allzu weit hinaus-
gediehen ist, so wertvoll diese Ansätze und Vorarbeiten auch sind.
Es ist sogar fraglich, ob wir es schon bis zu einer „Kritik“ der
historischen Erkenntnis gebracht haben, geschweige denn, daß von
einer Inangriffnahme des „Systems“ der historischen Wahrheit die
Rede sein könnte. Der Grund für diese Sachlage ergibt sich wahr-
scheinlich aus der Unsicherheit in bezug auf die Wahl derjenigen
Methode, mittels deren die Grundlegung der historischen Erkenntnis
zu vollziehen ist. Auch in diesem Falle hängt, wie sich das bei
philosophischen und wissenschaftlichen Unternehmungen immer
wieder zeigt, der innere Wert der Arbeit von dem Charakter der
verwendeten Methode ab. Das Problem einer Erkenntnistheorie
der Geisteswissenschaften ist nicht zuletzt wiederum ein Methoden-
problem.
Würden wir uns für die Erledigung der genannten Arbeit zur
Verwendung der transzendentalen Methode Kants entschließen, so
würden daraus die Fortsetzung und vielleicht die Vollendung des
Uebert, Dialektik. 3
34
Einleitung
kantischen Kritizismus hervorgehen. Denn im Anschluß an
Kants Grundlegung der Mathematik, der mathematischen Natur-
wissenschaften, der Biologie usw., d. h. im Anschluß an Kants
Theorie der naturwissenschaftlichen Erfahrung und an seine „Be-
gründung“ der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und der „natür-
lichen“ Welt, wäre dann auch die Grundlegung der Wissenschaften
von der geschichtlichen Welt gewonnen. Und auf dieser erkenntnis-
theoretisch-kritischen Grundlegung könnte sich dann das „System“
der Geschichtswissenschaften erheben. Da wir in diesem System der
Geschichtswissenschaften dann auch die theoretische Grundlage für
die einheitliche Erkenntnis und Auffassung der geschichtlich-gesell-
schaftlichen Welt überhaupt besitzen würden, so würde jenes System,
als Weiterführung der kritischen Grundlegung, schließlich die
ausgeführte Metaphysik des Geistes der Geschichte dar-
stellen. Natur und Geschichte hätten ihre Fundierung in und
aus der Vernunft erfahren, die Gesamtheit der Wirklichkeit
wäre logisch in und aus der Einheit der Vernunft konstituiert.
Und würden wir dann nicht vielleicht eine Wiederholung oder
ein, allerdings den Zeitverhältnissen gemäß verändertes Spiegel-
bild jener Leistung vor uns haben, die durch die Entwicklung
des nachkantischen Idealismus in den Systemen von Fichte, Schel-
ling, Hegel verkörpert wird? Sehr viele Anzeichen sprechen in der
Tat dafür, daß die Philosophie der Gegenwart eine Erneuerung jener
Entwicklung darstellt. Da sich aber die Zeichen der Zeit geändert
haben, da auch in der Philosophie ein Wollen hervorgetreten ist,
das mit dem jener früheren Stufe nicht restlos übereinstimmt, so
ist auf der anderen Seite jener klassizistische Idealismus für uns zu
einem schweren Problem geworden, und die Versuche seiner unge-
minderten Wiederherstellung treffen auf eine ernste Gegnerschaft
und Ablehnung. In engem Zusammenhang damit steht ohne Zweifel
auch die Gegnerschaft, die dem Kantianismus und Neukantianismus
allmählich erwachsen ist. Es scheint mir, daß sich die Untersuchung
des Rechtes dieser Einwände und ihre Widerlegung auf keinem
Gebiete besser durchführen, daß sich der Kampf für oder gegen
Kant nirgends mit durchschlagenderem Erfolge austragen läßt als
auf dem der Geschichtsphilosophie.----
Im ganzen genommen und von der Erledigung dieser Frage ab-
gesehen, stehen wir vor der dringend notwendigen Inangriffnahme
jener zwei zusammengehörigen Aufgaben, die als die erkenntnis-
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
35
theoretische Grundlegung der historischen Wissenschaften und als
die metaphysisch-systematische Deutung des geschichtlichen Lebens
unter Zugrundelegung und Benutzung der Forschungsergebnisse
eben dieser historischen Wissenschaften zu bezeichnen sind. Kurz
ausgedrückt: Die Aufgabe einer systematischen Geschichts-
philosophie bezieht sich auf das Problem der „historischen
Wahrheit“ und zugleich auf das Problem der „historischen
Wirklichkeit“.---------
Wie kann und wie soll die Durchführung dieser Arbeit gedacht
werden? Es kann keinen anderenWeg als den der dialekti-
schen Methode geben, die für diese Leistung nicht bloß durch
ihre innere Verwandtschaft mit dem ganzen Wesen und der Kultur-
gesinnung unserer Zeit gerechtfertigt ist, sondern ihre tiefere Legiti-
mierung in ihrer unmittelbaren Bezogenheit auf die Idee und den
Gehalt der geschichtlichen Wirklichkeit besitzt. Eine wirkliche
Philosophie der Geschichte vermag nach Form wie Inhalt
keinen anderen Charakter als den der Dialektik aufzu-
weisen. Aber diese grundsätzliche Stellungnahme und Erklärung
veranlassen uns noch einmal, davon zu sprechen, daß die Befür-
wortung der Dialektik durchaus nicht im Sinne der Empfehlung
irgendeines Skeptizismus gemeint ist, daß durch sie keinem
Relativismus gehuldigt werden soll. Der systematische Gebrauch
der Dialektik bedeutet im Gegenteil die entschiedene Ausschließung
und Ächtung jeder skeptischen und jeder relativistischen Be-
trachtungsweise, da dieselben schließlich immer und unvermeidlich
in eine unwissenschaftliche, unsystematische und unmetaphysische
Gedankenwillkürlichkeit ausmünden. Der Relativismus und der
aus ihm so oft hervorgehende Historismus, der als Methode aller-
dings gewisse Vorzüge hat und deshalb nicht ohne Verdienst ist,
bedeuten eine verhängnisvolle Abschwächung jeder systematischen
Erkenntnis, gleichwie sie, unter psychologischem Gesichtspunkt ge-
sehen, eine Gefährdung und Untergrabung jeder festen sittlichen
Gesinnung, die für eine strenge philosophische Erkenntnis unent-
behrlich ist, zeitigen.
Wir haben mit diesem Hinweise nun einen Punkt berührt, der
für unsere ganze Philosophie der Dialektik von prinzipieller Be-
deutung ist. Unsere Überlegungen haben uns nämlich zum Schluß
dieser „Einleitung“ in willkommener Weise auf das Problem des
Ethos der dialektischen Metaphysik geführt. Tief und eng
sind die Beziehungen zwischen Metaphysik und Sittlichkeit. Denn in
3*
36
Einleitung
jener spricht sich, oft verdeckt und dennoch immer erkennbar, eine
bestimmte Geisteshaltung und Wirklichkeitsdeutung ethischen Ge-
präges aus. Und zwar trägt diese ethische Geisteshaltung durchaus
autonome und absolute Züge. In ihr lebt der Geist der Unbedingt-
heit. In ihr wird das wirklich, was man einen „ewigen Bezug“ in
der Seele und im Geiste des Menschen nennen darf. In ihr bricht die
Absolutheit der Freiheit hervor, deren Kraft und Eigenart durch
die empirisch-geschichtlichen Tätigkeiten und Lagen des sonstigen
Daseins überdeckt und beinahe verschüttet zu werden pflegen. Alle
positiven Wissenschaften rücken uns unsere Abhängigkeit von den
empirischen Gesetzlichkeiten der Natur und der Geschichte fort und
fort vor die Augen und üben dadurch eine eigentümliche Einwirkung
auf unsere Gesinnung, auf unsere Bewertung des Daseins und auf
unsere praktische Stellungnahme zu ihm aus. In der Metaphysik
und durch sie wird hingegen jene absolute Freiheit wach, die aus der
Intelligibilität unseres Wesens stammt und sich außerdem noch in
der Kunst und vor allem in der Religion bekundet. An diesem Punkte
tritt die tiefe Gemeinsamkeit zwischen diesen drei höchsten Geistes-
gebieten zutage. Wie die Metaphysik die Entbindung der Freiheit
im Reiche des Denkens darstellt, so stellt die Kunst diese Wirklich-
keit der Freiheit in der Sphäre der Phantasie und die Religion die
Verwirklichung der Freiheit im Reiche des Glaubens dar. Die
Metaphysik ruht auf der absoluten Funktion der Freiheit, und auf
diese Weise wird es verständlich, daß sie jene weltüberwindende
Tat, jene Erlösung vorzubereiten vermag, die der Religion und den
höchsten Äußerungen der Kunst endgültig erreichbar ist.
Der wahre Metaphysiker kann weder in theoretischer noch in
praktisch-sittlicher Hinsicht ein Anwalt des Relativismus und des
Historismus sein, will er sich nicht selber die Grundlagen seiner
geistigen Existenz untergraben. Eine Metaphysik, die die Er-
klärung abgibt, daß alle Urteile und Erkenntnisse, alle Über-
zeugungen und Wertungen, alle geistig-gesellschaftlichen Kultur-
gebilde mit dem Fluche historischer Vorläufigkeit belastet seien und
die dementsprechende Weisungen für die Gestaltung des Lebens
erteilt, tut das doch alles unter der Führung einer absoluten Ge-
sinnung; und ihre Entscheidungen sind die absoluten Niederschläge
einer solchen Gesinnung. Der Relativist weiß im strengsten Sinne
des Wortes nicht, was er spricht, was er fordert; er durchschaut nicht
die Absolutheit der Voraussetzungen seiner Rede und seines Ver-
langens.
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
37
Gerade weil die Entwicklung des modernen Geisteslebens uns
so tief in die Bande des Relativismus und des Historismus verstrickt
hat, und weil dadurch die bedrohlichste Gefährdung unseres Glaubens
an die Geltung absoluter Werte eingetreten ist, weil das historische
Bewußtsein in so weitem Umfange über das metaphysische Bewußt-
sein Herr geworden zu sein scheint, erhebt sich mit so dringenderer
Mahnung die Forderung nach einer metaphysischen Neubegründung
unseres geistigen und werktäglichen Daseins, nach einer Neube-
gründung aus dem Quell einer absoluten Überzeugung und einer
nicht im Positivismus, sondern in der Metaphysik verankerten und
aus ihr sich nährenden Bewußtseinshaltung und Weltbewertung.
Nicht der Rationalismus, wie so oft tadelnd und anklagend be-
hauptet wird, sondern jener psychologistische Relativismus ist es,
in dem die von Nietzsche so scharf gekennzeichnete und so heftig
bekämpfte Dekadenzstimmung des ausgehenden neunzehnten Jahr-
hunderts zum Ausdruck gelangt. Ebensowenig ist dem Rationalis-
mus die erste Schuld an der verhängnisvollen Relativierung aller
Werte beizumessen. Mit ihm kann sich eine absolutistisch-meta-
physische Geisteshaltung durchaus verbinden, wie die Vergangen-
heit deutlich zeigt. Denn hat er im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert nicht zur Entstehung einer solchen Geisteshaltung und
Lebensgesinnung beigetragen, die sich gleichermaßen über alle Ge-
biete der Kultur ausbreitete und das Feld der Wissenschaft und des
Rechtes, des Staates und der Politik ebenso umfaßte wie dasjenige
der Kunst und der Religion? Eine innere Sicherung gegen das Ab-
gleiten in den Relativismus besaß jener Rationalismus schon in
seiner Verbrüderung mit den mathematischen Naturwissenschaften
und in der Strenge seiner, diesem Wissenschaftsgebiet entlehnten
absolutistischen Methodik. Um den Rationalismus und Intellektualis-
mus zum Schrittmacher eines, die Kulturbestände auflösenden Rela-
tivismus werden zu lassen, mußte sich ihm jene historische Auf-
fassungsweise beigesellen, deren eine Quelle in den neuen Geistes-
wissenschaften zu suchen ist.
Unbestreitbar vollzog sich unter dem Einfluß dieser Wissen-
schaften eine Abwandlung des älteren Weltbildes nach der Richtung
einer historistisch-relativistischen Auffassung und Beurteilung aller
Erscheinungen. Wurde von diesem Wandel etwa auch die Substanz
unserer Kultur, d. h. das Ethos unserer Kulturgesinnung ergriffen,
die im unaufhaltsamen Verlaufe dieser Entwicklung ihrer Krisis,
nämlich der Entstehung des weltanschaulichen und nihilistisch
38
Einleitung
wirkenden Relativismus immer mehr entgegentrieb? Indem wir
diesen Vorgang und seine Voraussetzungen erwägen, liegt es nahe,
die Frage aufzuwerfen, welches Verhältnis überhaupt zwischen den
Geisteswissenschaften auf der einen Seite und der Sittlichkeit auf
der anderen obwaltet. Die Vermutung ist nicht selten ausge-
sprochen worden, daß der, diesen Wissenschaften als Prinzip und als
Methode eigene Historismus die Veranlassung und Auslösung zur
Entstehung des Relativismus bildet und als eine seiner inneren
Triebkräfte anzusetzen ist.
Wie ist es um das Recht einer solchen Vermutung bestellt?
Vielleicht ist sie nicht ganz abwegig. Wäre sie allerdings in vollem
Umfange zutreffend, so entstünde ein schwerer Verdacht gegen eine
dialektische Metaphysik, die für ihre Begründung und für ihre
Systematik gerade die historischen Wissenschaften ausgiebig heran-
ziehen möchte. Vermögen wir, angesichts des unleugbaren und tief-
greifenden moralischen und weltanschaulichen Einflusses der histo-
ristisch und historisierend vorgehenden Geisteswissenschaften auf
unsere ganze Geisteshaltung, dennoch unserem Leben eine feste, in
einem geistigen Absolutismus verwurzelte und aus ihm gespeiste
Gestalt zu geben? Es war unter anderem Ernst Troeltsch, der in
seinem letzten Buche ,,Der Historismus und seine Überwindung“
dieser Frage und den Möglichkeiten einer solchen Wendung, die aus
der Tiefe des Lebens selber hervorquellen muß, mit ergreifender
Angelegentlichkeit nachging. Er mühte und sorgte sich darum,
einen Standort zu entdecken, der den seelisch bedrohten Menschen
der Gegenwart die Kraft zu einer Befreiung von den Fesseln des
Relativismus gab. Sein Ringen war von charakteristischer Bedeu-
tung für den schweren inneren Kampf, in dem sich viele der Besten
seiner Zeit befanden. Erinnert sei hier außerdem nur noch an Georg
Simmel. Wohin trieb die gefährliche Herrschaft des Relativismus,
die nicht von ungefähr entstanden, sondern aus allgemeinen und
weit zurückliegenden Voraussetzungen des europäischen Geistes-
lebens hervorgebrochen war, und an der natürlich auch die Wissen-
schaften, nicht zuletzt eben die historischen Wissenschaften, ihren
reichlich bemessenen Anteil hatten?
Es würde für unsere dialektische Metaphysik, die, wie bereits
bemerkt, in mehr als einem Punkte sich auf die Arbeit der histori-
schen Wissenschaften stützt, kein günstiges Vorurteil erwecken,
wenn sie, zumal auf Grund ihrer Verbundenheit mit diesen Wissen-
schaften, dem herrschenden Relativismus eine Förderung bereitete
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
39
und zu seiner Überwindung nichts beizutragen vermöchte, weil sie
selber von einem solchen relativistischen Geiste erfüllt ist. Trüge
sie diesen Geist in sich, so würde sie sich nicht bloß aus der Reihe
der eigentlichen metaphysischen Systeme entfernen, deren jedes,
theoretisch und praktisch, ein leidenschaftlicher Gegner des Rela-
tivismus ist, sondern sie brächte sich auch um einen guten Teil ihrer
Zukunft.
Unser Dialektizismus ist keine Spielart des Relativismus oder
des Historismus. Das wurde schon oben hervorgehoben. Und er soll
auch in keiner Weise dem Relativismus den Boden ebnen und ihm
freie Bahn schaffen. Im Gegenteil: Er soll, und darin muß eines
seiner praktischen und weltanschaulichen Ergebnisse bestehen, zur
Überwindung des Relativismus und des Historismus mitverhelfen.
Um einer solchen Leistung willen muß er aber in den historischen
Wissenschaften selber einen überhistorischen Zug ent-
decken. Eine Arbeit, die offenbar von gar nicht hoch genug zu
schätzender Bedeutung nicht nur für den Charakter desjenigen
Weltbildes ist, das unter Zuhilfenahme der Geisteswissenschaften
zustande kommt, sondern auch für ein angemessenes Verständnis
dieser Wissenschaften selber. Wären sie wohl Erkenntnis in jenem
ernsten Sinne, den Plato und Aristoteles, den Leibniz und Kant
dem Begriff der Erkenntnis erarbeitet und gewonnen haben, wenn
sie in erster Linie den Niederschlag einer relativistischen Bewußt-
seinsweise darstellten? Vielleicht gibt es für die Erkenntnistheorie
und für die Metaphysik der Geisteswissenschaften keine dringlichere
Obliegenheit als die Beseitigung des Argwohns, daß jede historische
Erkenntnis, wenn sie sich wirklich auf die Relativitäten des ge-
schichtlichen Lebens bezieht und dieselben nicht einem ungeschicht-
lichen, abstrakt-logischen Formalismus unterwirft, unvermeidlich
zu einem moralischen und weltanschaulichen Relativismus neigt,
daß sie den Zug zu einer Relativierung unserer theoretischen und
moralischen Überzeugungen in sich trägt, daß sie diesen Zug in der
Gesinnung der Menschen fördert und zur Auslösung bringt. Wir
werden uns einem solchen Geschäfte nicht zu entziehen vermögen.
Es zu übernehmen, sind wir aus theoretischen, aus moralischen, aus
weltanschaulichen und nicht zuletzt aus metaphysischen Gründen
einfach verpflichtet.------
Die Philosophie der Dialektik ist uns also nach allem nicht nur
ein Anliegen der Theorie, sondern nicht minder auch ein solches der
40
Einleitung
Gesinnung und der moralischen Arbeit. Nähern wir uns damit
nicht jenem platonisch-kantischen Gesichtspunkt und
Standpunkt des Primates der praktischen Vernunft?
Unterstellen wir unseren „Geist der Dialektik“ nicht damit der
Idee des Guten, so daß der Dialektizismus sich als eine Spielart des
ethisch-normativen Idealismus darstellen und ausweisen würde?
In welchem Sinne dieser Dialektizismus Idealismus ist, und in
welchem Sinne er über den Rahmen einer rein idealistischen Theorie
hinausragt, das ist weiter oben bereits angedeutet worden. In-
wieweit er dem Gedankenkreis des Ethizismus und Normativismus
angehört, muß im folgenden noch genauer beleuchtet werden.
Jedenfalls können wir schon an der vorliegenden Stelle sagen, daß
sein Verhältnis auch zum Ethizismus ein dialektisches ist, wenn
anders er ein voller Dialektizismus sein will, dessen antinomische
Eigenart sich auch bei der Erörterung der ethischen Problematik,
und zwar in einer Haltung, die selber die Dialektik ihres Gepräges
und ihres Gehaltes nicht verleugnet, bekunden muß. Wir wollen
damit sagen, daß dieser Dialektizismus mit im Ethizismus verankert
ist, weil in der Dialektik sich nicht nur eine Theorie, sondern auch
ein Ethos ausdrückt. Wie aber wäre eine Sittlichkeit möglich, die
nicht aus den Zwiespältigkeiten des Lebens und aus der Dialektik
des Konfliktes hervorwüchse? Die Sittlichkeit bedarf selber der
Dialektik als der Voraussetzung und als des Mittels, um ihre Kraft
zu erweisen, um ihre Freiheit zu tätigen. Wäre das Leben frei von
Dialektik, so würde in ihm die sittliche Freiheit keinen Anlaß zum
Eingreifen finden und nicht einmal als „Idee“ aufgestellt und ge-
schätzt werden können. Die Dialektik gehört zur Freiheit, wie das
Problem zur Lösung, wie die Vielheit zur Einheit, die Übertretung
zum Gebot gehört.
Die Metaphysik der Dialektik und ihr Spiegelbild, nämlich die
Dialektik der Metaphysik, tragen ein bestimmtes weltanschauliches
Ethos in sich, dessen Natur in den späteren Untersuchungen, die
die „Ethik der Dialektik“ und die „Dialektik der Ethik“ zu ihrem
Gegenstände haben, zu ausführlicher Behandlung gelangen.
Aber auch für die „dialektische Geschichtsphilosophie“ bedeutet
die Dialektik sowohl ein regulatives und methodisches Prinzip als
auch den begrifflichen Ausdruck einer moralischen und weltanschau-
lichen Überzeugung, wie endlich die Kraft einer solchen Überzeugung
selber. So hat sie in der theoretischen und zugleich in der prakti-
schen Vernunft, in der Erkenntnis und im sittlichen Willen ihre
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
41
Wurzel. So wird sie von theoretischen und praktischen Gesichts-
punkten genährt, wie das von einem Prinzip gefordert werden muß,
das zur Erfassung des Doppelsinnes und der Antinomik der ge-
schichtlichen Welt geeignet sein soll, und aus dem dieser Doppel-
sinn gespeist wird. Je mehr unser Blick sich in unvoreingenommener
Weise in die vielverschlungene Wirklichkeit des geschichtlich-
gesellschaftlichen Lebens versenkt, je größer die Ausbeute wird,
die wir den Geisteswissenschaften verdanken, um so mehr wird sich
die Einsicht dafür vertiefen und festigen, daß die formenreiche
Widerspruchsfülle jener Wirklichkeit, daß die spannungsvolle Mannig-
faltigkeit ihrer seelischen und sittlichen, ihrer künstlerischen und
religiösen, ihrer wirtschaftlichen und politischen Objektivationen,
daß die konflikthaltige Dynamik ihrer triebartigen, erotischen und
geschlechtlichen Bezüge durch die starren Formen einer abstrakt
gehaltenen Begrifflichkeit nicht zu bewältigen sind. Dennoch ist
es für eine wissenschaftliche Geschichtsphilosophie schon im Prinzip,
geschweige denn auf die Dauer nicht möglich, sich vorzugsweise
etwa nur auf das Verfahren des Erlebens zu stützen und sich in
erster Reihe der schwankenden Momentaneität und irrationalisti-
schen Willkür der Intuition zu bedienen. Ein solches Verhalten
hieße einer unkontrollierbaren Mystik und dem ärgsten Subjektivis-
mus und damit der Zerstörung der Philosophie Tor und Tür öffnen.
Die Geschichtsmetaphysik muß sich gewiß in aufgeschlossener Weise
den Irrationalitäten des Lebens widmen; sie darf ihnen nicht durch
ein doktrinär aufgebautes Regelwerk vorgefaßter Schemata den un-
definierbaren Zauber ihrer lebendigen Problematik rauben.
Um alles Lebendige spielt nach den Worten Goethes eine eigen-
tümliche Atmosphäre. Und diese Atmosphäre muß auch innerhalb
einer philosophischen Behandlung einfühlend berücksichtigt werden.
Denn sie ist nicht nur eine äußerliche und gelegentliche Beigabe zu
den geschichtlichen Personen, kein Anhängsel an den historischen
Einrichtungen, kein Schleier, der sie bloß umweht, nicht nur ein
Glanz, der sie umspielt, so daß noch hinter ihm ihr Gerüst für sich
bestünde. Sondern dieser Glanz und Schein gehört zu ihrem
Wesen, bildet eine ihrer Bedingungen und wurzelhaften
Möglichkeiten. Man kann geradezu von einem ,,objektiven
Schein“ sprechen, und die Überlegung ist mehr als berechtigt, ob
dieser Schein nicht eine „transzendentale“ Bedingung für das
Dasein der historischen Welt ist. Wir greifen mit dieser Erwägung
Gedanken Kants auf, deren Tiefe und Fruchtbarkeit für die Erkennt-
42
Einleitung
nis der geschichtlichen Welt noch gar nicht ausgeschöpft sind. Wenn
Kant den „transzendentalen Schein“ als eine oft irreführende, aber
immer charakteristische Beigabe metaphysischer Spekulationen
tadelt, so ließe sich fragen, ob hier nicht noch eine positive Aus-
wertung jener „Kritik des Scheins“ zu unternehmen wäre. Denn
da dieser Schein einmal da ist, so gilt es von dieser quaestio facti
auf die quaestio juris zurückzugehen, um den positiven Sinn, den
der „Schein“ besitzt, aufzudecken, also den Schein als objektive
Kategorie ins Auge zu fassen.
Die unaufhebbare Dialektik des geschichtlichen Lebens spiegelt
sich vielleicht in keinem Gebilde unmittelbarer und deutlicher als in
diesem Gebilde des Scheins, dessen Bezeichnung als Schein aller-
dings abwegig und ungünstig ist. Denn sie verleitet dazu, in jenem
Gebilde eine nichtssagende oder jedenfalls entbehrliche und abstreif-
bare Wesenlosigkeit zu erblicken. Eine Dialektik des Scheins kann,
allerdings unter Aufnahme und Weiterführung der kantischen
Kritik, zu anderen Ergebnissen gelangen, als die kantische Behand-
lung dieses Problems zeitigte. Doch ist es gar nicht ausgeschlossen,
daß auch im Hintergründe dieser kantischen Kritik des Scheins
Voraussetzungen und Tendenzen liegen, die bereits Kant selber zu
einer bejahendenWertungdesPhänomens des Scheines geführt hätten.
Und sollte sich mit der Erreichung einer positiven Würdigung
dieses Phänomens der Rationalismus nicht selber wandeln, wenn er
weniger zu einer ablehnenden, als zu einer auf adäquates Verständnis
hindrängenden Erkenntnis des Scheins abzielt? Der Schein ist ein
irrationales Phänomen; auch von seinem Begriff sind irrationalisti-
sche Züge natürlich nicht fernzuhalten. Taucht das Denken aber
selber in die Welt dieses Irrationalismus hinein, durchtränkt es sich
mit den dialektischen Strömungen des geschichtlichen Lebens, dann
wird sein logisches Gefüge sich zu einem Dialektizismus abwandeln,
und es wird dadurch eine Synthese zwischen der irrationalistisch-
intuitivistischen und der rationalistisch-begrifflichen Bewußtseins-
haltung und Erkenntnisweise erreicht sein. Denn es gehört zu den
unleugbaren dialektischen Eigentümlichkeiten derjenigen Erkennt-
nis, die auf das geschichtlich-gesellschaftliche Leben bezogen ist, daß
in ihr rationalistische Bestandteile und Funktionsweisen innerlichst
mit solchen von irrationalistischer, intuitiver, begrifflich nicht weiter
auflösbarer und begrifflich nicht weiter ausdrückbarer Natur ver-
bunden sind. Und zwar verbunden in einer durchaus antinomisch-
paradoxalen Formverflechtung.
2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
43
Wir gelangen für die Metaphysik der Geschichte mithin zur An-
erkennung und zu der Forderung der Verwendung einer Prägung
des Rationalismus, den wir als dialektischen Rationalismus
bezeichnen wollen. Wir haben schon weiter oben von ihm ge-
sprochen. Aber die Wichtigkeit dieses Punktes erlaubt und recht-
fertigt seine Wiederholung gerade innerhalb einer Philosophie,
deren Problem der „Geist der Dialektik“ ist, und die es unternimmt,
diesen Geist aufzuhellen. Einen eindrucksvollen Gebrauch von
dieser Form des Rationalismus haben unter anderem Georg
Simmel in seinem Buche „Lebensanschauung“ und, für die meta-
physische Begründung der Pädagogik, Theodor Litt in seiner
Schrift „Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf
das Bildungsideal“ gemacht. Dürfen wir die Behauptung noch
einmal aussprechen, daß dieser dialektische Rationalismus die
angemessenste und aussichtsreichste Methode für eine systema-
tische Metaphysik der Geschichte darstellt? Beruht er doch
auf der Einsicht von der unmittelbaren und schöpferischen Wech-
selwirkung zwischen Erkenntnis und Leben, auf der Einsicht,
daß eine Konstruktion, die lediglich vom Leben ausgeht, zu roman-
tischem Mystizismus und in Unwissenschaftlichkeit entartet,
während eine Konstruktion, die sich ausschließlich in der Sphäre
der Begrifflichkeit bewegt und ausschließlich mit formal-logischen
Prinzipien arbeitet, nichts als das Gespinst einer leeren und
trockenen, einer lebensfernen und unfruchtbaren Verstandesmäßig-
keit bedeutet.
Der von uns vertretene und befürwortete Rationalismus fordert,
an jedem Punkte die Möglichkeit einer „Frage“ offenzuhalten und
die Notwendigkeit der Fortsetzung und Vertiefung der Diskussion
zu betonen und zu bejahen. Er beseitigt nicht, sondern stärkt das
Bewußtsein der „Problematik“ der Erkenntnis, weil er durch-
drungen ist von der Erkenntnis der „Problematik“ des Lebens.
Er ist nicht etwa in seinem äußeren Verlauf unendlich, was auch
bei dem formalen und traditionellen Rationalismus der Fall
ist, sondern er deckt in sich und durch sich an jeder Stelle der
Wirklichkeit eine neue Tiefe, eine neue Problematik auf, so daß
die Notwendigkeit zu immer neuen hermeneutischen Forschungen
entsteht. Wenn eine der Hauptaufgaben dieses dialektischen Ratio-
nalismus die Schaffung einer Kategorienlehre der historischen
Vernunft ist, so muß die Erfüllung dieser Aufgabe in der Ge-
winnung der Einsicht sich ausdrücken, daß die Eigenart jener
44
Einleitung
Kategorien in der sinnvoll-antinomischen Wechselbeziehung zwischen
der Rationalität der Form und der aus dem Leben auf sie ein-
strömenden Irrationalität besteht. Das aber bedeutet nichts anderes,
als daß die „Antinomik“ und „Dialektik“ zum Prinzip einer
solchen umfassenden systematischen Deutung des geschichtlichen
Lebens erhoben wird. Damit liegt ein weites, ein verlockend
schönes und außerordentlich ergiebiges Arbeitsfeld vor den Augen
des Dialektikers.
A. Dialektik und Leben.
Ganz unvermittelt und aus sehr dringlichen und sehr ernsten
Gründen regt sich in dem Menschen das Verlangen, neben der
ersehnten Antwort auf die allgemeine Frage nach seiner Stellung
innerhalb der Gesamtwirklichkeit auch noch einen möglichst objek-
tiven Wertmesser für das besondere Wesen und Wollen gerade
seiner Zeit, gerade desjenigen Abschnittes, in dem er steht, zu er-
halten. Er will nicht nur überhaupt wissen, „was es bedeute, Mensch
zu sein“, sondern er trachtet ebensosehr danach, die eigentümliche
Bedeutung seiner Epoche für die konkrete Unmittelbarkeit der
gesellschaftlich-geschichtlichen Zweckwelt zu erfahren. Er hat ge-
lernt, in welchem umfassenden Sinne er ein Kind der Geschichte
ist und wie unzerreißbar ihn die Gewebe ihrer Zusammenhänge
umspannen. Er weiß, daß die Fäden der historischen Abläufe für
sein Geschick von nicht geringerer Wichtigkeit sind als die All-
gemeingesetze der Natur. Diese Erkenntnis ist ein Erfolg der histo-
rischen Aufklärung, der mitten in das menschliche Leben eingreift.
Neben den älteren, naturwissenschaftlich begründeten Determinis-
mus ist ein jüngerer, aus den geschichtlichen Wissenschaften ab-
geleiteter, ist ein historischer Determinismus getreten.
Aber das ist nun das ebensowohl Beachtenswerte als auch das
Seltsame und Aufregende: Der Mensch beruhigt sich nicht bei
dieser Erkenntnis seiner Gebundenheit durch die Geschichte und in
der Geschichte. Geschieht es, um dem mit dieser Erkenntnis ge-
gebenen Fatalismus zu entgehen, in dem wir eine Gefährdung, eine
Schwächung unseres Selbst, einen Verrat gegen unsere geistige
Freiheit wittern? Zu dem Ganzen jener Gründe, die uns zu dem
Einblick in den Wert unserer Zeit und in die Macht ihrer Traditionen
veranlassen, gehören nicht bloß intellektuelle und theoretische An-
triebe und Belange, es gehören dazu auch kulturpolitische und
kulturerzieherische, zu tiefst aber wohl sittliche Motive, die aus
dem geheimnisvollen Gefühl einer Verantwortlichkeit und Selbst-
behauptung gegenüber der Geschichte aufsteigen. Wir mögen uns
mit dem Bewußtsein unserer Abhängigkeit von den historischen
46
Dialektik und Leben
Wirkungszusammenhängen noch so sehr durchtränken, gegen den
Gedanken, daß wir ihre Sklaven sind, erhebt sich die metaphysische
Überzeugung einer — seltsamen, von der Seite der Wissenschaft
aus gesehen fast unheimlichen— Transzendenz zur Geschichte. Mit
dieser Überzeugung mischt sich ein sittliches Verantwortlichkeits-
gefühl, ein unzerstörbares Bedürfnis nach Autonomie mit einer
— beinahe — unsittlichen Überheblichkeit. Auf der einen Seite
wissen wir, wie einschneidend die autoritären Gewalten der Ge-
schichte sind. Machen sie sich doch geltend bis hinein in die zarten
und uns alle tief beherrschenden Stimmungen der Pietät und der
Dankbarkeit. Auf der anderen Seite suchen wir dieser Allgewalt
des geschichtlichen Lebens zu trotzen aus dem Verlangen heraus,
irgendwie ein „Eigenes“ zu sein. Ruht in diesem Trotz nicht auch
eine Hybris neben allem sittlich gerechtfertigten Verlangen nach
Autonomie? Was regt sich hier in der Brust des Menschen, wenn
er sich zur Tat der Auflehnung entscheidet, wenn er sich zu dem
Entschluß einer solchen Auflehnung genötigt fühlt? Wo beginnt
hier der „Ungehorsam“? Aus welcher Sinnrichtung des Lebens
steigt er empor? Was bedeutet er für das, was wir den „Sinn“
des menschlich-geschichtlichen Lebens nennen, wenn wir uns zu dem
Wagnis einer solchen Frage nach einem solchen Sinn bereit finden?
Mit dem, was wir — unvollkommen genug — den „Sinn“ des
geschichtlichen Lebens zu nennen pflegen oder zu nennen wagen,
ist der Gedanke der Norm und der Verpflichtung untrennbar ver-
knüpft. Ob auch der einer besonderen Bewertung, beschäftigt uns
jetzt nicht. Indem wir jedoch die Idee der Norm, die Idee einer
Verpflichtung gegenüber der Geschichte auch nur denken, und
indem wir mit der Idee des geschichtlichen Sinnes diese Normidee
verbinden, ganz gleich,ob wir dieTatsache eines solchen „Sinnes“
erkenntnismäßig einwandfrei festgestellt haben oder überhaupt ein-
deutig festzustellen imstande sind, ist das geschichtliche Leben
über sich hinaus durchbrochen, hat es das Schicksal der
Transzendenz zu sich selbst auf sich geladen. Aber auf sich geladen
als eine apriorische Notwendigkeit! Der Begriff des „Sinnes“ ist
eine Kategorie für alle historische Erkenntnis; er ist für sie eine
Apriorität. Indem diese Apriorität aber gedacht wird, gedacht als
„Idee“, als normative Hypothese, ist bereits eine Überwindbarkeit des
geschichtlichen Lebens als Idee und in der Idee mitgedacht. Der
Kampf gegen sich selbst und mit sich selbst, das Frei-
werden von sich selbst, die Antinomie zu sich selbst ge-
Dialektik und Leben
47
hören zu den apriorischen Bedingungen alles geschicht-
lichen Daseins, das niemals den Wertcharakter des ,,Geschicht-
lichen“ besitzt, wenn es nur „da ist“. Es ist die Ur-Antinomie seines
Da-Seins, in keiner Betätigungsrichtung und in keiner Ereignisgestalt
nur „da zu sein“. Ein solches bloßes Da-Sein, das in der Kausalität
seines Seins und Werdens restlos beharrt, eignet der „Natur“, nie
aber der „Geschichte“. Schon an diesem Punkte, allerdings einem
Hauptpunkte, ist der abgrundtiefe Gegensatz zwischen „Natur“ und
„Geschichte“ mit Händen zu greifen. Die „Natur“ bleibt innerhalb
der logischen und mathematischen Gesetzlichkeit ihres Seins und
ihrer Abläufe; sie erschöpft sich in ihr. Es hat keinen klar und metho-
disch angebbaren Sinn, ein Hinaus über diese Bindungen zu er-
fragen oder zu erwarten oder zu fordern. Und deshalb hat es auch
keinen Sinn, von einem „Sinn“ der Natur zu sprechen, solange ihr
gegenüber der wissenschaftliche Gesichtspunkt eingenommen und
gewahrt wird. Betrachten wir sie aber mit den Augen z. B. des
Pantheisten oder überhaupt mit irgendeinem künstlerisch und
religiös gefärbten Blick, so verwischen wir den Begriff der Natur
zugunsten einer persönlichen Stellungnahme, Auffassungsweise,.
Liebhaberei, Deutung.
Völlig anders steht die Sache in bezug auf das geschichtliche
Leben und in bezug auf die Notwendigkeit einer Sinn-Annahme
und Sinn-Forderung ihm gegenüber. In dieser Sinn-Annahme und
Sinn-Forderung ruht die Annahme und Forderung der Anti-
nomie, der Dialektik der Geschichte zu sich selber!
Denn ist es nicht der Hauptwesenszug dieses geschichtlichen Lebens,
daß sein empirisches Sein, daß seine historische Tatsächlichkeit
immer in Verbindung steht mit einem metaphysischen Ziel, das
niemals im Rahmen der geschichtlichen Entwicklungen erreicht, ja,,
von den empirisch-geschichtlichen Bedingungen und Lagen aus nie-
mals verstanden werden kann? Ist es nicht ein besonderer und hin-
länglich nachdrücklicher Beleg für seine unaufhebbare Dialektik
und Paradoxie, daß dieses machtvolle, dieses wilde, in tausend
Strömungen und Durchkreuzungen dahinschießende, in launen-
hafter Eigenmächtigkeit und Unberechenbarkeit sich gefallende
Leben trotzdem dem Zwang zur Verantwortlichkeit vor einer höheren,
ihm überlegenen Instanz unterstellt wird, daß wir, die wir doch an-
geblich seine Geschöpfe sind, zu Richtern über es werden, ihm mit
Tafeln voll von Geboten entgegentreten? Wonach richtet sich das
geschichtliche Leben? Nach den Gesetzen des Seins, nach denjenigen
48
Dialektik und Leben
Formen, die aus den tatsächlichen Verhältnissen, Entwicklungen,
politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen Fak-
toren sich ergeben? Aber diese Verhältnisse und Faktoren —sind
sie selber weiter nichts als Tatsachen? Steckt und wirkt in ihnen
nicht die „Idee“, das transzendente Sollen? Und strahlen von
diesem Sollen nicht Forderungen und Gesetze aus, deren Wesen und
Sinn gerade in ihrer Spannung gegenüber den Realitäten und den
empirisch-realen Gesetzen bestehen? Keine geschichtliche Gegeben-
heit ohne eine für sie transzendente Aufgegebenheit, und mag sie
auf die Bewahrung und Mehrung ihrer historischen Macht noch so
eifersüchtig bedacht sein. Jede geschichtliche Gegebenheit, sei es
ein Staat oder eine Rechtsform, eine Wirtschaftsorganisation oder
ein Industrieunternehmen, eine Einrichtung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens oder eine bestimmte Gestalt der Kunst oder der
Wissenschaft, eine Kirche oder nur ein Freundschaftsbund, entstammt
aus transzendenten Absichten, die sich in der Realität der be-
treffenden Gegebenheit niemals rein bekunden und verwirklichen.
Sie weist auf transzendente Ziele hin, die als ewige Forderungen sie
nicht bloß lenken, sondern ihre geschichtliche Realität unter Um-
ständen sogar zugrunde richten! Was würde aus dem Staat, wenn
er ganz „gerecht“, was aus der Wirtschaft, wenn sie für alle Be-
teiligten gleich ökonomisch förderlich, was aus der Kirche, wenn
sie restlos von dem Prinzip der Liebe erfüllt wäre? Hat das Leben
durch seine Beziehung auf die dialektische Norm bloß seinen
Förderer, nicht auch seinen Feind und Hasser in sich?
Keine wissenschaftliche Erkenntnis, vielmehr allein der religiöse
Glaube vermag in einer, wohl aller begrifflichen Eindeutigkeit ent-
hobenen Gewißheit einen Ausgleich zwischen der dämonischen Ur-
kraft des Lebens und seiner ihm sittlich notwendigen Selbstüber-
windung zu lehren. Nur erwägt die Feindschaft gegen jene Dämonie.
Nur er gewährt dem Leben sein tragisches Hinauswachsen über sich
selber und damit seine Befreiung von sich selber. So sehr natura-
listische oder biologistische Auffassungen des Lebens seine Selbst-
herrlichkeit und Eigenmacht unterstreichen und preisen mögen,
man braucht nur an Friedrich Nietzsches Jubellied auf die unab-
meßbare Urmacht des Lebens, z. B. im „Zarathustra“ zu denken:
an der Instanz, daß wir das Leben werten oder nach einer Lebens-
wertung streben, ringt das Leben bereits kraft einer es selber rück-
sichtslos überbietenden Idee sehnsüchtig über sich selbst hinaus,
wird seine biologisch-naturalistische Gesetzlichkeit durchbrochen,
Dialektik und Leben
49
bahnt sich sein Sieg über sich selber an. Und ohne diesen Durch-
bruch über sich selbst hinaus, ohne diese Freiheit von sich selber,
ohne sein Überwundenwerden von der Idee her ist es selber in
allem seinem Glanz nicht möglich. Es gehört zu seinen Bedin-
gungen, von sich loszukommen und in einer Dialektik zu sich selber
zu stehen. —
Daß wir Menschen es unternehmen, das Leben werten zu wollen,
das ist, gleichgültig wie diese Wertung ausgeht, eine überwältigende
Vermessenheit. Das ist die Haltung des Richters, des Kritikers, die,
bereits ihrer Absicht nach, in irgendeiner Beziehung eine Freiheit
gegenüber dem Druck des Lebens voraussetzen. Wenn die kritische
Philosophie, wenn die auf Kant sich aufbauende Metaphysik und
Lebensanschauung subjektiv und objektiv, der Gedankenform, der
geistigen Einstellung und dem Gedankeninhalt, d. h. dem durch
diese Einstellung bearbeiteten Stoff nach, die Philosophie der
Freiheit ist, so prägt sich die Kraft dieser Freiheit in den Versuchen
um autonome Wertgebung und Bewertung des menschlichen Da-
seins nachdrücklich genug und frei genug aus. Hier gilt kein, durch
göttliche Autorität gesetztes, von uns also bloß hinzunehmendes
Dogma, das uns sagt, was an uns und allem Leben daran sei; ein
solches Dogma schließt keine Verpflichtung für uns gegenüber dem
Leben und kein Sollen in bezug auf die Überwindung des Lebens
in sich. Es ist ohne Zweifel das schwerste Versagen des Dogmatis-
mus auch in sittlicher Beziehung, also in der Richtung auf Verant-
wortlichkeit, daß er die Überwindung der „Schuld“ durch ein Gebot,
daß er die Höherbildung des Menschen durch eine „Lehre“, daß er
das Freiwerden des Lebens von sich selbst durch einen Heilsglauben
begründen zu können meint. Die Dialektik des Lebens kann,
wenn sie von uns in aller ihrer Größe und Wahrheit empfunden
und erkannt wird, nur aus sich selber verstanden und gewertet
werden.
In dem Leben selber liegt das antinomische Schicksal, das sich
darin ausdrückt, seine Macht ebenso rückhaltlos durchzusetzen und
zur Geltung zu bringen als auch zugleich in demselben Akt sein
Wollen auf ein über seine Existenz hinaus liegendes Ziel, auf einen
transzendenten Wert und Zweck autonom einzustellen. Wir könnten
in hundert Fassungen den Gedanken aussprechen, daß die ange-
deutete Dialektik des Lebens zu den eigentlichen und ewigen Wesens-
zügen des Lebens gehört, aber gehört nicht etwa als gelegentliche
Liebert, Dialektik. 4
50
Dialektik und Leben
Eigenschaft und willkürliches Zubehör, sondern als sein Faktor, als
seine schöpferische Bedingung, als seine ewige Selbstverwirklichung,
ja als seine ewige Aufgabe und Bestimmung, die aus ihm selber
hervorgetrieben wird, weil sie seine Aufgabe und seine Bestimmung
darstellt. Ohne diese Ur-Dialektik keine Erneuerung des
Lebens. Wo sich, ganz unabhängig von jeder besonderen Gestalt,
eine solche Erneuerung, eine Wendung, eine Krisis des Lebens
anbahnt oder anzubahnen sucht oder auch nur in Aussicht steht,
da läßt sich mit Sicherheit das Wiedererwachen und Wirk-
samwerden der ewigen Lebensdialektik annehmen. So gewiß, wie
mit allem Dasein das Moment der Krisis gesetzt, wie in alles Dasein
das Moment der Krisis eingeschlossen ist, wie ihm immer ein schick-
salsmäßiges Risiko innewohnt, so gewiß lebt auch alles Leben in
einer Dialektik, lebt es zuhöchst nur von ihr. Das Leben wäre nicht
frei, es wäre also ,,totes Sein“ und nicht Leben, wäre es nicht sein
Schicksal, dialektisch zu sein und seinen Wert in seiner Dialektik
zu erproben und zu offenbaren.
Diese unmittelbare und unzerreißbare Wechselbeziehung zwischen
dem Leben überhaupt und dem Faktor der Dialektik, diese meta-
physische Rechtfertigung des Lebens aus seiner Dialektik,
aus seiner Unruhe, aus seinem Übersichemporgerissenwerden läßt
uns den Grund für die Erneuerung der Dialektik in dem
Leben der Gegenwart tiefer, d. h. aus der Metaphysik des
Lebens selber her begreifen. Diese Erneuerung wurzelt nicht in
zufälligen geschichtlichen Erscheinungen und speist sich nicht aus
dem äußeren Zusammenfluß solcher, miteinander schwer verträg-
licher Bewegungen. In dem herben Durchbruch solcher schweren
antinomischen Bewegungen, von denen sogleich die Rede sein
wird, und deren Zwiespältigkeit untereinander unserer Zeit und uns
die Ausgeglichenheit des Klassizismus genommen hat, tritt die
ewige Dialektik des Lebens in einer nur zum Teil geschicht-
lich bestimmten Sonderausprägung hinein in das Bewußtsein und
in das Handeln der Gegenwart. Und lediglich dadurch, daß die
empirisch-geschichtlichen Spannungen hervorwachsen aus der Tiefe
der schöpferischen Ur-Dialektik, gewinnen sie eine mehr als bloß-
geschichtliche Geltung und Notwendigkeit. Das soll nicht heißen,
sie seien in ihrer konkreten Erscheinungsweise und in der konkreten
Komplikation, in der sie im geschichtlichen Wirkungszusammenhang
auftreten und sich entfalten, aus der Ur-Dialektik ohne weiteres
ableitbar. Wohl aber soll dieser Gedanke besagen, daß jede einzelne
Dialektik und Leben
51
geschichtliche Spannung und das Hervortreten der Dialektik zu
einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gestalt grundsätz-
lich in der Ur-Dialektik des Lebens angelegt und durch sie sinnhaft
und metaphysisch beglaubigt sind. Ja, noch mehr. Sie ziehen nicht
allein den Umstand, daß sie überhaupt zum Ausdruck gelangen
und das Wesen einer Zeitlage charakterisieren, sie ziehen mit anderen
Worten nicht bloß ihre Tatsächlichkeit, sondern auch — und das
wiegt ungleich schwerer — ihr Recht aus der metaphysischen Lebens-
dialektik, die dadurch nichts Geringeres als ihre sittliche Funk-
tion erweist.
Dann jedoch sind auch die tatsächlichen Einzelspannungen nicht
willkürliche und nicht äußerliche, nicht gelegentliche, der Laune
einzelner unruhiger Geister entsprossene ephemere Niederschläge
jeweils auftauchender Entladungen. Sie bilden vielmehr aus innerer
und sozusagen mit sittlicher Notwendigkeit das Schicksal einer Zeit,
das niemals „gemacht“ wird, das in uns und mit uns da ist, wie
das Leben selber in uns da ist. Wir wollen, um uns dem Sprach-
gebrauch der kritischen Philosophie anzuschließen, von der Auto-
nomie der dialektischen Spannungen reden. Diese Span-
nungen treten demnach keineswegs von außen her auf uns zu; wir
werden nicht durch einen äußeren Befehl mit ihnen belastet; sie
werden uns nicht zugemutet und die Auseinandersetzung mit ihnen
wird uns nicht angesonnen. Wäre das der Fall, dann würde ihnen
mit ihrer Autonomie auch ihre sittliche Notwendigkeit und ihr sitt-
liches Recht fehlen. Wir könnten ihnen ausweichen oder ganz ent-
weichen. Oder ihnen höchstens eine wissenschaftliche Aufmerksam-
keit widmen und sie zum Gegenstand einer philosophisch-begriff-
lichen Untersuchung und Klarlegung machen. Doch hier ist eine
solche intellektuelle und theoretische Einstellung und Bezugnahme
nichts weniger als ausreichend, weil nichts weniger als angemessen.
Die Auseinandersetzung mit der Dialektik, auch mit derjenigen, die
das Zeitalter der Gegenwart beherrscht, ist eine sittliche Aufgabe
und eine sittliche Pflicht, weil es unsere autonome sittliche Tat ist,
der diese Dialektik entstammt. Im tiefsten Wesensgrunde ist die
Beschäftigung mit der Dialektik diejenige — vielleicht tragische —
Auseinandersetzung, die das Leben mit sich selber, die wir Menschen
mit uns selber als unsere wesentlichste Bestimmung vorzunehmen
haben. Sie ist der Kampf des Lebens in und um sich selber. Und
sie stellt endlich auch einen, oder dürfen wir sagen?, den Wert-
messer des Lebens dar. Dieser Wertmesser wird nicht von außen her
52
Dialektik und Leben
heteronom an das Leben herangebracht, so daß wir ihn im ganzen
oder in seinen Einzelstufen und ihrer Verteilung untereinander mit
unmutiger Mißbilligung als ein künstlich zurechtgemachtes Beur-
teilungsprinzip ablehnen könnten. Von der Dialektik sprechen, das
heißt mehr, als sie nur mit der kalten Gebärde begrifflicher Wissen-
schaftlichkeit ins Auge fassen: das heißt, den autonomen Kampf des
Lebens wagen; das heißt, sich in das Leben selber versenken; das
heißt, dem Schicksal des Menschen ins Antlitz schauen und das
eigene Schicksal ergreifen und zu verstehen suchen.
B. Dialektik und Philosophie.
o gilt uns, was zweifellos bereits aus den vorangehenden An-
O deutungen ersichtlich geworden ist, die „Dialektik“ als ein ent-
scheidender Wesenszug des Lebens; sie bedeutet sowohl die schöp-
ferisch treibende Voraussetzung als auch die Norm und das Postulat
des Lebens. In nichts bekundet sich die Dialektik dieser Dialektik
wohl schärfer und offenbarer, in nichts bekundet sie sich sinnvoller
und sichtbarer eben als „Dialektik“ denn darin, daß sie beides zu-
gleich ist, beides zugleich in sich trägt: Grundlage und Ziel, Sein
und Norm, Bedingung und Aufgabe zu sein. Sie gründet das Leben
und treibt es sofort über sich hinaus. Sie schafft dem Leben sein Sein
und hebt dieses, also doch ihr eigenes Sein, unmittelbar und un-
unterbrochen in eine neue, in eine andere Sinnrichtung. Denn nur
aus ihr quellen die Unruhen und Aufgaben, quellen die Begrenzungen
und die Unendlichkeiten, die rationalen und die irrationalen Struk-
turen und Seiten des Lebens, seine so seltsam und tröstend gemischten
komischen und tragischen Züge, seine Kleinlichkeiten und Engen
ebenso wie seine Wildheiten und Heroismen.
Darin zeigt sich die sogar noch mehr als sittliche Kraft
der Dialektik. Weiter oben wiesen wir zunächst nur auf diese
moralische Qualität der Dialektik hin. Je tiefer aber der Blick
in ihren Sinn eindringt, um so mehr erhellt sich ihre Bedeutung
als metaphysischer Wesenskern des Lebens, um so mehr
verdeutlicht sie sich als das, was das Leben „eigentlich“ ist. Wir
stehen damit dicht vor dem Ansatz zu einer Metaphysik der
Dialektik, dem sicherlich nicht bloß größten und schwie-
rigsten, sondern auch dringlichsten Unternehmen der
Philosophie, demjenigen Unternehmen, das als Aufgabe unmittel-
bar mit dem Begriff der Philosophie gesetzt ist, das als Idee jeden
Schritt, jeden Gedanken, jede Problemaufstellung und jeden Lösungs-
anschlag echten philosophischen Überlegens gründet, trägt und leitet.
In und an der Dialektik besitzt die Philosophie, besitzt die Meta-
physik ihre Legitimation, besitzt sie ihre systematische Festigung
54
Dialektik und Philosophie
und ihre systembildende Kraft, besitzt sie zugleich den unverkenn-
baren, nicht zu verwechselnden, sie vor allem von der Religion ab-
hebenden Ausweis ihrer Eigenart, besitzt sie das Kriterium, um ihr
Wesen kenntlich und geltend zu machen und um sich in ihrer Be-
sonderheit und als Besonderheit neben den übrigen Kulturkreisen
theoretischer und praktischer Art durchzusetzen.
Diese Erkenntnis ist der Philosophie durch Platon gewonnen
worden. Durch diese Erkenntnis ist die Philosophie durch Platon
ihrer Eigenart gewiß geworden. Das aber bedeutet, daß durch diese
Erkenntnis die Philosophie überhaupt erst geschaffen wurde. Unter
der schöpferischen Führung des Gesichtspunktes der Dialektik
wurde von diesem tiefsten und umfassendsten Denker der abend-
ländischen Philosophie der Begriff der Philosophie entdeckt und
zugleich gesichert. Seitdem ist die Philosophie auf die Dialektik
gegründet, und ihr System ist nur möglich geworden und möglich
geblieben als Form und Gestalt der Dialektik. Das hat niemand
klarer durchschaut als Kant. Deshalb richtet er sich in seinem
Kampf gegen die alte dogmatische Philosophie gegen nichts anderes
als gegen die Dialektik; deshalb ist seine Kritik der Metaphysik eine
Kritik der Dialektik geworden. Da jedoch keine wahre Philosophie,
also auch keine echte Kritik für sich der Dialektik als Grund-
legung und Richtmaß, als Voraussetzung und Prinzip entraten kann,
so beruht Kants eigenartige Kritik der Dialektik selber auf einer
Dialektik, so ist dieser großartigste Kritiker der Dialektik selber
Dialektiker und damit Platoniker.
Nun wäre es ebenso reizvoll wie angebracht, einmal Kant als
Dialektiker herauszustellen und den Dialektiker Kant darzustellen,
noch über das Maß dessen hinaus, was ich in meinem Buche ,,Wie
ist kritische Philosophie überhaupt möglich?“ versucht habe. Trotz-
dem muß ich mir an dieser Stelle versagen, auf diese Aufgabe
einzugehen. Nur das eine darf hier betont werden, daß die Auf-
deckung der großartigen Dialektik, auf der die kritische Philosophie
beruht, und die geradezu diejenige Methode ist, auf der der Kritizis-
mus als Kritizismus, als System, als Gedankentat, als philosophische
und kulturgeschichtliche Leistung nach Ansatz wie Ausführung,
nach Idee wie Lehre, als Standpunkt und als Ereignis sich gründet,
daß diese Aufdeckung, so möchte ich sagen, mit dem haltlosen
Mißverständnis aufräumen wird, nach dem Kant der Anhänger und
Sachwalter einer in der Hauptsache rationalistisch-mechanistischen
Wirklichkeitsauffassung und Lebensanschauung gewesen und seine
Dialektik und Philosophie
55
„Kritik“ abhängig sei von dem Vorbild der Newtonschen Physik.
Das Urteil, das in Kant und in der Philosophie Kants den mecha-
nistischen Standpunkt vertreten findet, das Kant und seinen
Kritizismus im wesentlichen an den, in diesem naturwissenschaft-
lichen Mechanismus zum Ausdruck gelangenden Sonderrationalismus
anschließt, wird eine vollständige Änderung erfahren im Falle der
Selbständigkeit beim Durchdenken des gewaltigen und höchst
verwickelten Problems, das sich hinter dem abgegriffenen Stich-
wort „Kritische Philosophie“ verbirgt. Über kaum eine andere
philosophische Richtung hat sich eine so große Zahl von festen,
gleich Erbübeln weiterwuchernde Fehlansichten eingenistet wie über
die Kritik Kants. Bequemlichkeit, Anhänglichkeit an einmal über-
lieferte und immer wieder vorgebrachte Deutungen, die weniger
von den ersten kantischen als vielmehr von den ersten neukanti-
schen Schulen entwickelt wurden, ferner der begreifliche Wunsch,
mit dem Kant-Problem möglichst schnell fertig zu werden, nicht
zuletzt die immer wieder zu beobachtende Neigung und Gepflogen-
heit, in handlichen und landläufigen Schematen zu denken und selbst
große geschichtliche Erscheinungen durch allgemeine Schlagworte
zu kennzeichnen, alles das hat eine wahre Bergwand von ebenso
äußerlichen wie unzutreffenden Meinungen über die Voraussetzungen
und den Sinn und Wert der kritischen Systematik aufgetürmt. In
den Bemühungen um eine Erklärung und um ein Verständnis dieser
Systematik bekundet sich oft nicht bloß theoretisches Mißverstehen,
sondern man kann nicht selten gewahren, daß sich bereits in dem
Ansatz zu einer Darstellung der Philosophie Kants bestimmte
dogmatische Vorurteile bis hinein zu parteipolitischen und konfes-
sionalistischen Voreingenommenheiten geltend machen. Und nach-
dem man sich einen Popanz Kant zurechtgekünstelt hat, fällt es
natürlich nicht schwer, diesen Popanz z. B. von dem Stand-
punkt des Irrationalismus oder von dem der Lebensphilosophie ab-
zustechen, ist es leicht, Kant als überlebt hinzustellen, ist es leicht,
Kant zu widerlegen. Die Geschichte derjenigen Darstellungen, die
der kritischen Philosophie zuteil geworden sind, liefert in mehr als
einem Fall einen lehrreichen Beitrag zur Geschichte und zur Psy-
chologie der menschlichen Irrtümer. Es liegt ein gewaltiger Gegen-
stand vor, und indem die Kraft und die Kunst der Interpretation
um seine Bewältigung ringen, entzündet sich so mancher weg-
weisende Feuerschein, schwelt aber auch so mancher dumpfer und
düsterer Rauch auf.
56
Dialektik und Philosophie
Doch während wir hier davon Abstand nehmen wollen, die in
der kritischen Philosophie wirksame Dialektik darzustellen, dürfen
wir jetzt von der wichtigen Aufgabe einer andeutenden Kenn-
zeichnung der Hauptpunkte einer „Metaphysik der Dialektik“ nicht
absehen. Und das notwendige Korrelat zu dieser Untersuchung be-
steht in der Darstellung der „Dialektik der Metaphysik“. Denn in
dieser Untersuchung gelangt von der Metaphysik der Dialektik ge-
rade derjenige Punkt, der die grundsätzliche und kategoriale Geltung
der Dialektik für die Grundlegung, ferner für den Aufbau und end-
lich für den Bestand und die Eigentümlichkeit, für die Leistung
und das Ansehen der Metaphysik klarlegt, zu systematischer Be-
handlung.
Nachdem wir die Bedeutung der Dialektik als Leben, als Lebens-
macht, als Schicksal und alsdann ihren grundlegenden systemati-
schen und kategorialen Geltungswert für die Philosophie mit einigen
Strichen zu kennzeichnen versucht haben, beginnen wir, um unseren
Boden für die Durchführung unserer Arbeit zu sichern, mit der
Darstellung typischer Einwände gegen die Möglichkeit und gegen
das Recht der Metaphysik und mit einer Nachprüfung des Rechtes
dieser Einwände.
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
und Kritik dieser Einwände.
1. Prinzipieller Wert dieser Ein wände.
Der Gesamtverlauf der geschichtlichen Entwicklung der Meta-
physik ist von immer erneuten scharfen Einwendungen gegen das
Recht der metaphysischen Spekulation begleitet. Jede Behauptung,
die sich auf die Erkenntnis des Wesens der Erscheinungen bezieht,
hat schwerwiegende Beanstandungen erfahren. Mit derselben In-
brunst, mit der der metaphysische Trieb sich auszuwirken suchte,
ist auch die Widerlegung der Metaphysik in Angriff genommen
worden. Es scheint, als wenn hier letzte Neigungen bzw. Ab-
neigungen eine entscheidende Rolle spielen. Es liegt nahe, wie
von einem Urerlebnis, das zur Schöpfung metaphysischer Kon-
struktionen hindrängt, so auch von einer geradezu elementaren und
naturhaften Ablehnung, die aus dem Geiste bestimmter Typen der
Menschen gegen die Metaphysik hervorbricht, zu sprechen.
Es wäre nun selber eine metaphysische Aufgabe, jenem Urerlebnis
nachzugehen, das für die Wendung zur Metaphysik maßgebend ist.
Die Mittel der Psychologie scheinen für die angemessene Erfassung
dieses Urerlebnisses nicht auszureichen. Und zwar darum, weil sie
lediglich den effektiven Tatbestand dieses Erlebnisses und sein
effektives Hervorbrechen, d. h. seinen Eintritt in den Bereich der
seelischen Erscheinungen zu erfassen vermögen. Aber hinter oder
jenseits jener merkwürdigen Tatsache, die darin besteht, daß be-
stimmt befähigte Menschen zur metaphysischen Erkenntnis begabt
sind, die ihrerseits auf ein dieser Erkenntnis gemäßes Erlebnis zurück-
geht, lebt und wirkt eine ganz paradoxe Tendenz. Diese Tendenz
hat ihr Wesen darin, daß sie die Umsetzung in die positive Er-
scheinungswelt ablehnt, ja gegen diese Umsetzung sich geradezu
sträubt und den Bereich der Erscheinungen nicht nur durchbricht,
sondern in einen höheren transzendenten Bereich hineinhebt. Dieser
transzendente Bereich ist durch keine positive Wissenschaft, also
58
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
auch nicht von der Psychologie zu erreichen. Während alle übrigen
Erlebnisse dahin drängen, sich positiv darzustellen und dadurch den
Charakter tatsächlicher seelischer Vorgänge annehmen, widersetzt
sich das metaphysische Erlebnis einer solchen Überführung und
einem solchen Übergang in die Sphäre empirisch und positiv be-
stimmbarer seelischer Verläufe. In ihm arbeitet eine dialektische
Kraft. Der Metaphysiker spricht nämlich sein Erlebnis und seine
Erkenntnis realiter aus und verendlicht sie dabei auf bestimmte Art
und Weise. Doch, was er in jenen Erlebnissen erlebt und mit
seinen Erkenntnissen ausdrücken will, das soll grundsätzlich dem
Zusammenhang des Endlichen entnommen bleiben und einen,
diesem Zusammenhang überlegenen eigentümlichen Seinswert und
Sinngehalt bewahren. Bezeichnen wir diesen Seinswert und Sinn-
gehalt als ,,absolute Wesenhaftigkeit“, so wird klar, daß von keiner
positiv-wissenschaftlichen Einstellung aus eine angemessene Dar-
stellung dieser Wesenhaftigkeit geboten werden kann.
Alle positiven Wissenschaften haben es mit positiven, den empi-
rischen Gesetzlichkeiten unterworfenen, mit endlichen und ab-
hängigen Erscheinungen zu tun. Aus dieser Einsicht ergibt sich
eine höchst bedeutsame Folge in bezug auf die Geltung, die allen
Einwänden gegen die Metaphysik, sofern diese Einwände von seiten
einer positiven Wissenschaft kommen, innewohnt. Können denn
Bedenken, die gegen die Metaphysik unter dem Gesichtspunkt einer
ihr inadäquaten Wissenschaft erfolgen, siegreiche Kraft haben?
Mit Recht verfällt sonst eine Kritik, die einem Gegenstand nur von
außen her zuteil wird, dem Tadel der Unzulänglichkeit. Denn in der
Wissenschaft muß auf einer immanenten Prüfung bestanden werden.
Wo und wann ist der Metaphysik aber eine solche immanente Kritik
beschieden gewesen ? Ein ursprünglicher seelischer Widerwille gegen
sie besagt natürlich nicht das mindeste. Hier steht einfach Stimmung
gegen Stimmung, Wunsch gegen Wunsch, Überzeugung gegen Über-
zeugung. Eine Erschütterung des Rechtes der Metaphysik kann
nur — aus der Metaphysik selber hervorgehen. Das aber heißt:
Die Metaphysik ist, sobald man sich wirklich in ihren Sinn versetzt
und die Autonomie ihres Wesens begreift und würdigt, nicht zu er-
schüttern. Daher die charakteristische Ergebnislosigkeit aller Ein-
wände, die von den verschiedensten Standpunkten aus gegen sie
erhoben worden sind. —
Dennoch wollen wir diese Einwände an unseren Blicken vorüber-
ziehen lassen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens sind sie lehr-
1. Prinzipieller Wert dieser Einwände
59
reich, weil sich in ihnen selber eine typische Geisteshaltung und eine
typische Kulturlage ausdrücken. Wer in das Wesen der Metaphysik,
in die Autonomie und Dialektik ihres Begriffs eindringen will, der
muß die Gegner berücksichtigen und verstehen. Damit sind wir
zum zweiten Grund für die Beachtung der Beanstandungen, die
die Metaphysik erfahren hat, gelangt. Indem wir uns jene Einwände
vergegenwärtigen und ihr Verhältnis zu dem kritisierten Gegen-
stände bedenken, stoßen wir auf den Punkt, in dem sie die Meta-
physik mißverstanden haben, so daß ihre Kritik im Grunde gegen-
standlos blieb und bleiben mußte. Wie aber können wir den Punkt
des Mißverständnisses anders erhellen als dadurch, daß wir die
Eigentümlichkeit der Metaphysik feststellen? Darum fördert uns
die Erörterung jener Einwände ganz folgerichtig in unseren Be-
mühungen, die auf die Klarlegung und Sicherung der Metaphysik
abzielen, die das Recht ihres Begriffs verteidigen und neben der
Autonomie ihres Wesens auch ihre moralische und religiöse Unent-
behrlichkeit darstellen wollen.
Denn eine solche Unentbehrlichkeit wohnt ihr tatsächlich im
höchsten Grade inne, wenn anders ihre Stellung im Geistesleben
und ihre stets erneute Wiederherstellung begreiflich und begründet
sind. Jede Kulturlage ist von der Ausbildung eines bestimmten
metaphysischen Systems begleitet; jede Kulturlage und Kultur-
form findet in einem solchen System ihr begriffliches Spiegelbild.
Deshalb können es keineswegs ausschließlich intellektuelle Beweg-
gründe sein, die die Bildung eines metaphysischen Systems be-
dingen. Und es können deshalb nicht ausschließlich intellektuelle
und theoretisch-formale Einstellungen sein, von denen aus ein
metaphysisches System zu verstehen und adäquat zu kritisieren
ist. Die Frage, ob und in welchem Sinne die Metaphysik dem engeren
Kreise der eigentlichen und positiven Wissenschaften angehört, ist
schon von Anfang an abwegig. Es besagt, wie kein anderer als
Kant in überzeugender Weise dargetan hat, nichts gegen ihren
objektiven Geltungswert, daß ihr jene eigentümliche Wissenschaft-
lichkeit nicht zugesprochen werden kann, die von den Gebieten der
positiven Erkenntnis vertreten und verkörpert wird. Eine imma-
nente Kritik der Metaphysik treiben, heißt, die Meta-
physik immanent aufbauen. Das Verständnis, das ihr ent-
gegengebracht wird, bildet schon an und für sich ein Element für
ihre positive Entwicklung. Ihre Grenzen ergeben sich nicht von
außen her, sondern aus den Quellen ihrer Kraft; sie sind soweit vor-
60
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
geschoben, als die Fähigkeit zu metaphysischer Gedankenbildung
reicht. Also sind sie nicht ein für allemal festzulegen, etwa durch
die übliche erkenntnistheoretische Kritik, deren Geltung höchstens
bis zu den Vorhöfen der Metaphysik reicht, nur bis dahin, wo die
Verbindung der Metaphysik mit den positiven Wissenschaften
beginnt, und soweit sie den Anspruch erhebt, positive Wissenschaft
zu sein. Zwar hat sie selber oft einen solchen Anspruch erhoben
und ihn gegen den Ansturm von Einwänden zu rechtfertigen gesucht,
ln einem solchen Verhalten aber hat sie sich selber mißverstanden
und ihre Position eher geschwächt als gestärkt.
Denn der Grundstein ihres Gebäudes ist nicht in den Vorhöfen
eingemauert; er liegt, um ein Bild Hegels zu gebrauchen, im Aller-
heiligsten der menschlichen Erkenntnis.
2. Kants Kritik der Metaphysik.
Wenden wir uns aber mit der Ablehnung der Zulänglichkeit
und des Rechtes der erkenntnistheoretischen Kritik an der Meta-
physik nicht gegen die so viel gerühmte und berühmte Tat Kants,
der nach unendlich oft gehörter Behauptung eben von der Seite
jener Kritik aus die Unwissenschaftlichkeit der Metaphysik end-
gültig dargetan und ihre Beseitigung im Prinzip erreicht habe?
Nun erübrigt es sich, darauf hinzuweisen, daß der große Kritiker
der Metaphysik selber ein großer Metaphysiker war, der in die Meta-
physik nach seinem eigenen Geständnis nicht bloß verliebt war,
und ihr dann, als seine Liebe keine Erwiderung fand, nicht etwa
den Scheidebrief ausstellte, sondern daß er ihr auch den Besitz ganz
positiver Werte nachwies. Wie lehrreich und folgerichtig ist in dieser
Beziehung die Entwicklung des Neukantianismus. Seine ver-
schiedenen Stufen und Ausprägungen, und deren Zahl ist nicht klein,
sind ebenso viele Grade in der Entwicklung der Bewertung der
Erkenntnistheorie für die Frage der Geltung der Metaphysik. Die
älteste, etwa durch Otto Liebmann, Friedrich Albert Lange, Alois
Riehl, Erich Adickes vertretene Stufe des Neukantianismus ist da-
durch gekennzeichnet, daß hier die Überzeugung verfochten wurde,
die große und entscheidende Tat Kants sei die endgültige Verbannung
der Metaphysik aus dem Kreise aller Wissenschaft überhaupt ge-
wesen, und diese Tat habe Kant durch seine Erkenntniskritik ge-
leistet, die das Haupt- und Herzstück seines ganzen Kritizismus
bedeute. Von dieser Stufe aus führt dann die weitere Geschichte
2. Kants Kritik der Metaphysik
61
des Neukantianismus endlich bis zu dem gegenteiligen Nachweis,
daß Kant durch seine Erkenntniskritik gerade umgekehrt eine ge-
waltige Arbeit im Interesse der Metaphysik und des Verständnisses
für sie geleistet habe. Die Erarbeitung eines solchen Verständnisses
sei ihm jedoch nur gelungen, weil er, weit über die Geltungs-
sphäre einer negativ-kritischen Einstellung hinaus, von dem Geist
der Metaphysik erfüllt war und in ihm lebte.
Es bedeutet keinen Versuch einer Minderung des Gesamtwertes
der kantischen Tat, wenn wir uns zum Anwalt der Behauptung
machen, daß Kant durch seine Erkenntnistheorie die Metaphysik
nicht beseitigt, sondern ihr mehr genützt als geschadet habe. Denn
befreit hat er sie von einem unberechtigten Geltungsanspruch; ge-
nommen hat er ihr ein falsches Ansehen, herausgelöst hat er sie aus
den Klammern einer Verbindung, in der sie weder gedeihen noch
sterben konnte. Verging sie sich nämlich nicht gegen ihren Sinn und
gegen ihre Absicht, untergrub sie sich nicht selber die Größe ihrer
Existenz und die innerliche Bedeutung ihres Wesens, wenn sie auf
Grund ihres allzu willfährigen Anschlusses an die Mathematik und
an die mathematischen Naturwissenschaften sich den Wert einer
streng rationalistischen und begrifflich beweisbaren Weltkonstruktion
aneignete? Indem sie die Welt rationalisierte, vollzog sie dadurch
nicht auch mit sich selbst eine Rationalisierung, die ihr Wesen ver-
fälschte und verflachte ? Sie begab sich in die Fron einer spezifischen
Wissenschaftlichkeit, deren Wert und Forderungen sie nicht ent-
sprechen durfte. Und verblieb sie in dieser schiefen Haltung, als
könnte sie in der Form einer mathematischen Beweisführung das
Grundprinzip aller Erscheinungen aufdecken und darstellen, so
zwang sie aus eigenem Antriebe den Vergleich zwischen sich und der
mathematischen Naturwissenschaft heraus. Konnte dieser Vergleich
anders als zu ihren Ungunsten ausfallen? Sprach Kant in seiner
Erkenntniskritik nicht mit unwiderstehlicher Logik klipp und klar
aus, was sich jedem offenen Blick ohne weiteres als die Folge einer
unglücklichen Gemeinschaft erschließen mußte?
Von dieser Seite aus gesehen, kann die Leistung Kants als die
vorweggenommene theoretische Formulierung eines Ergebnisses be-
trachtet werden, zu dem die fortschreitende Entwicklung des Ver-
ständnisses für das Wesen der Wissenschaften sozusagen von selber
führen mußte. Mir scheint, daß der kantische Kritizismus seine
Bedeutung weniger in der Kraft zur Schlichtung des alten Gegen-
satzes von Rationalismus und Sensualismus zeigt als in der groß-
62
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
artigen Klarheit, mit der er ein Mißverhältnis aufdeckte, das zur
Auflösung innerlich reif war. Allerdings durchschaute keiner seiner
Zeitgenossen die Haltlosigkeit der soeben angedeuteten Gemein-
schaft. Vielmehr sah jedermann in der damaligen Ausbildung der
Metaphysik eine Blüte ihrer Entwicklung und ließ diesen scheinbar
glänzenden Zustand durch ihre Beziehung zu den mathematischen
Naturwissenschaften und durch den daher entnommenen Gebrauch
des mathematischen Beweisganges bedingt sein.
Es konnten nicht die doch nur äußerlichen Angriffe Lockes und
Humes gegen die Metaphysik sein, die einen Argwohn gegen die
Geltung und gegen die Sicherheit der Spekulation wach werden ließen.
Daß die Metaphysik von diesen Angriffen kaum berührt, geschweige
denn ernstlich verletzt wurde, da dieselben von dem Standpunkt
eines recht oberflächlichen Empirismus aus erfolgten, konnte dem
Scharfblick der deutschen Metaphysiker nicht verborgen bleiben.
Sie selber waren Rationalisten, waren Leibnizianer, waren vom
Geist des Rationalismus und vom Vertrauen zu diesem Geist durch-
drungen. Wie konnte da auf sie eine vom empiristischen Stand-
punkte her erfolgende Kritik der Metaphysik einen stärkeren Ein-
druck ausüben? Und es läßt sich auch historisch nicht nachweisen,
daß für das Gebiet der Metaphysik der Angriff von seiten der Empi-
risten der Machtstellung des leibnizischen Rationalismus eine ernst-
lichere Erschütterung zugefügt hätte.
Die langsam aufkeimende Gegnerschaft gegen die Metaphysik
kam aus einer anderen und tieferen Quelle. Wenn die Berliner Aka-
demie eine Preisaufgabe über das Thema ausschrieb, welche Fort-
schritte die Metaphysik in Deutschland seit den Tagen von Leibniz
gemacht habe, so fühlt man sich zu der Vermutung veranlaßt, daß
dieses Preisausschreiben nicht nur von der Absicht einer einfachen
Feststellung des Tatbestandes diktiert war, sondern daß sich in ihm
auch eine geheime und leise Besorgnis ankündigt. Tatsächlich waren
seit vielen Jahrzehnten keine wirklichen Fortschritte auf diesem
Felde erzielt worden. Dem Rationalismus waren keine neuen Helfer
erwachsen. Zwar werden z. B. Lessing und Herder als Parteigänger
oder wenigstens als Teilanhänger des leibnizischen Rationalismus an-
gesehen, da sie die Prinzipien und die Methode der „Monadologie“
für die Erkenntnis der geistig-geschichtlich-künstlerischen Welt
fruchtbar zu machen suchten. Sind diese beiden freien und fort-
schrittlichen Naturen aber nicht nur in einem recht bedingten Sinne
als Anhänger und Förderer des Leibnizianismus anzusehen? Ver-
2. Kants Kritik der Metaphysik
63
stehen sie den Verlauf der geschichtlichen Entwicklung noch als
die logisch eindeutige und mathematisch belegbare Entfaltung einer
im wesentlichen begrifflich angelegten und begrifflich arbeitenden
Grundkraft? Sind sie restlos davon überzeugt, was sie als Leib-
nizianer sein müßten, daß die wahren Gesetze der Wirklichkeit den
Charakter von vérités de raison tragen? Gewiß, sie sind in vielen
Zügen eingesponnen in eine Auffassung, die den Aufbau der Welt
unter dem Symbol einer mathematischen Reihe und einer klaren
Gliederung der einzelnen Stufen begreift. Gewiß, auch ihnen gilt
der Satz vom zureichenden Grunde als das ausschlaggebende Er-
kenntnisprinzip und als der logische Ausdruck der objektiven Welt-
gesetzlichkeit.
Aber indem sie nun versuchen, die leibnizischen Erklärungs-
prinzipien auf die Erkenntnis der geschichtlich-künstlerischen Welt
zu übertragen, stoßen sie immerfort auf unbehebbare Schwierig-
keiten, wenn sie dieselben auch fast nie mit ausdrücklichen Worten
zugestehen. Arbeitet aber Herder nicht mit einem Entwicklungs-
gedanken, der die Hüllen und Schranken der mathematischen Ein-
kleidung, auch wenn diese die Form einer dynamischen Theorie
trägt, abzustreifen beginnt, und mit der Idee einer inneren Spon-
taneität verbunden ist, die in dem System von Leibniz trotz der Be-
fürwortung des Aktivitätsgedankens keinen Raum hat? Mir scheint,
daß Herders Ideen über die Geschichte und über den Fortschritt
des Menschengeschlechts auf einer Auffassung vom Wesen der Ent-
wicklung, die von dem leibnizischen Entwicklungsbegriff unver-
kennbar abweicht, beruhen. Denn was nach meiner Meinung dem
leibnizischen Entwicklungsgedanken fehlt, das ist die Idee wahrhaft
schöpferischer Freiheit und Autonomie. Ich weiß, daß manche Züge
in der Philosophie von Leibniz die Ansicht nahelegen, er gehöre zu
den Vertretern einer solchen Ideenlehre. Dieser Auslegung stehen
aber zwei Vorbehalte im Wege. Kann von einer wahrhaft schöp-
ferischen und wahrhaft autonomen Entwicklung in vollem Sinne
die Rede sein, wenn diese Entwicklung auf der einen Seite mathe-
matisch-rationalistisch durch den Verstand und auf der anderen
Seite theonomisch und theozentrisch durch Gott determiniert ist?
Und dann Lessing. Welche Motive wirken im Hintergründe
seiner ablehnenden Haltung gegen den französischen Klassizismus
und seines bahnbrechenden Eintretens für Shakespeare? Der eng-
lische Dichter vertritt, wie Lessing deutlich erkennt und scharf
betont, eine Menschenauffassung und entwirft ein Bild von der
64
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Menschenwelt, für die der Glaube an den eindeutigen Rationalismus
des Geschehens und an die Herrschaft des Satzes vom zureichenden
Grunde in seiner mathematischen Formulierung nicht restlos gelten.
Bedingen nicht Lessings Befürwortung dieser Dichtkunst, seine Liebe
für ihren Schöpfer und sein Verständnis für dessen einzigartige
Genialität ein nicht unbeträchtliches Abrücken von demjenigen
Weltbilde, das Leibniz gezeichnet hat und nach der üblichen Auf-
fassung dem Bewußtsein des ganzen Jahrhunderts eingeprägt haben
soll? Es zeigt sich auch hier, wie so oft bei der Herrschaft allge-
meiner geistiger Tendenzen, daß sie, während sie in der Gesinnung
der Menschen noch äußerlich vorwalten und einem ganzen Zeitalter
als geistige Leitung und Kennzeichen dienen, in ihrer Tiefe bereits
eine Umbildung erfahren oder einer Opposition begegnen, die unter
Umständen bis zu dem Hervorbrechen einer zur Hauptrichtung
antinomisch stehenden Strömung führen kann. Keine Phase des
Geisteslebens ist dem Einfluß nur einer einzigen Ideenrichtung
untertan. Daher das Unzutreffende und Mißliche aller jener Manie-
ren geistesgeschichtlicher Etikettierungen, die gleich dem Verfahren
bei der Bestimmung des Inhaltes von Medizinflaschen den so außer-
ordentlich verschlungenen Gesamtgehalt einer geschichtlichen Le-
bensstufe durch die Angabe einer Formel umschreiben wollen.
Wie groß auch immer die Machtstellung des leibnizischen Ra-
tionalismus und ihr Einfluß auf die Gemüter gewesen sein möge,
so darf diese Tatsache uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß im
Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts seine Herrschaft noch vor
dem Auftreten des Kritizismus eine starke Einbuße zu erleiden
anfing. Es zeigte sich, wenn auch diese Erkenntnis vor dem Auf-
treten Kants nicht bis zur Höhe bewußter Rechenschaft emporstieg,
daß die von jenem Rationalismus zur Verfügung gestellten Begriffe
nicht zur Erfassung jener Wirklichkeiten ausreichten, die das Zeit-
alter auf dem Felde der Geschichte und der Kunst entdeckt hatte.
Vielleicht bahnt sich überhaupt zuerst auf dem Gebiete der Kunst
die Wendung in einer Kulturgesinnung und die Entstehung eines
neuen Lebenswillens und Lebensgefühls an. Die Organe der Kunst
und des Künstlers scheinen den Organen des Philosophen darin
überlegen zu sein, daß sie früher und schneller Umschwünge im
Werden des Geistes merken und melden, während die begriffliche
Erkenntnis nachhinkt und, nicht ausgestattet mit jener Fähigkeit
der Vorahnung, einen bestimmten Werdevorgang erst nach seinem
Eintreten zu logischem Ausdruck und zu allgemeiner Mitteilung zu
2. Kants Kritik der Metaphysik
65
bringen vermag. Ich spreche nicht davon, daß sich in dem Zeit-
abschnitt vor dem Kritizismus schon eine allerorten offenkundige
Abwendung von dem dogmatischen Rationalismus vollzog, und daß
die Einsicht, er entspreche nicht mehr ganz dem neuen Lebens-
gefühle, schon bis zur Selbsterkenntnis und Formulierbarkeit vor-
geschritten war. Aber die Kritik an ihm und gegen ihn war vor-
bereitet, die Auflehnung gegen ihn pochte an seiner Tür; in der
kantischen Tat kam die Freiheit, die sich in der Tiefe des Zeit-
bewußtseins gegen ihn regte, zu methodisch begründetem und be-
grifflich abgeklärtem Durchbruch.--------
Verwies Kant die Metaphysik auch aus dem Reiche der positiven
Wissenschaften, so verwies er sie damit keinesfalls überhaupt aus
dem Reiche des Seienden. Ganz anders als die späteren Vertreter
von kritischen Einwänden gegen säe, war er weit davon entfernt,
in ihr nichts als eine begriffliche Wesenlosigkeit und einen ent-
behrlich gewordenen Überrest längst überwundener Wissensstufen
zu sehen, und sie mit Bann und Acht zu belegen. Seine erkenntnis-
theoretische Kritik sollte keine Ächtung der Metaphysik einschließen
und zeitigen und nicht das Geistesleben von ihr befreien. Sie sollte
umgekehrt die Metaphysik aus den Fäden einer Verbrüderung be-
freien, die ihr auf die Dauer nur zum Unheil gereichen konnte. In
genau bezeichenbarem Unterschied zu vielen Kantianern und vielen
Neukantianern, die die Erkenntnistheorie als das durchschlagende
Mittel zur Zerstörung der Metaphysik verwenden wollen und ver-
wenden zu können hoffen und sich mit diesem Beginnen, da es auf
einer Selbsttäuschung beruht, doch nur einer aussichtslosen Unter-
nehmung hingeben, bahnt die kantische Art der Kritik ein adäquates
Verständnis und damit die Möglichkeit zu einer adäquaten Grund-
legung und einem angemessenen Aufbau der Metaphysik an. Die
ungeheuer positive Seite der kantischen Kritik liegt nach der Rich-
tung einer deutlichen und sicheren Vorbereitung für jene Entwick-
lung, die im spekulativen Idealismus dann die Form der Selbst-
erfassung des Logos durch die Metaphysik annahm.------------
Wir haben die Ausführungen in den letzten Absätzen (vgl. S. 60)
darum gemacht, weil wir in der kantischen Erkenntnistheorie nicht
eine von außen her an die Metaphysik herantretende Kritik der-
selben erblicken, sondern in ihr das Muster einer immanenten Kritik
vor uns haben und sie als solche würdigen. Diese Kritik ist ganz
erfüllt von dem Verständnis und von der Hochachtung für die Meta-
Liebert, Dialektik. 5
66
!. Typische Einwände gegen die Metaphysik
physik; sie ist außerdem selber metaphysikgetragen, metaphysik-
erfüllt. Sie bekämpft mit durchschlagendem Erfolge einen unhalt-
baren Geltungsanspruch der Metaphysik und eine für sie unheil-
volle Verbindung. Sie hat unendlich viel dazu beigetragen, die
Eigenwüchsigkeit und das Eigenrecht der Spekulation erkennen zu
lassen und zu erhärten. Sie gehört nicht in die Gruppen von Be-
anstandungen der Metaphysik als solcher. Und deshalb haben wir
sie bei der nun folgenden Darstellung von typischen Einwänden nicht
berücksichtigt. Wir mußten unsere Auffassung und Beurteilung der
kantischen Erkenntnistheorie klarlegen, um nicht einer Unter-
lassungssünde geziehen zu werden und um ferner nicht auf die Vor-
haltung zu stoßen, daß wir, indem wir die Zulänglichkeit der ge-
wöhnlichen neukantischen Form der Erkenntnistheorie bestreiten,
damit zugleich die Gültigkeit der originalen Form der Erkenntnis-
theorie der Metaphysik, wie sie von Kant vertreten wird, in Abrede
stellen. Kants Kritik der Metaphysik ist also ein Kapitel in dem
System der Metaphysik selber. Ihre Erwähnung und Auswertung
darf nicht da vorgenommen werden, wo wir uns die Typen von Ein-
wendungen vergegenwärtigen wollen, sondern da, wo wir „Kritik“
der Metaphysik in dem positiven Sinne einer Grundlegung der Meta-
physik aus dem Geiste verstehender Würdigung unternehmen, d. h.
aus dem Geiste der Dialektik. —
Und aus dem Geist der Dialektik hat auch Kant die Metaphysik
verstanden und abgeleitet. Sie gilt ihm als ein Gebilde dialektischer
Natur, in dem verderbliche und aufbauende, kranke und gesunde
Züge in einer eigentümlichen Verschlingung durcheinandergehen.
Nach der einen Seite hat die Metaphysik sich mit einem irreführenden
Schein umkleidet, durch den sie sich ein Ansehen und eine Stellung
gegeben hat, die doch nur „erschlichen“ waren. Die Metaphysik
spielte auf Grund dieses Scheines, der nur eine Täuschung und keine
Wahrheit und Realität war, eine Rolle, deren Unhaltbarkeit und
Tricknatur auf die Dauer nicht verborgen bleiben konnten. Wird
dieser sozusagen unredliche Schein von ihr abgestreift, dann tritt
die Wahrheit eines objektiven Scheines zutage, und wir
können von einem „transzendentalen“ Schein sprechen, der der
Metaphysik „unwiderleglich“ anhaftet. Die Täuschung eines Schei-
nes wird durchschaut, indem die Wahrheit des Scheines erschaut
wird. Der Schein, auf dem die Metaphysik beruht, und der sie
umgibt, ist, sobald wir einsehen, was er ist, und sobald von diesem
Schein ein falscher Anschein ferngehalten wird, keine irreführende
3. Haupttypen der Einwände 67
Fata Morgana, sondern die gerade der Metaphysik als solcher in
charakteristischer Weise eigene Realität.
Wird Kants Lehre von der transzendentalen Natur des meta-
physischen Scheines in diesem Sinne gewürdigt, nämlich so, daß
sie als der vielleicht fruchtbarste Beitrag für eine positive Kritik der
Metaphysik verstanden wird, dann wird ganz klar, daß es sich um
die glänzendste Rechtfertigung, ja geradezu um die prinzipielle
Ehrenrettung der Metaphysik handelt.
Vergegenwärtigen wir uns nunmehr, wie wir das schon weiter
oben als Plan angaben, die Haupttypen von Einwänden gegen die
Metaphysik. Und zwar wollen wir das in jener Absicht tun, die wir
gleichfalls weiter oben bereits andeuteten (vgl. S. 58 f.).
3. Haupttypen der Einwände.
a. Einwand aus dem Hinweis auf die Entwicklung der
positiven Wissenschaften und auf die durch diese
Entwicklung bedingte allgemeine Aufklärung.
In seiner berühmten „Einleitung in die Geisteswissenschaften“,
und zwar in deren historischen Teil, ferner in ausführlichen geschicht-
lichen Abhandlungen, die jenen historischen Teil fortsetzen, hat Wil-
helm Dilthey in eingehenden Untersuchungen den Nachweis dafür
zu erbringen gesucht, daß die Entwicklung der modernen positiven
Wissenschaften die Stellung des Menschen in der Wirklichkeit und
die Art seiner Beschäftigung mit ihren Problemen wurzelhaft ver-
ändert habe, sobald sie mit seiner geistigen Lage im Altertum und
im Mittelalter verglichen wird. Und durch jene Veränderung sei nun
auch die Voraussetzung für die Auflösung der Metaphysik geschaffen
worden. Alle positiven Wissenschaften im Verein haben diesen tief-
gehenden Umschwung in der geistigen Haltung und in der geistigen
Interessenrichtung hervorgerufen: die Naturwissenschaften mit ihrer
neuen, auf die exakte Bestimmung und auf die Erfassung des empi-
risch-kausalen Zusammenhanges der Erscheinungen gerichteten
Methode, ferner die Geisteswissenschaften mit dem bohrenden Werk-
zeug der historischen Kritik, schließlich die neue Psychologie und
Anthropologie mit ihrem durchdringenden Gelingen einer ausge-
sprochen empirischen Auffassung und Bewertung des Menschen,
seines Wollens und seiner Leidenschaften und seiner geschichtlichen
Leistungen auf allen Gebieten der Kultur. Es ist leicht zu sehen,
daß Dilthey in dem Gedanken der allmählichen Zurückdrängung und
5*
68
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Überwindung der Metaphysik durch die positiven Wissenschaften
in recht erheblichem Umfange von Auguste Comte beeinflußt worden
ist. Er hat diesen Einfluß auch zugestanden und die betreffenden
Darlegungen, die jene Zurückdrängung der Metaphysik schildern,
unmittelbar an seine Darstellung des Standpunktes von Comte
angeschlossen.
Wir wollen auf die Ansicht Diltheys darum hier etwas genauer
eingehen, weil sie, abgesehen von der klassischen Feinheit und groß-
artigen historischen Umsicht, mit denen sie von ihm vertreten wird,
in ungewöhnlicher Weise aufschlußreich ist für die ganze Stimmung,
die in den drei letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts
gegenüber der Metaphysik herrschte. Dilthey, einer der größten
Kulturhistoriker aller Zeiten, ist selber eine, für eine kulturgeschicht-
liche Betrachtung ungewöhnlich ergiebige Persönlichkeit. Denn die
Hauptzüge und Hauptinteressen der Geisteshaltung seiner Genera-
tion spiegeln sich in seiner Gemütsverfassung bis in deren einzelne
Strukturen hinein deutlich wieder. Man darf in ihm einen ganz
wesentlichen und höchst eindrucksvollen Repräsentanten eines be-
stimmten Wissenschaftsethos erblicken. In seltsamer Weise waren
in ihm relativistische Überzeugungen und positivistische Tendenzen
gemischt mit einer fast unbedingten Achtung vor dem unwider-
stehlichen Fortschritt der wissenschaftlichen und intellektuellen Ent-
wicklung und einem nahezu religiösen Glauben an die Macht der
Geschichte. Dieser große Kritiker der Geschichte, der das tragisch-
komische Wechselspiel ihrer Bewegungen und die wilde Üppigkeit
ihrer Kraftausbrüche mit überlegener Einsicht und Reife durch-
schaute, trug bei allem weltanschaulichen Skeptizismus dennoch für
dieses Geschehen eine fast religiöse Verehrung in seiner Brust. Er
huldigte nicht dem Vorwurf, daß die Historie von Nachteil für das
Leben sei, und er hat deshalb Nietzsche lebhaft widersprochen. Er
schrieb dem geschichtlichen Leben die Kraft zu, sich aus jeder Krisis
und aus jeder Verschlingung durch die Erzeugung neuer objektiver
Leistungen zu befreien. Und daß die zunehmende Rationalisierung
das Abendland in eine seelische und moralische, in eine weltanschau-
liche und religiöse Katastrophe oder gar in den sicheren Untergang
hineintreiben könnte und würde, war ihm ein völlig fernliegender
Gedanke. Zweifellos hätte Dilthey auch diesen Gedanken, wenn er
ihm überhaupt nachgegangen wäre, als eine vollständige Absurdität
verworfen. Denn jede derartige Prophezeiung würde durch die
großartige, auf der unerschütterlichen Gewalt der Wissenschaf-
3. Haupttypen der Einwände 69
ten beruhende Entwicklung der ganzen letzten Jahrhunderte glatt
widerlegt.
Zu den Hauptleistungen dieser Entwicklung rechnete er die Auf-
lösung der Metaphysik, die die Tat der modernen positiven Wissen-
schaften sei. In dieser Tat gelange eine neue Freiheit des Geistes
zum Durchbruch, verwirkliche sich die Tilgung derjenigen Ab-
hängigkeit, in der der mittelalterliche Mensch durch Autoritäts-
gefühl und Traditionsgebundenheit stand. Der begriffliche Aus-
druck dieser geistigen Unselbständigkeit und Unfreiheit war die
mittelalterliche Metaphysik. In demselben Geiste, nach dem für
jene Zeiten die Wirklichkeit ein durch die Allmacht und Autorität
Gottes in absoluter Form geschaffenes, unerschütterliches System
unveränderlicher „Wesenheiten“, eine ewige substantielle Einheit
darstellt, konstruiert und erfaßt auch die Metaphysik, die von jenen
Zeiten hervorgebracht worden ist, das Sein als einen Inbegriff ewiger,
durch Gottes Willen gesetzter Formen (formae substantiales). Hier
wie dort wird alles stabil, alles statisch, autoritativ, dogmatisch
gedacht. Und das ist der Natur des mittelalterlichen Geistes gemäß.
Wie sich aber seit der Renaissance und durch sie eine allmähliche
und unaufhaltsame Befreiung des Individuums von den Fesseln der
Kirche und des Dogmas vollzieht, so entwindet sich die neue Wissen-
schaft auch der Hörigkeit, unter der das Denken jahrhundertelang
gestanden hat. Statt der vorgeschriebenen Marschroute, die nur
der Festigung der kirchlichen Lehrmeinungen gedient hat, statt der
Unterstellung der Forschung unter die Theologie, bricht jetzt eine
objektive und eine positive, auf die empirischen Tatsachen selbst
unbefangen eingestellte Wissenschaft durch, während ehedem die
Erkenntnis der Phänomene mit metaphysisch-religiösen Absichten
verquickt war und statt der kausal gerichteten Erforschung der
Erscheinungen die Bemühung um ihre metaphysische Ableitung aus
dem Geheimnis der göttlichen Substanz vorherrschte. Tatsächlich
war durch diese Form der Ableitung nichts abgeleitet, tatsächlich
durch die syllogistische Beweisführung nichts bewiesen worden; denn
diese ganze Deduktion trägt, wie bereits Wilhelm von Occam ge-
zeigt habe, nur den Charakter einer Wortbeweisführung.
Indem die leere Begrifflichkeit der dogmatisch-rationalistischen
Metaphysik offenbar wird, setzt die moderne Wissenschaft mit dem
Versuche ein, an die Stelle der Errichtung eines Zusammenhanges
von bloßen Worten, die zu keiner wirklichen Erkenntnis führte,
eine objektive Erfassung der tatsächlichen Wirkungszusammen-
70
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
hänge, wie solche zwischen den Erscheinungen obwalten, zu rücken.
Mit der Entwicklung des modernen Menschen zur Freiheit begibt
sich zugleich der einzigartige Vorgang der Verselbständigung der
wissenschaftlichen Vernunft und der wissenschaftlichen Erfahrung.
Zwei typische Erzeugnisse sind die Belege für diesen Wandel
des Wissenschaftsgeistes. Zunächst ist hier der unermeßlich frucht-
baren Gewinnung des Prinzips der Kausalbetrachtung
der Wirklichkeit zu gedenken. Sowohl auf dem Gebiete der
Natur wie auf dem der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt voll-
ziehen sich der Durchbruch und die Anwendung dieser Betrachtungs-
weise, die die Voraussetzung für den unvergleichlichen Siegeszug
der modernen Erkenntnis darstellt. Die alten, auf das Jenseits be-
züglichen, rein formalen und somit unergiebigen Spekulationen ent-
sprachen dem weitabgewendeten Wesen des mönchischen Wissen-
schaftlers und des klösterlichen Philosophen. In der Neuzeit hingegen
greift eine entschiedene Begabung zu einer realistischen und posi-
tivistischen Erkenntnis der irdischen Erscheinungen Platz. Nicht
was „hinter“ ihnen, sondern was „zwischen“ ihnen webt und wirkt,
und worauf sie ihrem tatsächlichen Bestände und Befunde nach ge-
gründet sind, bildet nunmehr den Gegenstand der Forschung. An
die Stelle des doch erfolglosen Bemühens um die Zurückführung
der Erscheinungen auf das Mysterium der einen, ewigen Substanz
tritt jetzt der Gedanke der Relation, der gesetzlichen, in Zahlen
ausdrückbaren Beziehung. So entsteht in einer entzauberten Welt
ein klares, rationalistisch gefügtes Weltbild. Beide, die neue Welt
und die neue Erkenntnis, stehen in begreiflicher Wechselwirkung;
das Moment ihrer Verbindung ist der streng sachliche Rationalismus
und Positivismus einer aufklärerischen Geisteshaltung.
Und wie das Wesen der uns tatsächlich gegebenen Wirklichkeit, so
wird auch das Wesen der für uns tatsächlich verfügbaren Erkenntnis
klarer und klarer durchschaut und bestimmt. Die seit der Renaissance
entstehende Theorie der Erkenntnis ist ebenfalls ein Markstein und
Merkstein in dieser positivistischen und rationalistischen Entwick-
lung. Die psychologische Untersuchungsweise, die in alle Wesens-
schichten und Wirkungsformen des Menschen einzudringen sich be-
müht, macht natürlich auch vor der Untersuchung eines so wich-
tigen Teiles seiner Natur, wie es die menschliche Erkenntnis ist,
nicht Halt. Die neue Erkenntnistheorie bildet sich im Zusammen-
hänge mit der neuen Psychologie und Anthropologie aus und stellt
ein Kapitel derselben dar. Erst später, nämlich erst durch Kant,
3. Haupttypen der Einwände
71
ist sie aus dieser Verbindung gelöst und als Transzendentallogik und
Kritizismus zu einer selbständigen Wissenschaft erhoben worden.
Aber auch in der Form einer psychologischen Untersuchung der Er-
kenntnis zeigt sie die Abhängigkeit der Erkenntnis von einer ganzen
Reihe von äußeren und inneren Bedingungen, von rationalen Vor-
aussetzungen und von einem empirischen Empfindungsstoff. So
gelangt die neue Erkenntnistheorie zu einer strengen Bestimmung
der Grenzen der menschlichen Erkenntnis, zur Einsicht in deren
Eingeschränktheit und zu einer daraus hervorgehenden Warnung vor
aller Grenzüberschreitung, die ein Kennzeichen der unwissenschaft-
lichen Metaphysik ist.-----
Der Geist der Aufklärung, der sich in der Form positivistischer
Selbstvergewisserung des Menschen nach zwei Seiten hin betätigt
und bewährt, nämlich nach der Seite der Erkenntnis der Wirklich-
keit und nach der Seite der Theorie der Erkenntnis, führt nun zu
einem für ihn schließlich erfolgreichen Vernichtungskampf gegen die
Metaphysik. Ihre Stellung sowohl im System der Wissenschaften als
auch in der allgemeinen Schätzung der Menschen erfährt die denkbar
einschneidendste Veränderung, die im Laufe der Zeit beinahe den
Charakter der Mißachtung annimmt. Sie gilt nicht mehr als die
„Königin“ der Wissenschaft, sie verliert ihren alten Primat im Reiche
des Geistes. Und statt einer den Wissenschaften a priori und sach-
lich vorangehenden und ihnen überlegenen Erkenntnisform wird sie
methodisch und inhaltlich von den positiven Wissenschaften ab-
hängig, hat sie lediglich deren Arbeit für dieZwecke einer Gesamter-
kenntnis der Wirklichkeit zu ergänzen und zum Abschluß zu bringen.
Nun läge es nahe, um dieser Kritik zu begegnen, darauf hinzu-
weisen, daß die Neuzeit gleichfalls nicht arm an metaphysischen
Systemen ist. Mit der Möglichkeit einer solchen Entgegnung be-
schäftigt sich Dilthey; er glaubt, sie dadurch zu widerlegen, daß
er auf die freie und ungebundene Mannigfaltigkeit, ja Über-
fülle metaphysischer Systembildungen aufmerksam macht, die das
Eine autoritative metaphysische System der Kirche, nämlich den
Thomismus, verdrängt haben. Für die Entstehung jener Mannig-
faltigkeit ist bezeichnenderweise nicht mehr die Orientierung an ein
von außen gegebenes Dogma oder an eine mit allen Mysterien um-
gebene, trotzdem nur äußere Autorität maßgebend. Sie beruht viel-
mehr auf der Freiheit der Vernunft und auf der logischen
Autonomie und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Denkers.
72
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Diese Freiheit bekundet sich in dem eindrucksvollen Hervortreten
einer ganzen Reihe einander gleichberechtigter und auch relativ
gleichwertiger Systeme. Man denke nur, um bloß einen bestimmten
Zeitabschnitt ins Auge zu fassen, an Schellings Offenbarungsphilo-
sophie, Hegels Philosophie des absoluten Geistes, Schopenhauers
Willensmetaphysik, an den Materialismus von Feuerbach usw., die
alle ungefähr zu gleicher Zeit ans Licht traten und Scharen von An-
hängern gewannen. Mit der Aufteilung des dogmatisch gültigen
metaphysischen Systems in eine große Anzahl einzelner, unter-
einander konkurrierender Systeme ging eine anarchistische Auf-
teilung der Einheit des Geisteslebens Hand in Hand. Wenn sich in
der Metaphysik überhaupt das Wesen eines Zeitalters in seinen
Hauptzügen spiegelt, so muß sich in ihr auch sein Umschwung von
einer beherrschenden Einheit zu einer kaum noch zu übersehenden
und bis zur Verworrenheit gesteigerten Vielheit und Spannungs-
fülle zum Ausdruck bringen. Das heißt: Die Metaphysik muß selber
der Zersetzung verfallen, was auch, worauf Dilthey besonders
hinweist, die Jahrzehnte zeigen, in denen er wirkte (etwa von
1880—1910).
Die wichtigste Folge aus dieser Anarchie der metaphysischen
Systeme war neben der Relativierung der metaphysischen Gesinnung
auch die Entstehung der Überzeugung, daß alle metaphysischen
Schöpfungen ausnahmslos von nur relativer und geschichtlich be-
dingter Geltung sind. Sie können fernerhin nicht mehr als der allge-
meingültige Niederschlag einer absoluten Vernunft und nicht mehr
als der unbedingt gültige Ausdruck einer übergeschichtlichen und
überpersönlichen Konstruktionsfähigkeit gelten. Der Grund für ihre
Aufstellung und das Maß ihres Ansehens sind vielmehr darin gegeben,
daß sie als das persönliche Bekenntnis bedeutender und mit ihren
Gedanken weit um sich greifender Menschen aufzufassen sind. Die
Metaphysik wird auf diese Weise als eine persönliche Gemüts-
angelegenheit anerkannt. Ihr Wahrheitswert ist nicht mit den Sätzen
der naturwissenschaftlichen Erkenntnis vergleichbar. Er liegt be-
gründet in dem Maß der Subjektivität derjenigen intellektuellen und
moralischen Kraft, mit der diese persönliche metaphysische Welt-
auslegung gebildet, in die Sprache der Begriffe umgesetzt und zur
Anerkennung und Geltung gebracht wird. Kein metaphysisches
System spricht eine ewige Wahrheit aus, so sehr es auch eine solche
Höhe und eine unbedingte Zuständigkeit für sich in Anspruch nehmen
und von sich behaupten mag.
3. Haupttypen der Einwände
73
Durch die Aufdeckung und Schilderung dieser persönlich-sub-
jektiven Grundlagen der Metaphysik, die zutiefst in der Unvergleich-
lichkeit eines bestimmten Ur- und Grunderlebnisses ihre Wurzel und
ihre nährende Quelle haben, glaubt Dilthey, nicht bloß den Geltungs-
umfang der Metaphysik einschränkend bestimmt, sondern ihr zu-
gleich die ausreichende und die ihr gemäße Rechtfertigung erwiesen
zu haben. ,,Die wahren Metaphysiker haben gelebt, was sie schrieben.
Descartes, Spinoza, Hobbes, Leäbniz sind von neueren Geschichts-
schreibern der Philosophie immer mehr als zentrale Individualitäten
aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der wissenschaft-
lichen Gedanken sich auf relative Weise abspiegelt. Ebendieser
ihr repräsentativer Charakter beweist die Relativität des Wahrheits-
gehaltes in ihren Systemen.“
Doch auch diese Rechtfertigung und ihre Ehrenrettung müssen mit
dem Zusatz versehen werden, daß sie nur als eine relative anzusehen
sind. Die Ableitung der Metaphysik aus der Kraft besonderer Er-
lebnisse und die ihr dadurch zuteil werdende psychologische Be-
leuchtung können ihren Verfall nicht aufhalten. So weit geht Diltheys
Skepsis und seine Überzeugung, daß die Zeitalter der Metaphysik
und die Teilnahme für sie endgültig verstrichen seien. Er versteht
und würdigt sie als das Spiegelbild einer bestimmten subjektiven
Geistesverfassung und einer geschichtlichen Zeitepoche, die jedoch
in unaufhaltsamem Hinschwinden begriffen seien. Auch die soeben
hervorgehobene „Funktion der metaphysischen Systeme in der
modernen Gesellschaft kann nur vorübergehend sein. Denn diese
schimmernden Zauberschlösser der wissenschaftlichen Einbildungs-
kraft können, nachdem die Relativität ihres Wahrheitsgehaltes er-
kannt ist, das ernüchterte Auge nicht mehr täuschen. Und gleichviel
wie lange noch ein Einfluß auf die Kreise der Gebildeten von meta-
physischen Systemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein
solches System von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen von
demselben Wahrheitsgehalt steht, als Grundlage für die Wissen-
schaft benutzt werde, ist unwiederbringlich dahin“.
Wodurch erfolgt nun diese Zersetzung der Metaphysik mittels
der modernen Wissenschaften? Werfen wir jetzt zunächst nur noch
einen kurzen Blick auf die Unterwühlung der Metaphysik durch die
Naturwissenschaften.
Die dogmatische Spekulation der substantialen Formen wird
überwunden durch den Gedanken der Unterordnung der Bewegungen
unter mathematische Prinzipien und damit unter die mathematische
74
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Erkenntnisweise. Der alte Dogmatismus verstand die Bewegung
als die dauernde Fortentwicklung der sie hervorbringenden Ur-
sachen. Diese Ursachen waren nicht mechanische Kraftentfaltungen,
sondern man sah als Ursachen überall psychische Wesenheiten und
natürlich zuletzt den Finger Gottes als die Ursache aller Ursachen
an. So glitt die Naturerklärung hinein in eine mystisch-theologische
Spekulation, deren geheimes Vorbild schließlich die biblische Lehre
und die Offenbarungsdogmatik waren. Im Gegensatz dazu zeigte
nun Galilei den Grund der Fortdauer einer Bewegung in dem so-
genannten Trägheitsprinzip, d. h. in der Notwendigkeit des Be-
harrens des Objektes selber in seinem Bewegungszustand. Gemäß
dieser Notwendigkeit durchläuft das Objekt jedes folgende Diffe-
rential seiner Bahn darum, weil es das vorangehende durchlaufen
hat. Die Beziehung zwischen den Abschnitten der Bahn ist eine
streng gesetzliche und mathematisch bestimmbare, ln der Natur
wirkt sich ein einziger, undurchbrechbarer und in mathematischen
Formeln ausdrückbarer Zusammenhang aus. An ihm kann auch die
Allmacht Gottes nicht rütteln.
Damit war die metaphysische Naturbetrachtung vernichtet, die
mit dem Begriff der „geheimen Qualitäten“ (qualitates occultae)
arbeitete und arbeiten konnte, weil sie im Hintergrund des Ge-
schehens die geheime Urkraft Gottes im Spiel sah und in die wissen-
schaftliche Erkenntnis als zulässigen Begriff einführen zu können
glaubte. Mit Geheimnissen über Geheimnissen war der alte Dogma-
tismus durchsetzt, und die Einbeziehung der Arbeit des Verstandes
in ihn war nur eine äußerliche und scheinbare. Seit Galilei vollzieht
sich nun die ungeheure Rationalisierung der Naturerkenntnis und
damit eine ungeheure Ernüchterung. Sachlich und unter methodi-
scher Abstreifung aller begrifflichen Nebel maß man von jetzt an
die Bewegungen. Das Werkzeug der Messung wurde das analytische
Verfahren der Geometrie. Wenn wir z. B. von „Anziehungskraft“
sprechen, dann meinen wir nicht eine unfaßbare Kraft, sondern
einen Hilfsbegriff für die Formel eines Gesetzes. Begriffe wie
Kraft, Atom, Molekül usw. sind für die exakte Naturforschung
rationale Systeme von durchaus ungeheimnisvollen Hilfskonstruk-
tionen, mittels deren wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem
für die Vorstellung klaren und für das Leben benutzbaren Zusammen-
hang entwickeln. Diese Verdrängung der mystisch-theologisch-meta-
physischen Betrachtung durch die nüchterne Rationalität der
mechanistischen Naturerkenntnis bekundet sich nun in sämtlichen
3. Haupttypen der Einwände
75
Grundbegriffen, mit deren Hilfe die moderne Wissenschaft ihr Welt-
bild aufbaut, wie Substanz, Kausalität, Bewegung, Masse, Raum,
Zeit. —
Nicht minder erfolgreich gestaltete sich die Zersetzung der Meta-
physik durch den Ansturm von seiten der modernen Geisteswissen-
schaften.
Auch hier hat die Analysis für immer die Begriffe zerstört, mit
deren Hilfe frühere, metaphysisch gerichtete Zeitalter die Kon-
struktion der Gesellschaft und der Geschichte bewerkstelligten.
Diese Begriffe der dogmatisch-theologischen Geschichtsspekulation
waren mystisch-mythischer Natur; und das ganze metaphysische
Geschichtsbild verleugnete nicht seine Herkunft aus dem Geiste
von Konzeptionen, die das Rätsel der Wirklichkeit durch nicht
weniger rätselvolle Vorstellungen noch geheimnisvoller gestalteten.
Diese mystisch-mythischen Vorstellungen wie Schöpfung, Paradies,
Heilsweg durch die Kirche, Jüngstes Gericht, Erlösung usw. wurden
nun seit den Tagen des Humanismus und der Renaissance einer
strengen kritisch-analytischen Betrachtung unterworfen, die in
enger Verbindung mit der Prüfung des geschichtlichen Materials,
d. h. mit der Kritik der Quellen stand. Auch hier erwies sich der
Rationalismus, dem die Ausbildung des wichtigen Denkwerkzeuges
der philologischen Methode gelang, als der mitleidslose Gegner aller
metaphysischen Geschichtsansichten. Überall hat er das Gewebe
von Sagen, Mythen, Rechtsfabeln aufgelöst, durch das die theo-
kratische Geschichtsdeutung die irdischen Einrichtungen, wie Staat,
Recht, Wirtschaft, mit dem Willen und Ratschluß Gottes ver-
knüpfte und von hier aus beurteilte.
Das Werk der modernen philologischen Quellenkritik wurde von
der neuen Psychologie wirksam unterstützt. Unter Verdrängung der
alten Phantasien über die Entstehung und das Wesen des Menschen,
wie sie von der Bibel gelehrt wurden, bildete sich jetzt eine empirische
Analysis des Menschen. Statt diesen theologisch und metaphysisch
zu konstruieren und zu deuten, richtete sich die neue Anthropologie
auf die Erkenntnis seines tatsächlichen Wollens und Verhaltens.
Sie strebt danach, die wirklich vorhandenen Gleichförmigkeiten zu
studieren und zu erfassen, nach denen ein Vorgang im seelischen
Leben einen anderen bedingt bzw. von einem anderen bedingt
ist. In dieser Betonung des Begriffs des Gesetzes und in dem aus-
schließlichen Interesse für ihn ist diese Anthropologie ganz und gar
von der neuen Naturerklärung abhängig. Der Einführung und
76
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Durchführung der mechanistischen Naturerkenntnis durch Galilei
und Descartes folgte unmittelbar die Übertragung dieser Erklärungs-
weise auf den Staat und auf den Menschen durch Hobbes und
Spinoza. So entsteht die unermeßlich folgenreiche Lehre von der
seelischen Mechanik; David Hume verhält sich zu Newton genau so
wie Spinoza zu Galilei und Descartes. Seine Assoziationslehre (in
inquiry concerning human understanding) ist ein Versuch, nach
dem Muster der Gravitationslehre Gesetze des Aneinanderhaftens
von Vorstellungen zu entwerfen. ,,Es ist wahrscheinlich, sagt Hume,
daß die eine Kraft und der eine Vorgang in der Seele von dem anderen
abhängt.“
Gleich der Lehre vom Staate und vom Menschen wird auch die
Anschauung vom Wesen der Kunst und der Religion mit möglichst
tiefdringendem Eingriff von allen metaphysischen Bestandteilen
gesäubert. Diese Gebiete sollen ebenfalls von ihren empirisch-
psychologischen Grundlagen und Entwicklungsfaktoren her ver-
standen, gewürdigt und aufgebaut werden. Die alte dogmatische
Metaphysik der Religion und der Kunst schwindet dahin; an ihre
Stelle tritt der Realismus einer rationalistisch-positivistischen Be-
trachtungsweise. Bildhaft ausgedrückt: Die mystischen Nebel, mit
denen der traditionelle Dogmatismus das Seiende umschleiert hatte,
weichen; sie machen einer unverhüllten und freien Wirklichkeit
Platz, die ihr wahres Wesen nicht länger dem unvoreingenommenen
Anblick verbirgt.
Den Abschluß in dieser Zerstörung der Metaphysik führt nun nach
Dilthey die Erkenntnistheorie herbei. Mit Recht hebt er hervor,
daß es stets die Aufgabe und das Ideal der Metaphysik gewesen sei,
die Einzelheiten der Erscheinungen zu der Einheit eines logischen
und logisch bestimmbaren Weltzusammenhanges zu verbinden. Das
berühmteste Beispiel stellt in dieser Hinsicht der Rationalismus von
Leibniz dar. Er hat in dem Satz vom zureichenden Grunde das
Prinzip und die Formel gesehen, die den notwendigen Zusammen-
hang in der Natur auch als einen Grundsatz des Denkens aussprechen.
Dieser Satz ist nicht nur ein logisches, sondern auch ein ontologisches
Prinzip, d. h. er drückt nicht bloß ein Gesetz des Denkens aus,
sondern er ist auch der adäquate logische Ausdruck einer Gesetzes-
realität, die den Zusammenhang der Welt stiftet und gewährleistet.
Das Weltbild, wie es vom Rationalismus entworfen wird, ist der
identische Niederschlag der realen Welteinheit in der Sphäre des
Denkens.
3. Haupttypen der Einwände
77
Nun aber hebt Dilthey die Unhaltbarkeit und Unberechtigung
dieser Ontologisierung und Hypostasierung des genannten logischen
Prinzips hervor. Die Wirklichkeit widerspricht nämlich in jedem
Schritte der Anmaßung, ein Denkprinzip als Weltprinzip aufzu-
stellen. Sie trägt keineswegs einen streng rationalen und mathe-
matischen Charakter; sie ist irrational und, da sie mit subjektiven
Gefühlen und Werten durchsetzt ist, undefinierbar veränderlich.
Die Bestandteile des Gegebenen sind auf Grund ihrer verschieden-
artigen Herkunft ungleichartig und daher unvergleichbar. Also
können sie nicht aufeinander zurückgeführt und nicht zu einer ein-
deutigen Einheit untereinander verbunden werden. Zumal in der
geschichtlichen Welt spielt das Moment des Individuellen und des
individuellen Wertes eine besonders wichtige Rolle. Hier ist die
Fülle eigenartiger und einzigartiger Gestalten so groß, daß es nicht
bloß logisch unmöglich, sondern auch sachlich widersinnig und aus-
sichtslos ist, dieser Fülle das Gepräge einer verstandesmäßig kon-
struierbaren Einheit zu geben. Schon ein darauf abzielender Ver-
such versündigt sich gegen den geschichtlichen und menschlichen
Wert jener Mannigfaltigkeit: Hier heißt vereinfachen und vereiner-
leien, das Wesen der Sache verkennen und vernichten.
Nun ist aber der formale Satz vom Grunde die logische Wurzel
aller folgerichtigen Metaphysik, d. h. einer allgemeingültigen Wissen-
schaft aus reiner Vernunft. Erweist er sich als auf die Wirklichkeit
nicht anwendbar, dann entfällt damit die Möglichkeit der Meta-
physik als objektiver Erkenntnis. Das „Leben“ in seiner Mannig-
faltigkeit und Heterogeneität und das lebendige Gefühl für diese
Verschiedenartigkeit lassen sich nicht in den logischenZusammenhang
einer allgemeingültigen Wissenschaft pressen. Die Bänder des meta-
physischen Weltzusammenhanges stimmen nicht mit den logischen
Klammern des Verstandes überein. Die Formen des Denkens können
nicht als identisch mit den Formen des Wirklichen gelten. Ebenso aus-
sichtslos ist eine einheitliche metaphysische Vorstellung, die sich
weniger auf die Form als auf den Inhalt der Wirklichkeit bezieht. Die
Erkenntnisse der Metaphysik stammen ihrem Inhalt nach aus dem Er-
lebnis- und Erfahrungskreis des Metaphysikers; und keine Konstruk-
tion ist imstande, die Relativität des Kreises, dem ihre Begriffe ent-
nommen sind, zu überwinden. Sie ist und bleibt auch in dieser Hinsicht
in die Subjektivität derjenigen Eindrücke und Erkenntnisse ein-
geschlossen, die überhaupt die Quelle für alles das abgeben, was die
Metaphysik uns von der Wirklichkeit zu berichten weiß.-----
78
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Als Gesamtergebnis der Kritik Diltheys an der Metaphysik
können wir folgendes feststellen: Wie nach ihm die Metaphysik der
Geschichte als Wissenschaft ein geschichtlich begrenztes Phäno-
men ist, so ist die Metaphysik überhaupt befangen in den rein
subjektiven und persönlichen Bedingungen ihrer Herkunft, ohne
Aussicht auf die Gewinnung einer objektiven Geltung, die sich mit
derjenigen der positiven Wissenschaften auf eine Stufe stellen ließe.
Besteht eine Gewähr dafür, daß sie, selbst unter Anerkennung ihrer
Geltung als eines subjektiven Gedankengebildes, eine solche einge-
schränkte Existenz auch für die Zukunft aufrechterhalten kann?
Dilthey neigt nicht dahin, diese Frage zu bejahen. Was die Philosophie
in bezug auf die Metaphysik noch zu leisten habe, das besteht nicht
in der Aufgabe, eine Metaphysik zu errichten, sondern höchstens
darin, ein geschichtliches und psychologisches Verständnis für die
Metaphysik, eine Erkundung der historischen und seelischen Be-
dingungen, kraft derer sie erzeugt wird, zu erwirken. Im ganzen
herrschen bei ihm die Stimmungen der Entsagung und der Skepsis
entschieden vor, entsprechend der Wendung zum Empirismus und
Positivismus, in deren Blütezeit er lebte, und die er begünstigte.
Er vertritt, etwa mit Rudolf Haym, die Ansicht, daß die Zeiten der
Errichtung originaler und positiver metaphysischer Systeme un-
wiederbringlich dahin seien, und daß die geschichtliche Betrachtung
sich in jeder Form zum Herrn über die Konstruktion aufgeschwun-
gen habe. Von der Metaphysik selber können in die Zukunft nichts
anderes als ein psychologisches Interesse an ihr und ein geschicht-
liches Studium ihrer Entwicklung hinübergerettet werden. Wird
sie als eine subjektive Begriffsdichtung anerkannt, so heißt das im
Grunde doch nur, ihre Unhaltbarkeit ins Licht rücken; der Realis-
mus und Rationalismus der neuen Wirklichkeitsauffassung wird für
die metaphysischen Ruinen auf die Dauer nur noch ein mitleids-
volles Lächeln übrig haben.
Diese Einwände gegen die Möglichkeit und gegen die Zukunft
der Metaphysik berühren und erschöpfen eigentlich sämtliche
Punkte der Kritik überhaupt, die der Metaphysik noch von den
anderen Gegnern zuteil geworden ist. Aus diesem Grunde können
wir uns bei der Darstellung der übrigen Bedenken verhältnismäßig
kurz fassen.
3. Haupttypen der Eänwände
79
b. Psychologische und psychol ogistische Kritik der
Metaphysik: Metaphysik als subjektive
Begriffsdichtung.
Dieselbe positivistische Geisteshaltung gegenüber der Meta-
physik wie Dilthey nehmen die Vertreter desjenigen Standpunktes
ein, der in der Überschrift dieses Kapitels zum Ausdruck gebracht
wurde. Es sind Friedrich Albert Lange, Friedrich Nietzsche
und Hans Vaihinger, der jedoch von den beiden erstgenannten
vollständig abhängig ist und für die Kritik der Metaphysik keine
grundsätzlich neue Idee beigesteuert hat. Alle drei Denker sind aber
darum erwähnenswert, weil ihre Ausführungen, abgesehen von deren
typischer Bedeutung, auf die allgemeine — d. h. abschätzige —
Würdigung, die der Metaphysik aus der Reihe der Vertreter der
Wissenschaft, der Kunst, der Politik, des Rechtes, der Religion usw.
erwiesen wurde, von einem ungleich größeren Einfluß waren als die
umfassende Kritik Diltheys. Blieb diese dem weiteren Kreis der
Öffentlichkeit doch nahezu ganz unbekannt.
a) Friedrich Albert Lange ist mit seinem bedeutenden und viel
beachteten Werk ,,Geschichte des Materialismus“ zusammen mit
Otto Liebmann, Hermann Cohen, Alois Riehl, Kurt Laßwitz u. a.
einer der Begründer des Neukantianismus, dessen erste Stufe durch
ihn in lehrreicher Weise vertreten wird. Immer wieder lobt er den
kantischen Kritizismus darum, weil dieser durch den Nachweis der
wissenschaftlichen Pseudonatur und der begrifflichen Unhaltbarkeit
der Metaphysik allen transzendenten Spekulationen, diesen ver-
hängnisvollen, durch die Schuld von Plato und Aristoteles ein-
geführten Erbkrankheiten, grundsätzlich den Garaus bereitet habe.
Zwar herrsche noch in Kant selber eine Schwäche für die Meta-
physik, wie deren Wiederherstellung durch die Kritik der praktischen
Vernunft zeigt. Das sei jedoch ein aus menschlichen Beweggründen
begreiflicher Rückfall in eine angeborene und durch Erziehung und
Tradition genährte Vorliebe. Diese Rückfälle sind aber für die
Gesamtbedeutung der kritischen Leistung ohne größeres Gewicht;
sie sind zu erwähnen, um ein vollständiges Bild des persönlichen
Verhältnisses Kants zur Metaphysik zu geben, zugleich aber ist ihre
Unerheblichkeit in prinzipiellem Betracht in Rechnung zu ziehen.
Was bleibt dann noch von der Metaphysik? Lange ist überzeugt,
ihr eine durchaus objektive und gerechte Würdigung dadurch zu
widmen, daß er sie als eine „Begriffsdichtung der Spekulation“ auf-
80
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
faßt. Von der wahren und eigentlichen Dichtung der Poesie unter-
scheide sie sich sehr zu ihrem Nachteil, weil sie nicht klar und
sauber vorgehe. Die wahre und eigentliche Dichtung vollzieht eine
bewußte Täuschung; denn sie weiß und sagt es, daß diejenige Wirk-
lichkeit, die sie vor uns hinstellt, keine objektive Realität habe,
sondern nur ein Erzeugnis der Einbildungskraft sei und den Charakter
phantastischer Irrealität trage. Die Metaphysik hingegen will uns ein-
reden, es gäbe eine absolute, von unserer Vorstellung unabhängige,
für sich bestehende Wirklichkeit, ohne für eine solche Behauptung
einen einwandfreien und überzeugenden Grund, nämlich eine positive,
am Prinzip der naturwissenschaftlichen Kausalauffassung orientierte
Begründung, wie solche allein den Anforderungen der Wissenschaft
entspräche, beibringen zu können. Die von der Kunst errichtete
Wirklichkeit zieht ihr Recht aus der Kraft der Phantasie, und diese
Kraft ist ausreichend für die Erhärtung derjenigen Geltung, die die
Wirklichkeit der Kunst genießt und besitzt. Die von der Meta-
physik entwickelte Wirklichkeit ist eine leere Täuschung, eine
inhaltslose Fiktion. Eine derartige Wirklichkeit ist in keiner Sinn-
richtung „wirklich“; sie kann gar nicht sein, da die Synthesis,
auf die sie sich stützen würde, nicht nur von den logischen Formen
des Verstandes und von der geistigen „Organisation“ des Menschen
abhängig ist, sondern auch von dem empirischen Material physio-
logisch bedingter Sinneseindrücke. Lange stimmt der subjektivisti-
schen Deutung der menschlichen Erkenntnis durch Schopenhauer
zu: Die Welt ist und bleibt unsere Vorstellung, ferner der subjekti-
vistisch-soziologischen Auffassung von Herbert Spencer: Sie ist ein
Produkt der Organisation der Gattung. Gemäß der von ihm ver-
tretenen und zweifellos durch Helmholtz beeinflußten „physiologi-
schen“ Auslegung des kantischen Kritizismus beruft Lange sich auf
die Entscheidungen der Vernunftkritik, die unwiderleglich gezeigt
hätten, daß alle Synthesen unabtrennbar an subjektive Bedingungen
gebunden seien, und daß sie jeden gegenständlichen Wert ein-
büßen, sobald sie sich zu einer Befreiung von den regelnden Prin-
zipien der Erfahrung erheben. Die Metaphysik als „Begriffsdichtung“
spiegelt uns nicht bloß die Chimäre einer Wirklichkeit vor, sondern
ihre Synthesen sind nichtssagende Begriffsverschlingungen, denen
der leitende Zwang der Grundsätze der Erfahrung fehlt.
Sowohl Plato als auch Kant ernten einen entschiedenen Tadel,
weil sie nicht eingesehen haben, daß die „intelligible Welt eine Welt
der Dichtung“ sei. Schritt für Schritt treibt der Metaphysiker Miß-
3. Haupttypen der Einwände
81
brauch mit den Erfahrungsprinzipien, z. B. mit der Substanzidee,
dem Kausalitätsgedanken usw.; er entfremdet sie ihren eigent-
lichen Zwecken, nämlich denen, erfahrungsbegründend zu sein, und
übt mit ihnen den Unfug einer transzendenten Spekulation, zu
denen weder sie noch überhaupt irgendein Denkprinzip aus-
reichen. —
Alle diese Einwände Langes gegen die Metaphysik sind nicht
neu, sie sind von fast allen Anhängern der ersten Stufen des Neu-
kantianismus ausgesprochen worden und klingen immer wieder an
unser Ohr. Nun aber hat Lange noch einen Einwand gemacht, der
unsere Aufmerksamkeit in erhöhtem Maße in Anspruch nimmt, und
dem eine gewisse Originalität eignet. Die Metaphysik verfälscht das
Bild der Wirklichkeit, und diese Verfälschung ist als Unmoralität
zu brandmarken; sie greift die Grundlagen unserer geistigen Existenz
an und macht die Menschen, die sie von Berufs wegen ausüben sowie
diejenigen, die dieser Verfälschung anhängen und in ihr eine geistige
Großtat erblicken, zu Betrügern. Gegenüber den metaphysischen
Erdichtungen des absoluten Idealismus, die sich anmaßen, in das
Wesen der Natur einzudringen und aus bloßen Begriffen zu be-
stimmen, was uns nur die Erfahrung lehren kann, ist sogar „der
Materialismus als Gegengewicht eine wahre Wohltat“.
Es ist leicht einzusehen, daß Langes Verhältnis zur Metaphysik
in ausschlaggebender Weise durch den von uns schon mehrfach
hervorgehobenen Positivismus und Relativismus beherrscht wird,
der für seine Zeit bezeichnend ist, und der sich auf allen Gebieten
der Kultur sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst (Be-
ginn des Naturalismus) und nicht zuletzt auch im Reiche der Politik
(Bismarcks Realismus) als der gemeinsame Grundzug der geistigen
Haltung bekundete. Friedrich Albert Lange war weit davon ent-
fernt, ein Anhänger und Befürworter des Materialismus zu sein. Er
erkannte die Unzulänglichkeit und Haltlosigkeit der materialistischen
Weltanschauung, die besonders den religiösen Bedürfnissen nicht
hinlänglich Rechnung zu tragen vermöge; er lehnte den Atheismus
von David Friedrich Strauß auf Grund überlegener Einsicht in die
Unausrottbarkeit der religiösen Sehnsüchte des Menschen ab. Er
war ferner, wie die wundervolle Schilderung seiner Persönlichkeit
und seines Lebens durch Hermann Cohen zeigt, als Mensch, als
Politiker ein reiner und hehrer Idealist, der auch in der Entstehung
der modernen Arbeiterfrage nicht bloß ein soziologisch-kapitalisti-
sches, sondern ein ethisches Problem erkannte und die Bewegung
Liebert, Dialektik. 6
82
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
des Sozialismus entsprechend gewürdigt sehen wollte. Aber auf der
anderen Seite untersteht doch auch er der Auswirkung jener Gegner-
schaft gegen den spekulativen Idealismus, die nach dem Tode
Hegels einsetzte, und die unter kulturgeschichtlichem Gesichtspunkt
wohl als eine Notwendigkeit beurteilt werden kann (vgl. mein Buch
„Die geistige Krisis der Gegenwart“ S. 66ff., ferner meine Schrift
„Zur Kritik der Gegenwart“ S. 12ff.). Daß bei der Herrschaft einer
solchen Gedankenrichtung eine tiefere Würdigung der Metaphysik
nicht Platz greifen konnte, ist allzu begreiflich. Oder aber Lange
hätte selber ein metaphysisches Genie sein und die Gabe vorurteils-
loser Beurteilung einer Geisteshaltung besitzen müssen, die sowohl
seiner eigenen als auch derjenigen seines Zeitalters entgegengesetzt
war. Damals jedoch pfiffen es beinahe alle Spatzen von den Dächern,
daß die Metaphysik eine überlebte Erscheinung sei; und das Be-
wußtsein, einer Epoche und einer Generation anzugehören, die sich
von den täuschenden Traumbildern des metaphysischen Wahnes
befreit habe, bildete eine der erheblichsten Kraftquellen für alle
damaligen Leistungen. Weil Friedrich Albert Langes Werk eine
Ansicht aussprach, die sozusagen als der des Preisens würdige Erfolg
der ganzen intellektuellen Arbeit der Jahrhunderte begrüßt wurde,
fand es ungemeinen Anklang, machte es gleichsam Schule. In ihm
sprach ein kluger, wenngleich nicht gerade tiefer Kopf jene Wahr-
heiten aus, die den Grundstock der allgemeinen Überzeugungen
bildeten. Was Wunder, daß diejenigen, die Lange folgten und dazu
gebracht wurden, seine Gedanken zu teilen, der Metaphysik blind
und ziemlich hilflos gegenüberstehen mußten. Belege für diese Be-
hauptung sind die Einstellungen Nietzsches und Vaihingers, deren
Denken tiefe Spuren der Einwirkung Langes bemerken lassen.
b) Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Metaphysik ist selber ein
großes Problem. Liest man, was er über sie sagt, und schenkt man
seinen Äußerungen Glauben, so scheint er nichts anderes als ihr
erklärter und leidenschaftlicher Feind zu sein. Huldigt er damit nur
jener allgemeinen positivistischen Ablehnung der idealistischen Kon-
struktionen, wie sie zu seiner Zeit Mode und gewissermaßen Pflicht
waren? Und besteht seine Originalität in dieser Beziehung lediglich
in der unvergleichlichen künstlerischen Feinheit und pathetischen
Wucht, mit der er der allgemeinen Gegnerschaft eine Sprache ver-
lieh? Oder gelangt in jener Ablehnung ein Ressentiment zum Aus-
druck, weil ihm eine ausgesprochen metaphysische Fähigkeit ver-
sagt geblieben ist? Oder kämpft er mit dieser ausdrücklichen
3. Haupttypen der Einwände
83
Opposition vielleicht nur gegen eine Regung und gegen ein Ver-
langen an, die ihm „unzeitgemäß“ erschienen, und deren Befriedigung
ihn in einen von ihm peinlich empfundenen Widerspruch zu dem
Geist seines Zeitalters versetzt haben würde? Oder endlich: Sollten
vielleicht die Eigenart seines Schicksals und die Größe seiner Tragik
darin sich bekunden, daß er sich der Hingabe an den metaphysischen
Trieb verschloß und die Nachgiebigkeit gegen ihn als einen un-
entschuldbaren Rückfall in den Zustand eines grauen Atavismus
fürchtete, während er die Kraft zur metaphysischen Spekulation in
sich wirksam fühlte und die Berechtigung zu einer solchen Spekula-
tion innerlich nicht verkannte? Ein europäisches Verhängnis offen-
bart sich in dem Ausbruch von Nietzsches Geisteskrankheit. Er
verfiel ihr in jenen Jahren, in denen er und seine Zeit begannen, für
die Wendung zur Metaphysik reif zu werden und die Notwendigkeit
dieser Wendung nicht bloß durch eine gerechtere Würdigung der
Metaphysik, sondern zugleich durch das Bekenntnis zu ihr und
durch eine Arbeit in ihrem Dienste zu erhärten. Ist der Philosoph
des „Willens zur Macht“ nicht ein Metaphysiker? Wir müssen diese
Frage bejahen. Im Gegensatz zu Nietzsche, der in der Aufstellung
dieses Prinzips vor allem nur die Zusammenfassung und den Nieder-
schlag seiner biologischen und entwicklungsgeschichtlichen Erkennt-
nis sah, dabei aber außer acht ließ, wie groß der Beitrag ist, den
seine philologisch-historischen Studien für die Konzeption seines
„Biologismus“ und „Evolutionismus“ geliefert haben.
Hier stehen wir nun wohl an demjenigen Punkte, der Nietzsches
Gegnerschaft gegen die Metaphysik, soweit er dieser Feindschaft
förmlichen Ausdruck verlieh und ein Recht zu ihr zu haben glaubte,
begreiflich macht. Der positive und positivistische Biologe und
Kulturhistoriker in ihm und besonders die aus seinem Verhältnis zu
den genannten Wissenschaften sich ergebende und hervorgegangene
und von ihm so gern hervorgehobene „realistische“ Geisteshaltung
mußten ihm jedes ausdrückliche Bekenntnis zur Metaphysik verbieten.
Aber dieses Verbot entsprach nichtseinen Taten; es beruhte auf einer
Selbsttäuschung und war unter dem Drucke einer Wissenschafts-
tendenzformuliert, die Nietzsche als Historiker und als Biologe zwar
auch wirklich vertrat, die jedoch weder die Tiefe seiner Begabung
berührte und umspannte, noch seine Leistung auf dem Felde der
Metaphysik verhindern konnte.
Doch wie dem auch sein mag und welches Verhältnis Nietzsche
wirklich zur Metaphysik hatte, jedenfalls lassen die Äußerungen der
6*
84
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Nichtachtung, die er ihr angeblich entgegenbrachte, an feindseliger
Schärfe schlechterdings nichts zu wünschen übrig. Aber ob er die
Metaphysiker als Betrüger beschimpfte, ob er ihre Schöpfung einen
sträflichen Trug und einen gefährlichen Wahn und die Ausgeburt
hirnkranker Scharlatane nannte, die die gesunden Grundlagen des
Lebens verbrecherisch vergiften, die nichts als Blutsauger und Ver-
ehrer des Fetischs der Grammatik seien — dennoch hat er die schein-
baren Beweisgründe gegen die Metaphysik um keinen einzigen neuen
Gedanken vermehrt. Bewundernswert bleibt nur, wie er sowohl in
„Jenseits von Gut und Böse“, „Zur Genealogie der Moral“, „Der
Wille zur Macht“ und noch sonst immer wieder neue und schneidend
kraftvolle Wendungen findet, um der zeitgenössischen Gering-
schätzung der Metaphysik einen sprachlichen und künstlerischen
Ausdruck zu geben. Er hat sich selber oft und mit allem Nachdruck
als einen der unabhängigsten Denker bezeichnet. Tatsächlich ist
er jedoch keineswegs so unabhängig, wie er glaubt und glauben
machen will, falls wir von seiner einzigartigen Sprachkunst ab-
sehen und den Blick auf den Gehalt seiner Gedanken selber richten.
Auch in jenen Ansätzen zu einer biologisch orientierten Metaphysik,
von denen wir weiter oben sprachen, ist er nicht so originell, wie er
behauptet. Es mag genügen, in diesem Zusammenhang und in diesem
Betracht auf Eduard von Hartmann hinzuweisen, dessen „Philo-
sophie des Unbewußten“ ebenfalls mehr als einen biologischen Zug
in sich trägt und von der naturwissenschaftlich-darwinistischen Ent-
wicklungslehre, die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts die
Wissenschaft und die Gemüter allgemein beherrschte, tiefgehende
Anregungen erfahren hat. Nur daß von Hartmann, und darin wohl
Nietzsche überlegen und im voraus, ein freimütiges Bekenntnis
seiner Liebe zur Metaphysik ablegte, ihre zentrale Bedeutung für
die Philosophie und für das Geistesleben überhaupt hervorhob und
durch eigene Leistungen ihre Entwicklung förderte. In Nietzsche
hinwiederum spiegelt sich, wie in Dilthey und in Lange, der Geist
seiner Zeit mit verführerischer Eindruckskraft. Alles, was seine
Jahrzehnte bewegt, ihren Glauben und ihren Unglauben, ihre Ver-
klammerung in die Fesseln des Relativismus, Positivismus, Historis-
mus, Psychologismus usw., sowie ihr dunkles und erst in tastenden
Ansätzen vorliegendes Bemühen um eine Überwindung dieser Rich-
tungen arbeitet und ringt in seinem Geiste und in seinen Werken.
Er selber ist ein großes historisches Phänomen und eine unentbehr-
liche Brücke zwischen den Zeitaltern. Ohne Zweifel gehört er zu
3. Haupttypen der Einwände
85
den Vorbereitern und Wegbereitern für die Entstehung eines neuen
Zeitalters und einer neuen Metaphysik, und zwar darum, weil er, wie
kaum ein anderer, das Ethos seiner Zeit durch sich in die klar
erkennbare Höhe vollendeter Gedankengestaltung hob. Hinter
seinem Haß gegen die Metaphysik keimt bereits eine neue Liebe
für sie auf. Dieser klassische Verfechter des Relativismus und
Psychologismus ist schon hart dabei, sich zum gedanklichen und
metaphysischen Absolutismus durchzuringen und für ihn eine Lanze
einzulegen. Ihm gilt die Metaphysik als ein rudimentäres Über-
lebsei, als eine fossile Größe, und er hat es als seine Aufgabe an-
gesehen, gegen die letzten Zuckungen dieses Phantoms, das leider
noch immer in einem unverdienten Ansehen stehe, einen Kampf zu
führen. Sein Kampf gegen die Metaphysik ist aber selber ein Unter-
nehmen gewesen, das sich in seinem Verlaufe als überlebt und durch
Nietzsches eigene Leistung als gegenstandslos erwies.
c) Der Vollständigkeit halber nennen wir unter den Vertretern
der psychologischen und psychologistischen Kritik und Bestreitung
der Metaphysik noch Hans Vaihinger. Was er in seiner „Philosophie
des Als Ob“ (1911 erschienen) gegen die Metaphysik einwendet,
findet sich ausnahmslos schon bei Lange und Nietzsche. Neue
Gründe für die Ablehnung erbringt er nicht. Wohl aber darf er das
Verdienst für sich in Anspruch nehmen, die mannigfaltigen kritischen
Einschränkungen, die die Geltung und das Ansehen der Metaphysik
erfahren haben, in eine wirkungsvolle Formel zusammengefaßt und
dadurch in der breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht zu haben.
Er unterstellt die gesamte Erkenntnis dem Wertbegriff der Fiktion,
bestreitet den objektiven Geltungswert sämtlicher Begriffe, die er
nur als Fiktionen, als Erdichtungen, als Zurechtmachungen auffaßt.
Was für die Erkenntnis in ihrer Allgemeinheit, das gilt für die Meta-
physik insonderheit. Auch er betont ihre subjektiv-psychologischen
Grundlagen, kennzeichnet die intelligible Welt als eine subjektive
Fiktion ohne positiven Realitätswert, als einen leeren Schein und
als eine aus Nützlichkeitserwägungen heraus geschaffene Ein-
bildung, die dem Menschen in seiner Bedrohtheit durch die Un-
sicherheit des Lebens eine absolute und vollkommene Wirklichkeit
jenseits der Erscheinungswelt tröstend vorzuspiegeln sucht. Doch
auch Friedrich Albert Lange hatte bereits auf solche praktisch-
religiösen Beweggründe als Triebkräfte für die Metaphysik aufmerk-
sam gemacht; er hatte in der Errichtung metaphysischer Systeme
eine Pseudounternehmung zur Befriedigung sittlicher und religiöser
86
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Bedürfnisse gesehen, ohne allerdings das Bedenkliche solcher Versuche
zu verschweigen. Wir haben oben davon gesprochen. Auch Vaihingers
Fiktionalismus ist von dem von uns bereits mehrfach gekennzeichneten
Positivismus getragen, der vor etwa vierzig bis fünfzig Jahren eine
begründete und verständliche Ausprägung der Weltanschauung und
der Wirklichkeitsbewertung war, seitdem aber einer zunehmenden
Überwindung verfiel und durch das Aufkommen anderer Formen
der Geisteshaltung ergänzt wurde. Wäre Vaihingers Philosophie,
die sich ausdrücklich als „positivistischen Idealismus“ gibt, in jenen
Jahren ans Licht getreten, — und das waren auch die Jahre, in
denen sie im Geiste ihres Urhebers wirklich entstand, weil sie damals
durch die Lektüre des Werkes von Friedrich Albert Lange aus-
gelöst wurde —, so wäre sie damals eine zeitgemäße Erscheinung
gewesen. Heute kann sie nur noch als ein verspäteter, wenngleich
noch immer mannigfachen Widerhall erweckender Nachklang aus
einer Zeitstimmung aufgefaßt werden, über die die Entwicklung
längst fortgeschritten ist. Das zeigt sich, von allem anderen ab-
gesehen, in der unhaltbaren positivistischen und psychologistischen
Auffassung vom Wesen und Wert der Metaphysik. Nicht die Meta-
physik ist überlebt, sondern die ihr zuteil gewordene positivistische
und utilitaristische Auffassungs-und Beurteilungsart. Die Metaphysik
ruht auf anderen Gerechtsamen als auf Fiktionen, die wir nach
Vaihinger wegen des erfolgreichen Kampfes ums Dasein logisch er-
künsteln. Deshalb kann auch kein Fiktionalismus dem Wesen
und Wert der Metaphysik eine adäquate Würdigung zuteil werden
lassen: Der Streich, der von diesem Standpunkt aus gegen sie ge-
führt wird, gleitet glatt an ihr vorbei, nicht zuletzt auch deshalb,
weil jener positivistische Idealismus selber der Ausdruck einer Meta-
physik, und zwar eines naiven agnostizistischen Naturalismus ist.
c. Auflösung der Metaphysik durch die kantische
und neukantische Erkenntnistheorie.
Wir hoben bereits hervor (vgl. S. 60), daß die Entwicklung des
Neukantianismus, dessen Entstehung in die sechziger Jahre des ver-
gangenen Jahrhunderts fällt — Otto Liebmanns Buch „Kant und
die Epigonen“ erschien 1865 — zu einem wesentlichen Teile durch
die Bewertung bestimmt ist, die Kants Erkenntnistheorie in bezug
auf ihre Bedeutung für die Metaphysik erfuhr. Alle älteren Neu-
kantianer behaupten ausnahmslos, daß jene Erkenntnistheorie die
3. Haupttypen der Einwände
87
Philosophie endgültig und zu ihrem Heile von dem Übel der Meta-
physik befreit habe. Die neuere und jüngere Stufe des Neu-
kantianismus steht auch in dieser Frage anders; sie erkennt und
würdigt in Kant einen der größten konstruktiven Metaphysiker
aller Zeiten; sein „kritischer Idealismus“ sei auf der Grundlage und
unter dauernder Verwendung metaphysischer Motive ausgebildet
worden. Genannt seien von den Vertretern dieser Ansicht Nicolai
Hartmann und Heinz Heimsoeth. Auch ich habe in meinem Buche
„Wie ist kritische Philosophie überhaupt möglich?“ versucht, eine
ganze Reihe von metaphysischen Zügen sowohl in der Fragestellung
als auch in der Durchführung des Kritizismus aufzudecken, so daß
derselbe überhaupt, also auch in seinem erkenntnistheoretischen
Teil, als eine der großen Gestalten und typischen Ausprägungen der
Metaphysik zu gelten hat.
Von den Anhängern der Überzeugung, daß die Absicht, der Sinn
und der Erfolg der kritischen Erkenntnistheorie in der Vernichtung
der Metaphysik bestünde, verdient Alois Riehl in unserem Zusammen-
hang aus folgenden Gründen eine genauere Berücksichtigung:
Während Dilthey und Lange die Erkenntnistheorie nur nebenbei
herangezogen haben, um sie zur Widerlegung der Metaphysik zu
verwenden, sonst jedoch andersgeartete Überlegungen für die Er-
reichung jenes Zweckes aufboten, hat Riehl sowohl in seinem Haupt-
werk „Der philosophische Kritizismus“ als auch in anderen Schriften
sein Augenmerk fast ausschließlich und mit besonderer Vorliebe
auf die Darstellung jener Zerstörungsarbeit der Erkenntniskritik
eingestellt. In umfangreichen Ausführungen hat er sich bemüht,
den Nachweis dafür zu erbringen, daß nach der einen Seite die
Leistung der Erkenntnistheorie in der Begründung der positiven
Wissenschaften, von denen ihm in erster Linie die Mathematik und
die Physik vertraut waren, und auf die sich nach ihm jene Be-
gründungsfunktion der Erkenntnistheorie vor allem bezog, besteht.
Ihre sozusagen destruktive, für die Philosophie allerdings heilsame
Arbeit hingegen käme in der Aufdeckung der Unwissenschaftlichkeit
und damit in der Beseitigung der Metaphysik zum Ausdruck. Von
kaum einem anderen Vertreter des älteren Neukantianismus erhalten
wir ein so klares und lehrreiches Bild jener angeblichen Vernichtungs-
arbeit wie von Riehl. Wir können bei ihm deutlich gewahren — und
das ist der andere Grund für seine Berücksichtigung —, wie der Geist
des vor etwa fünfzig Jahren herrschenden Positivismus auch in die
Erkenntnistheorie eindringt, wie er die Auffassung beeinflußt, die
88
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
ihrem Begriff und Wesen entgegengebracht wird, und wie er schließlich
auch jene eigenartige Verwendung begründet und begünstigt, die
von der Erkenntnistheorie für die Zwecke der Philosophie und, nach
dem Glauben der Zeit, zum Segen für die Philosophie gemacht
werden kann und werden muß.
Riehls typischer Positivismus erwächst nicht erst aus seinem
Studium Kants, sondern er bringt jenen Gesichtspunkt bereits aus
seiner philosophischen Entwicklung an die Interpretation heran, der
er den Kritizismus unterwirft. Obwohl Riehl im Laufe der Zeit
ein scharfer Gegner von Mach und Avenarius geworden ist, haften
seiner Philosophie unverkennbar positivistische Tendenzen an. Ge-
hörte er doch auch zu den Begründern und langjährigen Mitheraus-
gebern der „Zeitschrift für positivistische Philosophie“. Das Grund-
dogma dieses Positivismus besteht in der Behauptung, daß alle
Erkenntnis in den Kreis und in die Grenzen der Erfahrung gebannt
und auf Erfahrung beschränkt sei. Von dieser Überzeugung aus
werden auch die Auslegung und die Darstellung des kantischen
Kritizismus vorgenommen. Kant wird zu dem entschiedensten
Anwalt des kritischen Empirismus gemacht, er wird deswegen als einer
der erleuchteten und erleuchtenden Erlöser von dem Dunkel der
Metaphysik gepriesen, in der nichts als eine abwegige, willkürliche,
dilettantische und dabei den positiven Wissenschaften sich über-
legen dünkende Begriffsspielerei erblickt wird. Diese positivistische
Interpretation der Absicht und des Zieles der kritischen Philosophie
bedingt es nun auch, daß Riehl in Kant den Fortsetzer und Vollender
des kritischen Empirismus Lockes und Humes anerkennt.
Die reinen Formen und Kategorien der Erkenntnis schaffen von
sich aus noch keine objektive Wissenschaft; sie bedürfen des sinn-
lichen Stoffes aus der Welt der Wahrnehmung. Wo dieser Stoff
fehlt, bleibt das Denken in den Kreislauf subjektiver Eigenbewegung
eingeschlossen, es betätigt sich in der rein formalen Verknüpfung
von Begriffen. Aber diese Verknüpfung führt nicht zu einer gegen-
ständlichen Erkenntnis, sie lehrt uns nicht eine Erkenntnis der tat-
sächlich gegebenen Gegenstände. Zwar sind jene reinen Gedanken-
formen von apriorischer Geltung für jene Funktion der Verknüpfung.
Doch haben und erfahren die Verstandesaprioritäten eine sachliche
Anwendung nur dadurch, daß sie sich mit Erfahrungsstoff aus-
füllen, so daß sie die Kraft ihrer Apriorität nur innerhalb des Er-
fahrungsfeldes zu objektivem Gebrauch, d. h. zu wirklicher und
positiver Erkenntnis bringen können. Den Nachweis dieser phä-
3. Haupttypen der Einwände
89
nomenalistischen Beschränkung der Erkenntnis auf das Reich der
Erfahrungserscheinungen lobt Riehl als den Hauptwert und Haupt-
erfolg der kritischen Philosophie. Sie sei eine Befreierin der Mensch-
heit von dem Alpdruck der Metaphysik, von den irreführenden
Scheinkünsten und dem leeren Gerede reiner Vernünftler. Durch
jene Erkenntnistheorie belehrt, sehen wir nun mit klar gewordenem
Auge, daß die metaphysischen Systeme bloße Verheißungen ohne
positive Leistungen darstellen. Die Metaphysiker sind philosophische
Alchimisten, die noch immer nach dem einzigen, welterklärenden
Begriff wie nach dem Stein der Weisen suchen.
Wenn sie jedoch mit ihrer Metaphysik in Verlegenheit geraten,
wenn sie durch den Nachweis bedrängt werden, daß ihre Erkenntnis
keine objektive kategorische Geltung habe, dann benutzen sie die
lächerliche Ausflucht eines Hinweises auf den hypothetischen Sinn
ihrer überwissenschaftlichen Ideen. Das aber ist nichts weniger als
eine Rettung und Sicherstellung der Metaphysik. Ideen, die nur
relativ gültig sind, sind in logischer Beziehung keine Ideen; Hypo-
thesen, ohne die keine Wissenschaft auskommt, sind etwas prin-
zipiell anderes als jene bloßen Wahrscheinlichkeiten, mit denen die
Metaphysik sich begnügen muß. Ihre erzwungene Genügsamkeit
ist nichts als das Eingeständnis, daß es mit ihr zu Ende sei. Eine
hypothetische und bloß relative Metaphysik ist weder Metaphysik
noch sonst irgend etwas Sinnvolles. Der streng ableitende Beweis,
die Deduktion, ist wie der Mathematik so auch der Metaphysik
wesentlich; will die letztere doch reine und unbedingte Vernunft-
wissenschaft sein. Eine solche Deduktion kann nicht durchgeführt
werden; demnach brächt mit ihr auch die Metaphysik zusammen.
Denn wie wäre eine solche Deduktion in der Strenge und Eindeutig-
keit einer wissenschaftlichen Ableitung möglich? Welches
wären die unbedingt gültigen Voraussetzungen für sie? Welches
wäre die regulative Einheit und die gegen jede Beanstandung
gefeite Leitidee für den Aufbau einer deduktiven Metaphysik? Auf
diese Fragen können einwandfreie und abschließende Antworten
nicht erteilt werden.
Ist es aber um die Möglichkeit einer induktiven Metaphysik besser
bestellt, um eine Metaphysik, die sich von Erfahrungsgrundlagen
aus aufbaut? Indem Riehl dieser Möglichkeit nachgeht und sie
verneint, wendet er sich zugleich gegen den von Eduard von Hart-
mann unternommenen Versuch einer solchen erfahrungsmäßig be-
gründeten Metaphysik. Hier lag der Glaube vor, die Metaphysik
90
I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
dadurch retten und in den Stand der Ebenbürtigkeit mit den posi-
tiven Wissenschaften erheben zu können, daß man ihr empirische
Grundlagen gab und nach induktivem Verfahren aufbauen zu
können vermeinte, um dann mittels verallgemeinernder Synthesen
spekulative Ergebnisse zu erzielen. Einem solchen Vorgehen be-
gegnet Riehl mit der scharfen Erwiderung: ,,Wer uns spekulative
Resultate nach induktiver Methode verheißt, weiß entweder nicht,
was Induktion ist oder er geht mit Bewußtsein auf Täuschung
aus.“ Entweder verfährt die Metaphysik deduktiv-rationalistisch,
da ihre Gegenstände keine Objekte der Erfahrung sind und auch nicht
sein sollen, oder sie besitzt überhaupt keinen wahren Erkenntnis-
wert. Jenes kann sie nicht tun, weil es durch reine Vernunft
keine objektive Erkenntnis geben kann. Nicht minder ist ihr
aber, wie gesagt, der empirisch-induktive Weg verbaut. Es ist
besonders Kants transzendentale Dialektik, die den Beweis für die
vollständige Unmöglichkeit der Metaphysik erbracht hat.
Nur ein Mangel haftet nach Riehl dem Werke Kants noch an.
Der große Wissenschaftskritiker sei nämlich bemüht gewesen, an
die Stelle der theoretisch-dogmatischen Metaphysik eine praktisch-
dogmatische Metaphysik zu setzen. Er ließ ihr in dem „meta-
physischen Vernunftglauben“ noch einen Unterschlupf, und seine
Lehre von der begründenden Geltung der sittlichen Postulate und
der Normen der praktischen Vernunft führte auf die schiefe Ebene
der Spekulation, aus der dann so bedenkliche Erzeugnisse wie die
Wissenschaftslehre Fichtes und die Naturphilosophie Schellings und
Hegels hervorgegangen seien, welch letzterer Riehl eine von Er-
regung und Verhöhnung nicht freie Ablehnung entgegenbrachte.
Kant hat mit anderen Worten seine Kritik der Metaphysik nicht
umfassend genug angelegt. Er kritisiert leider nicht eigentlich die
Metaphysik als solche, sondern vorherrschend nur Teile derselben,
wie die rationale Psychologie, Kosmologie, Theologie, und diese noch
dazu in der Gestalt, die Christian Wolf diesen traditionellen Partien
des alten Dogmatismus gegeben hat. So hat er den Bannkreis des
metaphysischen Denkens nicht völlig durchbrochen und zeitlebens
eine Vorliebe für es bewahrt. Diese Vorliebe gelangt zu theoreti-
schem Niederschlag in seinem ethischen und normativen Idealismus.
Hätte Kant diesen Idealismus nur als den Ausdruck seines persön-
lichen Glaubensbekenntnisses ausgegeben, so hätte er keine allzu
große theoretische Schuld auf sich geladen. Er sah in ihm jedoch
den ebenbürtigen Ersatzf ür die alte dogmatische Metaphysik, würdigte
3. Haupttypen der Einwände
91
ihn als eine metaphysisch gültige Lehrmeinung und kam dadurch, per-
sönlichen Stimmungen willfahrend, zu einer Wiederherstellung der
Metaphysik, aus der die unheilvolle Frucht des spekulativen Idealis-
mus emporschoß.
Demgegenüber sei es nun aber an der Zeit und auch die Pflicht
der Philosophie, die Belastung des Denkens durch metaphysische
Spekulationen endgültig abzuschütteln. Das durchgreifende Kampf-
mittel dafür ist die rücksichtslose Anwendung der erkenntnis-
theoretischen Kritik und die nicht minder rücksichtslose Anerken-
nung ihrer Ergebnisse. Das Grundgebrechen und das Grundver-
brechen der Metaphysik, von denen sie aber nicht lassen kann, weil
sie mit ihrem Begriff und Wesen gesetzt sind, bestehen in der un-
kritischen Verwirklichung bloßer Gedankengebälde, bestehen in der,
den Sinn aller Erkenntnis verfälschenden Hypostasierung und Onto-
logisierung von Begriffen. Die Begriffe werden von ihr ohne weiteres,
d. h. in unkritischer Weise als eine Dingwelt aufgefaßt und als
Realitäten angesehen. Das Verdienst der Erkenntniskritik besteht in
der Aufdeckung dieser, der Sachlichkeit entbehrenden Verdinglichung
reiner „Gedankendinge“. Sie weist nach, daß der Hauptfehler jeder
Metaphysik, dessen dieselbe sich aber nicht bewußt ist, und den sie
darum fort und fort begeht, darauf beruht, die Begriffe als Reali-
täten zu verstehen und zu gebrauchen. Das Hauptbeispiel eines solchen
Mißbrauchs eines Begriffes durch die Metaphysik ist der, den sie mit
der Idee der Einheit treibt. Sie überträgt ihn ohne weiteres auf die
objektive Welt, sieht in ihm ein reales Band, das die Erscheinungen
objektiv zusammenhält, während diese Idee nur eine Denkforderung,
nur ein methodischer Grundsatz ist. Die Metaphysik lebt von dieser
unhaltbaren ontologischen Grenzüberschreitung. „In Wahrheit ist
die Übertragung der systematischen Einheitsbegriffe der höchsten
Gattung und des letzten Grundes auf den eigenen Zusammenhang
der Erscheinungen zunächst nichts als eine subjektive Analogie.“
Wenn wir die Natur vereinheitlichen und systematisieren, wozu
ein vollgültiges Recht und eine methodische Notwendigkeit vor-
liegen, so vollziehen wir mit diesem Verfahren nur einen logischen
Abstraktionsprozeß. Die Kritik der Erkenntnis belehrt uns darüber,
daß die in ihm auftretenden Begriffe doch nicht die realen Ursachen
des Naturprozesses selbst sind. Riehl faßt seine Stellungnahme in
der ihm eigenen Weise vorbildlich klar formulierter und ästhetisch
durchgefeilter Entscheidung folgendermaßen zusammen: Die Über-
zeugung von der Unmöglichkeit metaphysischer Systeme ist eines
92
1. Typische Einwände gegen die Metaphysik
der allerwichtigsten Ergebnisse der allgemeinen Wissenschafts-
theorie. Sie verhindert, daß wertvolle Kräfte des Geistes noch
fernerhin an die Behandlung unlösbarer, weil falsch gestellter
Probleme gesetzt werden.
4. Allgemeine Kritik dieser Einwände.
a) Wir haben in den drei Gruppen von Einwänden, die wir im
vorstehenden zu kennzeichnen suchten, alle Bedenken vor uns, die
jemals unter grundsätzlichen Gesichtspunkten gegen die Meta-
physik vorgebracht worden sind. Deshalb sind jene Einwände
beachtenswert und lehrreich. Und wenn sie außerdem für sich selber
gewürdigt werden, wenn wir vorerst noch gar nicht die Frage nach
dem Maß ihrer Treffsicherheit aufwerfen, so verdienen sie unsere
Aufmerksamkeit zweifellos auch darum, weil sich in ihnen eine be-
stimmte Geisteshaltung den letzten und höchsten Dingen gegenüber,
eine interessante seelische Struktur und zugleich ein bestimmtes
Zeitbewußtsein verkörpern. Wenn Dilthey sagt, die Metaphysik
war nur eine geschichtlich bedingte Zeiterscheinung und als solche
allerdings durchaus notwendig und begreiflich, so darf ihm entgegen-
gehalten werden: Sollten die Einwände gegen die Metaphysik nicht
in einem viel höheren Sinne nur zeitlich und zeitgeschichtlich, sogar
nur subjektiv bedingt sein? Wir können nicht umhin, diese Frage
zu bejahen. Zugleich vermögen wir, jenen Grund für die Zeit-
bedingtheit dieser Einwände zu nennen, der sich im Ablauf der
geistigen Entwicklung immer wieder bemerkbar macht, und den
die verschiedensten Epochen als Waffe gegen die Metaphysik
gehandhabt haben, ohne mit dieser Waffe einen dauernden Erfolg
erzielen zu können. Dieser Grund ist in dem relativistischen Posi-
tivismus gegeben, der in Griechenland in den Tagen des Sokrates
durch die Sophisten und bald darauf durch die Skeptiker, in Eng-
land und Frankreich um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
durch die sogenannten Empiristen und Sensualisten, dann im neun-
zehnten Jahrhundert auch in Deutschland auf allen Gebieten als
Gegenschlag gegen den spekulativen Idealismus vertreten wurde und
sich hier in der Richtung des sogenannten Historismus fortsetzt.
Es gilt, diesen Positivismus und die mannigfachen Spielarten,
in denen er sowohl in der Philosophie als auch in den Geisteswissen-
schaften, nicht zuletzt aber in einer logisch nur schwer umgrenzbaren
Allgemeinheit der Lebensauffassung und der Kulturstimmung
4. Kritik dieser Einwände
93
zum Ausdruck kommt, nicht nur als einen bestimmten philosophischen
Standpunkt, sondern auch als die Bekundung einer allgemeinen
Geisteshaltung zu verstehen. Gewiß hat diese Geisteshaltung zu
einer nicht unerheblichen Diskreditierung der Metaphysik in der
allgemeinen Schätzung der Menschen beigetragen. Sie hat blinde
Mitläufer, die der Metaphysik aus Mangel an Kritik oder aus reiner
Tradition anhingen, zur Vorsicht und Überlegung gebracht. Denn
es ist keine Frage, daß die Anhänglichkeit an die Metaphysik und die
Zustimmung zu einem System in nicht wenigen Fällen auf einem
Mangel an Denkselbständigkeit, auch auf Gewöhnung und auf dem
anerzogenen Vertrauen an anerkannte Autoritäten beruhen. Und
wie oft wurde das Ansehen der Metaphysik durch die Naivität eines
metaphysikgläubigen Dogmatismus, gegen den die positivistischen
Widersacher leichtes Spiel hatten, schwer geschädigt. Indem diese
Gegner sich gegen den Fanatismus der Mitläufer wandten, hatte
es den Anschein, als hätten sie auch gegen die Metaphysik selber
erfolgreich angekämpft, als hätten sie durch die Zurückdrängung
einer solchen Anhängerschaft auch die Sache, der jene anhing,
getroffen. Darf der Positivismus jedoch für diese Zurückdrängung
buchstabengläubiger Dogmatiker nicht einen gewissen Dank in An-
spruch nehmen?
Dazu kommt als ein weiteres Verdienst der positivistischen
Kritik, daß sie die Verschiedenheit zwischen dem Gebiet der posi-
tiven Erkenntnis auf der einen und dem der Metaphysik auf der
anderen Seite deutlich macht. Zwar begeht sie einen schweren
Übergriff dadurch, daß sie glaubt, der Metaphysik das Lebenslicht
ganz und gar ausgeblasen zu haben, wenn sie dieselbe aus den
Grenzen der positiven Wissenschaft verbannt. Aber diese Ver-
weisung kann sie nur durch die Klärung und Fixierung des Be-
griffes und der Leistungsfähigkeit der positiven Wissenschaften
erreichen. Und für diese Klärung verdient sie Anerkennung. In
der Tat beobachten wir, daß mit der kritischen Ablehnung der
Metaphysik durch den Geist des Positivismus und Relativismus die
kritische Begründung der positiven Wissenschaften Hand in Hand
geht. Wir sehen eine derartige Leistung z. B. bei dem Neukantianis-
mus in der von ihm so weit durchgeführten Theorie der Mathematik
und der naturwissenschaftlichen Erfahrung, bei Dilthey in seinem
Versuch einer Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Er-
kenntnis. —
94 ¡.Typische Einwände gegen die Metaphysik und Kritik dieser Einwände
b) Aber wie sich die Angriffe gegen die Metaphysik immer aufs
neue wiederholen, so vollzieht sich in beinahe allen lebendigen
Kulturepochen auch eine Erneuerung der Metaphysik. Läßt sich
aus dieser Renaissance nicht auf ein inneres Recht und auf eine innere
Notwendigkeit der Metaphysik zurückschließen? Allerdings ist es
denkbar, daß bei einer bestimmten Geisteslage auch ein ausge-
sprochener und erwiesener Unsinn erneuten Beifall und Anklang
finden kann. Der Überdruß an dem Rationalismus der Wissenschaft
zeitigt, wie wir es in der Gegenwart erleben, so manche Blüte einer
Pseudoromantik, die den Garten der Zeit nicht gerade ziert. Es
erübrigt sich, bestimmte Beispiele anzuführen, denn sie sind mit
Händen zu greifen.
Ebenso kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch die Wieder-
erstehung der Metaphysik von jeweils herrschenden Zeitstimmungen
und Zeitneigungen abhängt. Ohne solche seelischen Dispositionen
sind weder die positive Arbeit an der Metaphysik noch ein ange-
messenes Verständnis für diese Arbeit möglich. Und wie in dem
Zeitalter, in dem der Positivismus und Relativismus eine Art von
geistiger Führung ausübte, derartige Voraussetzungen kaum vor-
handen waren, so sind in der Gegenwart bei einer Änderung der seeli-
schen und moralischen Verfassung, d. h. angesichts der Bemühung
um eine Überwindung des Relativismus, die Kräfte der Empfäng-
lichkeit und Bereitwilligkeit für die Metaphysik wieder wach ge-
worden. Es würde eine eigene Untersuchung erfordern, jenen
Wesenszügen unserer Zeit nachzugehen, die in subjektiver und
objektiver Beziehung die Erneuerung der Metaphysik in unseren
Tagen auslösen und begünstigen.
Ich möchte doch die Behauptung nicht als abwegig bezeichnen,
die dahin geht, daß die geschichtliche Renaissance der Metaphysik
schon von sich aus auf eine gewisse sachliche Notwendigkeit und auf
eine gewisse Berechtigung der Metaphysik hinweist. Der Geist der
Geschichte trägt in sich ein nicht unbeträchtliches Maß an Recht.
Zwar ist das noch kein absolutes Recht. Denn wir wissen, wie groß
der Ballast an Widersinnigkeiten und sich mechanisch weitererben-
den Überlebsein ist, den die Entwicklung der Geschichte mit sich
schleppt. Und wie schwer es ist, durch eine rein historische und mit
historischen Kriterien arbeitende Betrachtung Spreu vom Weizen
zu sondern. Doch lassen wir die Frage nach dem absoluten Recht
geschichtlicher Erscheinungen im Augenblick auf sich beruhen, so
können wir nicht umhin, anzunehmen, daß der Wiederkehr mar-
4. Kritik dieser Einwände
95
kanter Gestalten des Geisteslebens ein Recht innewohnt, das sich
aus jener geheimnisvollen Macht speist, die allem Geschichtlichen
zum Leben verhilft und es am Leben erhält. In Unterscheidung von
dem Wesen des absoluten Rechtes hat man von der Macht des
geschichtlichen Rechtes gesprochen und auch ihr ein gewisses
Recht zugebilligt.-----
Wenden wir diesen Gedanken auf die immer wieder durch-
brechende Erneuerung der Metaphysik an. Dann gelangen wir zu
dem Ergebnis, daß im Hintergründe dieser verschiedenen Wen-
dungen zu einer Wiederherstellung der Metaphysik bestimmte Mo-
tive in ausschlaggebender Wirksamkeit sich befinden, Motive, deren
Wesen und Wichtigkeit eine vorurteilslose Würdigung beanspruchen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich an mehr als an einer Stelle
mit diesen Motiven und mit ihrem Recht. Denn ohne eine gerechte
Würdigung derjenigen persönlichen und geschichtlichen Bedingungen,
derjenigen seelischen Verhaltungsweisen und allgemeinen gesell-
schaftlichen Tendenzen, auf denen die Metaphysik beruht, und auf
deren Geltung sie sich immer wieder berufen kann, ist auch ein Ver-
ständnis für die Metaphysik nicht zu gewinnen.
c) Und wenn wir nun mit allem Ernst ein solches Verständnis
anstreben, dann ergibt sich unschwer die Einsicht in die merk-
würdige Äußerlichkeit, ja Schiefheit aller jener Einwände, von denen
wir weiter oben gesprochen haben. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn
gegen sie selber der Einwand erhoben wird, daß ihnen bereits
die entscheidende Voraussetzung für die Inangriffnahme und Durch-
führung ihrer Absicht fehlt. Das Schwerste, was überhaupt gegen
die Möglichkeit und gegen das Recht einer Beurteilung gesagt
werden kann, muß auch ihnen entgegengehalten werden: Sie sind
belastet mit dem Merkmal der Ungerechtigkeit und dem der Ver-
ständnislosigkeit für ihren Gegenstand. Dieser Mangel an Ge-
rechtigkeit und an Verständnis macht sich sogar an jenen Punkten
bemerkbar, an denen sie eine Art von Entschuldigung und Recht-
fertigung für die Metaphysik erstreben und beizubringen meinen.
Wir wollen diese relative Rechtfertigungsaktion, die zugunsten der
Metaphysik unternommen wird, mit einigen Worten kennzeichnen.
Dilthey und Nietzsche, Lange und Vaihinger glauben, den Sinn
der Metaphysik dadurch zutreffend charakterisieren und in seiner
Relativität erhärten zu können, daß sie die spekulativen Systeme
als eine Art von „Begriffsdichtung“ ausgeben. Ist das eine wirklich
96 I. Typische Einwände gegen die Metaphysik und Kritik dieser Einwände
sachgemäße Charakteristik der Metaphysik? Erschließt sie in ge-
rechter Weise das Wesen derselben? Bestimmt sie mit objektiver
Treffsicherheit diejenige Stellung, die innerhalb des Verbandes der
geistigen Gestalten von der Metaphysik eingenommen und in un-
verwechselbarer Weise innegehalten wird? Und ist sie geeignet,
der Metaphysik zur Ehrenrettung zu verhelfen? Jeder Dichter,
Literarhistoriker und Ästhetiker wird es ablehnen, die Metaphysik
des Aristoteles, die Ethik Spinozas, die Monadologie von Leibniz,
Hegels Phänomenologie des Geistes, die Enneaden Plotins und die
Summa des hl. Thomas dem Typus der Dichtungen einzuordnen
oder auch nur anzunähern. Denn die dichterische und die meta-
physische Synthese sind in der Struktur ihrer Durchführung und
hinsichtlich ihres Sinnes und Zweckes himmelweit voneinander ent-
fernt. Zwar besitzen sie in der Menschenbrust eine enge Verwandt-
schaft. Beide entstammen der Sehnsucht nach einer anderen,
höheren Welt, die nicht von der Härte und Herbheit der empirischen
Gesetzeszusammenhänge beherrscht wird. Das Verlangen nach
einem ,,Anderen“ gehört zu den stärksten und wichtigsten, inter-
essantesten und unentbehrlichsten Begierden des menschlichen
Herzens. Dieses Verlangen nimmt eine besondere Dringlichkeit
und Leidenschaftlichkeit dann an, wenn es sich nicht auf ein relativ
Anderes, sondern auf ein absolut Anderes richtet. Dieses absolut
Andere ist jene Wirklichkeit, die von den drückenden Bedingungen
des gewöhnlichen, uns vertrauten und uns so oft quälenden
Seins der üblichen Erscheinungsverbände befreit ist. ln dieser
absolut anderen Welt scheint die menschliche Seele erst vollständig
zu sich zu kommen und ihre eigentliche Bestimmung finden und
erfüllen zu können. Die Vorstellung von der Realität jener anderen
Wirklichkeit und der Auftrieb zu ihr haben in einer unwidersteh-
lichen moralischen und religiösen Sehnsucht ihre Wurzel.
Wie vieles ist in den geheimnisvollen Tiefen unserer Seele eng
miteinander verwoben, spielt in unserem Innenleben in kraftspenden-
der Verschlungenheit durcheinander, ohne daß die seelische und
gemüthafte Gemeinschaft eine dauernde Gleichheit und ein stetiges
Beieinanderbleiben dieser Lebensformen gewährleistete. Denn
sobald nun diese verschiedenartigen Strömungen aus dem Quell
der Innerlichkeit hinausdrängen, nach Gestaltung verlangen und zur
Gestaltung reifen, treten sie im Verlaufe des Prozesses ihrer Objekti-
vation deutlich auseinander, ja gegeneinander. Der Grund liegt
darin, daß wir für diese Gestaltungsprozesse und Objektivationen
4. Kritik dieser Einwände
97
die verschiedensten und verschiedenartigsten Formungsprinzipien
ansetzen und gebrauchen: Anschauungsformen, Glaubensformen,
Begriffsformen, Phantasieformen, Gesichtspunkte und Synthesen
der mannigfachsten Art und Qualität, nicht zuletzt jene streng ge-
staltenden Formungen, die sich aus der gegliederten Gesamtheit
der verschiedenen Zielsetzungen unseres Wollens und Lebens er-
geben. Die Fülle und die Getrenntheit der Geistesgebiete erwachsen
erst aus diesen differenziierten und differenziierenden Formungen
der ursprünglichen Lebens- und Stimmungseinheit. So sehr diese
ursprüngliche Einheit in ihrer Kraft beachtet und anerkannt werden
mag, so wenig darf man blind oder ungerecht sein gegenüber der
Kraft dieser Differenziierungen, gegenüber ihren Ergebnissen und
gegenüber den durchaus objektiven Bedingungen, mit deren Hilfe
die verschiedenen Kulturgebiete zu objektivem Dasein erstehen.
Bei der Untersuchung dieser Kulturgebiete und Geistesobjekti-
vationen müssen also nicht bloß ihre subjektive Verankerung und
ihr Beieinanderwohnen in der menschlichen Seele, sondern es muß
mindestens ebensosehr, wenn nicht noch stärker der Inbegriff jener
Faktoren, durch die ihre objektiv-geschichtliche Existenz zustande
kommt, ins Auge gefaßt werden. Und da ergibt sich mit voller
Deutlichkeit eine schrittweise Zunahme in dem Auseinandertreten
von Dichtkunst und Metaphysik, eine Erhöhung ihrer Differenzi-
erung zueinander. Die Verschiedenheit ihrer Objektivierung führt
zu dem Ergebnis, daß jedem Gebiete schließlich eine besondere
Form der Autonomie, eine besondere Form der Realitäts- und
Geltungsweise, ein eigentümlicher Sinn und Gehalt, eine eigene
Stellung im Ganzen der Kultur und, bei aller Verbundenheit mit
den übrigen Wesens- und Wirkungseinheiten der Geschichte, doch
auch wieder ein selbständiges Schicksal zuzusprechen ist. Der
Nachweis der Autonomie der Metaphysik gehört zu den Haupt-
aufgaben unserer Ausführungen.
Bezeichnen wir jetzt in aller Kürze den Charakter dieser Auto-
nomie der Metaphysik als Dialektik, so mag damit der funda-
mentale Gegensatz zwischen ihrer Eigenart und derjenigen der
Dichtkunst ausgedrückt sein. Das Reich der Dichtung ist durchaus
eindeutig — es ist bewußte und mit Bewußtheit gestaltete Irrealität;
es trägt das Wesen des Scheins ohne Abschweife und Umschweife
als Schein, und die Gesetze, denen es seine Gestaltung verdankt,
sind auf das deutlichste von den Gestaltungsfaktoren der wissen-
schaftlichen, der sittlichen, der religiösen Wirklichkeit abhebbar.
Liebe rt, Dialektik. 7
98 I. Typische Einwände gegen die Metaphysik und Kritik dieser Einwände
Gerade umgekehrt liegt der Fall bei der Autonomie der Metaphysik.
Von ihr ist die dialektische Zweideutigkeit nicht abzustreifen; und
ihre Paradoxie bekundet sich in der einzigartigen Allgegenwart ihrer
Stellung im Geistesleben und in ihrem allgegenwärtigen Einflüsse auf
dasselbe. Die Metaphysik ist weder ausschließlich Wissenschaft,
noch ausschließlich ein Ausdruck der Moralität, noch bloß ein
Erzeugnis künstlerisch-bildnerischer Fügung, noch endlich bloß ein
Niederschlag religiöser Sehnsüchte, sondern sie ist alles das zu-
sammen in einer neuen und einzigartigen dialektischen
Verknüpfung: Sie ist, einmal ganz knapp ausgedrückt, die
dialektische Einheit und einheitliche Dialektik sämt-
licher Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Geistes.
Die Ausführungen unserer ganzen Schrift erübrigen es, die Ver-
sicherung abzugeben, daß die Bezeichnung der dialektischen Zwei-
deutigkeit der Metaphysik nicht im Sinne des Tadels oder auch nur
der geringsten Mißachtung gemeint ist. Wir wollen durch jene An-
gabe nicht nur die Eigenart, sondern auch die unverwechselbare
Einzigartigkeit der Metaphysik und damit sozusagen ihre Über-
legenheit über sämtliche anderen Einzelgestalten des Geistes zum
Ausdruck bringen.
Also regt sich auch in uns so etwas wie ein Hochmut? Subjektiv
gesehen gewiß nicht. Schon darum nicht, weil wir in dem Zusammen-
hang unserer Darlegungen fort und fort die ,,Problematik“ der Meta-
physik, ihre Unvollendetheit und ewige Unvollendbarkeit aufdecken
und betonen. Dieser Charakterzug ihres Wesens umschließt sogar
eine gewisse Unterlegenheit denjenigen Gebieten der Kultur gegen-
über, denen die Erreichung einer, wenn auch nicht vollständigen und
dauernden, so doch immerhin relativen und vorübergehenden Fertig-
keit ihrer Ergebnisse möglich ist. Zwar genießt keine Gestalt und
keine Leistung der Kultur den Vorzug unbedingter, von jeder inner-
lichen Problematik freien, erneuter Lösung unbedürftigen Voll-
kommenheit. Was Menschengeist immer ersinnt und schafft, bleibt
in die Zone der Endlichkeit und Unzulänglichkeit gebannt. Diese
unaufhebbare Problematik haftet der Metaphysik jedoch in einem
höheren Grade als den anderen Werken und Gestalten des Geistes
darum an, weil sie gemäß dem in ihr waltenden Logos unmittelbar
aus der Dialektik des Geistes hervorgetrieben und weil sie sozusagen
zu dem Behufe ersonnen und entwickelt wird, die Problematik des
Seins in Theorie und Praxis, in Gedanke und Tat in der Sprache
der Begriffe wiederzugeben. Im Hintergründe aller einzelnen Lebens-
4. Kritik dieser Einwände
99
gestalten, auch der wissenschaftlichen, wirkt diese Problematik der
Metaphysik als eine schlechthin notwendige Bedingung ihrer Ent-
stehung und ihres Hervortretens aus dem schöpferischen Urgrund
der Dialektik des Logos. Die Problematik der Metaphysik und die
Metaphysik des Problems haben den Geltungswert von Aprioritäten
für alle Erscheinungen, für alle Werte und Werke der Kultur.
Sollte sich nun darin, objektiv gesehen, nicht doch eine gewisse
Überlegenheit der Metaphysik aussprechen? Welche andere Gestalt
des Geistes kann mit ihr in bezug auf diese grundlegende apriorische
Funktion in Wettbewerb treten? Ist nicht sogar die unvergleich-
liche Macht der Religion durch diese Apriorität der Metaphysik
unterbaut? Wie wäre die Religion möglich und wozu nötig, wenn
die Einheit des Geistes nicht zu dialektischer Entzweiung käme,
wenn die ewige Harmonie des Seins nicht einmal dem fruchtbaren
Schicksal des Konfliktes, der gebotenen Dissonanz in Schuld und
Sünde verfiele, und wenn daraus nicht die Sehnsucht nach heilender
Erlösung hervorwachsen würde? Es gehört zu den niemals zu tilgen-
den Paradoxien der Religion, daß das Heil, zu dem sie führen will,
und das sie uns in tröstender Vorstellung aufleuchten läßt, zu seiner
Möglichkeit und zur Erfüllung seiner in ihm ruhenden Aufgabe doch
auch des Unheils, der Heillosigkeit, der dialektischen Unruhe, Auf-
gerissenheit und Zerrissenheit bedarf. Wie könnte es überhaupt zu
der Sehnsucht nach Erlösung kommen und zu dem Wunsche nach
einer Heilung unserer Seele, wenn uns nicht einmal die Angst des
Daseins umschnürte und das Leben nicht seine Bedrohtheit vor uns
auftäte, wenn es sich nicht irgendwann und irgendwie einmal in
seiner Furchtbarkeit als ,,Problem“ entschleierte? In den Tiefen des
religiösen Lebens ist als eine seiner urmächtigen Voraussetzungen eine
metaphysische Dialektik wirksam, die erlebt und verstanden sein will,
ehe noch die Sehnsucht nach religiöser Erlösung wirksam werden kann.
Und da die Synthese aller dialektischen Geistesbezüge die meta-
physische Geisteshaltung ist und in der Metaphysik diese Synthese
ihren begrifflichen Niederschlag findet, so hat die Metaphysik eine
wahrhaft einzigartige Stellung inne, wie von der Religion, so auch
von der Kunst unterschieden, welche letzteren nur auf Besonderungen
der umfassenden Dialektik des Geistes, mit anderen Worten auf
Spezialformen der Dialektik beruhen.------
Nachdem wir von der Dialektik der Metaphysik schon beinahe
unzählige Male gesprochen haben, stehen wir nun vor der Aufgabe,
7*
100 I. Typische Einwände gegen die Metaphysik und Kritik dieser Einwände
die Hauptzüge dieser Dialektik zu schildern und zwar zunächst
durch die Kennzeichnung der ringenden Vielheit und
Fülle derjenigen überpersönlichen Motive, die sich als
die sachlichen Bedingungen für die sich immer wieder-
holende Entstehung der Dialektik erweisen. Wenn wir diese
Motive in ihrem Wesen und besonders in ihrer Notwendigkeit
erfassen, dann werden wir auch zu der Einsicht gelangen, daß das
Bekenntnis und die Wendung zur Metaphysik eine durch keinerlei
Beanstandung zu mindernde oder zu beseitigende Obliegenheit des
Menschen bedeutet, und daß ein volles Recht dafür besteht, von
einer Pflicht zur Metaphysik zu sprechen. Der Erörterung dieser
Punkte soll das nächste Kapitel dienen.
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
und von den vier Motiven dieser Pflicht.
1. Allgemeiner Teil.
Kein Bereich und keine Gestalt der Kultur gleicht an Spannungs-
erfülltheit und antinomischer Struktur dem Gebiet der Meta-
physik. Deshalb begegnet auch in keinem anderen Bereiche des
Geisteslebens dem Blicke so häufig und mit so hoher Notwendigkeit
der Begriff der Dialektik und der Antinomie, der in der Metaphysik
seinen eigentlichen Wurzelboden und das Feld dauernder Anwendung
hat. Dieser Begriff ist ebensosehr eine apriorische Bedingung für
die Metaphysik wie eine ihrer Entdeckungen; er ist ihre Voraus-
setzung und zugleich ein Gegenstand für ihre Untersuchungen; und
in dieser seiner Doppelbedeutung bekundet sich wiederum seine
Dialektik.
Worauf beruht nun diese ungeheure Spannungserfülltheit und
dialektische Antinomik, die wir als die auszeichnenden Merkmale
der Metaphysik anzusehen haben? In prinzipieller und elementarer
Beziehung hat sie ihren Grund in der einzigartigen Gegensätzlichkeit
und reibungsvollen Verschlungenheit ihrer Motive und auf der nicht
weniger starken Gegensätzlichkeit und Vielheit derjenigen Sinn-
schichten, aus deren Durcheinanderspiel sich der Bau und die Uni-
versalität der Metaphysik zusammensetzen. Denn ihr dient zur
Grundlage eine kaum zu überbietende Fülle von Triebkräften, die
ihr aus allen Quellgebieten des Seelenlebens und von allen Feldern
der geschichtlichen Kultur ununterbrochen Zuströmen. Und daraus
geht eine Vielzahl von Wertgebilden und Sinnformen hervor, die
dem Begriff und Wesen der Metaphysik jene außerordentlich hohe
Verwickeltheit verleihen.
Wir wollen den folgenden Ausführungen eine gedrängte Ver-
gegenwärtigung dieser Sinnformen und Wertgebilde vorausschicken.
102
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
In der Hauptsache sind es vier solcher Sinnschichten, die in ihrer
schier ununterscheidbaren synthetischen Verflechtung den viel-
gegliederten Bau der Metaphysik bedingen. Eine Sinnschicht der
Metaphysik besteht in der Welterkenntnis, die zweite in der
Weltbewertung und Weltwürdigung, die dritte in derWelt-
deutung und die vierte schließlich in der Welterlösung, die alle
vier im Verein die wechselseitig aufeinander bezogenen Glieder eines
umfassenden Systems der Metaphysik ausmachen. Diese vier all-
gemeinen Sinnschichten sind der Ausdruck der intellektuellen, auf
Erkenntnis angelegten, ferner der Ausdruck der moralischen, in
einer sittlichen Haltung sich aussprechenden und zu sittlicher Über-
zeugung führenden, dann der Niederschlag der ästhetischen, in
der künstlerischen Formgebung sich bekundenden und endlich
die Objektivation der religiösen, auf Erlösung gerichteten spontanen
Funktion des Logos. Ein System der Metaphysik, das dem An-
spruch auf Universalität wirklich genügt und den Charakter der
uneingeschränkten Entfaltung des Logos innerhalb der Sphäre des
Gedankens trägt, muß jene vier Sinngebilde umfassen und den
vierfältigen und vierfach verzweigten Gedankenausdruck der Dia-
lektik des Logos darstellen. In der bis jetzt höchsten und reichsten
Form wird von sämtlichen Systemen der Metaphysik die eben
erwähnte Anforderung nur durch die von Plato und Aristoteles
vertretene griechische Form der Metaphysik befriedigt; ihr gegen-
über weisen fast alle anderen Systeme eine gewisse Einseitigkeit
auf. In der Mehrzahl der Fälle umschließt ein solches, etwas ein-
geschränktes System die zwei zuerst genannten Sinngebilde, während
die, für die Gesamtbedeutung der Metaphysik gleichfalls unentbehr-
liche religiöse Funktion der Erlösung, sei es absichtlich, sei es un-
willkürlich etwas zurücktritt oder überhaupt unberücksichtigt
bleibt.
Diese Vielheit und Vierheit der in der Metaphysik wirksamen
Funktionen des Logos bedingt es, daß die Gestalt der Metaphysik
allen anderen Kulturgestalten in aufgeschlossener Form zugeneigt
ist, mit bereitwilliger Notwendigkeit von ihnen formale und inhalt-
liche Einflüsse empfängt und ihrerseits ununterbrochene Anregungen
nach allen Seiten zurückstrahlt. Aus dieser zentralen Stellung fließt
ihr der nicht unbeträchtliche Nachteil einer gewissen Unabgeschlos-
senheit, ja Formlosigkeit zu. Da sie nach allen Beziehungen hin
offen ist, mit der Wissenschaft ebensogut wie mit dem Ethos, mit
der Kunst ebensosehr wie mit der Religion fruchtbare Wechsel-
1. Allgemeiner Teil
103
Verhältnisse unterhält, so haftet ihr nun einmal jene Eigenart als
Schicksal an, die, wenn man so will, einen gewissen Nachteil dar-
stellt. Daß mit ihm jedoch ein unverkennbarer Vorteil verbunden
ist, liegt auf der Hand. Die Metaphysik ist, ihrem Begriff und Geist
nach betrachtet, eines der beweglichsten Gedankengebilde, das je
aus der Tiefe des Logos hervorgegangen ist. Wir sprechen fortgesetzt
von dem System der Metaphysik und wenden damit auf sie eine
Bezeichnung an, die für sie eigentlich nicht paßt oder nur paßt in
einem ausgesprochen dialektischen Sinne. Wenn eine ganz para-
doxe Formulierung erlaubt ist, so möchte ich sagen, daß wir nur aus
einem dialektischen Grunde von der Metaphysik als einem System
sprechen, nämlich insofern, als sie eigentlich der Gegensatz zu jedem
System ist. Sie muß sich gegen die endgültige systematische Ab-
schließung zu einer Einheit, die keiner Weiterführung bedürfte, mit
aller Macht zur Wehr setzen, solange sie ihren Sinn und ihre zentrale
Stellung nicht preisgeben will.
Um diese Gedanken nicht mißzuverstehen, darf unser Blick nicht
an diesem oder jenem bestimmten System der Metaphysik haften. Mit
besonderer Vorliebe pflegt der Metaphysiker zu der Einheit des
Systems hinzustreben, als genüge er mit der Aufstellung und der
Durchführung der Systemidee einer unabweisbaren Pflicht. Und
es gibt kein anderes Kulturgebilde, für das die Idee des Systems eine
so hohe und ernste Verbindlichkeit hat. Sollten nun der Entwurf
und die methodische Anwendung der Systemidee in der Metaphysik
nicht darum zu den prinzipiell zu fordernden Notwendigkeiten zu
rechnen sein, weil hier der Gedanke des Systems seinen reinsten,
ganz ideellen Sinn bewahrt, d. h. eben „Idee“ ist und bleibt? Steht
in der Metaphysik die Idee des Systems nicht der Dialektik des
Logos ungleich näher als in und auf jedem anderen Kulturgebiet,
wo sie bereits eine viel straffere und gefestigtere Formung erfahren
hat? Wenn das metaphysische Denken als solches so eng mit der
Dialektik des Logos und mit dem Logos der Dialektik verbunden
ist, wie das tatsächlich der Fall ist, so muß sich die Nähe dieser Be-
ziehung natürlich auch in der inneren Struktur ihrer Systematik
ausprägen. Diese Systematik darf mit anderen Worten nicht die
Züge einer allzu stabilen, allzu positivistischen Vereinheitlichung
an sich haben, sondern sie muß die Kraft der dialektischen Spon-
taneität möglichst ungemindert aufrechterhalten und die Strömung
der Bewegtheit, der lebendigen Entwicklung, der organischen Aus-
baufähigkeit in breiter Entfaltung bekunden.
104
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Die Aufrechterhaltung dieser Bewegtheit und die Betätigung
dieser dialektischen Spontaneität werden der Metaphysik dadurch
ermöglicht, daß sie ihre Zentralität wahrt und pflegt und dem Reich-
tum des allgemeinen Lebens freien Einfluß auf sich gewährt, ja
einem solchen Einfluß nachgeht, ihn sucht und fördert und für die
Universalität ihres Sinnes und Zweckes, von der wir weiter oben
gesprochen haben, fruchtbar verwendet.
Deshalb gehört die Vielheit von Motiven und Wurzeln nicht zu
den Zufälligkeiten für ihre Entstehung, sondern diese spannungs-
reiche Fülle ist eine Apriorität für die Metaphysik. Wo der viel-
verschlungene Zustrom dieser Motive eingeschränkt wird, da erfährt
sie zwar keine durchgreifende Verkümmerung, wohl aber eine deut-
liche Vereinseitigung, wie das z. B. der metaphysische Rationalis-
mus belegt. Er ist nur eine Spielart und Sonderform des umfassenden
Begriffs der Metaphysik, weil er nur auf dem rationalistischen Geist
der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften
beruht und lediglich denjenigen Motiven, die von dieser Seite her
auf ihn einwirken, also selber rationalistischen Gepräges sind, jenen
Einfluß gestattet, den er für seinen Aufbau gebraucht. Eine gleiche
Einseitigkeit liegt, um ein anderes Beispiel zu wählen, in jener
Sonderform der Metaphysik vor, die als ästhetischer Idealismus
bezeichnet zu werden pflegt. Denn für ihre Entstehung und Aus-
bildung sind vorherrschend wieder nur ästhetische Prinzipien und
Abhängigkeiten vom künstlerischen Erleben maßgebend. Ent-
sprechende Eingeschränktheiten weisen der ethisch-normative und
der religiöse Idealismus auf. Eine im universellen Verstände ent-
worfene und universell durchgeführte Metaphysik hingegen würde
diese vier Typen und Sonderformen des Idealismus, näm-
lich den rationalistischen, den ethisch-normativen, den
ästhetischen und den religiösen Typus in dialektischer Ein-
heit umfassen und so, worauf wir bereits im dritten Absatz dieses
Kapitels hinwiesen, vier idealistische Sinngebilde in sich
vereinigen. Entsprechend jenen Bezeichnungen der vier idealisti-
schen Sinnschichten der Metaphysik können wir diese vier
Motive, die zur Metaphysik führen, das intellek-
tuelle, das moralische, das ästhetische und das religiöse
Motiv nennen.
2. Das intellektuelle Motiv
105
2. Das intellektuelle Motiv.
a. Der metaphysische Rationalismus als Theorie und Macht.
Nach zweifacher Richtung betätigt sich in der Metaphysik und
für dieselbe die Bedeutung des intellektuellen Motivs. Ich möchte
diese Bedeutung als eine apriorische und als eine aposteriorische
bezeichnen, die sich in dem Doppelsinn der oben gewählten Charakte-
ristik ausdrückt, daß die Metaphysik in einer ihrer Sinnschichten
Welterkenntnis ist.
Es soll damit nicht behauptet werden, die Metaphysik beab-
sichtige, von ihrem geschichtlichen oder ihrem systematischen Ur-
sprung aus vor allen Dingen nur Welterkenntnis zu sein, ln dem
reichverwobenen Akt des metaphysischen Denkens besitzt die rein
erkenntnismäßige Tendenz nicht die Vorherrschaft. Der Mensch
treibt und liebt die Metaphysik nicht zunächst um der Befriedigung
eines ausgesprochenen intellektuellen Bedürfnisses willen, so stark
auch dieses Bedürfnis bei ihrer historischen und systematischen
Ausbildung mitbeteiligt ist. Jede Analyse des genannten Aktes
belehrt uns über das unauflösliche Wechselspiel sämtlicher Geistes-
funktionen in der Metaphysik und über die Bewegtheit ihres Wett-
bewerbes untereinander; sie zeigt aber zugleich, daß dieser Wett-
bewerb nicht zur unbeanstandeten Überlegenheit oder zu einem
dauernden Siege des einen oder des anderen Prinzips führt. Manche
Typen der Metaphysik neigen zwar mit Entschiedenheit zur Bevor-
zugung der moralischen, andere zur Herausstellung der ästhetischen
oder der religiösen Geisteshaltung und unterbauen die ihnen eigen-
tümliche Weltauffassung durch die Hypostasierung eines moralischen
bzw. eines künstlerischen oder eines religiösen Prinzips. Aber ihnen
allen ist von Anfang an das intellektuelle Motiv innerlichst bei-
gesellt. Also nicht etwa nur in dem Sinne eines nachträglichen Zu-
satzes oder einer gelegentlichen Beigabe, sondern beigeseilt im Sinne
der prinzipiellen Mitermöglichung jener anderen Typen.
Das intellektuelle Motiv und der intellektualistische Wesenszug
haben mit anderen Worten die Geltung von kategorialen Bedingungen
für jeden Typus der Metaphysik überhaupt, wie immer dieser geartet
sein und nach welcher Richtung auch immer er vertreten werden mag.
Diese Apriorität des intellektuellen Faktors kommt darin zum Aus-
druck, daß auch das moralische oder das ästhetische oder das reli-
giöse Motiv in die Form des Gedankens umgesetzt werden
106
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
muß. Es wird nicht etwa bloß in dem Bewußtsein des Metaphysikers
zu subjektivem Wissen gebracht und dadurch intellektualisiert;
sondern es besitzt auch für sich genommen bei allem seinem über-
logischen Charakter in sich einen Zug der Objektivität der Logizität.
Auch das Gute, auch das Schöne, auch das Heilige sind bei aller
ihrer Selbständigkeit sowohl auf das objektive Wissen bezogen und
dadurch mit der Zone der Intellektualität verknüpft, als auch von
ihrer Wurzel und ihrem Mutterschoß her intellektualistisch gefärbt
und mit intellektuellen Momenten durchwachsen. Denn sie alle
stammen aus der primären und universellen Einheit des Logos, dem
sie alle als Sprößlinge und Zweige, als Potenzen und Wirkungs-
belege eingelagert sind. Keine der verschiedenen Geistesbetäti-
gungen steht und wirkt in der Metaphysik für sich allein. Wo wir
z. B. den ethischen oder den religiösen Idealismus vor uns haben,
sehen wir die ethische bzw. die religiöse Gedankenrichtung Schritt
für Schritt von intellektualistischen Momenten durchsetzt und durch
diese strukturiert.
Ich möchte mit diesen Erörterungen nicht sagen, daß die Meta*
physik, wenn sie ihren primären Ansätzen nach ins Auge gefaßt
wird, zuerst aus dem Wunsche nach Erkenntnis hervorgegangen ist
oder der Absicht der Erkenntnis primär dient. Ein solcher Wunsch
und eine solche Absicht treten in zweckbewußter Form erst da auf,
wo die Metaphysik sozusagen in die Hände der Metaphysiker von
Fach übergegangen und zu einer technischen Aufgabe der philo-
sophischen Schulen geworden ist, wo Metaphysik also von Berufs
wegen getrieben wird. Erst da und dann hat sich auch jener Typus
der Metaphysik in bewußter und logisch fixierbarer Form heraus-
gestaltet, den wir als rationalistischen Idealismus oder metaphysi-
schen Rationalismus bezeichneten. Das geschah in jenen, für die
wissenschaftliche Entwicklung des Abendlandes so unendlich frucht-
baren Zeiten, in denen die unausdenkbar wichtige Verknüpfung
zwischen dem metaphysischen Trieb auf der einen und der Mathe-
matik auf der anderen Seite hergestellt wurde. Wie wir wissen,
vollzog sich diese Verbindung auf den Frühstufen der griechischen
Spekulation, bei der ionischen Naturphilosophie und bei den Pytha-
goreern. Der gewaltige und heroische Rationalismus, den wir nicht
nur in der griechischen Metaphysik finden, sondern der überhaupt
als ein Wesenszug der ganzen griechischen Kultur hervorgehoben
worden ist, und durch den, wie man gesagt hat, die Griechen den
Beginn der Entzauberung der Wirklichkeit eingeleitet haben, stammt
2. Das intellektuelle Motiv
107
aus der machtvollen Bedeutung, den die griechische Mathematik für
fast sämtliche Zusammenhänge des griechischen Lebens gewann.
Und von jener Zeit an hat die Mathematik ihre Herrschaft inmitten
der abendländischen Kultur nicht nur aufrechterhalten, sie hat ihre
Stellung auch nach jeder möglichen Richtung hin erweitert; sie hat
das gesamte abendländische Denken durchdrungen und ihren Sieg
gekrönt in der Erreichung der Weltmachtstellung der Technik.
Wie sehr wir gegen die Alleinherrschaft des metaphysischen
Idealismus und Rationalismus auch immer ankämpfen, welche
Schwächen wir ihm auch nachsagen mögen, er gehört nun einmal
zu den unaustilgbaren Wesensbestandteilen der ganzen europäischen
Kulturentwicklung und ist aus der Gestalt unseres Geistes nicht
wegzudenken und nicht zu entfernen. So wird auch die ganze abend-
ländische Kulturentwicklung auf Schritt und Tritt von den ver-
schiedensten Spielarten des metaphysischen Rationalismus begleitet.
Er ist ebensosehr der logische Ausdruck dieser Entwicklung als auch
ein sie außerordentlich förderndes Moment, ein kräftiger Antrieb
für ihre Leistungen, eine grundlegende Macht für ihr Schicksal.
Wir betonen es bereits an dieser Stelle und werden im Fortgang
unserer Arbeit noch wiederholt darauf zu sprechen kommen, daß
der metaphysische Rationalismus keineswegs bloß eine abgesonderte
Theorie, kein bloßes abstraktes Ergebnis weltfremder philosophischer
Grübeleien darstellt. Er verkörpert vielmehr eine der wirkungsvollsten
Gestalten des Geistes und ist von einer geradezu unvergleichlichen
Tragweite auch für die Praxis des Lebens in allen dessen Sinn-
und Betätigungsrichtungen geworden. Der Sturmlauf gegen ihn, der
ab und zu unternommen und durch die verschiedenartigsten Be-
gründungen gestützt wurde, erwies und erweist sich stets als ein zum
einen Teil unsinniges, zum anderen Teil ergebnisloses Bemühen. Der
Rationalismus ist nicht nur durch die Zahl und die innere Bedeu-
tung seiner Erfolge, auch nicht nur dadurch, daß er tatsächlich zu
den maßgebenden Bildungsfaktoren der gesamten abendländischen
Kultur gehört, gerechtfertigt, sondern ihm eignet noch weit darüber
hinaus die Wichtigkeit einer unerläßlichen Bedingung für den ganzen
Umfang unseres geistigen Gedeihens. Auf Grund dieser Einsicht
sollte der Wissenschaftler und der Philosoph gegen die Anwandlung
sentimentaler Stimmungen gefeit sein und der Nachgiebigkeit gegen
Gefühlsregungen aus seiner eigenen Brust oder aus der Zeit heraus,
die für eine „Gefühlsphilosophie“ Propaganda machen, Trotz bieten.
Äußert sich darin nicht eine mahnende Lehre, daß die eigentlichen
108
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Klassiker der Philosophie beinahe durchgängig für eine auf Erleb-
nissen und Gefühlen aufgebaute Philosophie keine Zustimmung
übrig hatten, in vielen Fällen sogar ihre erklärten Feinde waren und
ihrer Gegnerschaft mit kurz abweisender oder beißender Ironie Aus-
druck verliehen? Denn zu einer ausführlichen Widerlegung war
ihnen die „Gefühlsphilosophie“ nicht wichtig genug. Sie waren fast
alle mehr oder minder strenge und unter Umständen eifervolle
Rationalisten und dadurch sowohl Dolmetscher als auch Anwälte
und Förderer der großen europäischen Entwicklungslinie des Ratio-
nalismus und der unwiderstehlichen Rationalisierung unseres äußeren
und inneren Daseins.
Auf diese Verhältnisse hinzuweisen, ist angesichts des gegen-
wärtigen Auftretens romantisierender Neigungen, die auf die Philo-
sophie Einfluß zu gewinnen suchen oder in ihr sich bereits breit-
machen, nicht unberechtigt. Aus welchen Gründen auch immer in
unserer Zeit ein Überdruß an der rein rationalistischen Geisteshaltung
entstanden sein mag, so muß doch mit allem Ernst auf die drohen-
den Schädigungen hingewiesen werden, die aus jenem Einflüsse nicht
allein für die äußere und technische Gestaltung unseres Daseins,
sondern nicht weniger für die Gesittung bis hinein zu ihren intimsten
und zartesten Gebilden in Kunst und Religion entstehen müssen.
Selbst den begeistertsten Verherrlichern des Expressionismus, also
des Niederschlages rein gefühlsmäßig gerichteter Geisteshaltung,
werden die schweren Gefahren zum Bewußtsein gekommen sein, die
durch den Versuch heraufbeschworen werden, das Irrationale zur
Grundlage des Lebens machen zu wollen. So wenig wie das Irratio-
nale für sich allein der Quell- und Ausgangspunkt der geschichtlichen
Kultur ist, so wenig vermag es für sich allein den Gang der Kultur
zu gestalten und zu sichern.1)
*) Eine ausgebreitete und umsichtige Auseinandersetzung mit dem Expres-
sionismus bietet das gehaltreiche Buch von Emil Utitz „Die Überwindung des
Expressionismus“ (1927). Utitz würdigt den Expressionismus sowohl als Kunst-
stil als auch in seiner Eigenschaft als allgemeine Geisteshaltung und Gesinnungs-
weise; er verfolgt seine Auswirkungen nach allen Seiten, zeigt seine relative
Berechtigung, die besonders auf seinen Bemühungen um die Beseitigung des
Naturalismus beruhte. Zugleich aber deckt Utitz in energischen Begründungen
auch die überaus großen Gefahren auf, in die der Expressionismus, restlos
durchgeführt, unsere Kultur und Bildung zweifellos stürzen würde bzw. da,
wo er zur Anwendung gelangte, bereits gestürzt hat. Und er faßt seine, in
vielen Punkten überzeugende Kritik in die Worte zusammen: „So heilsam
Expressionismus in manchem Betracht sein mag und auch wirklich ist, er
2. Das intellektuelle Motiv
109
Zumal in seiner metaphysischen Ausbreitung ist der Rationalis-
mus nicht etwa bloß der Metaphysik im allgemeinen als Wesens-
bestandteil eingebaut, sondern er ist ein dauernd wirksamer Faktor
für die ganze abendländische Kultur. Auch als ein bestimmter meta-
physischer Typus ist der metaphysische Rationalismus mehr als
eine bloße Theorie. Wir müssen überhaupt einsehen und uns dauernd
gegenwärtig halten, daß die spekulativen Sinngebilde, ganz gleich
um welche Spielart es sich handeln mag, in ihrer Existenz und
Geltung nicht beschränkt bleiben auf die Sphäre der Begriffswelt.
Sie haben weit darüber hinaus die Wirklichkeit historischer Organi-
sationen und betätigen sich immer wieder als historische und sitt-
lich fruchtbare Kräfte.
Richten wir unser Augenmerk im besonderen auf den meta-
physischen Rationalismus, so gewahren wir leicht die Doppelfunktion
seiner Wirksamkeit. Sein Geist bekundet sich einmal in der Weise,
daß er kraft der in ihm waltenden Logizität allen übrigen meta-
physischen Typen die ihnen schlechthin unentbehrliche Beziehung
auf das Wissen und auf dessen Objektivität verleiht, und daß er
ihnen dadurch selber eine objektive und logische Geltung ver-
schafft. Ohne diese rationalisierende und objektivierende Funktion,
diese gewaltige Leistung des metaphysischen Rationalismus, ist von
jenen Typen die Gefahr der Subjektivität und der Versubjekti-
vierung nicht fernzuhalten. Sie würden anderenfalls in der nur
persönlich gültigen Zone von Bekenntnissen verbleiben, in jener Zone,
die den Geltungsbereich der Erlebnissysteme der sogenannten Lebens-
philosophie darstellt. So tief sie als solche auch mit der Persönlich-
keit ihres Urhebers verwachsen, mit so unwiderstehlicher Dringlich-
keit sie als solche auch aus seiner Seele hervorbrechen und in ver-
wandten Seelen Zustimmung und Aufnahme finden mögen, so
mangelt ihnen ohne rationalistischen Einschlag dennoch aus-
nahmslos die Möglichkeit und der Wert logischer Nachprüfung und
Allgemeingültigkeit. Vor allem jedoch entbehren sie ohne jenen
rationalistischen Zug der Möglichkeit und des Wertes der Mitteil-
barkeit und der objektiven Existenz.
Ferner gehört der Rationalismus, was in seiner Wichtigkeit nie-
mals außer acht zu lassen ist, zu den energischsten und erfolgreichsten
gleicht einem Heilmittel, das nur in kleinen Dosen und nur kurze Zeit ge-
nommen werden darf. Sonst ist es tödlich.“ Die expressionistische Bewegung
vermochte nicht in die Wirklichkeit einzudringen und ihre Totalität umzu-
wandeln; sie mußte „als Zeitstil sterben“ (S. 189).
110
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Hilfen der geschichtlichen Objektivierung, über die der Geist ver-
fügt, und deren ausschlaggebender Einfluß von der Geschichte in
tausendfältiger Gestalt belegt wird. Denken wir etwa nur an die
lehrhafte Festigung des Glaubens durch die Kirche und in derselben,
an die Sicherung der Mystik des religiösen Gefühls im Dogma, an
die ästhetische Formung des Erlebens in der Kunst, an die Um-
setzung einer physikalischen Entdeckung in die Realität der Tech-
nik, an die Durchführung einer wirtschaftlichen Einsicht durch die
Objektivität einer sozialen Einrichtung, an die Verwirklichung einer
politischen Absicht durch den Staat: Alle diese Taten bleiben ohne
eingreifende Heranziehung des Rationalismus unmöglich, sie blieben
ungetan.-------
Wenn wir diese beiden Funktionen und Geltungsbetätigungen
des metaphysischen Rationalismus zusammenfassen, so verstehen
wir jene oben getane Behauptung, die ihm in seinem Ausdruck und
in seiner Eigenschaft als Welterkenntnis den Wert der Apriori-
tät nachsagt. Sowohl für die metaphysische Einstellung zur Welt
wie für die Welt selber, für die Welt der Metaphysik und für die
Metaphysik der Welt besitzt er jenen apriorischen Wert, der seine
Einzigartigkeit in der Gemeinschaft der metaphysischen Typen aus-
macht, und den ihm kein Romantizismus zu rauben vermag, ln
dieser Apriorität ist auch die Unerschütterlichkeit seines relativen
Rechtes begründet, wie dieses Recht innerhalb der Geschichte der
Metaphysik in den Systemen von Descartes und Leibniz hervor-
getreten ist.
Wir wollen uns hier keiner einseitigen Verherrlichung des meta-
physischen Rationalismus hingeben und ihn nicht als die Krone der
metaphysischen Systembildungen erklären. Aber vorurteilslose Ge-
rechtigkeit und die Einsicht in die Bedeutung seiner Stellung inner-
halb des Gesamtbaues der Metaphysik zwingen zu der Erkenntnis
seiner Apriorität als Theorie und als historische Macht. Ohne daß
ihm damit die Ausschließlichkeit der Apriorität oder eine Über-
legenheit über die anderen Kulturaprioritäten metaphysischer Art
zugeschrieben werden soll. Denn auch die anderen Typen und Sinn-
formen der Metaphysik tragen, wie wir noch sehen werden, den
Charakter von Aprioritäten für die Kultur, und zwar von Apriori-
täten, die sowohl theoretische und rein gedankliche als auch ge-
schichtlich-konkrete und geschichtlich wirksame Geltung besitzen.
2. Das intellektuelle Motiv
111
b. Der metaphysische Rationalismus und die Wissenschaft.
a) Nun hatten wir noch von einer aposteriorischen Bedeutung des
metaphysischen Rationalismus und des in ihm sich entfaltenden
intellektuellen Motivs gesprochen. Und von dieser aposteriorischen
Bedeutung soll nunmehr gleichfalls mit einigen Worten die Rede
sein. Doch gilt es, sofort einem möglichen Mißverständnis zu wehren.
Dem nämlich, als sollte dieser metaphysische Typus als ein hinterher-
kommendes Anhängsel für andere Formen des Geisteslebens auf-
gefaßt werden. Wenn wir hier im besonderen sein Verhältnis zu den
positiven Wissenschaften berücksichtigen, so wollen wir durch den
Hinweis auf seine aposteriorische Bedeutung für dieselben nicht
behaupten, daß er wie ein Nachzügler sich hinter ihnen herschleppe
und die Brosamen von ihrem Tisch auflese. Als wir in dem voran-
gehenden Kapitel allgemein von der Apriorität seiner Geltung
sprachen, da wurde unmittelbar auch zum Ausdruck gebracht, daß
er für die positiven Wissenschaften im besonderen eine apriorische
Geltung besitze.
Wir betonten bereits mehrfach die apriorische Geltung der Meta-
physik überhaupt und des metaphysischen Rationalismus für den
Gesamtbestand der Kultur. Diese Apriorität prägt sich in Sonder-
heit in seiner Bedeutung für die positive Wissenschaft aus. Während
er den gesammelten dialektischen Ausdruck des rationalen Zuges
im Wesen der Vernunft darstellt, verkörpern die einzelnen Wissen-
schaften dialektische Teilbezüge und Teilfunktionen dieser Rationali-
tät. Und schon aus diesem Verhältnis erhellt sich sein apriorischer
Charakter gegenüber den positiven Wissenschaften. Wie die Ver-
nunft überhaupt das Apriori für alle ihre Teilfunktionen ist, so ist
ihr theoretischer Niederschlag im metaphysischen Rationalismus
das Apriori für alle partiellen Niederschläge theoretischer Art in den
Einzelwissenschaften.
Wenn wir also jetzt von der anderen, von der aposteriorischen
Funktion des intellektuellen Motivs handeln, so soll damit seine
Apriorität nicht die leiseste Minderung erfahren. Im Gegenteil:
Diese aposteriorische Funktion ist erst und nur auf dem Grunde der
hervorgehobenen und niemals einzuschränkenden Apriorität unseres
Motivs möglich. Sie zieht aus diesem Verhältnis sowohl ihr Recht
als auch ihre Notwendigkeit. Denn wir meinen, wie wiederholt sein
mag, keine beliebige und gelegentliche aposteriorische Funktion des
intellektuellen Motivs, die lediglich dann und wann zur Betätigung
112
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
gelangte, etwa in den Zeiten, in denen eine überreiche Einzelentwick-
lung der positiven Wissenschaften zu einer metaphysischen Zu-
sammenfassung aufforderte. Zwar ist auch eine solche Zusammen-
fassung unter die Pflichten und Leistungen des metaphysischen
Rationalismus zu rechnen, und sie ist mit größerem oder geringerem
Gelingen zu verschiedenen Zeiten in der Form philosophischer
Enzyklopädien immer wieder versucht worden. Derartigen Enzyklo-
pädien wohnt ein unverkennbares Maß an Berechtigung inne, und
sie haben, wenn der Bestand der wissenschaftlichen Ausbildung den
sammelnden Überblick erschwerte, Anklang und Anerkennung ge-
funden.
Aber es scheint mir doch nicht ganz angängig zu sein, aus dieser
relativen Notwendigkeit enzyklopädischer Synthesen einen Schluß
auf ihr unbedingtes Recht als philosophische Zusammenfassungen
der Ergebnisse der positiven Wissenschaften zu ziehen. Warum
sollte der Reichtum der wissenschaftlichen Ergebnisse nicht ohne
zusammenziehende Bindungen bleiben können? Schon darum, weil
alle solche Zusammenziehungen das Gesicht dieser Fülle ändern, es
blasser machen und in einer Weise intellektualisieren, daß dem kon-
kreten Eindruck und der positiven Nutzbarkeit der Ergebnisfülle
oft ein deutlicher und beträchtlicher Schaden zugefügt wird. Die
Liebe für metaphysische Zusammenfassungen birgt in sich nicht
geringe Gefahren. Setzt sie sich in zu energischer Form durch, so
verdampft die Mannigfaltigkeit des erkämpften Wissens; auch von
dem Mühsal und dem Heroismus, die für die Gewinnung jener Fülle
aufgeboten wurden, bleibt kaum eine Spur. Den Einzelforscher
überschleicht bei dem Anblick der oft zu weitgehenden metaphysi-
schen Synthesen nicht ohne Recht das Gefühl, als sei ein guter Teil
seines Kampfes und seiner Arbeit unter den Tisch gefallen. Und so
wehrt er sich nicht selten gegen das Recht und die Durchführung
solcher Synthesen, die die Früchte seines Ringens wie mit einer ihm
leer erscheinenden Allgemeinheit und mit einem die Einzelheiten
unkenntlich machenden Nebel umschleiern, die sich, statt der posi-
tiven Forschung zu dienen, gern an ihre Stelle drängen, als wären
deren Leistungen lediglich um jener Synthesen willen da und be-
rechtigt.
Und das Nahen noch einer anderen Gefahr kann die positive
Forschung von der Seite einer über ihr Ziel hinausschießenden
enzyklopädischen Synthese befürchten. Die konkrete Wissenschaft
ist, in ihren Erfolgen wie in ihren Fehlschlägen, ein Spiegel ihrer
2. Das intellektuelle Motiv
113
Zeit und nach Form wie Gegenstand in einem höheren Ausmaße
zeitbedingt als die Metaphysik. Indem sich diese jedoch der posi-
tiven Forschung bemächtigt, befreit sie dieselbe durch die Betrach-
tung sub specie aeterni zwar von den Engen zeitgeschichtlicher Ab-
hängigkeit, nimmt ihr jedoch die erwähnte Eigenschaft, Spiegelbild
der Zeit in ihrer Weise zu sein, und erhebt sie in eine ungeschicht-
liche Ruhe, in der von dem Auf und Nieder der besonderen Lebens-
strömungen, von der Konkretheit empirischer Ansätze und be-
sonderer Problemstellungen kaum noch eine Spur übrigbleibt. Die
großen enzyklopädischen Synthesen der Metaphysik sind auf eine
geringe Anzahl von Typen zurückführbar, und diese Typen ähneln
sich außerdem in auffallender Weise. Das muß so sein. Denn durch
sie ist alles Konkrete und Empirische in ein Allgemeines und Prin-
zipielles umgewandelt. Wird doch dieser Umwandelungsprozeß aus-
drücklich in der Absicht unternommen, die empirisch-geschicht-
lichen Bestände ins Metaphysische zu erheben, aus ihnen ihren
absoluten Sinn herauszuholen und so ihre empirischen und konkreten
Züge zu tilgen. Wir wollen an dieser Steile auf das Recht und den
Wert eines solchen metaphysischen und abstrahierenden Verfahrens
nicht eingehen, sondern nur im allgemeinen auf die eigentümliche
Umbildung aufmerksam machen, von der die positive Forschung
durch jenes Verfahren betroffen wird, und die geeignet ist, ein nicht
völlig unberechtigtes Mißfallen seitens des positiven Forschers her-
vorzurufen. —
Hätte demnach die Metaphysik gar keine Befugnis gegenüber
der positiven Wissenschaft ? Ein entsprechendes Zugeständnis würde
sich in dem Munde eines Metaphysikers, und ein solcher will der
Verfasser dieser Zeilen sein, mehr als seltsam ausnehmen. Hat sich
nicht seit jeher der metaphysische Rationalismus und Idealismus
um die konkreten Wissenschaften angelegentlich gekümmert und
bemüht, um unter ihrer Zuhilfenahme ein Weltbild aufzurichten,
dessen Gediegenheit durch jene Berücksichtigung gewährleistet war?
Es braucht hier nur an das berühmte Beispiel erinnert zu werden,
das die Philosophie des Descartes darstellt. Beruht diese Philo-
sophie nicht in allen wesentlichen Punkten nach Form wie Inhalt
auf der denkbar intensivsten Heranziehung und Ausnutzung der
Mechanik Galileis? Und gehört die Berücksichtigung der positiven
Wissenschaften nicht schlechterdings zu den Grundpflichten der
Metaphysik? Woher bekäme diese das Material für ihren Bau,
Liebert, Dialektik. 8
114
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
wenn sie nicht in die Fundgrube der positiven Wissenschaft hinein-
stiege und von hier aus das Fächerwerk ihrer Begriffskonstruktionen
ausfüllte?
Man muß diese Beziehung zwischen der Metaphysik und der
positiven Forschung bereitwillig und unverhohlen zugeben und in
der dauernden und uneingeschränkten Aufrechterhaltung dieses Ver-
hältnisses einen nicht hoch genug zu schätzenden Gewinn für beide
Teile erblicken. Trotzdem scheint mir die Beziehung zwischen dem
metaphysischen Rationalismus und Idealismus auf der einen Seite
und der konkreten Wissenschaft auf der anderen durch die Berück-
sichtigung desjenigen Verhältnisses zwischen ihnen, von dem in dem
unmittelbar vorangehenden Absatz die Rede war, noch nicht hin-
länglich erschöpft. Der metaphysische Rationalismus steht in einer
viel engeren Verknüpfung mit der positiven Forschung, als daß er
diese erst um die Lieferung von Baumaterial für die reale Durch-
führung seiner Synthesen, sozusagen um Fleisch für seine Begriffe,
bitten müßte. Beschränkte sich sein Verhältnis zu ihnen auf diese
Form, dann wäre er in der Tat nur ein Nachzügler auf ihrer Fahrt,
und niemals wäre mit seinem pünktlichen Eintreffen sicher zu rech-
nen. Ja, wann wäre ihm sein Eintreffen überhaupt zu genehmigen,
und wann wäre es statthaft? Immer könnte von der positiven
Forschung mit dem Hinweis darauf, daß sie gerade in einer besonders
reichen Entwicklung begriffen sei, eine Hinausschiebung seiner An-
kunft verlangt werden, wenn der immer naheliegende Mißerfolg
einer vorschnellen Verallgemeinerung vermieden werden soll. Und
wie ist angesichts der doch wahrhaft ungeheueren Ausbildung unserer
Wissenschaften eine enzyklopädische Synthese durchführbar, der
nicht als Schreckgespenst der Vorwurf oder der Verdacht im Rücken
schwebt, daß sie wesentliche Züge der Einzelforschung unberück-
sichtigt gelassen habe? Abgesehen von der enzyklopädischen
Genialität des Aristoteles, so konnte auch noch Leibniz angesichts
des Bestandes des konkreten Wissens seiner Zeit das Wagnis einer
solchen enzyklopädischen Zusammenfassung unternehmen. Ihr
Erfolg war nicht nur von ihrer Begabung, so hoch dieselbe auch
immer gewertet werden mag, sondern nicht minder von dem im
Verhältnis zu unserer Zeit nicht übermäßigen Reichtum der Wissen-
schaft ihrer Tage abhängig. Ich erinnere aber an einen Denker wie
Wilhelm Wundt, dem fraglos gleichfalls eine außerordentliche
enzyklopädische Fähigkeit eigen war, und der diese Fähigkeit in
den Dienst seines „Systems der Philosophie“ gestellt hat. Sie
2. Das intellektuelle Motiv
115
brachte ihn dazu, die Behauptung bzw. die Forderung auszusprechen,
daß die Aufgabe und die Möglichkeit der Philosophie in der ab-
schließenden Zusammenfassung der Ergebnisse der positiven Wissen-
schaften begründet sei. Diese Behauptung hat vielfaches Aufsehen
und vielfache Zustimmung gefunden. Sie galt, als sie vor etwa
fünfzig Jahren ausgesprochen und bekannt wurde, als eine Art von
Rettung der Philosophie, als die Aufdeckung ihrer Notwendigkeit
und ihres Rechtes.
Kann ihr wirklich nachgesagt werden, daß sie für die Erreichung
dieses Zweckes geeignet ist? Wer bestimmt die Zeit und die Ge-
legenheit für die Inangriffnahme einer solchen Zusammenfassung?
Wodurch kann ihr eine auch nur relative Geltung verbürgt werden?
Besteht nicht für sie die fortwährende Gefahr eines Überholtseins
schon in dem Augenblicke, in dem bloß zu dem Entwurf für sie
ausgeholt wird? Und blicken wir nun auf Wilhelm Wundt selber
hin, so wird deutlich, daß er seinen Plan in dem ganzen beabsichtigten
Umfange nicht zur Ausführung gebracht hat. Das soll keine Herab-
setzung seiner Leistung sein, die nach Gehalt und Reichweite die
höchste Anerkennung verdient. Aber er vermochte seinen Plan
beim besten Willen auf Grund des Widerstandes objektiver Instanzen
nicht zu verwirklichen. Denn welcher Kopf ist stark genug, welche
Arbeitskraft reicht aus, um bei der gegenwärtigen Wissenschaftslage
die Idee einer philosophischen Enzyklopädie restlos und mit vollem
Gelingen zu Ende zu führen? Wundt selber kam von den Natur-
wissenschaften her, besonders von der Physiologie. Und die Eigen-
heiten dieser Vorbildung, durch die er nur einen Teilbezirk des
Wissens seiner Zeit umspannte, machen sich auf allen Blättern
seiner Werke deutlich geltend. Beim Studium und bei der Würdi-
gung seiner großen Leistung zeigt sich deutlich, daß er dem Bereiche
der eigentlichen geisteswissenschaftlichen Arbeit ferngestanden hat,
die Autonomie und Unvergleichlichkeit ihres Wesens nicht hinläng-
lich durchschaute, und daß er auch da, wo seine auf Systemati-
sierung hindrängende Neigung sich der Beschäftigung mit jenem
Problemgebiet zuwendete, doch immer wieder in vorherrschend natur-
wissenschaftlich gearteten Kategorien dachte.-----
b) Wie aber kann dann die Beziehung zwischen dem meta-
physischen Rationalismus und den positiven Wissenschaften ge-
dacht werden, und wie kann diese Beziehung tatsächlich geartet
sein, wenn hinter den Versuch einer enzyklopädischen Zusammen-
8*
116
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
fassung ein Fragezeichen gesetzt werden muß? Die Metaphysik
würde keine im wahren Sinne des Wortes philosophische Tat an
den positiven Wissenschaften und für dieselben ausüben, wenn sie
sich auf die doch immer nur äußerlich bleibende Handlung einer
summierenden Zusammenstellung und eines Zusammenklebens der-
jenigen Erkenntnisse beschränkte, die die konkrete Forschung in
einem jahrhundertelangen Kampfe mit der Wirklichkeit erarbeitet
hat. Wiederum darf man sagen, daß die Zuweisung einer derartigen
Aufgabe an die Philosophie in dem Zeitalter der Herrschaft des
Positivismus und Empirismus, also zur Zeit Wundts, vollauf ver-
ständlich war. Denn damals waren alle geistigen Interessen so aus-
schließlich auf die Erfassung von Tatsächlichkeiten und der empiri-
schen Gesetze derselben eingestellt, und zwar eingestellt in einer
eben ganz positivistisch-realistischen Bewußtseinshaltung, daß der
Philosophie eine andere Betätigungsart, eine andere Existenz- und
Berechtigungsform billigerweise nicht zugestanden werden konnte.
In jenen Jahrzehnten war weniger der Sinn für die Spekulation
abhanden gekommen, vielmehr waren das Recht und der Mut zur
metaphysischen Konstruktion vor dem Andrang der positivistischen
Gesinnung in Mißkredit geraten. —
Wird der Metaphysik also nicht eine etwas untergeordnete Rolle
und eine Art von Verlegenheitsdienst zugemutet, wenn ihr im Reiche
des Geistes lediglich jene Leistung additiver Zusammenstellung
Vorbehalten bleibt? Und es würde keine Besserung ihrer Stellung
einschließen, wenn ihr etwa noch die Aufgabe zugewiesen wird, das
Fazit der wissenschaftlichen Einzelarbeit zu ziehen. Es steckt doch
ein tiefes und wohlbegründetes Recht der Philosophie in dem alten
Gedanken, daß sie die Königin im Reiche der Wissenschaft sei.
Ohne fade und gefährliche Überheblichkeit vermag sie diese Stellung
auch fürderhin einzunehmen. Sie wird in dieser Lage die Wissen-
schaften nicht als ihre Untertanen ansehen, sie wird ihr Feld nicht
mit dem Schweiße der positiven Arbeit düngen, um selber in sorgloser
Lässigkeit herrlich und in Freuden zu leben. Kein Umstand hat
die traditionelle Machtstellung der Metaphysik vielleicht stärker
erschüttert als der Argwohn, daß die Philosophie sich nur von den
Früchten der Arbeit anderer ernähre und so ein bloßes Genußdasein
führe, mithin einen entbehrlichen Luxus darstelle.
Dieser Verdacht ist unberechtigt. In welchem Maße das der Fall
ist, wird sofort klar, sobald wir uns von der positivistischen Auf-
fassung und Beurteilungsweise, die der Philosophie widerfahren war,
2. Das intellektuelle Motiv
117
frei machen, ohne dennoch ihre tatsächlich unlösliche Beziehung zur
positiven Wissenschaft preiszugeben und uns zur Behandlung der
eingangs des vorigen Absatzes aufgeworfenen Frage wenden. Wir
denken bei der Behandlung dieser Frage an eine Beziehung zwischen
dem metaphysischen Rationalismus und der konkreten Forschung,
die, wie gesagt, einen viel intimeren Charakter als jede Art von
enzyklopädischer Synthesen trägt. Behalten wir dabei im Auge,
daß beide, sowohl der metaphysische Rationalismus (wie der ratio-
nalistische Idealismus) als auch die konkrete Wissenschaft, aus einer
und derselben Quelle stammen, Kinder derselben dialektischen
Spontaneität der Vernunft sind. Was sich dort in der Form des
reinen Begriffs und als ein ideeller Zusammenhang vernünftiger
Gedanken darstellt, das weist hier den Charakter konkreter und
gegenständlicher Beziehung auf die Welt der Erscheinungen auf.
Dort entfaltet sich der Logos in der Reinheit und Absolutheit seiner
Dialektik, hier verwendet er die Kraft seiner dialektischen Sponta-
neität zur Erfassung und zu dem in dieser Erfassung sich voll-
ziehenden Aufbau der Wirklichkeit. Höchstens kann von einer
relativen Verschiedenheit in der Entwicklungs- und Bezugsrichtung
des Logos bei dem metaphysischen Rationalismus und bei der posi-
tiven Wissenschaft die Rede sein. Aber diese Verschiedenheit be-
dingt nicht eine reale Trennung des Logos, nicht ein Auseinander-
treten seiner ursprünglichen Kraft in zwei voneinander geschiedene
Strömungen, etwa so, daß in der Metaphysik der Hauptstrom und
in der positiven Forschung nur ein abgeleiteter Nebenarm des Logos
fließe. Es handelt sich vielmehr nur um verschiedene Stufen
in der dialektischen Selbstentfaltung des vernünftigen
Geistes, und zwar dergestalt, daß in der Metaphysik die Sponta-
neität des Logos von keinem anderen Gesetze als von dem Spiel der
ihr immanenten Dialektik geführt und beherrscht wird, während
in der positiven Wissenschaft diese Dialektik aus ihrer Tiefe hervor-
tritt und in dem Prozeß dieses Hervortretens die Konstituierung der
Gegenstandswelt bewerkstelligt.
So besteht die Beziehung, die wir im Auge hatten, und nach deren
Wesen wir fragten, in der sie beide, Metaphysik und positive
Forschung, gemeinsam erzeugenden und sie beide dauernd tragenden
Dialektik der Vernunft. In jedem ihrer Schritte ist die konkrete
Wissenschaft durch diese in ihr arbeitende Dialektik metaphysisch
unterbaut und metaphysisch gesichert. In beiden, in der Meta-
physik und in der konkreten Wissenschaft, waltet die übergreifende
118
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Einheit der Vernunft. Deshalb ist jeder Zug in der Entfaltung der
beiden Gedankenreihen sinnerfüllt, sinntragend, sinngetragen.
Während im metaphysischen Rationalismus dieser Vernunftsinn
in seiner Autonomie vorhanden ist, in der Reinheit seiner Idee wirkt,
hat er in der positiven Forschung die Form der Erkenntnis kon-
kreter Erscheinungen angenommen und sich in diesem Prozesse
selber konkretisiert und phänomenalisiert, objektiviert und empiri-
siert. Aber diese Konkretisierung, Empirisierung und Verpositi-
vierung ist nicht als ein Abfall des Sinnes der Erkenntnis von der
Unbedingtheit ihres Ursprunges aufzufassen. Der Allmacht der Ver-
nunft, so sagen wir mit Hegel, kann nichts entfliehen, so viele Ge-
stalten das Reich der Erfahrung annehmen mag. Jede Richtung
und jeder Gehalt dieses Reiches sind auf Grund der transzendentalen
Bedingungen, die jede dieser Richtungen und Gehalte ermöglichen,
mit der Wurzel der Vernunft unauflösbar verknüpft. Der dialek-
tisch-spontane Logos ist sowohl im metaphysischen Rationalismus
als auch in der konkreten Wissenschaft in der unermüdlichen Erzeu-
gung von Sinngebilden wirksam, und in diesem Umstand sind, was zu
wiederholen gestattet sein mag, beide Gedankenreihen innerlichst
miteinander verbunden: Sie selber sind die Niederschläge
dieser sinnschaffenden Tätigkeit der dialektischen Spon-
taneität. Sie beide sind einander Stufe für Stufe restlos koordi-
nierte Gestaltungen, deren eine, das ist der metaphysische Rationalis-
mus, in der Form der Selbstbesinnung das entwickelt und aus-
spricht, was die andere, die konkrete Wissenschaft, positiv tut. Der
metaphysische Rationalismus trägt die Vernunft als Begriff, die
konkrete Wissenschaft trägt die Vernunft als objektive Erkenntnis
in sich.
Somit können wir das Wesen der gesuchten Beziehung folgender-
maßen ausdrücken: Das Verhältnis zwischen dem metaphysi-
schen Rationalismus auf der einen Seite und der posi-
tiven Forschung auf der anderen Seite hat die Form der
Umsetzung des objektiven Sinnes der Wissenschaft in
die Gestalt erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung. Hier
wie dort betätigt sich die beiden gemeinsame Kraft des intellektuellen
Motivs. Und indem wir das Wesen dieser Beziehung erfassen, erhellt
sich uns der Gewinn, den die Metaphysik des Rationalismus aus
dieser Beziehung zieht und seit jeher tatsächlich gezogen hat.
Dieser Gewinn ist ebenso groß wie solide. Bezeichnen wir ihn
kurz als Metaphysik der Prinzipien der Vernunft, so ist da-
2. Das intellektuelle Motiv
119
mit angedeutet, was gemeint ist. Die Metaphysik hebt im Akte der
Selbstbesinnung aus der positiven Arbeit der konkreten Wissen-
schaft diejenigen Formelemente und Funktionen der Vernunft
heraus, auf Grund deren die Wissenschaft ihre konkrete Arbeit
vollzieht. Hier, in dieser konkreten Arbeit, haben die dialektischen
Vernunftformen ihre Verwirklichung, die darin besteht, daß die
ideellen Bezüge der Vernunft in der positiven Forschung zu gegen-
ständlicher Anwendung gelangen und sich als ihre grundlegenden
Bedingungen ausweisen.
Sobald dieser Sachverhalt vergegenwärtigender Besinnung der
Vernunftprinzipien durch die Erkenntnistheorie klar wird, offenbart
sich die Hinfälligkeit des bekannten Einwandes Hegels gegen diese
Disziplin der Metaphysik. Hegel glaubte die Unmöglichkeit der
Erkenntnistheorie schon in einem Bilde dadurch beleuchten zu
können, daß er ihre Unternehmung mit der Absicht jenes Scho-
lastikers vergleicht, der das Schwimmen erlernen wollte, ohne ins
Wasser zu gehen, und der, wenn er vor der Erwerbung der Schwimm-
kunst den Sprung ins Wasser wagt, elend ertrinken müßte. Nehmen
wir dieses Bild auf, so ist die Erkenntnistheorie der Scholastiker und
die positive Wissenschaft das Wasser. Warum soll nun der Scho-
lastiker das Schwimmen nicht lernen, während er im Wasser ist,
und gerade weil er darin ist? Im Element des Wassers lernt er die
Theorie. Aus der Wissenschaft holt der Erkenntnistheoretiker die
ihr immanenten Prinzipien hervor, und zwar dadurch, daß er die
Wissenschaft nach ihren Rechtsgründen, und das sind die Prinzipien
der Vernunft, befragt. Im System der Wissenschaft entfaltet sich
das System der Vernunftprinzipien in gegenständlicher Form; in
ihm ist die Vernunft gegenständlich gegenwärtig. In der Metaphysik
wird dieses System der Vernunftprinzipien begriffen, es wird hier
in seiner gegenständlichen Gegenwärtigkeit von der Vernunft erfaßt,
verstanden und in theoretischer Form dargestellt.
Die Form dieser Darstellung ist der metaphysische Rationalis-
mus. Wenn er das Wesen der Wirklichkeit aus der Vernunft und
ihren Prinzipien ableitet und die Wirklichkeit als ein logisch auf-
gebautes Vernunftsystem darstellt, so können wir fragen, woher er
diese Vernunftprinzipien hat, ferner auf welche Weise er auf ihre
Spur kommen könne, und welches Vorbild er für seine rationalistische
Weltinterpretation besitzt. Die Antwort auf diese Frage ist nicht
schwer. Das ihn leitende Vorbild sind die rationalen Wissenschaften,
aus denen er das Gerüst der Vernunftprinzipien herauspräpariert.
120
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Wenn Leibniz als das maßgebende Weltgesetz das Prinzip des zu-
reichenden Grundes ansah, so hat er diese Erkenntnis nicht aus einer
vagen, willkürlichen, etwa aus einem subjektiven Erlebnis stammen-
den Einsicht gewonnen, sondern aus der Analyse der mathematischen
Logik und der mathematischen Physik. Das heißt: Aus dem Be-
stände der effektiven Wissenschaft löste er im Akt der erkenntnis-
theoretischen Selbstbesinnung das System derjenigen Bedingungen
heraus, das die Grundlage und die logische Rechtfertigung jenes
Bestandes darstellt.
Natürlich muß dieser Akt der Selbstbesinnung nun in der Theorie
der Grundlegung der Wissenschaft seine logisch durchgeführte Ent-
faltung erfahren, durch die er selber zugleich seine ihm notwendige
logische Begründung bekommt. Beide, der Akt der Selbstbesinnung
und die durchgeführte Theorie der Grundlegung, haben dieselbe
Wurzel und den gleichen Ausgangspunkt: die Spontaneität der Ver-
nunft. Sie haben dasselbe Prinzip, auf das sie sich gründen, und nach
dem sie sich entwickeln: die Dialektik der Vernunft. Sie haben den-
selben Gegenstand, der sich in ihrer Entwicklung selber entwickelt:
die dialektische Spontaneität der Vernunft. Im Akt der Selbst-
besinnung wird dieser Gegenstand unter psychologischem, in der
Theorie der Grundlegung unter logischem Gesichtspunkt betrachtet.
Jener Gesichtspunkt, der psychologische, ist jedoch nicht der sub-
jektive der üblichen Psychologie; dieser Gesichtspunkt, der logische,
ist nicht der formalistische der üblichen Logik. Die hier gemeinte
Psychologie hat es nicht mit variablen Bewußtseinserscheinungen
zu tun, und ihre Methode ist keine empirische; die hier gemeinte
Logik hat es nicht mit den leeren Formen der Wissenschaft, sondern
mit dem ideellen Sinn der Wissenschaft zu tun. Beide stellen in
ihrer Methode mit anderen Worten transzendentale Untersuchungs-
weisen dar. Transzendentalpsychologie und Transzendentallogik
sind wechselseitig und dialektisch aufeinander bezogen, und in dieser
dialektischen Wechselgemeinschaft bilden sie zusammen die Meta-
physik der Vernunftprinzipien. In beiden im Verein entfaltet
sich das intellektuelle Motiv, das den Entstehungsgrund und die
Leitidee für den Aufbau des metaphysischen Rationalismus be-
deutet. —
Diese Metaphysik der Vernunftprinzipien ist ersichtlicherweise
nichts anderes als jene philosophische Disziplin, die sonst auch
Erkenntnistheorie oder Wissenschaftslehre genannt zu werden
2. Das intellektuelle Motiv
121
pflegt. Woran uns hier gelegen ist, das ist der Hinweis auf die meta-
physische Natur dieser Disziplin, d. h. darauf, daß sie einen Zweig
der allgemeinen Metaphysik abgibt. Inwiefern ist das der Fall?
Metaphysisch ist sie in bezug auf ihren Gegenstand, da diesen Gegen-
stand jene metempirischen oder transzendentalen Prinzipien dar-
stellen, die die apriorischen Bedingungen aller Gegenstands-, aller
Erfahrungserkenntnis ausmachen. Metaphysisch ist sie aber auch
in bezug auf ihre Methode, da diese transzendentalen Bedingungen
nicht induktiv-empirisch gesammelt, nicht durch ein unbestimmtes
Umhersuchen innerhalb des Erfahrungsbestandes zusammengelesen
werden. Vielmehr gehört es zu den unabweisbaren Grundaufgaben
dieser Disziplin, daß sie in methodischer Hinsicht diese Prinzipien
aus der Einheit der Vernunft systematisch ableitet, aus der Ver-
nunfteinheit dialektisch deduziert.
Als Vorbilder für eine solche Ableitung könnten z. B. die Ver-
fahrungsweisen gelten, die Fichte etwa in seiner Wissenschaftslehre
und Hegel in der sogenannten Jenenser Logik beobachtet haben. Be-
kanntlich ist auch in Kant, der in gewissem Sinne der Begründer einer
solchen Metaphysik der Vernunftprinzipien ist, die Idee einer der-
artigen Deduktion aller einzelnen Anschauungsformen, Verstandes-
kategorien, synthetischen Grundsätze und regulativen Ideen lebendig
gewesen. Zwar hat er in wiederholten brieflichen Äußerungen das
Recht und die Möglichkeit eines solchen Ableitungsversuches be-
stritten, weil dieser sich in die windigen Höhen unprüfbarer Spekula-
tionen zu verlieren schien. Mehr als einmal hat Kant von jener
verborgenen Einheit der Vernunft und von dem gemeinsamen
Stamme aller ihrer Formen und Funktionen gesprochen. Aber
während der Zeit seiner philosophischen Hauptwirksamkeit glaubte
er es dem Geiste eines strengen Kritizismus schuldig zu sein, von
der Inangriffnahme einer solchen Deduktion und von der Bloß-
legung der wurzelhaften Gemeinschaft der Vernunftprinzipien Ab-
stand nehmen zu müssen. Und als ihm in den Anfängen der spekula-
tiven Ära ein solches Unternehmen entgegentrat, da hat er aus
seiner Ablehnung kein Hehl gemacht, sondern ihr sogar mit starken
Worten Ausdruck verliehen, gleichsam als wenn er in dieser Wen-
dung einen Rückfall in das verbotene Gebiet metaphysischer Speku-
lationen befürchtete. Doch diese Wendung, die zur Aufdeckung des
Wesens und der Einheit der Vernunft führte, war mit jener Ent-
wicklung gleichbedeutend, die von der „Kritik“ der Vernunft zu
dem „System“ der Vernunft weiterleitet. Und der Zwangläufigkeit
122
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
dieser Entwicklung konnte sich auch die Vorsicht des großen Ver-
nunftkritikers nicht entziehen. Ja, hier wäre eine solche Vorsicht
geradezu ein Zeichen unkritischer Zurückhaltung gewesen, als wenn
der Philosophie die Aufstellung und die Bearbeitung einer Aufgabe
untersagt würde, die sich ihr aus ihrem ganzen Sinn mit zwingender
Notwendigkeit ergeben.
Denn was wäre eine Philosophie, wo bliebe ihre metaphysische
Tendenz, wenn ihr die Erfassung und die Aufhellung der Vernunft-
einheit und die Ableitung der Vernunftprinzipien aus der Vernunft-
wurzel versagt, und wenn der Hinweis auf die Undurchführbarkeit
jedes derartigen Versuches mit einem Verbot dieses Versuches ver-
bunden würden? Selbst ein tausendfaches Scheitern solchen Be-
ginnens könnte ein derartiges Verbot nicht rechtfertigen. Denn
schon in der Idee der Metaphysik, bereits in dem ideellen Entwurf
des metaphysischen Rationalismus ist die Idee der Einheit der Ver-
nunft und die Bezogenheit aller Einzelprinzipien auf diese Einheit
beschlossen. Beide Ideen im Verein, diejenige der Vernunfteinheit
und diejenige der Abhängigkeit aller Prinzipien von dieser Einheit,
bilden das sachliche Apriori für die Metaphysik. Indem die Einheit
der Vernunft gedacht wird, gedacht eben als Idee, wird damit
implizit die Idee der Metaphysik mitgedacht und mitgesetzt. Und
das Unternehmen der geordneten Ableitung aller Einzelformen der
Vernunft aus jener Grundeinheit gehört zu den charakteristischen
Wagnissen und Fährnissen, denen sich der Menschengeist und die
aus ihm mit unwiderstehlicher Gewalt hervorbrechende Metaphysik
trotz aller noch so häufigen Fehlschläge nicht entziehen dürfen.
Dieses Wagnis selber ist ein überzeugender Beleg für die Dialektik
des Geistes, und es hieße diese Dialektik verleugnen oder nicht
verstehen wollen und den Zwang zur Metaphysik verkennen, wenn
die Vielzahl der Mißerfolge einer solchen Deduktion die grund-
sätzliche und dauernde Verzichtleistung auf jene Ableitung zur Folge
hätte.
Wie bezeichnend, wie lehrreich und wie mahnend ist es, daß
Kant selber, in dem die denkbar lebendigste philosophische Ent-
wicklung herrschte, und dessen Geisteshaltung die Züge der Spon-
taneität aufwies, dem Zwang der Weiterführung der ,,Kritik“ der
Vernunft zum ,,System“ der Vernunft Raum gab. Mit verlöschender
Kraft machte er sich noch in dem Opus postumum an die Arbeit
jener Deduktion, die er bei den Vertretern der spekulativen Philo-
sophie, soweit er von ihrer Absicht Kenntnis bekam, nicht gut-
2. Das intellektuelle Motiv
123
heißen wollte. Welch ein erschütterndes, aber zugleich erhebendes
Schauspiel ist es, zu gewahren, wie Kant hier, als er bereits weit
über die von der Bibel zugestandene Lebenszeit hinaus war, in einer
fast mystisch berührenden Erneuerung seiner unerschöpflichen
Genialität sich bemüht, aus der verborgenen Wurzel der Vernunft
das System der Kategorien abzuleiten und eine Brücke von den
einzelnen Verstandesprinzipien, wie solche in den konkreten Wissen-
schaften als Bedingungen gelten, zur höchsten Vernunfteinheit zu
schlagen. Tantalische Qualen mag er bei der Arbeit an jenem Werke
erlitten haben, Qualen in doppelter Hinsicht: Einmal mußte er die
Besorgnis hegen, es vor dem von ihm selber aufgerichteten Richter-
stuhl der Kritik, vor dem die Grenzen der menschlichen Erkenntnis
in aller Strenge festgelegt waren, nicht verantworten zu können,
wenn er dem Zwang zur metaphysischen Weiterbildung des Kriti-
zismus auch nur im Plan und Entwurf eine leise Nachgiebigkeit ent-
gegenbrachte, also im Begriff war, etwas zu tun, was er sich doch
selber verboten hatte. Ferner mußte es ihn bedrücken, daß seinem
Ringen um die Darstellung jener Ableitung kein reinliches Gelingen
beschieden sein wollte, so groß auch die Zahl und die Intensität der
Ansätze zur Bewältigung dieser Aufgabe waren. Das Opus postumum
umfaßt vierzehn Konvolute, von denen beinahe jedes die heroische
Anstrengung um die Bezwingung des Problems der Deduktion der
Kategorien zeigt, ohne daß die Hinfälligkeit des Philosophen ihm
den Erfolg der Bemühungen gegönnt hätte.
c. Die Dialektik des metaphysischen Rationalismus.
Der metaphysische Rationalismus oder, was gleichbedeutend ist,
die Metaphysik der Vernunftprinzipien stellt, alles in allem ge-
nommen, die objektive logische Auswirkung des intellektuellen
Motivs innerhalb des vielverschlungenen Gewebes der Metaphysik
überhaupt dar. Wie er auf Erkenntnis der Welt hinzielt, so findet
er für die Befriedigung dieser Absicht seinen Stoff in und an der
positiven Wissenschaft. Wir definieren ihn als diejenige meta-
physische Disziplin, die eine absolute Welterkenntnis anstrebt und
die Erreichung dieses Zieles als grundsätzlich möglich und gewiß
erachtet. Und zwar sucht der metaphysische Rationalismus seinen
Grundplan in einer Doppelform zu verwirklichen.
Erstens gilt ihm a priori die Welt selber, die Welt an sich, in ihrer
ganzen Breite und Tiefe als der Inbegriff und als die reale Einheit
124
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
rationaler Wesensbezüge; sie ist die Objektivation und Objektivität
eines rechnerischen Vorganges im absoluten Geiste, der kraft seiner
absoluten Macht dem formalen mathematischen Prozeß, indem er
ihn denkt, zugleich Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit, Essentialität
und Existenzialität verleiht. Es gehört zu den Urparadoxien im
Wesen des absoluten Geistes, daß seine Allmacht darin eine Schranke
besitzt, nicht jene Zurückhaltung üben zu können oder jene Be-
grenztheit zu besitzen, die dem menschlichen Geiste eigen sind.
Der menschliche Geist kann nicht alles verwirklichen, was er plant
und will. Bei ihm waltet zwischen Idee und Ausführung eine furcht-
bar-fruchtbare Spannung. Der absolute Geist hingegen kann gar
nicht anders, als mit dem begrifflichen Vorgang und mit dem Be-
griff auch ihre reale Wesenhaftigkeit zu setzen. Besser ausgedrückt:
Die von der Kraft des absoluten Geistes gedachten Begriffe sind nicht
bloße Gedankenformen, was sie innerhalb der eingeschränkten
Aktivität und Zuständigkeit des menschlichen Geistes bleiben,
sondern sie sind Gedanke und Ding in eins, sie sind Gedankendinge.
Wie von einer tragischen Ironie ist der absolute Geist dadurch um-
wittert, daß es ihm nicht möglich und vergönnt ist, die Gedanken
nur als reine Gedanken zu erzeugen und säe als solche zu bewahren;
sie realisieren sich ihm vielmehr unter den Händen. Gott denkt,
Gott spricht, und es wird, es geschieht, wie die Bibel sagt. Das ist
die Dialektik des absoluten göttlichen Logos. Oder wie Spinoza
lehrt: Es gehört zum Wesen der absoluten Substanz, daß ihr Begriff
ihr Sein einschließt.
Von dem Standpunkt des metaphysischen, d. h. absoluten
Rationalismus ist diese Dialektik nicht fernzuhalten, die sich in den
Gedanken und in der Wirklichkeit der unaufhebbaren Korrelation
eben von Gedanken und Wirklichkeit ausprägt. Wo im Umkreis
und unter der Herrschaft dieses Standpunktes ein Begriff gedacht
wird, da ist seine Ontologisierung schlechthin unvermeidlich. Diese
Dialektik ist die Größe und Eigenart, aber auch das Schicksal und
die Bedenklichkeit, die diesem Standpunkte innewohnen.
Und von ihr aus ist der Metaphysik überhaupt jene unabstreif-
bare und unabweisbare dialektische Zwei- oder Mehrdeutigkeit
innerlichst beigesellt, die darin besteht, daß die Metaphysik doch
nur in der Form des Gedankens spricht und dabei eine Realität
meint oder sogar eine Realität erfaßt zu haben glaubt. Die Metaphysik
weist, während sie zunächst nur einen Begriffszusammenhang ent-
wickelt, damit bereits auf einen realen, in objektiven Kausalitäten sich
3. Das moralische Motiv
125
aufbauenden Wirkungsverband von ontologischer Geltung hin. Diese
ontologisierende Tendenz gehört zu ihrem Sinn, von der sie auf
keine Art und um keinen Preis lassen kann; sie gehört un-
nachlaßlich zu ihren Grundvoraussetzungen und bedeutet für sie
eine geradezu objektive Kategorie. Mit dem Wesen und der
Idee des metaphysischen Rationalismus ist die Dialektik der Be-
ziehung von Begriff und Sein, Gedanke und Wirklichkeit mitgesetzt,
und zwar mitgesetzt nicht etwa bloß in der Gestalt einer theoreti-
schen Dialektik, sondern, unter Akkumulation der Dialektik, in der
Gestalt einer realen Dialektik, einer Wesenskorrelation von Begriff
und Sein, Gedanke und Wirklichkeit. Diese Realdialektik muß
beachtet werden, so schwer es dem kritischen Geiste fallen mag,
sie wirklich zu verstehen. Denn sie macht sich in jeglichem meta-
physischen System merkbar und geltend, belastet es mit einer
niemals überwindbaren Antinomie. Und auf diese Realdialektik
und Antinomik hinzuweisen, war im Zusammenhang unserer Aus-
führungen eine begreifliche Pflicht, da uns dadurch sowohl nach der
einen Seite die innere Verfassung der Metaphysik klar wird, als nach
der anderen Seite einer der konstruktivsten Begriffe und ein unent-
behrliches Gedankenmittel an die Hand gegeben werden, die uns
in den Stand setzen, die Systematik der Metaphysik aufzubauen. —
Aber der absolute metaphysische Rationalismus birgt in sich
noch eine zweite, nicht weniger eigenartige Dialektik, die wir
zweckmäßigerweise bei der Erörterung der Eigentümlichkeit und
der Wirkungsweise des zweiten Grundmotivs, das in der Struktur
der Metaphysik sich betätigt, behandeln können, nämlich des
moralischen Motivs.
3. Das moralische Motiv.
a. Die Verbindung des Rationalen mit dem Moralischen.
Es gehört zu den unwiderstehlichen Bestrebungen des mensch-
lichen Geistes, auch die Kraft des Rationalen noch durch eine ihm
überlegene Kraft zu unterbauen, zu vertiefen und dadurch über sich
hinauszuführen. So sehr auch der Wert des Erkenntnismotives
sowohl als unmittelbarer Ausdruck des Geistes als auch als Werk-
zeug der Förderung der menschlichen Kultur anerkannt werden
mag, so stark ist trotzdem die Neigung, ihm noch ein anderes Motiv
beizugesellen und seine Kraft dadurch zu stärken, also das bloß
126
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Rationale aus einer anderen, jenseits seiner selbst liegenden Quelle
abzuleiten, um ihm dadurch die endgültige Sanktion zu erteilen.
Nun herrscht unter den Metaphysikern Unstimmigkeit darüber,
welches dieses grundlegende Motiv und Prinzip sei. Eine klassische
und in sich verhältnismäßig einheitliche Antwortreihe, die sich durch
die ganze Geschichte der Metaphysik hindurchzieht, bestimmt dieses
Motiv und Prinzip als das Gute, als das Sittliche. Auf diese Weise
wird der Intellektualismus und Rationalismus durch einen Moralis-
mus gestützt, und man pflegt diejenige metaphysische Richtung,
die das Gute als das Weltprinzip schlechthin wertet, als ethischen
und normativen Idealismus zu bezeichnen. Zu ihm bekennen sich,
um nur einige seiner Hauptvertreter anzugeben, Platon und Kant,
Fichte und Lotze. Der ganze Unterschied zwischen ihnen besteht
lediglich in der verschiedenen Bestimmung des Grades der Korre-
lation, die nach ihnen zwischen dem Rationalen oder, um sogleich jene
Hauptausprägung zu nennen, in der sich sein Begriff eigentlich
verkörpert, zwischen der Wahrheit auf der einen Seite und dem
Guten auf der anderen obwaltet. Bei Platon scheint diese Korre-
lation gesteigert oder, was sich mit dem gleichen Rechte sagen läßt,
gemildert bis zur Gleichsetzung des Wahren mit dem Guten. Eine
eindeutige Klarstellung und Entscheidung der von ihm gehegten
Auffassung wird sich meines Erachtens nicht treffen lassen. Ist nach
ihm die Wahrheit als Wahrheit auch das Gute und das Gute als das
Gute auch die Wahrheit? Oder sind beide so unaufhebbar auf-
einander bezogen, daß die eine Idee mit der anderen dialektisch mit-
gesetzt ist? Ist bei ihm und nach ihm diese dialektische Wechsel-
beziehung eine rein logische Tat und nichts als der Ausdruck einer
logisch-mathematischen Setzung? Etwa so, wie der Begriff der
geraden Linie den Begriff der krummen mitbedingt? Platon be-
dient sich, um das Verhältnis zwischen dem Wahren und dem Guten
zu kennzeichnen, nicht selten mathematischer Analogien. Sind die-
selben mehr als bloße Vergleiche, um die Schwierigkeit und Dunkel-
heit einer Beziehung, die an sich der logischen Verdeutlichung
widerstrebt, durch die dem Philosophen immer willkommene mathe-
matische Klärung zu erhellen? Oder bleibt in jener Beziehung eben
darum ein letztes Dunkel, weil sie auf Grund der stets geheimnis-
vollen Dialektik geschaffen ist? Der Gleichwertung und der Gleich-
setzung des Guten mit der Wahrheit, die bisweilen unumwunden
ausgesprochen werden, stehen Entscheidungen gegenüber, nach
denen das Gute mit der Sonne verglichen wird: Wie die Sonne durch
3. Das moralische Motiv 127
ihre Wärme alles Seiende erst ins Leben ruft, so herrscht auch das
Gute in überlegener Form über das ganze Reich des Seienden.
Einfacher und eindeutiger gelangt der Gedanke des Primates des
Guten und der Unterordnung des ,,Theoretischen“ unter diesen
Primat bei den deutschen Metaphysikern zum Ausdruck. Die von
ihnen vertretene Sonderart des Idealismus läßt keinen Zweifel darüber
aufkommen, daß das Sittliche die schlechthin höchste, die schlecht-
hin entscheidende und autonome Kraft zur Rechtfertigung und
Bewährung aller übrigen Geltungsformen besitzt. Bei Platon wird
das Gute kraft seiner Beziehung zum Wahren mit der Einheit des
geistigen Kosmos unabtrennbar verbunden, so innig verbunden, daß
es geradezu den Wertgehalt des geistigen Kosmos ausmacht. Da-
durch wird vom Logos jede Zerfällung ferngehalten, seine Einheit
durch sein sittliches Zentrum gesichert. In der deutschen Speku-
lation hingegen wird dem Guten eine geradezu mystisch erscheinende
Transzendenz zugesprochen. Auf dem Wege der von Platon ein-
geschlagenen Vergöttlichung des Guten erfolgt ein so bedeutender
Schritt, daß nunmehr seine noch weitere Verabsolutierung ausge-
schlossen ist.
Zwar erfährt auf diese Weise die Mystik und Dämonie des Welt-
hintergrundes eine moralistische Abschwächung, wie das z. B. bei
Fichte deutlich wird. Andererseits aber erschließt sich in dieser
Verabsolutierung des moralischen Motivs und Prinzips eine neue
Dialektik, auf die wir bei dem Schluß des voraufgehenden Kapitels
schon hinwiesen, und die sich in der Struktur der Metaphysik als
überaus wirksam und für diese Struktur als mitkonstitutiv zeigt.
b. Die Dialektik zwischen dem Wahren und dem Guten.
Worin besteht diese Dialektik? In der eigentümlichen Spannung
zwischen dem moralischen und dem intellektuellen Motiv und Prinzip,
in jener merkwürdigen Antinomie, die in unserem Leben in jedem
Augenblicke aufbricht, zu seinen Wesenszügen gehört und in der
Metaphysik begreiflicher- und notwendigerweise ihr theoretisches
Spiegelbild findet. Ist das Wissen schon an und für sich ein Gutes?
Oder führt es sicher zu ihm? Ruht die Tugend auf dem Grunde der
Erkenntnis, so daß der wahrhaft Erkennende auch der wahrhaft
Tugendhafte ist? Oder ist die Einsicht nicht bloß eine Voraus-
setzung, sondern bereits ein Teil, eine Funktion der Tugend? Wir
wissen wie Sokrates die hier vorliegenden Aporien gelöst hat, gelöst
128
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
vielleicht weniger in theoretischer Form, weniger durch die Ent-
wicklung einer besonderen Lehre, als vielmehr durch sein protrepti-
sches Handeln1). Und sind diese Aporien überhaupt anders zu lösen?
Prägt sich in ihnen nicht eine ganz ursprüngliche, eine, wie gesagt,
aus der Dialektik des Lebens selber immer wieder hervortretende
gedankliche Dialektik aus?
Jedes der beiden Motive und Prinzipien ist autonom und wacht
über seine Autonomie mit Eifersucht. Wie sehr sträubt sich be-
sonders die Wissenschaft gegen jede Beeinflussung durch moralische
Gesichtspunkte. Mag, so sagen ihre Vertreter, die Wissenschaft als
Ganzes ein bestimmtes Ethos in sich tragen und in ihrer Stellung im
Ganzen der Kultur ein Ethos verkörpern. Dennoch dürfte daraus
niemals die Erlaubnis zur Benutzung moralischer Betrachtungs-
und Wertungsweisen innerhalb des wissenschaftlichen Betriebes ab-
geleitet werden. In diesem Sinne wird immer wieder und mit den
verschiedensten Begründungen die bestimmte Forderung ausge-
sprochen, die Wissenschaft moralinfrei zu halten. Ist diese Forderung
restlos durchführbar? Ist sie methodisch berechtigt? Eine schwere
und bedeutsame, weil über das bloße Wissenschaftsgebiet hinaus-
greifende, die Wurzeln unserer geistigen Existenz unmittelbar an-
gehende Frage. In aller Kürze seien hier die Erörterungen von
Gustav Schmoller, Adolf Lasson, Max Weber, Max Scheler, Eduard
Spranger u. a. genannt, die sich mit jener Frage beschäftigt haben2).
Wie liegt tatsächlich das Verhältnis zwischen jenen beiden
Motiven? Und wie stellt es sich, was uns hier besonders inter-
essiert, innerhalb der Metaphysik dar? Unverkennbar greift jedes
der beiden Motive in den Sinn und in den Geltungsbereich des
x) Vgl. Heinrich Maier, Sokrates, sein Werk und seine geschichtliche
Stellung (1913). In diesem Werke wird der Nachweis dafür erbracht, daß
Sokrates überhaupt nicht in die Reihe der eigentlichen Begriffsphilosophen
gehöre und noch weniger gar als Begründer der Begriffsphilosophie im fach-
technischen Sinne dieser Bezeichnung anzusehen sei. Seine Bedeutung als
ethischer Protreptäker charakterisiert Maier mit den Worten: „Die Philo-
sophie', der Sokrates sein Leben geweiht hat, ist nicht Metaphysik, weder
dogmatische noch skeptische, nicht Logik, nicht Ethik und nicht Rhetorik;
sie ist überhaupt nicht Wissenschaft, am wenigsten ,populäre'. Sie ist ein
Suchen nach persönlich sittlichem Leben“ (a. g. O. S. 294 f.).
2) Vgl. Eduard Spranger, Der gegenwärtige Stand der Geisteswissen-
schaften und die Schule (2. Aufl. 1925), wo zu der Frage über die Berechtigung
und über die Stellung der Werturteile in der Geisteswissenschaft, besonders
in der Nationalökonomie, auf den Seiten 73 ff. noch weitere Literatur an-
gegeben ist.
3. Das moralische Motiv
129
anderen hinüber, greift seine Autonomie an und sucht diese nieder-
zuzwingen, so sehr auch jedes Motiv auf die Wahrung seiner Auto-
nomie bedacht sein mag. Fragt nicht alles Wissen und alles Er-
kennen nach einem Rechtsgrund, der nicht bloß aus der Wurzel
und dem Umkreis des Theoretischen stammt? Sucht es nicht ganz
ursprünglich und unmittelbar seine Bewährung dadurch zu erreichen,
daß es sich auf die Idee des Guten zurückführen und durch diese
Idee verbürgen läßt? Gleichsam als fließe ihm erst aus dieser Ver-
wurzelung seine eigentliche und volle Wahrheit zu, die ohne jene
Verbürgung im Guten nichts als eine leere Form, nichts als ein In-
begriff bloßer Gedankensetzungen darstellen würde. Im tiefsten
Sinne scheint sich dem Wissen sein endgültiger Gehalt weder aus
seiner Kraft zu einer objektiven und realen Erkenntnis der Er-
scheinungswelt, noch aus der Strenge der formalen Ableitungen und
den rationalen Verklammerungen dieser Ableitungen, also weder
aus seinem empirisch-induktiven noch aus seinem rationalistisch-
deduktiven Charakter zu ergeben. Die verschiedensten Systeme
des ethischen Idealismus haben immer wieder den Beleg dafür zu
erbringen gesucht, daß erst das Gute dem Rationalen seinen eigent-
lichen Halt und Gehalt gewährt und seine Formalität zur vollen
und würdigen Gestalt ergänzt.
Ganz bezeichnend ist in dieser Beziehung das wirklich recht
dialektische Verhältnis zwischen dem doch stolzen und selbst-
bewußten Rationalismus der Aufklärungszeit und der entschiedenen
Hinneigung dieser Epoche zum Moralismus. Das Zeitalter von
Leibniz und Christian Wolf stellte den Rationalismus der Wissen-
schaften und der Philosophie mit kühnem Vertrauen ein in den
Dienst der moralischen Entwicklung der Menschheit und war fest
davon überzeugt, daß die Vervollkommnung des Wissens auch eine
Vervollkommnung der Sitten und Sittlichkeit bedinge. Dieses schon
an sich enge Verhältnis zwischen dem Rationalismus und dem
Moralismus wurde in einem außerordentlichen Maße noch dadurch
vertieft, daß der schöpferische Grund, aus dem alles Wissen hervor-
geht, nämlich die Ratio in ihrer höchsten Ausbildung Gott als dem
Guten zugeschrieben wurde. Man überprüfe einmal, welche Wesens-
bestimmungen von Gott damals ausgesagt wurden. Vor allem fällt
immer wieder das durchgängige Fehlen einer eigentlich dämonischen
und irrationalistischen Gottesauffassung auf. Es kam jener Zeit
gar nicht in den Sinn und konnte ihr bei ihrem ausgesprochenen
moralistischen Rationalismus und rationalistischen Moralismus auch
Liebert, Dialektik. 9
130
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
gar nicht in den Sinn kommen, Gott die Eigenschaften des Ge-
heimnisvoll-Furchtbaren und des Mystisch-Drohenden, des Numi-
nosen, um mit Rudolf Otto zu sprechen, beizulegen. So wenig wie
die Kunst wird auch die Religion aus solchen dunklen Hintergründen
und mitternächtigen Jenseitigkeiten erklärt. Für alle diese Züge,
deren Bedeutung erst der Romantik aufging, mangelt der Aufklärung
das Verständnis in einem kaum noch zu überbietenden Maße. Sie
erfaßt Gott und Welt, Wissenschaft und Recht, Kunst und Religion
unter dem ihr eigenen rational-moralischen Gesichtspunkt. Ihre
rationale Theologie ist zugleich Moraltheologie, ihr metaphysischer
Rationalismus ist zugleich metaphysischer Moralismus. Alles, was
ihr Geist ergriff, wurde zu einer rationalen und moralischen Ver-
anstaltung. Als solche ist die Welt aus der absoluten intellektuellen
und moralischen Vollkommenheit Gottes hervorgegangen; die Ge-
setze, auf denen ihre Wirklichkeit beruht, tragen den Charakter
einwandfreier mathematischer Ordnung und sittlicher Fehlerlosig-
keit. Kein Wunder, daß aus solcher Anschauungsweise eine opti-
mistische Weltansicht mit Notwendigkeit hervorgehen mußte, die,
nichts weniger als ein Erzeugnis und ein Zeugnis persönlicher und
individueller Gemütsverfassung, in jener Aufklärungsmetaphysik
ihren logischen und zureichenden Grund besitzt.
Überhaupt haben wir in diesem Typus der Metaphysik ein lehr-
reiches Beispiel für die in der Metaphysik im allgemeinen in allen
möglichen Formen zur Geltung gelangende Verschlingung des
intellektuellen Motivs mit dem moralischen, für die Verwebung
der Welterkenntnis mit der Weltbewertung. Und vielleicht
gehört diese Wendung zu den entscheidenden Ursprüngen und An-
trieben, denen die Metaphysik ihre Entstehung verdankt.
c. Der Primat der Weltbewertung.
Wie wir schon weiter oben angaben, liegt die Tendenz zu einer
Beurteilung der Wirklichkeit und zu ihrer Bewertung tief in der
menschlichen Brust. Wir wollen nicht zunächst wissen, was eine
Erscheinung ist, sondern was sie wert ist. Und nicht nach den Be-
rechnungen der Erkenntnis und einer vorurteilslosen theoretischen
Haltung, sondern nach den primären Entscheidungen des Wertens
richten wir uns und richten wir unser Leben. Dabei macht es gar
nichts aus, daß diese Bewertungen nicht in freier Vorurteilslosigkeit,
in Gerechtigkeit und Besonnenheit getroffen werden. Vorurteils-
3. Das moralische Motiv
131
lose Gerechtigkeit und die in ihr sich bekundende Ruhe und Frei-
heit des Geistes sind erst der Gewinn einer hohen Stufe der Bildung
und erst der Preis einer tiefen intellektuellen Zucht.
Viel früher als alle Erkenntnis machen sich in jeder ursprüng-
lichen Lebensverfassung die elementaren Affekte der Liebe und des
Hasses geltend. Ihre ursprüngliche Bedeutung im Haushalt des
Lebens und für diesen Haushalt haben schon Descartes und Spinoza
betont. Und diesen Affekten wohnt eine ebenso ursprüngliche
Tendenz zur Bewertung inne, die aus ihrer Affektwurzel heraus
unkritisch, unreflektiert vorgeht und die Züge der Naivität trägt.
Die genannte Tendenz findet ihren logischen Niederschlag in meta-
physischen Urteilen, die jedoch stets Vorurteile und naive Be-
wertungen darstellen. Den Inbegriff dieser Vorurteile bildet eine
Weltbewertung als der Kern jener Sonderart der Metaphysik, die
wir ethischen Idealismus genannt haben.
Wie merkwürdig ist dieser Kern der Metaphysik, der zu der hoch-
gespannten Abstraktheit und Überbegrifflichkeit ihrer Erkenntnisse
in einem schneidenden Widerspruch steht. Sollte diese schwere
Begriffsrüstung nur darum konstruiert sein, um die Naivität des
Inhaltes der metaphysischen Systeme zu schützen oder zu verheim-
lichen ? Wie dem auch immer sei: Noch aller Betätigung des intellek-
tuellen Motives und seiner Auswirkung in bestimmten erkenntnis-
mäßig sich ablagernden Urteilen vorauseilend, erwächst die Meta-
physik aus dem unmittelbaren Erlebnis einer naiven Welt-
bewertung, das seine Entscheidungen aus der Tiefe des moralischen
Motivs und der Impulse, die in diesem Motive stecken, urwüchsig
trifft.
d. Die metaphysische Tendenz zur Freiheit.
Die Dämonie der Freiheitsidee.
Aber die Kraft dieses moralischen Motivs weist sich noch in einer
anderen und vielleicht eingreifenderen Leistung aus, die in dieser
Bewertungstendenz wirksam ist, und die sich auf das primäre Aus-
teilen von Lob und Tadel nicht beschränkt. Ob wir die Welt opti-
mistisch, ob wir sie pessimistisch deuten, sie verherrlichen oder ver-
klagen — das moralische Motiv erzeugt nicht nur bestimmte
Typen der Weltbewertung, sondern aus ihm geht auch
die Befriedigung des elementaren Bedürfnisses nach —
Freiheit hervor! Ein Punkt von der denkbar größten Bedeutung
für die Erzeugung und Ausbreitung der Metaphysik, für ihre Ent-
9*
132
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
stehung in dem einzelnen Schöpferbewußtsein und für ihre An-
erkennung als Kulturwert in der menschlichen Gemeinschaft und
für dieselbe. Und zugleich ein Punkt, in dem in der Metaphysik und
durch sie eine neue Dialektik hervortritt. Aus diesen Gründen ist
es erforderlich, daß wir ihm noch einige Überlegungen widmen. —
Wir wollen wiederum von der Erkenntnis ausgehen, daß die
Metaphysik ihr Dasein und die ihr erwiesene Wertschätzung nicht
einem vorurteilslosen Willen zur Erkenntnis, sondern einem durch-
aus parteiisch eingestellten Willen zu einer heimlich vorgefaßten Be-
wertung verdankt. Erst gleichsam post festum sucht sie in die Höhe
der Erkenntnis zu erheben und durch die Würde der Erkenntnis zu
begründen, was im moralischen Welterlebnis a priori und autonom
gegeben ist. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob dieses Weltwert-
erlebnis sich nach der zustimmenden oder nach der ablehnenden
Seite, nach der Seite des Optimismus oder der des Pessimismus
entlädt. Die Hauptsache ist die in einer merkwürdigen primären
Unbekümmertheit vollzogene Aufstellung eines absoluten Wertes,
ist die dogmatische Behauptung eines absoluten Sinnes als des
Erzeugers und Trägers, als der moralischen Stütze und Sicherung
aller Erscheinungen. Im Akt der metaphysischen Deutung der Welt
vollzieht sich eine Bewertung derselben, die, wie sie vorwissenschaft-
lich ist, doch auf die Erkenntnis einschneidend zurückwirkt und in dem
erkennenden Bewußtsein einen tiefgreifenden Wandel hervorruft.
Bekanntlich gehört es zu den wesentlichen Obliegenheiten der
metaphysischen Erkenntnis, die Welt der Erscheinungen als eine
unbedingt notwendige darzustellen. Sie tut das in einer doppelten1
Form. Erstens werden die Erscheinungen selber als Entfaltungen
und Ausflüsse einer absoluten Einheit aufgefaßt, deren Entwick-
lungsstufen diese einzelnen Erscheinungen sind. Ihre Zurückführung
auf eine solche Einheit verleiht der Welt des Relativen den Zug der
Notwendigkeit. Jetzt können die Erscheinungen nicht mehr als
Ergebnisse einer Willkür gelten; ihre Relativität ist durch ihre Ab-
hängigkeit vom Absoluten beseitigt. Eine wesentliche Erhöhung
erfährt diese Sicherung der Erscheinungswelt durch die Form der
Ableitung, dem zweiten Verfahren der Metaphysik für die Dar-
stellung der Notwendigkeit des Relativen. Wie vielgestaltig sind
diese metaphysischen Unternehmungen, die alle darauf ausgehen,
für die Erscheinungswelt einen Zusammenhang aufzudecken, der,
so sehr er sich auch auf die bloße Erfahrungswelt beziehen mag,
seiner Natur nach doch selber von überempirischer Geltung ist. —
3. Das moralische Motiv
133
Erleiden aber durch diese Erkenntnis nicht unser Wollen und
unsere Freiheit eine bis zur Unerträglichkeit gesteigerte Belastung
und Einschränkung? Wirkt die Metaphysik dadurch nicht als eine
schwerwiegende Unterstützung für den Determinismus und Fatalis-
mus? Fördert sie dadurch nicht auch diejenigen seelischen und
moralischen Folgen, die sich im Einzelleben und im Leben der Ge-
samtheit aus dem Determinismus ergeben? In der Tat besitzen
wir eine ganze Anzahl metaphysischer Systeme, die eine strenge
deterministische Weltansicht aufrächten und sich diese Leistung als
Vorzug anrechnen. Ihre Eigentümlichkeit besteht aber in ihrer, ich
möchte beinahe sagen, unmetaphysischen Abhängigkeit von der
naturwissenschaftlich-kausalistischen Wirklichkeitsauffassung. Da-
durch erreichen diese Systeme nicht jene geistige Universalität, die
mit dem Begriff der Metaphysik gegeben und allen wahrhaft klassi-
schen Spekulationen eigen ist.
Zu den maßgebenden und schlechthin unabweisbaren Forde-
rungen, die mit dieser Idee der Totalität gegeben sind, sind nicht
in erster Linie die Erkenntnis der Notwendigkeit aller Erschei-
nungen und, in Verbindung damit, die Einstellung unseres Lebens
in diese Notwendigkeit zu rechnen. Gewiß eignet einer Geisteshaltung,
die sich der Einsicht in die Notwendigkeit alles Seienden beugt,
das Kennzeichen der Größe; die Unterstellung unseres Wollens und
Handelns unter das Gesetz der Notwendigkeit ist als eine heroische
Tat der Freiheit zu würdigen. Keine Frage, daß in einzelnen Fällen ein
solcher Heroismus und eine solche Freiheit vorliegen. Aber ein
Letztes scheinen sie mir nicht zu sein! Sie vertreten eine Stufe der
Weisheit, die der stürmischen Kraft des Lebens und den unerhörten
Spannungen, die nicht bloß neben ihm einhergehen, sondern einen
wesentlichen Teil seines Gehaltes ausmachen, nicht gerecht wird.
Unser Dasein will nicht bloß Ruhe und Ausgleich; tief in unserem
Willen steckt der Drang nach Auflehnung und Unruhe, nach Durch-
brechung der überlieferten Bindungen, nach Ungehorsam gegen Gottes
Gebote. Was würde aus dem Leben, wenn es sich dem Plan der Ge-
setze vorbehaltlos fügen und seine Freiheit nur in der Anerkennung
ihrer Macht und in einem entsprechenden Handeln betätigen würde?
Der humanistische und klassizistische Freiheitsbegriff, wie ihn in groß-
artiger Form z. B. Friedrich Schiller in seinen philosophischen Ge-
dichten verbildlicht, erschöpft nicht die Dämonie der Freiheitsidee.
Und diese Dämonie der Freiheitsidee, das Numinose, Über-
rationale und Übermoralische in ihr, wirkt sich nun in der Meta-
134
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
physikineinemgeradezu unerhörten gedanklichen Durch-
bruch durch die Welt der Erscheinungen und durch die
scheinbare unverletzliche Strenge ihrer Gesetzlichkeiten
aus! Das geschieht dadurch, daß wir den Mut, ja, die Dreistigkeit
und Vermessenheit zu einer Bewertung der Welt aufbringen. Wir
vollziehen diese Bewertung durch die oben erwähnte Aufstellung
eines absoluten Wertes und Sinnes, eine der kühnsten metaphysi-
schen Handlungen des menschlichen Geistes, durch die er schlecht-
weg über sich hinaustritt, durch die er sich nicht bloß den Anschein
gibt, als könnte er Gott in die Karten gucken, sondern durch die
er sich geradezu zur Rolle Gottes erhebt. Denn diese Bewertung ist
nicht der bloß subjektiv gültige Ausdruck einer Deutung und somit
nicht bloß auf den Geltungsumfang einer solchen Deutung be-
schränkt. Die metaphysische Weltbewertung geht nicht von dem
Standpunkt des interpretierenden Bewußtseins aus, sondern von
der Überzeugung, daß „hinter“ den Erscheinungen ein objektiver
und absoluter Wert und Sinn primär vorhanden ist. Also ist jene
Wertaufstellung etwas ganz anderes als die erst hinterherkommende
Folge der Hypostasierung und Verdinglichung eines primären Wert-
erlebnisses. Sie ist sozusagen kein psychologischer Vorgang, sondern
besitzt die denkbar größte Ähnlichkeit mit dem Wesen und der
Naivität des religiösen Glaubens. Auch dieser Glaube verwesent-
licht nicht erst seine Inhalte, um die objektive und absolute Sphäre
der Religion aufzubauen, sondern er ist umgekehrt von der Über-
zeugung abhängig, daß a priori vor ihm eine solche absolute objektive
Sphäre tatsächlich besteht.
Für die Metaphysik ist in einer ganz entsprechenden Weise der
absolute Wert keine „bloße“ Idee, nicht bloß ein regulatives Prinzip,
sondern eine absolute Wirklichkeit. Und das moralische Motiv ist
nicht bloß ein subjektiver Beweggrund in dem Bewußtsein des Meta-
physikers, es ist vielmehr eine objektive Größe, von der eine objekti-
vierende Kraft ausgeht. Und diese Kraft bekundet und bewährt
ihre Wirklichkeit und die Wirklichkeit ihrer Leistung in einer wagnis-
reichen Durchbrechung der Erscheinungswelt und ihrer Ordnungen,
in der metaphysischen Transponierung der Erscheinungen auf einen
höheren, ihnen überlegenen Sinn, dessen Abglanz, dessen Nieder-
schlag, dessen „Erscheinungen“ sie eben sind. Nicht für die positive
Wissenschaft, nur für die Metaphysik, und nächst ihr dann für die
Religion, sind die Erscheinungen eben nur „Erscheinungen“; für die
positive Wissenschaft dagegen sind sie reale Gebilde schlechthin.
3. Das moralische Motiv
135
Das ist der Punkt, auf den wir hinstrebten: Der eigenartige
Begriff der Erscheinung, wie ihn die Metaphysik in
strengem und nie zu verwischendem Gegensatz zu den
positiven Wissenschaften gebildet hat. Gebildet in dem Akt
deutender Wertung und Herabsetzung der Erscheinungen als des
Relativen gegenüber dem Absoluten, als des Vergänglichen gegen-
über dem Ewigen, als des Zeitlichen und Räumlichen gegenüber dem
Unzeitlichen und Unräumlichen des absoluten Wertes. Indem die
Metaphysik irgendeine Gegebenheit „nur als eine Erscheinung“ auf-
faßt und wertet, hat sie die Positivität derselben und die Formen
der Kausalität und des Raumes und der Zeit, in denen diese Ge-
gebenheit sich darstellt, aufgelockert, durchbrochen, sozusagen außer
Spiel gesetzt, und sie hat, was zweifellos die wichtigste seelische Folge
dieser Tat ist, einen ungeheueren Druck von unserer Brust genommen.
Hier äußert sich das moralische Motiv und die mora-
lische Funktion der Metaphysik in ihrer ganzen Stärke.
Hier wird der wesenhafte Antrieb offenkundig und sinnfällig,
der den Menschen zu der Bildung metaphysischer Spekulationen
wieder und wieder bewegt. Es sind der Wille und die Sehnsucht
nach einer Befreiung von jenem Drucke, den die Relativitäten des
Lebens bei aller ihrer Relativität so herbe und mitleidslos auf uns
ausüben. Eine der merkwürdigsten Paradoxien der Wirklichkeit
äußert sich darin, daß die Erscheinungen des Lebens und die
Bindungen und Regeln, denen sie selber unterstehen, und die von
ihnen ausgehen, so relativ und vorläufig, so willkürlich und bedingt
diese durch ihre Herkunft aus dem empirischen Dasein auch sind,
doch mit der Gewalt einer scheinbar unzerreißlichen Fesselung zu
wirken drohen und den Menschen zu dem unfreiwilligen Verzicht
auf Selbstbestimmung und Autonomie drängen. Die Welt der
Relativitäten neigt dazu, wie eine absolute Macht aufzutreten. Sie,
in der alles bedingt, gesetzlich geordnet, in Regeln verflochten ist,
muß den kostbarsten Wert des Menschen, seine innere Selbständig-
keit und Freiheit, gefährden und damit den eigentlichen Sinn und
Bedeutungsgehalt unseres Lebens verletzen. Das Relative strebt
dahin, sich als absolut und als unbedingt zu setzen. Zwar vermag
es nur eine fiktive Absolutheit und eine Pseudounbedingtheit zu
erreichen. Trotzdem ist damit die Gefahr gegeben, daß dem wahr-
haft Absoluten sein Einfluß und sein Platz strittig gemacht werden.
Gegen die unrechtmäßige Besitzergreifung eines Rechtes, das
nur der dämonischen Absolutheit der Freiheitsidee innewohnt, und
136
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
das sich daher seine Mehr-als-Rationalität und Überkausalität nicht
kürzen oder rauben lassen will, wehrt sich die Freiheit ebensosehr,
wie sich der Mensch gegen seine Verendlichung und gegen die Ein-
sperrung seines Daseins in die endlichen und diesseitigen Zusammen-
hänge auflehnt. Er befürchtet, gegen den Sinn seines Seins zu ver-
stoßen und sein Allerheiligstes zu entweihen, wenn er nicht der
Pflicht eingedenk und treu bleibt, die darin sich ausspricht, das
ewige ,,Du sollst“ in seiner Brust nicht zu schänden. Mit welchem
unablässigen Bemühen und mit welchem durchschlagenden Erfolge
haben seit Beginn der Neuzeit alle positiven Wissenschaften im Verein
daran gearbeitet, uns die Überzeugung unserer Abhängigkeit von
den naturhaften und den geschichtlichen Wirkungszusammenhängen
nahezubringen und diese Überzeugung zu festigen. Haben sie uns
dadurch aber nicht vor uns selber in unserem Gefühl und in unserem
Urteil verendlicht und den fatalistischen und fatalen Glauben ge-
stärkt, daß wir mit allem, was wir sind und haben, nur ein ab-
hängiges Glied und ein ohnmächtiger Kreuzungspunkt allgemeiner
Geschehnisse bedeuten? Die seelischen Auswirkungen, die sich aus
der Entstehung und Vertiefung dieses Glaubens ergeben mußten
und ergeben haben, wollen wir an der vorliegenden Stelle nicht
schildern, so wertvoll eine solche Ausmalung für den Zweck der
Selbsterkenntnis des modernen Menschen auch sein würde.
e. Die sittliche Aufgabe und Leistung der Metaphysik.
In unserem Zusammenhang nämlich beschäftigt uns vor allem
die Frage, welche Instanz uns zu dem Glauben, den wir nicht ent-
behren können, verhilft, daß wir doch eben mehr als solche ab-
hängigen Glieder und soziologischen Kreuzungspunkte darstellen.
Hier setzt nun, neben der Macht der Religion, die Meta-
physik ein. Und sie tut es kraft des moralischen Motivs.
Die gedankliche Voraussetzung für diese unabweisbar erforderliche
und ungeheuer eingreifende Lebenswendung ist nun jene freie
Wertung des ganzen menschlichen Daseins und aller Erscheinungen,
von der wir hier sprechen. Wie aus der Durchsetzung des intellek-
tuellen Motivs der Gewinn einer umfassenden Welterkenntnis
hervorgeht, so folgt aus der Erfüllung des moralischen Antriebes
zur Metaphysik der Gewinn einer umfassenden Weltbewertung.
Eine solche Bewertung ist, weil sie zu den ursprünglichen Be-
tätigungen des menschlichen Geistes gehört, nur möglich auf der
3. Das moralische Motiv
137
Grundlage der Freiheit. Diese Freiheit ist, wenn die ganze
-N Tiefe ihrer Kraft und ihres Gehaltes wirklich und wirksam wird,
viel mehr als ein bloß theoretischer Rund- und Weitblick über die
Fülle des Lebens. Sie ist eine nicht mehr weiter definierbare
Geisteshaltung, vielleicht die allereigentümlichste, wie ein
Wunder erscheinende Fähigkeit inmitten der Fesseln, in die wir
eingespannt sind. Keine Psychologie, keine Soziologie, überhaupt
keine empirische Betrachtung vermag dieses Wunder der Freiheitstat
zu erklären. Ich stehe keinen Augenblick an, in ihr eine geradezu
mythische Begabung zu erblicken und zu würdigen, nicht bloß
vergleichbar, sondern überlegen jenen ungeheueren geistigen oder
seelischen oder körperlichen Fähigkeiten, die der alte Mythos seinen
Helden und Lieblingen beilegte.
Diese Freiheitstat ist, selbst wenn sie „nur als Idee“ oder gerade
weil sie nur als Idee möglich und sinnvoll ist, so recht der Gegen-
stand und auch das Ziel der Metaphysik, deren Untersuchungs-
bereiche und Sinnmittelpunkte, wie sich immer wieder zeigt, die
dialektischen Züge des Geistes und schließlich seine Dialektik selber
sind. Daß und inwiefern sich in diesem Umstand eine wesentliche
Richtung der Autonomie der Metaphysik ausprägt, werden
wir in einem späteren Kapitel noch sehen, wo wir den Eigenwert
der Metaphysik überhaupt auf das engste mit der Idee der Dialektik
verbinden und diese Idee schlechthin als dasjenige Prinzip auszu-
zeichnen und zu beglaubigen suchen, durch das die Metaphysik ihre
Begründung und Sicherung ebensosehr wie die ihr eigentümliche
Methode erhält. Ich greife hier Andeutungen auf, die in den voran-
gehenden Darlegungen bereits häufig gemacht worden sind, und in
denen die Autonomie der Metaphysik aus der Idee der Dialektik
heraus verstanden wurde. Zugleich nehme ich absichtlich spätere
und ausführlichere Untersuchungen vorweg, die dem gleichen Punkte
gelten, weil mir seine Behandlung und Klarstellung von der größten
Tragweite für die Aufhellung und Rechtfertigung des ganzen Planes
unserer Arbeit ist. Durch die Überlegungen, die wir im Augenblick
anstellen, klärt sich unsere Absicht in weitgreifendem Umfange
voraussichtlich dadurch, daß wir die einzelnen Wurzeln aufzudecken
unternehmen, aus denen als den tragenden Motiven das Gewebe der
Dialektik hervorwächst.
Besonders dürfte durch die gegenwärtig vorgenommenen Er-
örterungen deutlich geworden sein, daß das moralische Motiv in
entscheidendem Ausmaße die Metaphysik aus dem Umkreis einer
138
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Geisteshaltung von nichts als theoretischer Natur hinaushebt,
hinausdrängt, sie über eine solche Haltung hinaus zur Kraft prakti-
scher Stellungnahme der Welt und ihren Aufgaben gegenüber
steigert. Die Metaphysik will mit gutem Recht Wissenschaft sein
und bleiben. Und es ist ein Zeichen kleinlicher Voreingenommen-
heit oder des Haftens an irgendeinem Dogmatismus, ihr den Wissen-
schaftscharakter absprechen zu wollen. Ein solches Absprechen
erfolgt meist auf Grund einer Vergleichung der Metaphysik mit den
exakten Naturwissenschaften. Das ist ein ungerechtes Vorgehen.
Die Metaphysik trägt, was wir später noch eingehend zeigen werden,
einen Wissenschaftscharakter und einen begrifflichen Geltungswert
in sich, die nur durch ihnen selber entnommene Kriterien festgesteilt
und gerechtfertigt werden können. Den Inbegriff dieser Kriterien
stellt, wie uns nun bekannt ist, die Geisteshaltung der Dialektik
dar. Aber die Eigentümlichkeit dieser Geisteshaltung spricht sich
mit unverkennbarem Nachdruck in dem Willen und in der Fähigkeit
aus, die Wirklichkeit nicht bloß als ein einheitliches System zu ver-
stehen, sondern sie auch einer durchaus herrisch vorgehenden Be-
wertung zu unterwerfen. Ja, damit noch nicht genug, so drängt die
Dialektik dieser metaphysischen Geisteshaltung auch noch weiter
zur Tat, zu einem praktischen Eingreifen in die Welt, zu einer Ge-
staltung der irdischen und geschichtlichen Verhältnisse gemäß der
voraufgegangenen Grundbewertung.
Welches der tiefste Punkt dieser praktischen Stellungnahme,
dieses Ankämpfens gegen die Welt ist, das werden wir alsbald bei
der Erörterung des Wesens und der Wirksamkeit des religiösen
Motivs der Metaphysik sehen. Doch schon jetzt können wir mit
aller Deutlichkeit wahrnehmen, daß und wie die Kraft des morali-
schen Faktors in der Metaphysik es ist, der sie über eine bloß
reflexionsmäßige Haltung hinausführt zu einer lebendigeren und
tatkräftigeren Teilnahme am Leben. Was die Tiefsten und Reichsten
unter den Menschen, d. h. eben diejenigen, die am tiefsten im
Lebenskämpfe stehen, der keineswegs nur ein äußerer und in eine
äußere Erscheinung tretender zu sein braucht, wieder und wieder
zur Metaphysik hingezogen hat und hinzieht, das ist nicht das aus-
schließliche Verlangen, von ihr eine begriffliche und abstrakte Auf-
klärung über das Wesen der Welt zu erhalten. Ungleich stärker
wirkt der Wunsch, durch den Einblick in die Bestimmungsgründe
und in den Gang der Wirklichkeit eine innere geistige Freiheit und
dadurch eine sittliche Bereicherung und Vertiefung des Lebens zu
3. Das moralische Motiv
139
gewinnen. Sollte Plato, der Gründer der Dialektik, ihr unter allen
Wissensformen und Wissenszweigen nicht deshalb die Palme ge-
reicht haben, weil sie eine der gedanklichen Grundlagen und An-
triebe für die Erreichung der Geisteshaltung der Freiheit
abgibt und uns darum seelisch und moralisch in den Stand setzt,
bei dem Zusammenstoß mit der Wirklichkeit unsere Autonomie
nicht einzubüßen?
Doch auch die deutschen Metaphysiker, an ihrer Spitze Kant
und Fichte, und ihnen wäre als ein Gesinnungsgenosse in dieser
Hinsicht Rudolf Eucken beizuzählen, billigen der Metaphysik diese
moralische und erzieherische Aufgabe und Pflicht zu, ja sie fordern
von ihr die Berücksichtigung einer solchen Aufgabe und die be-
gründete Weisung von Wegen zur Erfüllung einer solchen „Be-
stimmung“. Die Erkenntnis der Wichtigkeit dieser Leistung war
für die deutschen Metaphysiker selber nicht die letzte Veranlassung,
Metaphysik zu treiben und ihr ein mehr als theoretisches Interesse
zu widmen. Sie beschäftigen sich mit der Metaphysik und empfehlen
diese Beschäftigung nicht im Sinne einer bloßen Theorie der Weis-
heit, deren wesentliches Ergebnis in einer weisen Zurückhaltung
gegenüber dem Leben liegen würde. Sie geben sich ihr hin,
um die gesicherte Voraussetzung für eine von Weisheit
getragene Lebensaktivität zu schaffen, ganz gleich, welchen
Gebieten der Kultur diese Aktivität in der Gestalt fördernder Ein-
sicht bzw. in der Energie zu praktischen Reformen zugute kommen
mag.------
Wie vieles wäre noch über diese Leistung der Metaphysik zu
sagen, die sich als der seelisch und moralisch überzeugendste Beleg
für die Kraft und die Tragweite des moralischen Motivs darstellt!
Seine Kraft ist es, auf Grund deren der Metaphysik nichts Ge-
ringeres als die Bedeutung einer Mission für unser Leben
und für die geschichtliche Kultur zuerkannt werden muß.
Doch ist für das Verständnis und für die Durchführung dieser Mission
die höchst eigentümliche Wendung und Veränderung nicht zu ver-
gessen, die von seiten der Metaphysik mit dem Begriff und dem
Wesen der Erscheinung vorgenommen wird. Indem die moralische
Kraft der Metaphysik den Zusammenhang der Erscheinungen auf
den Hintergrund eines ihnen überlegenen und allmächtigen Sinnes
und Wertes aufträgt, ihn von diesem Sinn aus deutet und ver-
teidigt, lockert und mindert sie seinen Druck und seine Schwere.
Sie schafft auf diese Weise unserer metaphysischen Sehnsucht die
140
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Möglichkeit einer adäquaten Befriedigung, denn sie weist sie auf die
Existenz einer absoluten Welt hin, die uns die sichere Gewähr für
die Verwirklichung der ewigen Aufgaben unseres Lebens bietet,
weil diese Existenz die Welt der ewigen Aufgaben schlechthin, weil
sie die absolute Sinnwelt, platonisch gesprochen, die Welt der Ideen
ist. Dieser Durchbruch ,,aus der Sinne Schranken in die Freiheit der
Gedanken“ zu „den heitern Regionen, wo die reinen Formen wohnen“,
ist nicht bloß eine Tat, die wir der idealistischen Kunst, sondern eine
Erhebung, die wir in nicht geringerem Grade der idealistischen Meta-
physik und dem in ihr wirksamen moralischen Motiv verdanken.
4. Das ästhetische Motiv.
Die Eigentümlichkeit und die Autonomie der Metaphysik sind
nicht vollauf verständlich und begründet, wenn an ihrer Erzeugung
ausschließlich das intellektuelle und das moralische Motiv beteiligt
wären. Wir wissen, wie schwer es ist, mit einwandfreier Sicherheit
eine Grenze zwischen Sittlichkeit und Kunst zu ziehen, und wie oft
führende Ethiker, aber noch häufiger führende Ästhetiker, eine un-
aufhebbare Wechselbeziehung zwischen jenen beiden Gebieten, in
unserer Sprache eine Wechselbeziehung zwischen dem moralischen
und dem ästhetischen Motiv, aufgedeckt haben und zu fördern
suchten. Nicht etwa in der etwas spießbürgerlichen Auffassung, als
sei der Kunst die ausdrückliche Aufgabe zu stellen bzw. gestellt,
sittlich und erzieherisch zu wirken, nämlich durch die Entfachung
edler Leidenschaften wie z. B. durch die Erweckung einer hohen Be-
geisterung. Sondern so, daß sie für den Gedanken eintreten, die
Form des sittlichen Handelns und diejenige Gedankenbildung, die
zu einem solchen Handeln führt, tragen die Züge künstlerischer
Gestaltung bzw. müssen solche Züge tragen. Dabei ist diese künstle-
rische Gestaltung keineswegs im Sinne einer nur äußerlichen Ein-
kleidung und Zurechtmachung zu verstehen. Sie gehört vielmehr
organisch und innerlich zu dem Wesen des sittlichen Wollens und
Handelns als die ihm unerläßliche Form seiner Bekundung. Ja noch
mehr: Das höchste sittliche Handeln spricht sich, gleich der höchsten
Form der Erkenntnis, unweigerlich in der Gestalt der Schönheit
aus. Das vollendet Wahre und das vollendet Gute und das vollendet
Schöne stehen, wie Plato lehrt, in einer dialektischen Korrelation
zueinander, wobei es schwer, wenn nicht unmöglich ist, anzugeben,
welchem Prinzip der Primat in der Herstellung dieses Netzes frucht-
4. Das ästhetische Motiv
141
barster Wechselverschlingungen eignet. Vielleicht wären auch die
Herausstellung eines einzelnen Prinzips und die Zuerteilung des
Primates an dasselbe ein Verstoß gegen den Sinn und gegen den
Vollgehalt der Dialektik, deren vielbewegte Einheitlichkeit durch
ein solches Verfahren eine Verletzung erfahren würde. Immer wieder
ergibt sich die Einsicht, daß Platos Ideenlehre die höchste und um-
fassendste Ausprägung und Anwendung der Idee der Dialektik dar-
stellt, und daß alle folgenden Systeme der idealistischen Metaphysik
nur Zweige an dem platonischen Grundstamme sind, Zweige, die
die Weiterführung einzelner Richtungen der Ideenlehre in Einzel-
entwicklungen verkörpern.
Die deutschen Metaphysiker nehmen nun auch noch nach einer
anderen Richtung als derjenigen, die wir weiter oben gekennzeichnet
haben (vgl. S. 127), eine Vereinseitigung der Totalität der platoni-
schen Dialektik vor. Wie sie einen spezifisch ethischen Idealismus
entwickelt haben, so haben sie auch unter beschränkender Aus-
nutzung der platonischen Idee der Schönheit einen spezifisch
ästhetischen Idealismus ausgebildet. Das größte Beispiel ist hier die
Metaphysik Friedrich Schillers, wie sie sowohl in seinen philo-
sophischen Gedichten als auch in seinen philosophischen Abhand-
lungen, vor allem in den Ästhetischen Briefen, in schlechthin klassi-
scher Form niedergelegt ist. Da diese ästhetische Metaphysik und
die Rolle, die sie der Kunst zuerkennt, allgemein bekannt sind,
erübrigt es sich, hier über diese Dinge noch eingehend zu handeln.
Aber ein Wort des Hinweises auf Schillers Platonismus ist nicht
entbehrlich. Wie tief Schiller selber sich mit dem originalen Plato
beschäftigt haben mag, steht nicht zur Erörterung. Aber der Geist
des Platonismus, und zwar unter ganz besonderer Betonung des
ästhetischen Momentes und der Wichtigkeit desselben in der Ideen-
lehre und für dieselbe war ihm durch Shaftesbury und durch seinen
Lehrer auf der Karlsschule und späteren Freund Abel, einen be-
geisterten Anhänger des englischen Philosophen, zu dauerndem
Besitztum zugeführt worden. Es ist ungemein lehrreich, zu ver-
folgen, wie tief die ästhetisch-harmonistische Weltansicht Shaftes-
burys in Schiller Wurzel gefaßt und welchen Einfluß sie auf seine
Weiterbildung der kantischen Philosophie, d. h. auf seinen Versuch
der Überwindung des angeblichen kantischen Dualismus von Sinn-
lichkeit und Sittlichkeit, von Neigung und Pflicht ausgeübt hat.
Wir berühren hier absichtlich nicht die Frage, ob Schiller als ein
eigentlicher Kantianer anzusehen ist, in welchem Ausmaße er auf
142
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
kantischem Boden steht, und ob seine ästhetische Metaphysik eine
folgerichtige Weiterführung und Zuendeführung oder aber eine Um-
biegung und Abbiegung des kantischen Kritizismus im Sinne der
Gewinnung eines Harmonismus bedeutet. Eines Harmonismus, der
Kant fremd war, und dem Kant auch bewußtermaßen nicht zu-
stimmte, wie seine Entgegnung an Schiller in der berühmten
Anmerkung in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-
nunft“ deutlich erkennen läßt.
Die Grundlage der Metaphysik Schillers ist die typische huma-
nistische Tendenz zum Harmonismus. Mag dieser Harmonismus von
Schiller selber als eine eigenwüchsige philosophische Theorie erdacht
und er bei ihrer Durchführung nur von Shaftesbury unterstützt oder
mag sie ihm durch den letzteren überhaupt erst übermittelt worden
sein, das bleibe hier dahingestellt. Die Hauptsache ist, daß durch
Schillers ästhetischen Idealismus der ästhetische Zug in der platoni-
schen Philosophie und im Zusammenhang damit auch der Platoniker
Shaftesbury einen außerordentlich tiefen Einfluß auf das deutsche
Geistesleben erhielten. Sein Verdienst in philosophischer Beziehung
ist es, daß dieser wichtige Typus der allgemeinen Metaphysik zu
einer ungemein einleuchtenden Darstellung, ferner zu einer un-
gemeinen Einwirkung sowohl auf die Ausbildung der verschiedenen
ästhetischen Theorien, als auch auf die allgemeine Kunstauffassung
und nicht zuletzt auf die Schätzung derjenigen Bedeutung, die die
Kunst in der Allgemeinheit des Lebens und der geschichtlichen
Kultur besitzt, gelangte.
Was wir in unserem Zusammenhang als das ästhetische Motiv
bezeichnen, das nennt Schiller den „Spieltrieb“, der ganz autonom
den „Staat des schönen Scheins“ errichtet. Während der Dichter-
Philosoph dieses Reich des Scheins aber als eine selbständige und
eigene Welt sowohl vom „Theoretischen“ als auch vom „Prakti-
schen“ absondert und ihm eine überlegen-verbindende Stellung zu-
billigt, erblicken wir in der Auswirkung des ästhetischen Motivs
nur die eine Bezugsrichtung und Bezugsschicht innerhalb der
reichverschlungenen Gesamtverfassung der metaphysischen Wirk-
lichkeit. Deshalb müssen wir fragen, welchen Anteil im besonderen
die Kraft der ästhetischen Funktion für den Aufbau dieser Wirk-
lichkeit beisteuert. Diese Leistung besteht im wesentlichen in der
Erzeugung derjenigen eigentümlichen Existenz, die wir, zunächst
im Unterschied zu der gewöhnlichen empirischen Daseinsweise, als
die im spezifischen Sinne ästhetische auffassen. Das heißt: Es
4. Das ästhetische Motiv
143
ist eine Existenzart, für die uns die Sprache keinen anderen und
besseren Ausdruck zur Verfügung stellt als die Bezeichnung des
„Scheins“.
Was die Erreichung eines wirklichen Verständnisses dessen, was
dieser Ausdruck bezeichnet, zunächst erschwert, das ist die Ver-
tretung und Beibehaltung eines typischen psychologistischen Miß-
verständnisses. Es handelt sich hier nicht um eine Welt der puren
Einbildung, der kein eigentlicher Realitätswert beizumessen wäre.
An der adäquaten Auffassung des Begriffes des Scheines gehen alle
diejenigen ästhetischen und ästhetisch-psychologischen Theorien
instinktlos vorbei, die für jene Kennzeichnung solche Begriffe wie
Illusion, Vision, Fiktion anwenden. Denn sie deuten die gemeinte
Existenz schlechtweg um zu einer Irrealität oder belassen ihr im
Höchstfälle nur die Geltung einer subjektiv bedingten Wirklichkeit.
Mit dieser eingeschränkten Geltung deckt sich die Realität der ästhe-
tischen Wirklichkeit der Metaphysik keineswegs. Die positivistischen
und psychologistischen Kritiker der Metaphysik verwechseln, wie wir
weiter oben bereits sahen, die psychologische Auffassung und
Deutung, die sie vom Wesen der Metaphysik bieten, mit dem Wesen
der Metaphysik selber. Das eine ist eine Psychologie der Meta-
physik, die auf Grund ihrer ganzen Methode von der Metaphysik
nur denjenigen Teil erfaßt, der aus der Gemütseigenart des Meta-
physikers hervorgeht und in einer bestimmten Zahl eigentümlicher
Erlebnisse besteht, und das andere ist die Metaphysik selber und die
ihr eigentümliche Realität.
In ihr liegt ein Sein von gleichfalls objektivem Charakter, nur
anders als die Objektivität der empirischen Welt und anders als die
Subjektivität der Erlebniswelt. Wie ist dann diese Realität der
Metaphysik gemeint? Soweit sie die Wirklichkeit der Erkenntnis
ist, haben wir sie als Leistung des rationalen Motivs ins Auge gefaßt;
soweit sie die Wirklichkeit der Wertwelt darstellt, ist sie von uns
als die Schöpfung des moralischen Motivs aufgewiesen worden. Wir
fragen also aufs neue, welcher Zug in der metaphysischen Realität
auf die Wirksamkeit gerade des ästhetischen Motivs zurückzuführen
ist. Die Anwort ist nicht schwer. Das intellektuelle Sein der Er-
kenntniswelt ist durch die Logik des Begriffs geformt; das sittliche
Sein der Wertwelt ist durch die Energie der sittlichen Überzeugung
und durch die Setzungen des unbedingten Pflichtgefühls gebildet.
Die metaphysische Welt aber, die sowohl die Erkenntniswelt als
auch die Wertwelt in sich umfaßt, geht über diese beiden Welten
144
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
synthetisch hinaus. Und dieses Hinausgehen über den Geltungs-
bereich sowohl von Erkenntnis und Lehre als auch von Wert und
Sinn ist nun die Tat des ästhetischen Motivs!
Inwiefern? Der Zusammenhang von ideellen Setzungen, der den
Inbegriff der metaphysischen Wirklichkeit ausmacht, ist natürlich
kein kausaler Zusammenhang. Aber auch kein rein logischer! Sehr
oft und sehr treffend ist auf die große Zahl eigentümlicher logischer
Widersprüche und merkwürdiger gedanklicher Umkippungen auf-
merksam gemacht worden, die nicht etwa bloß philosophischen
Leistungen zweiten und dritten Grades, sondern auch den klassischen
Systemen eigen sind. Welche Inkonsequenzen sind bei Plato und
Aristoteles aufgedeckt worden. Und bis zur Stunde ist die kantische
Philosophie ein bevorzugter Tummelplatz zur Betätigung eines
Scharfsinnes, der sich in der überheblichen und krittelnden Bloß-
legung von Widersprüchen schon in den Grundlagen und Voraus-
setzungen des Kritizismus gefällt. In vielen Fällen ist das Vor-
handensein solcher Widersprüche zuzugeben. Doch setzen wir sofort
und mit Betonung hinzu, daß dergleichen logische Fehler für den
Wert der Leistung belanglos sind. Denn wie die großen meta-
physischen Schöpfungen aus letzten und tiefsten Erlebnissen mit
überpersönlicher Notwendigkeit hervorbrechen, so setzen sie sich
auch in die Wirklichkeit mittels einer Formgebung um, die sich
niemals restlos von der Dialektik des Irrationalen und des Geheimnis-
vollen befreit, ja, für die die eindeutige Folgerichtigkeit eines nichts
als logischen Aufbaues geradezu sinnwidrig wäre.
Es sind, um es in Kürze zu sagen, ästhetische Prinzipien, die
diesen Aufbau mitbedingen und die Loslösung der Metaphysik von
dem Mutterschoße des Erlebnisses mitermöglichen und mitsichern.
Welche oft ausschlaggebende Rolle spielt das ästhetische Prinzip
gliedernder Architektonik und trichotomischer Anordnung, wie die
Aufstellung der Kategorientafel Kants zeigt. Aber diese Neigung
zur künstlerischen Dreigliederung ist bei ihm nicht bloß auf die
Anordnung der Kategorien beschränkt. Wir haben eine ganze
Anzahl von Untersuchungen, die den allgemeinen Einfluß eines
solchen architektonischen Verfahrens bei Kant aufdecken. Manche
von ihnen erlauben sich die bequeme Hinzufügung eines Tadels,
als sei Kants Nachgiebigkeit gegen diese Neigung eine entbehrliche
Äußerlichkeit und ihre Folge eine gewisse umständliche Künstelei.
Dem ist keineswegs so. Die Bevorzugung des Verfahrens der Drei-
teilung findet ihr Recht in der übrigens von Kant selber gesehenen
4. Das ästhetische Motiv
145
dialektischen Arbeitsweise des Verstandes, die unverkennbar ein
trichotomisches Verfahren und Verhalten zeigt. Und dieser Hinweis
auf die enge Verknüpfung zwischen der philosophischen Konstruktion
und dem künstlerischen Motiv des Dreitaktes und des Dreiklanges
legt es nahe, des fraglos außerordentlich bedeutsamen Einflusses
zu gedenken, den künstlerische Vorstellungen auf die Ausbildung
der berühmten dialektischen Methode der spekulativen Philosophie
ausgeübt haben. Diese Methode ist eines der allerkompliziertesten
Verfahren, das jemals von der Philosophie und für die Philosophie
ersonnen worden ist. Der Grund dieser Komplikation liegt darin,
daß wohl keine andere Methode ein so umfassender Abdruck und
Ausdruck der dialektischen Problematik des Geistes ist, wie sie.
In der Tat stellt sie die Höchstform der spekulativen Systematik
dar und birgt in sich in der denkbar weitestgreifenden Verschlingung
sämtliche Funktionen und Faktoren, über die der konstruktive Geist
verfügt.
An einer der ersten Stellen im Geflecht der dialektischen Methode
wirkt nun das ästhetische Motiv, und es würde eine eigene Unter-
suchung erfordern, diese seine Wirksamkeit deutlich ans Licht zu
rücken. Verfolgt man diejenige gedankliche Bewegung, die die Meta-
physik bei der Benutzung der dialektischen Methode betätigt, so
stellt sich ungezwungen der Eindruck einer ästhetischen oder doch
von ästhetischen Tendenzen mitbestimmten Entwicklung des be-
grifflichen Zusammenhanges ein. Der Vergleich dieser Gedanken-
bewegung mit demjenigen ästhetischen Prozeß, in dem sich eine
künstlerische Idee und ein künstlerisches Erlebnis zur Objektivität
eines Kunstwerkes gestalten, zwingt sich der Beachtung auf. Doch
soll, was wiederholt sein mag, damit nicht behauptet werden, daß
die dialektische Methode nun überhaupt nichts anderes als der
begriffliche Niederschlag und die in die Sphäre der Logik über-
tragene Betätigungsart des ästhetischen Motivs wäre. An einer
solchen Behauptung hindert nicht bloß die in der Dialektik so über-
aus starkeTechnik der Deduktion aus allgemeinsten Voraussetzungen,
sondern noch ein anderer Umstand, der bei der Betrachtung dieser
Methode die Aufmerksamkeit immer wieder fesselt. Es ist sehr
schwer, das Wesen dieses Umstandes in Worte zu fassen und es
begrifflich durchsichtig zu machen. Was gemeint ist, ist folgendes:
So sehr der Zusammenhang der Begriffe innerhalb jener Methode
auch logisch und ästhetisch begründet ist, so spielt doch in seinem
Hintergründe noch eine andere, geradezu geheimnisvolle Kraft, die
Liebert, Dialektik. 10
146
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
an dem Hervorgehen des einen Begriffes aus dem anderen mitbe-
teiligt ist, eine mitentscheidende Rolle. Die Rationalität und auch
die Logik des dialektischen Zusammenhanges überschreiten im
großen und ganzen nicht wesentlich die Geltung von Formprinzipien.
Diese Formprinzipien selber werden jedoch erst möglich und hervor-
getrieben durch die Wirksamkeit einer geheimnisvollen Spontaneität,
die, wie sie überhaupt zum Wesen des Geistes gehört, auch in der
dialektischen Methode zum Austrag kommt.
Der Aufbau eines metaphysischen Systems weist eine ganze Reihe
von Ähnlichkeiten mit dem Aufbau eines Romans oder eines Dramas
auf, ohne daß damit auch nur im entferntesten eine Gleichheit zwischen
beiden Gestalten des Geistes behauptet werden soll. Doch in den Zügen,
in denen ein solches System sich entwickelt, zeigt sich eine eigen-
tümliche dialektische Konsequenz, die rational nicht zu berechnen
und bloß mit den Mitteln der Logik nicht zu erreichen ist. Der Rhyth-
mus ist eines der ästhetischen Prinzipien der metaphysischen Kon-
struktion, sodaß wir mit Eduard Norden sagen können: „Rhythmisch
schwingt der Logos“1). Aber neben jenem ästhetischen Prinzip wirken
in der Struktur der Metaphysik noch zahlreiche andere Kunstformen
und Stile, nicht bloß im Sinne äußerer Gestaltung, sondern mit der
Kraft innerer, schöpferischer Bedingungen.
Über diesen Punkt wollen wir hier jedoch um so weniger sprechen,
als er im Fortgang unserer Arbeit sowieso mehrfach zur Erörterung
gelangen wird. Jetzt mag genügen, darauf hingewiesen zu haben,
daß in der berühmtesten philosophischen Methode, und das ist die
Dialektik, ein starker ästhetischer Zug wirksam ist, wobei nur an
die Aufnahme und Verwendung des ästhetischen Symbols der Drei-
heit und Dreieinigkeit, das ja auch noch sonst, z. B. in der Geschichte
der Religion, mannigfache Anwendungen erfahren hat, erinnert sei2).
*) Eduard Norden, Logos und Rhythmus; Berliner Rektoratsrede 1927, S.25.
2) Vgl. zum Ganzen die inhaltsreiche und vielseitig aufklärende Universitäts-
rede von Max Dessoir, Die Kunstformen der Philosophie, 1927. Dessoir geht darauf
aus ,,zu ermitteln, welche bleibende Notwendigkeit den philosophierenden Geist
zu den Gestalten der Dichtkunst führt und welche innere Verwandtschaft be-
stimmte philosophische Aufgaben an bestimmte poetische Formen bindet“ (S. 4).
Aber der Nachweis dieser Beziehung veranlaßt Dessoir keineswegs zu einer über-
starken Angleichung der Philosophie an die Kunst. Die entscheidenden Punkte
der Ähnlichkeit sind nach ihm die Geschlossenheit eines philosophischen Denk-
ganzen und die Rundung eines Kunstwerkes, die Wichtigkeit des Persönlichen
in beiden Gebieten und der gemeinsame Ursprung aus der letzten Tiefe. Der
wesentliche Gegensatz liegt in dem Verhältnis zur Sprache.
5. Das religiöse Motiv
147
5. Das religiöse Motiv.
a. Metaphysik und Religion.
Vergleichsweise ist das Verhältnis zwischen der Metaphysik bzw.
der Dialektik auf der einen Seite und der Kunst auf der anderen
trotzdem weniger häufig zum Gegenstände von besonderen For-
schungen gemacht worden als das Verhältnis zwischen der Meta-
physik und der Wissenschaft, das geradezu ein Lieblingsobjekt für
erkenntnistheoretische Untersuchungen darstellt. Doch mit der Zahl
von Studien, die sich auf das zuletzt genannte Problem beziehen,
kann wohl die außerordentliche Fülle ergiebiger Erörterungen wett-
eifern, die der Frage der Beziehung zwischen der Metaphysik und
der Religion gelten. Das Bestreben, eine Klärung dieser Frage, wie
nämlich Metaphysik und Religion zueinander stehen, herbeizuführen,
erwächst nicht bloß aus rein wissenschaftlichen und theoretischen
Interessen. Hier ist vielmehr noch ein anderes Anliegen im Spiel.
Es bekundet sich in der Erörterung dieses Problems die allerdings
oft geheime und unausgesprochen bleibende Überzeugung, daß
zwischen jenen beiden Geistesgestalten und Kulturgebieten eine
mehr als theoretische Verbundenheit obwaltet.
Würde eine solche übertheoretische Verbundenheit nicht wirklich
vorliegen, worauf könnte sich dann die Religionsphilosophie be-
rufen? Ihre Möglichkeit gründet sich doch darauf, daß zwischen
der Religion und der Metaphysik die Kraft eines wechselseitigen
Zusammenhaltes wirkt. Beschränkt sich dieser Zusammenhalt nur
darauf, daß die Metaphysik die Eigentümlichkeit desjenigen theore-
tischen Geltungswertes untersucht, der den religionswissenschaft-
lichen Urteilen und religionswissenschaftlichen Erkenntnissen inne-
wohnt? Mitnichten. Eine derartige Beziehung würde das Wesen
der Religion als solches noch gar nicht erfassen, in die Sphäre der
Religion selber gar nicht eindringen, von ihrer dämonischen Rätsel-
haftigkeit kein Bild liefern. Sie würde nur jene äußerliche rationale
Seite von ihr berühren, die sich in der Form einer bestimmten Er-
kenntnisgruppe darstellt und in ihrer begrifflichen Vereinheitlichung
als Religionswissenschaft oder ähnlich bezeichnet zu werden pflegt.
Wir wollen natürlich gegen das Recht einer solchen Beziehung
kein einziges Wort des Einwandes erheben. Ihr wohlbegründeter
Sinn läßt sich so aussprechen: Die Metaphysik hat unter anderem
auch die Aufgabe, die Form und die Modalität derjenigen Erkenntnis-
10*
148
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
urteile zu untersuchen, in denen sich unser Wissen von der Religion,
von ihrem Wesen und ihrer Geschichte logisch ausdrückt. Eine
solche Untersuchung wäre mit anderen Worten ein Teil der all-
gemeinen Erkenntnistheorie. Seine Absicht läßt sich am besten in
die Frage kleiden „Wie ist Religionswissenschaft als solche, nämlich
als Wissenschaft, überhaupt möglich?“ Der Ausbau der allgemeinen
Erkenntnistheorie über die Grundlegung der Mathematik und der
mathematischen Naturwissenschaften und die Biologie hinaus in
der Richtung auf die „Kritik der Geisteswissenschaften“ hat nun
auch eindringende Arbeiten gebracht, die der Behandlung jener
Frage gelten1). In einem umfassendenSystem der Religionsphilosophie
würde die Erkenntnistheorie der Religionswissenschaft eines der
wichtigsten, weil grundlegenden Kapitel darstellen.
Doch in dem Zusammenhang, der uns gegenwärtig beschäftigt,
haben wir ein anderes Verhältnis als dasjenige der angedeuteten
erkenntnistheoretischen Natur im Auge. Und dieses Verhältnis, das
Metaphysik und Religion in einen viel innigeren und wesenhafteren
Zusammenhang miteinander setzt als das erkenntnistheoretische,
gründet sich nun auf der überaus starken und immer wieder durch-
brechenden Wirksamkeit des religiösen Motivs in der Meta-
physik und auf der nicht schwächeren Wirksamkeit des
rationalen Motivs in der Religion. Hier begegnen wir nun
wieder einer dialektischen Wechselverflechtung zwischen diesen
beiden Gebieten.
Was zunächst das rationale Motiv in der Religion betrifft, so ist
seine Funktion sehr leicht durch den Hinweis darauf zu verdeut-
lichen, daß die Religion doch gleichfalls eine Art von Erkenntnis
bedeutet. Es ist zweifellos eine Einschränkung ihres Begriffes und
ihres Wesens, sie ganz und gar der Mystik gleichzusetzen. Sie ist
auch Wissenschaft vom Absoluten und zugleich wissenschaftliche Er-
kundung der Beziehung der Erscheinungswelt zu diesem Absoluten.
Auch ihre Erkenntnisart unterscheidet sich, gleich derjenigen der
Metaphysik, von der naturwissenschaftlichen und geisteswissen-
schaftlichen Form der Erkenntnis dadurch, daß sie die Erschei-
nungen ebenfalls ihrer Endgültigkeit und Positivität entkleidet und
nicht aus der Tatsächlichkeit der empirischen Zusammenhänge, in
*) Vgl. die förderlichen Untersuchungen von Georg Wobbermin, z. B.
„Religionsphilosophie als theologische Aufgabe“, Kant-Studien Band XXXI11,
1928, Heft 1—2, S. 200 ff., auch die einschlägigen Kapitel in Wobbermins
„Wesen und Wahrheit des Christentums“ 1925.
5. Das religiöse Motiv
149
denen sie stehen und wirken, versteht, sondern sie aus ihrer meta-
physischen Abhängigkeit von dem Absoluten her begreift. Auf
diese Weise bekommen die empirischen Gegebenheiten
einen neuen Charakter. Sie sind eben nur „Erscheinungen“,
durch die das Absolute hindurchblickt und hindurchwirkt. Auf diese
Weise wird der Erscheinungswelt ihre schwere Kausalität genom-
men, sie weist auf ein Höheres hin und dient diesem Höheren.
Alle Auseinandersetzungen und Berührungen des Menschen mit
der Welt sind mitbestimmt durch diejenige Auffassungs- und
Deutungsweise, der wir die Erscheinungen unterwerfen, und die die
Grundlage für unser praktisches Handeln, für seinen Sinn und für
seine Erfolge, abgibt. In jedem Zuge unseres Tuns steckt eine in den
meisten Fällen unbewußte, aber ganz unentbehrliche Interpretation
der Wirklichkeit. Doch dürfen wir diesen Akt unwillkürlicher Aus-
legung und Deutung keineswegs als eine Bewußtseinshaltung an-
sehen, die auf den Kreis einer bloß begrifflich gültigen Erkundung
beschränkt wäre. Es würde eine eigene Untersuchung erfordern,
sollte der Anteil klargestellt werden, der solchen Beobachtungen, die
scheinbar nur theoretischer Natur sind, auf unser Verhalten zum
Leben und im Leben zukommt. Ganz im Sinne Kants scheint auch
uns die Trennung von Theorie und Praxis weder begrifflich möglich
noch moralisch zulässig zu sein.
b. Die Umdeutung des Erscheinungsbegriffs.
Alles das gilt auch für unseren Fall. Die Metaphysik ist, wie wir
nicht oft genug angeben können, zwar eine theoretische, doch zu-
gleich eine mehr als theoretische Geisteshaltung und Bewußtseins-
richtung. Daß in diesem höchst eigenartigen Umstand einer ihrer
dialektischen Züge hervortritt, ist gleichfalls in diesen Zeilen wieder-
holt dargelegt worden. Begründet ist jene eigenartige Energie, die
aus der Metaphysik hervorbricht, durch die entscheidende Mit-
wirkung besonders des moralischen und des religiösen Motivs. Und
diese Mitwirkung findet nun in der nicht genug zu beachtenden
Umbildung, die der Begriff der,, Erscheinung“ in der Meta-
physik erfährt, ihren offenkundigen Beleg. In dem merkwürdigen
Prozeß der religiösen Umdeutung, der analog dem Bewertungsprozeß
der Erscheinungen durch das moralische Motiv ist, büßt die Welt
der Erfahrung ihre Eigenmacht ein; sie verliert diejenige Abge-
schlossenheit ihres Gehaltes, die sie bei einer rein positivistischen
150
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Betrachtung besitzt. Indem sie von einer absoluten Überwelt aus
begriffen und gewertet wird, mindert sich ihr positivistischer Daseins-
sinn, wird sie ihrer Selbstherrlichkeit entkleidet, entschleiert sie sich
als das, was sie „eigentlich“ ist, als eine eben nur endliche, nur
irdische Größe, die ihr Recht von einer höheren Instanz aus emp-
fängt. Um auch nur als „Erscheinung“ gelten zu können, bedarf sie
der Rechtfertigung durch das Absolute und Ewige, bedarf sie der
Bezogenheit auf dasselbe.
Ohne die wissenschaftlich feststellbare Objektivität der Er-
scheinungswelt zu diskutieren, stiftet der Geist der Religion doch
zwischen ihr und der Sphäre des Absoluten eine dialektische Ver-
bindung. Diese Verbindung hat keineswegs jenen Charakter der
„Krisis“, wie die sogenannte dialektische Theologie von Barth,
Gogarten, Brunner lehrt, die unter dem Begriff der Krisis einen voll-
kommenen Bruch und die vollständige Gegensätzlichkeit zwischendem
Relativen und dem Absoluten behauptet. Eine solche Auffassung ist
mit dem Begriff der Dialektik unvereinbar, da dieser Begriff den-
jenigen der Wechselbeziehung einschließt. Auf der anderen Seite
verhindert die von uns vertretene Idee der Dialektik auch eine gar
zu starke Angleichung des Endlichen an das Unendliche. Die Tragik
der Spannung gehört zu unseres Fleisches Erbteil. Die Dialektik
widerspricht dem gefährlichen Harmonismus, zu dem eine pantheisti-
sche Weltauffassung mehr oder minder neigt und verführt. Wir
Menschen bleiben immer in jener Dialektik zwischen dem Absoluten
und dem Endlichen, dem Transzendenten und dem Immanenten
befangen. Ebenso waltet zwischen dem Begriff des Absoluten und
dem Begriff des Relativen in logischer Beziehung eine bis zur aus-
gesprochen begrifflichen Paradoxie gesteigerte Spannung, die durch
keinen spekulativen Harmonismus aufgehoben werden kann.
So sehr der Geist der Religion auf die Sphäre des Absoluten
gerichtet und erst in ihr heimisch sein mag, so sehr braucht er doch
auch das Endliche und Unvollkommene. Denn nur an diesem und
durch dieses vermag das Ewige seine Macht und seine Herrlichkeit
zu offenbaren. Der Geist der positiven Wissenschaft fragt ab-
sichtlich nicht über das Endliche hinaus. Auf diesem grundsätz-
lichen und methodischen Verzicht beruht ein Hauptteil seiner
Leistungsfähigkeit. Ganz im Gegenteil fragt und sieht, drängt
und fordert das religiöse Motiv der Metaphysik — im Verein mit dem
moralischen — über das Endliche der Erscheinung hinaus. Und
schon in diesem Hinausfragen und Hinaussehen klingt in mystisch-
5. Das religiöse Motiv
151
mythischer Weise das Jenseits der Erscheinung an, das, wovon
diese getragen, wodurch diese überhaupt erst möglich wird. Schon
im Akt der Frage vollzieht sich unter der Einwirkung jener Motive
die Hypostasierung der Idee des Jenseits zur Wirklichkeit der-
selben. Die kausale Macht der Erscheinungszusammenhänge
schmilzt, sie wird vergeistigt und idealisiert durch ihre Geborgenheit
in einer ewigen Macht. Vom Standpunkt des wissenschaftlichen
Positivismus aus hat die Erscheinung sich selbst mit ihrem Recht
belehnt, ist sie nur durch ihresgleichen bestimmt, nur von ihres-
gleichen abhängig. Mit der entschiedensten und berechtigsten, ja
mit unabweisbar notwendiger Vorsicht vermeidet es die positive
Wissenschaft, für die Entstehung und die Auswirkung des Er-
fahrungsbereiches eine Gesetzlichkeit anzuerkennen oder auch nur
nach einer Gesetzlichkeit zu fragen, die nicht ausschließlich für die
diesseitige Welt gültig und zuständig wäre, die einen anderen Wert
hätte als den, das erfahrungsmäßige Zustandekommen und den
erfahrungsmäßigen Verlauf der Erscheinungen zu ermöglichen und
sicherzustellen.
In demselben Augenblicke jedoch, in dem die metaphysische
Fragestellung einsetzt, vollzieht sich bereits in ihr und durch sie
noch vor der Erteilung irgendeiner Antwort der denkbar stärkste
Wandel in und mit dem Begriff der Erscheinungen! Die Ketten,
von denen die Erscheinungen gehalten werden, jene positiv-kausalen
Gesetzeszusammenhänge werden nicht etwa gesprengt. Am Er-
fahrungsbestand und an seiner Gesetzlichkeit wird schlechterdings
nichts geändert. Nur wird von der anderen Welt aus, in der der
metaphysische Geist heimisch ist, das Ganze jener Erfahrungs-
wirklichkeit aus dem Rahmen seiner Endgültigkeit hinausgeschoben
und, um kantisch zu sprechen, auf die „Totalität seiner Bedingungen“
übertragen. Dadurch erfolgt keine Schädigung seiner Gegenständ-
lichkeit. Nur wird es sozusagen durchsichtig gemacht, indem jetzt
die Erkenntnis entsteht, daß seine Stützen transzendente Siche-
rungen und ideelle Werte sind.
Diese Umbildung ist, was wir besonders anmerken wollen, nicht
auf das Reich der Naturerscheinungen beschlossen. Zwar pflegt die
metaphysische Interpretation der Wirklichkeit sich gern auf das
Reich der Natur zu beziehen, wie denn die Naturphilosophie seit
alters her ein Hauptkapitel und einen Lieblingsgegenstand der
traditionellen Metaphysik bildet. Ist aber die metaphysische
Deutung des seelischen Lebens und damit die metaphysi-
152
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
sehe Umbildung der seelischen Erscheinungen nicht eine
Aufgabe, die jener naturphilosophischen mindestens ebenbürtig
ist? Die Einwirkung der metaphysischen Interpretation auf das
Innenleben muß unsere Aufmerksamkeit sogar in einem erhöhten
Grade darum in Anspruch nehmen, weil hier ihre Folgen deutlicher
hervortreten und die Wichtigkeit dieser Folgen für das Seelenleben
unverkennbarer wird, als das bei der Naturphilosophie der Fall ist.
Zwar vollzieht sich auch hier eine tiefgreifende Veränderung in der
Struktur der Erscheinungswelt, soweit diese als ein Inbegriff kausal
bestimmter Erfahrungsobjekte gilt. Nur geht uns diese Veränderung
nicht so tief an, sie gewinnt nicht jene moralische, erzieherische und
religiöse Bedeutung wie diejenige Umgestaltung, die seitens der
metaphysischen Auffassung des Innenlebens auf dieses ausgeübt
wird. Die volle Tragweite der Kraft des religiösen Motivs erfahren
wir doch erst bei seiner eingreifenden Wirkung auf uns selber, auf
unser Denken und Handeln, auf unser Wünschen und Wollen. Der
Positivismus der Psychologie versteht den Bereich des Innenlebens
als einen Verband gesetzlich bestimmter seelischer Erscheinungen
und seelischer Vorgänge, vergleichbar derjenigen Erkenntnisweise,
die für die Naturwissenschaften bei ihrer Auffassung der Erscheinun-
gen der äußeren Natur und für die Geisteswissenschaften bei ihrer Auf-
fassung der Erscheinungen der geschichtlichen Natur maßgebend ist.
Die metaphysische Betrachtung beseitigt nun unter dem Einfluß
des religiösen Motivs in ihr die von der Psychologie vertretene Über-
zeugung, nach der die Gegebenheit der seelischen Erscheinungen,
so wie diese im Innenleben verlaufen, und die gesetzlichen Ver-
bindungen, denen dieser Verlauf unterworfen ist, ein Letztes und
schlechthin Hinzunehmendes bedeuten. Welches ist die Folge, die
jene metaphysische Betrachtung in seelischer Hinsicht da auslöst,
wo sie nicht in der Form einer kalten und grauen Überlegung an-
gestellt wird, sondern wo der heiße Atem wirklicher metaphysischer
Inbrunst in ihr glüht? Wir müssen immer im Auge behalten, daß
die metaphysischen Überlegungen, falls sie ihrem Wesen entsprechen,
aus der ganzen Innerlichkeit des Menschen hervorwachsen und ihre
Affekterfülltheit auch dann nicht verlieren, wenn sie aus irgend-
welchen Gründen in das eiskalte Gefüge rationaler Begrifflichkeit
gekleidet werden. Sie drängen immer über die eingeengte Zu-
ständigkeit einer bloßen ,,Lehre“ hinaus und streben danach, in
der Richtung sittlich-erzieherischer und religiöser Energien wirksam
zu werden.
5. Das religiöse Motiv
153
c. Die Erlösungsfunktion der Metaphysik.
In unserem Falle äußert sich jene praktische Tragweite
als die Vorbereitung zu der seelischen Befreiung und
Erlösung von dem haftenden Drucke des Erfahrungs-
bereiches, von der gesetzlichen Schwere, in der unser
Selbst befangen und gefangen erscheint. Seine Gegenständ-
lichkeit verliert in jener metaphysischen Einstellung seine Selbst-
genügsamkeit; denn es selber wird ja als Vorbereitung, als Vor-
stufe, als Übergang zu dem wahrhaft Absoluten der göttlichen Über-
welt gedeutet und gewertet. Auf Grund der Wirksamkeit des
religiösen Motivs fragt die Metaphysik nicht sowohl nach dem, was
sich in unserem Innenleben tatsächlich begibt, und was dieses seiner
objektiven phänomenologischen Beschaffenheit nach ist, und worauf
die Psychologie in jeder ihrer Spielarten eingestellt ist. Sie fragt
vielmehr über diesen Beschaffenheitszustand hinaus nach seiner
Bedeutung für den absoluten Sinn des Lebens, nach seiner Stellung
in demjenigen und für denjenigen Entwicklungsprozeß, der zur
Erfüllung unserer höchsten Daseinsbestimmung führt. Verdient
nun diese Betrachtungsweise nicht den Vorwurf des Mangels an
wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit und Objektivität? Doch
nicht. Denn wer ihn erhebt, begeht den Mißgriff, daß er auf jene
Betrachtungsweise wieder diejenigen Maßstäbe, die für die Methode
des wissenschaftlichen Positivismus gelten, zur Anwendung bringt.
Wir haben von der Unzulässigkeit einer solchen Beurteilung der
Metaphysik bereits gesprochen. Die positive Wissenschaft hat eine
Erscheinung oder eine Erscheinungsgruppe dann erkannt, wenn es
ihr gelungen ist, sie der Einheit derjenigen Gesetzlichkeit einzu-
reihen, die für sie als Wissenschaft kennzeichnend ist. Die Meta-
physik hingegen blickt bei der Betrachtung einer Erscheinung über
die gesetzliche Bindung derselben hinaus auf die höchste Idee und
das höchste, abschließende Prinzip, durch die die Erscheinung nicht
sowohl ihrer tatsächlichen empirischen Beschaffenheit nach, als
vielmehr in ihrem Wesen bedingt ist, und durch die das Schicksal
der Erscheinung gebildet wird.
Metaphysische Fragen sind immer Schicksalsfragen; sie fragen
nach dem Schicksal einer Erscheinung und übergreifen bereits in
ihrer Intention den Umkreis und die Geltung einer positivistischen
Antwort. So fragt die Metaphysik nach dem Schicksal unseres
Innenlebens und sucht die Antwort von der Aufstellung einer
154
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
absoluten Idee aus zu erteilen. Begibt sich in einer solchen
metaphysischen Antwort nicht ein innerlich befreiender
Durchbruch durch die Bindungen, in die wir uns unserem
empirischen Sein nach eingespannt glauben oder einge-
spannt wissen? Erleben wir uns nicht jetzt als Geschöpfe einer
höheren Macht, die uns in ihrer allmächtigen Hut hält und uns
dadurch über alle äußeren und inneren empirischen Abhängigkeiten
hinaushebt? Wir vertauschen das Wissen um die empirische Gesetz-
lichkeit gegen die glaubensvolle Deutung, daß wir neben den irdi-
schen Zusammenhängen noch ewigen Wirkungseinheiten beigesellt
sind, die uns nicht bloß binden, die unsere Freiheit nicht nur be-
engen, so sehr sie uns in unserem Bestände auch sichern, sondern
die uns die Wege zur Erfüllung unserer „Bestimmung“ erschließen.
Ist es wirklich unzutreffend und zuviel gesagt, wenn der Meta-
physik eine solche Erlösungsfunktion zugeschrieben und
nachgerühmt wird? Verwischen wir durch die Vertretung einer
solchen Auffassung etwa allzu unbedenklich die Grenze zwischen
Philosophie und Religion, und zwar zuungunsten derersteren? Wir
werden über dieses Verhältnis sofort noch einige Worte zu sagen
haben. Doch vorerst liegt uns am Herzen, jenem soeben ange-
deuteten Bedenken durch den naheliegenden Hinweis darauf zu
begegnen, daß die klassischen Systeme der Metaphysik in
der Tat eine solche Erlösungsaufgabe im Auge gehabt und
sowohl ihrer systematischen Grundintention als der Idee
ihrer Schöpfer nach zu verwirklichen bestrebt waren.
Nicht bloß in seiner neuplatonischen Gestalt, die möglicherweise
als eine gewisse Entartung des ursprünglichen Platonismus beurteilt
werden könnte, sondern schon in seiner echten und ursprünglichen
Form zeigt diese großartigste Metaphysik der griechischen Kultur
deutlich wahrnehmbare Tendenzen und Züge, die der Welterlösung
dienen. In der Ideenlehre Platos bekunden sich ganz offenbar die
Absicht einer solchen Aufgabe und der Wunsch nach einer solchen
Leistung, die sie, wie die Geschichte des Platonismus lehrt, auch
sonst zu wiederholten Malen in der Entwicklung des Abendlandes
betätigt hat. Mit gutem Recht ist von vielen Seiten jene Meta-
physik als eine Vorstufe des Christentums und seiner eschatologischen
Zielrichtung aufgefaßt worden. Die Scholastik des Mittelalters und
die Theologie und Philosophie der Renaissance und des Humanismus
haben neben Mose und den Propheten des alten Bundes auch
Sokrates und Platon als Vorläufer Christi, als Christen vor der Zeit
5. Das religiöse Motiv
155
der christlichen Offenbarung anerkannt. Außerdem liegt der Hin-
weis auf die Ethik Spinozas auf der Hand, die besonders in frei-
maurerischen Kreisen die Kraft einer religiösen Dogmatik bekundet
und von vielen Menschen nicht bloß als ein Religionsersatz, sondern
als diejenige Form der Religion gewertet wird, die dem modernen,
durch die Naturwissenschaften gebildeten Bewußtsein allein an-
gemessen sei. Und wie leicht wäre es, die Beispiele zu häufen, die
da belegen, daß mehr als ein metaphysisches System und Werk in
den Kreisen seiner Anhänger nicht bloß als eine intellektuelle
Leistung angesehen wurde, sondern oft geradezu als eine religiöse
Offenbarung und als Bibel galt. Kant und Fichte, Schelling und
Hegel genossen das Ansehen einer Art von Religionsstiftern und
wirkten als solche in vielen Beziehungen. —
Gemäß dem Grundplan dieses ganzen Buches, das nur der
„Grundlegung“ unserer dialektischen Metaphysik gewidmet ist, mit-
hin fast überall von allzu eingehenden Ausführungen absieht, wollen
wir es auch in dem vorliegenden Zusammenhänge bei der An-
deutung dieser Erlösungsmission und Erlösungsfunktion der Meta-
physik bewenden lassen. Doch sei trotzdem angemerkt, daß die
Frage der Zugehörigkeit des religiösen Motivs zu den Voraus-
setzungen der Metaphysik, sowie die Klarstellung seines Anteils
an dem Aufbau ihrer Struktur, endlich die Erörterung der Eigenart,
die die Metaphysik aus jenem Anteil gewinnt, zu einer ungleich
umfangreicheren Untersuchung mehr als eine Veranlassung bieten
würden. Was wir jetzt noch mit einigen Worten streifen wollen,
ist die Überlegung, ob nicht aus der gar zu eindringlichen Befür-
wortung der Unentbehrlichkeit und der systematischen Berechtigung
des religiösen Motivs schließlich die Empfehlung der gänzlichen
Überleitung der Metaphysik in die Religion und somit die grund-
sätzliche gedankliche Grenzverwischung zwischen diesen beiden Ge-
bieten hervorgehen müssen.
d. Die Erlösung als metaphysisches Problem.
Die Klarstellung des Verhältnisses zwischen Metaphysik und
Religion gehört zu den schwierigsten Aufgaben, die der Philosophie
gestellt sind. Ist es doch geboten, weder die Unterschiede zwischen
beiden Gebieten außer acht zu lassen oder gar auszugleichen, noch
aber einen philosophischen Standpunkt einzunehmen, dessen formal-
rationaler Charakter eine angemessene Erfassung der Religion von
156
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
vornherein verhindert. So sind es in der Hauptsache zwei Schwierig-
keiten, die von der Religionsphilosophie vermieden werden müssen.
Eine Schwierigkeit besteht in der nicht selten auftauchenden Gefahr
einer so starken Rationalisierung, daß innerhalb der Religions-
philosophie kein Hauch des religiösen Lebens mehr spürbar ist. Es
wäre vielleicht die größte Leistung einer, ihrem Gegenstände
adäquaten philosophischen Erkenntnis, wenn es ihr gelänge, ohne
den Pflichten gegenüber der Wissenschaft untreu zu werden, doch
in der Logik ihrer Struktur etwas von der Überrationalität ihres
Objektes anklingen zu lassen. Die andere Schwierigkeit bekundet
sich in der nicht minder großen Gefahr, die Religionsphilosophie in
das Fahrwasser der Erbaulichkeit überzuleiten und zu einer Predigt
zu machen, vergleichbar jenen Systemen der Ethik, die ihre Auf-
gabe oder eine ihrer Aufgaben darin erblicken, sogar noch über eine
Moralkasuistik hinaus ganz konkrete Anweisungen und Vorschriften
für eine Gestaltung des Lebenswandels, der den Forderungen der
Sittlichkeit genügt, zu erteilen.
Wenn aber auch die Unterschiede zwischen beiden Gebieten
strenge Beachtung verdienen, so dürfen trotzdem die Züge der
Gemeinsamkeit nicht übersehen werden. In zwei Punkten und nach
zwei Richtungen prägt diese Zusammengehörigkeit sich aus. Ge-
meinsam ist beiden erstens die Idee des Absoluten, zweitens das
Problem des Verhältnisses des Relativen und Endlichen zu diesem
Absoluten, die Frage der Beziehung zwischen der Erscheinungswelt
mit ihrer vergänglichen Erfahrungsfülle und der intelligiblen Welt
mit ihrer Einheit und Ewigkeit. Doch gerade indem wir auf diese
unbestreitbare und unzerstörbare Zusammengehörigkeit von Meta-
physik und Religion aufmerksam machen, haben wir die Aufgabe,
ihre ebenso unbestreitbare und unaufhebbare Verschiedenheit, die
Dialektik ihres Verhältnisses zueinander, zu berühren. Denn die
Erwähnung dieser Dialektik ist für unseren Zweck von besonderer
Wichtigkeit.
Diese Verschiedenheit gelangt nun in der Abweichung der Er-
lösungsidee, wie-die Metaphysik diese Idee versteht und verwendet,
von der religiösen Auffassung und dem religiösen Wert derselben
Idee zu überzeugendem Ausdruck. Und es gehört zu den Grund-
pflichten der Metaphysik, diese Gegensätzlichkeit zu wahren und
die Eigenart der von ihr vertretenen Idee der Erlösung nicht zu
verwischen, wenn anders die Metaphysik vor der Religion nicht ein-
fach die Waffen strecken und in ihr Lager übergehen will. Aber eine
5. Das religiöse Motiv
157
solche Preisgabe ihrer Selbständigkeit kann der Philosophie gar
nicht angesonnen werden; denn eine derartige Zumutung würde das
grundsätzliche Verkennen desjenigen Grundprinzips zur Voraus-
setzung haben, auf dem die Metaphysik ihrer Möglichkeit nach sich
stützt.
Dieses Grundprinzip ist die Dialektik der Vernunft in dem durch-
aus positiven, aufbauend-systematischen Sinne dieses Begriffs. Wir
werden in den nun folgenden Kapiteln, die der Darstellung des
dialektischen Idealismus gewidmet sind, das Wesen und die
Funktionsweise, die Hauptformen und die Hauptobjektivationen
der Dialektik genau kennenlernen. An der vorliegenden Stelle
obliegt es uns nur, zu erwägen, wie dieses Prinzip sich gegenüber der
Erlösungsidee in der Metaphysik auswirkt. Indem wir die Eigen-
tümlichkeit der metaphysisch-dialektischen Behandlung der Er-
lösung kennzeichnen, unterscheiden wir sie von derjenigen Behand-
lung, die dem Erlösungsgedanken durch die Religion zuteil wird.
Die gesuchte Kennzeichnung ist nicht schwer zu finden. So leb-
haft die Wirksamkeit des moralischen und besonders des religiösen
Motivs in der Metaphysik auch ist, sie bleibt doch immer in die mehr
oder minder starken Netze einer auch rationalen und ästhetischen
Geisteshaltung eingeschlossen. Sie kann sich, ja sie darf sich von
der Kruste der Intellektualität nicht ganz frei machen, oder aber
sie würde den Charakter der Wissenschaftlichkeit völlig preisgeben
und, wie gesagt, vor der Religion kapitulieren. Denn es gehört, wie
sich immer wieder zeigt, zu der Dialektik der Metaphysik, daß in ihr
kein Begriff eine restlose Eindeutigkeit und strukturelle Einhellig-
keit besitzt, daß er Begriff und zugleich Wesenhaftigkeit, Gedank-
lichkeit und zugleich noch andere Formen der geistigen Wirklichkeit
umfaßt.
Deshalb ist in der Metaphysik auch die Idee der Erlösung von
allen Aporien der Dialektik bedrängt, von tausend dialektischen
Lichtern umspielt und umzuckt. Eine reine und restlose Erfüllung
derjenigen Hoffnungen und Forderungen, die in diesem Gedanken
lebendig sind, und aus denen er hervorgeht, ist ihr niemals erreich-
bar. Eine solche Leistung bleibt ihr verwehrt und muß ihr verwehrt
bleiben auf Grund des kritisch-rationalen Einschlages und des
intellektuell-theoretischen Gehaltes, die einen unentbehrlichen kon-
stitutiven und apriorischen Bestandteil in der Systematik der Meta-
physik bilden. Dürfte ein etwas starkes Wort zur Kennzeichnung
der Wesensart der metaphysischen Begriffe gebraucht werden, so
158
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
möchte ich sagen, sie seien alle wie in ein Zwielicht getaucht, und
der Dämmerschein mache einen Teil ihrer Eigenart aus. Diese Be-
hauptung trifft auch auf diejenigen Systeme zu, die angeblich voll
und ganz aus dem Geiste des Rationalismus hervorgegangen sind
und für ihren Aufbau sich angeblich rein rationaler Methoden be-
dienen. Jeder Versuch, von den metaphysischen Begriffen und von
der metaphysischen Begriffsbildung das Prinzip und die Methode
der Dialektik fernzuhalten, führt unweigerlich zu einer Zerstörung
der Metaphysik. Schon in seinem Ansatz vereitelt ein derartiger
Versuch den Eintritt in die metaphysische Fragestellung überhaupt
und die Aufstellung einer solchen Frage von vornherein.
Die Dialektik der Erlösungsidee spricht sich unver-
kennbar mithin darin aus, daß der Gedanke der Er-
lösung, solange er innerhalb der Zuständigkeit der Meta-
physik erwogen wird, — Problem ist und Problem bleibt!
Selbst die Hypostasierung dieser Idee verhilft noch nicht zu jener
Erlösungswirklichkeit, deren Zustandekommen der Religion Vor-
behalten ist, und mit der uns die Religion beschenkt. Es wäre un-
angebracht, der Religion aus dieser Leistung eine Überlegenheit über
die Metaphysik zuzuerkennen und für sie daraus einen Primat ab-
zuleiten. Ich möchte auch nicht das Gegenteil behaupten. Wird in
der Metaphysik der Begriff der Erlösung in seiner Dialektik reiner
gewahrt, so kommt in der Religion die Wirklichkeit der Erlösung
zu ihrem Rechte. Was dort Gedanke und Problem, dialektischer
Ansatz und Aufweisung einer Aporie ist, die aus der Problematik
des Lebens mit unwiderstehlicher Gewalt aufsteigt, das erreicht in
der Religion und kraft ihrer die Gewißheit seiner Aufhebung. Die
Macht des Gedankens schafft das dialektische Problem der Erlösung
als Problem, die vollendete Innigkeit des Glaubens schafft die wirk-
liche Erlösung. Aus der ringenden Fülle derjenigen Motive, die in
ihrer wechselseitigen Verbundenheit die Grundlage der Metaphysik
bilden, entsteht gedanklich die tiefste Frage unseres Lebens, näm-
lich die Frage nach seiner Heiligung und Erlösung, als die Frage
nach dem Verhältnis des Endlichen und Vergänglichen zum Abso-
luten und Vollkommenen. Die Metaphysik erwägt in der Form der
Dialektik die Möglichkeit, das Recht und die Aussichten jenes
schicksalshaften Verhältnisses — die Religion erzeugt und bahnt
die Wege für die Erfüllung dieser gedanklichen Möglichkeiten. Sie
allein verwirklicht jenes Recht und jene Aussichten, die von der
Metaphysik dialektisch entwickelt waren, durch die, alle Dialektik
5. Das religiöse Motiv
159
überwindende Gewalt des Glaubens und seiner ihm und dem Men-
schen unentbehrlichen Objektivationen im Kultus. Sie verwirk-
licht sie in der Andacht und Hingabe des Gebetes, in der Mystik
des Abendmahles und in allen den anderen Erlösungsfunktionen,
die das fromme Gemüt sich in der Kirche und durch die Kirche
geschaffen hat.
Alles in allem: Auch nach dieser Richtung mündet die Meta-
physik, so stark die Kraft des religiösen Motivs ohne Zweifel in ihr
ist, in eine Dialektik. Aber vor dieser Dialektik sich scheuen und
ihr die Erlösungskraft des religiösen Glaubens überordnen wollen,
heißt nicht bloß die Eigenart und die Autonomie der Metaphysik
unterschätzen, sondern Angst vor dem Leben haben, aus dessen
ewiger Dialektik sich die Dialektik der Metaphysik immer wieder
gestaltet und immer aufs neue nährt. —
Die Dialektik der Metaphysik steigt aus der Dialektik des Lebens
empor, weil die Motive, die in ihrer Grundverfassung als ihre Be-
dingungsfaktoren eingebaut sind, aus der Dialektik des Lebens
hervorwachsen. Deshalb muß die Beschäftigung mit der Meta-
physik als eine unabweisbare Obliegenheit gewertet werden. Ja,
noch mehr! Nicht nur die Beschäftigung mit der Metaphysik gehört
zu den unbedingten menschlichen Pflichten, sondern die Stellung
der Metaphysik selber im Aufbau der geschichtlich-menschlichen
Kultur ist eine unbedingte und unersetzliche, sie ist durch keine
Kritik und durch keinen Fortschritt der positiven Wissenschaften
zu beseitigen. Die relative Zurückdrängung ihres Ansehens in einer
bestimmten Epoche erlaubt nicht den Rückschluß, daß nun auch
die objektive Bedeutung der Stellung der Metaphysik im Reiche des
Geistes eine Schwächung erfahren habe. Durch wen anders könnte
die Dialektik des Geistes in ihrem Vollgehalt vertreten werden als
nur durch die Metaphysik? Sie istseinedeutlichste Darstellung inner-
halb des Zusammenhanges der menschlichen Schöpfungen, sie ist
die offensichtliche Vertretung seines Wesens, gerade insofern als
er Dialektik ist und seine Spontaneität in der Form der Dialektik
aufweist und ausweist. Diese auf unantastbaren Rechten beruhende
Stellung der Metaphysik wird sofort deutlich, sobald sich das Ver-
ständnis für diejenigen Motive klärt und festigt, in denen sich jene
Spontaneität auswirkt, und deren reibungsvoll-systematische Zu-
sammenarbeit die Notwendigkeit der Metaphysik entstehen läßt.
Das ganze vorliegende Kapitel galt der Kennzeichnung derjenigen
160
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
Motive, die zur Metaphysik führen, und durch die die letztere be-
dingt ist. Diese Motive sind mit dem Leben selber gegeben; sie sind
die Betätigungsweisen des Logos. Bei einem Verständnis für diesen
Sachverhalt stellt sich auch die Einsicht ein, daß die Metaphysik eine
der Notwendigkeiten des Lebens ist. Die vorurteilslose Würdigung
dieser Motive und die Erkenntnis ihrer Berechtigung gestatten und
fordern die Behauptung, die dahin geht, von einer „Pflicht zur Meta-
physik“ zu sprechen.
III. Der dialektische Idealismus.
1. Die Idee der Synthese bei Kant.
Jeder Begriff ist, zunächst seiner Form nach, eine Relation, er ist
Vollzug und Ausdruck einer Beziehung, er ist Synthese. Die
Wichtigkeit und die Häufigkeit dieser synthetischen Vollzüge können
wir nicht hoch genug veranschlagen. Schon die erste Tat des Geistes
beim Kinde, um einmal psychogenetisch zu sprechen, ist Herstellung
eines Zusammenhanges, ist Schlagen einer Verbindung, ist Brücken-
bauen. Diese synthetischen Formungen bekunden sich in jeglichem
Akte des Geistes, bekunden sich in schlechthin zahllosen Fällen und
Gestalten, sind immer und überall wirksam, wo der Geist gesund
und positiv tätig ist. Ohne Synthese auch keine Analyse: Wir
können nichts voneinander trennen, was wir nicht irgendwie in
eine Beziehung zueinander gesetzt haben, und sei es selbst diejenige
Beziehungdes Einanderausschließens, des gegenseitigen Entfremdens.
In der Synthese äußert sich eine Urfunktion des Geistes, die dann
in eine ungeheuere Fülle von Stufen und Ausprägungen abge-
wandelt wird, stets aber Synthese ist. Schon in der einfachsten
Wahrnehmung und in der sinnlichen Feststellung arbeitet grund-
legend und schöpferisch diese geistige Urfunktion. Auf ihr ist die
ganze gewaltige Welt der Erkenntnis, der Theorie ebenso aufgebaut
wie die Welt der Tat und der Praxis. Erzeugen heißt, Synthesen
vollziehen. Wir denken uns den Beginn der Welt, die Weltschöp-
fung weniger als ein Erschaffen ihres Seins denn als ein Herstellen
von Ordnung und Ordnungen zwischen ihren Teilen und Gliedern.
Auch nach der Vorstellung des alten Mythologen und Priesters, der
uns die Schöpfungssage erzählt, ist Gottes Tun auf ein „Scheiden“
zwischen Himmel, Wasser und Erde gerichtet, denen er ihre Stelle
und Grenze anweist. Er ordnet sie also zueinander; er stellt die
Synthese des Kosmos auf und schafft mittels dieser Synthese das
System des Kosmos; er schafft auf Grund seiner allmächtigen Syn-
these den Kosmos als Einheit und Ordnung. Indem er jedem Teil
durch die Systematik dieser Synthese seinen Platz gibt, stiftet er für
Liebert, Dialektik. 11
162
III. Der dialektische Idealismus
das All und für Alles das allbeherrschende ,,Gesetz“. Denn auch
das Gesetz trägt seine Macht nur zu Lehen von der Macht der Syn-
these.
Deshalb ist auch die Absicht aller Wissenschaft, in erster Linie
diejenige der Philosophie, auf die Erkenntnis und Herausarbeitung
der großen konstruktiven Synthesen gerichtet. Ist doch die Erkennt-
nis des Seins im Grunde nichts anderes als die Erkenntnis der ent-
scheidenden Ordnungen und Einheiten — in der Philosophie der
Gegenwart pflegt man dafür gern ,,Gestalten“ oder „Strukturen“
zu sagen —, derjenigen Ordnungen und Einheiten, die das Sein
gründen und tragen. Haben wir diese Synthesen, so besitzen wir
auch das Sein. Das gilt sowohl für die Theorie wie für die Praxis,
für die reine Erkenntnis und uninteressierte Forschung wie für unser
Streben nach Macht und nach Herrschaft über die Dinge und die
Menschen. Wir verstehen den Menschen und seine erkenntnismäßi-
gen Anstrengungen bzw. Erfolge, wenn wir die ordnenden Synthesen
erfassen, in denen sein Wollen und sein Tun zum Ausdruck gelangen.
Philosophie der Wirklichkeit ist Erkenntnis der wirklichkeits-
begründenden Ordnungen, ist Einsicht in die grundlegenden Kate-
gorien und Ideen, die selber nichts anderes als Formen der Synthesen
darstellen und die, eben weil sie das sind und nichts als das, die
Sicherheit der Realität begründen. Ohne Synthesen also auch keine
Realität. Da aber diese grundlegenden Synthesen Funktionen des
Geistes sind, demnach ihrer „Natur“, ihrem „Wesen“ nach das
Wesen von „Ideen“ haben, so können, nein, so müssen wir auch
sagen: Ohne die Idee der Synthese und ohne die Synthese der Idee
keine Realität. Das Studium der Wirklichkeit bedeutet, philoso-
phisch, d. h. erkenntniskritisch und metaphysisch verstanden, das
Studium der ideellen Synthesen bzw. der synthetischen Ideen, ohne
die wir von irgendeiner Art von Sein, von Wirklichkeit nicht reden,
nichts wissen können. Diese ideellen Synthesen bilden den Haupt-
gegenstand der Philosophie. Darum ist jede wahre Philosophie,
schon ihrem Gegenstand nach, Idealismus, Ideenlehre, Platonismus,
Kritizismus. Darum beginnt die philosophische Erkenntnis der
Wirklichkeit mit der Erkenntnis der ideellen Synthesen, die das
Apriori für alle Erkenntnis der Wirklichkeit und für alle Wirklich-
keit sind. In den Synthesen der Ideen und in den Ideen der Syn-
thesen gründet sich die Realität. Aus dieser Erkenntnis heraus
ergibt sich die Einsicht in die unauflösbare Wechselbeziehung von
Idealismus und Realismus, die so wenig „Gegensätze“ darstellen,
2. Die Idee der Dialektik bei Kant
163
daß sie umgekehrt einander fordern, daß sie im tiefsten Sinne des
Gedankens zueinander gesetzt sind, also zueinandergehörende
„Gegensätze“ bedeuten. Und ferner folgt aus dieser Erkenntnis das
hohe, das unbestreitbare Recht, ja, die zwingende Notwendigkeit
der kategorischen Betonung und der systematischen Darstellung der
„Synthesen“ durch Kants kritische Philosophie. Seine Philosophie
ist „Kritik der Vernunft“ in wunderbarer Gliederung und Archi-
tektonik: Sie nimmt ihren Anfang von den theoretischen Synthesen
der Anschauungsformen von Raum und Zeit, den Grundsynthesen
der Mathematik, wendet sich dann zu den Synthesen der „Ver-
standesbegriffe“ und der „synthetischen Grundsätze“, steigt auf zu
den „Ideen“ und zu den „Postulaten“, den grundlegenden synthe-
tischen Formen der Vernunft, verfolgt also die ganze Tätigkeits-
breite und Variationsweite der Vernunft, um schließlich in der Her-
ausarbeitung der tiefsten, der schlechthin maßgebenden Vernunft-
synthese zu münden, der ideellen Synthese der Freiheit.
2. Die Idee der Dialektik bei Kant.
Nun hat der Schöpfer des Kritizismus bei seiner Arbeit an der
systematischen Architektonik der Aufbausynthesen die „Stamm-
begriffe des reinen Verstandes“ bekanntlich zu einer berühmten
„Kategorientafel“ zusammengefaßt und damit eine Pflicht erfüllt,
die jede wirklich wissenschaftliche und systematische Philosophie zu
beachten hat. Denn in irgendeinem Sinne muß jede konstruktive
Philosophie eine „Kategorienlehre“ sein und eine „Kategorientafel“
aufstellen. Der dafür ausschlaggebende Grund ist schon aus den
Bemerkungen der unmittelbar vorangehenden Absätze ersichtlich.
Ebenso hat Kant die „synthetischen Grundsätze a priori“, die
„Schemata“ des Verstandes und die „Vernunftideen“ in einer ge-
gliederten Übersicht zu einheitlicher Aufstellung gebracht. In der
Literatur ist an diesen Tafeln und Aufstellungen sehr viel herum-
gebessert, nicht selten auch vieles verschlimmbessert worden. Daß
Kant aber auch den Begriff der Dialektik als einen Grundbegriff,
besser als eine Grundidee (der Vernunft) erkannt, herausgehoben und
in seiner eigentümlichen, nämlich dialektischen Geltung gekenn-
zeichnet hat, das ist eine bis jetzt kaum hinlänglich gewürdigte
Leistung. Wohl ist bereits außerordentlich häufig Kants Ablehnung
der Dialektik beachtet und als eine sehr hohe kritische Tat anerkannt
worden. Wohl hat man bemerkt, daß diese kritische Ablehnung der
li*
164
III. Der dialektische Idealismus
Dialektik zur „Zermalmung“ der alten dogmatischen Ontologie ge-
führt hat bzw. diese Zermalmung schon in sich schließt, da die
Dialektik als das schädliche und trügerische Hilfsmittel zur Er-
zeugung der metaphysischen Scheingebäude und Blendwerke ent-
larvt wird. Ein solches schlimmes und verwerfliches Hilfsmittel ist
jedoch nur die schlechte Dialektik, die Kant als eine sophistische
Abart der echten philosophischen Dialektik geißelt und in bewun-
derungswürdigem Scharfsinn von dieser streng unterscheidet.
Diese echte philosophische Dialektik findet vor seinen kritischen
Blicken aber nicht bloß Gnade und Duldung, sondern er bedient
sich ihrer in großartiger konstruktiver Gedankenführung als — Me-
thode für sein kritisches Geschäft, und zwar als Methode sowohl
in negativer, unhaltbare Ansprüche und Behauptungen beseitigender,
als auch in positiver, d. h. begründender Form. Denn die berühmten
Entgegensetzungen von Begriff und Anschauung, Form und Inhalt,
a priori und a posteriori, synthetisch und analytisch, transzendental
und transzendent, erfahrungbegründend und erfahrungüberschrei-
tend, konstitutiv und regulativ, sensibel und intelligibel, subjektiv
trügerischer und subjektiv berechtigter Schein, Natur und Freiheit,
rational und empirisch, Glück und Sittlichkeit, Heteronomie und
Autonomie, statutarische Religion und Vernunftreligion und wie die
Hunderte von Gegensatzpaaren alle heißen mögen, die in der kriti-
schen Philosophie uns entgegentreten: sie sind nicht willkürliche
Gegenüberstellungen, sondern innerlichst notwendige Faktoren der
kritischen Denkungsart, sie sind Ausdrücke und Funktionen einer
grundsätzlich dialektischen Form des Erkennens, des Unter-
suchens, des Begründens. Ich darf in bezug auf die Einzelheiten
auf mein früher erwähntes Buch über die kritische Philosophie
(S. 87) verweisen, in dem der Versuch gemacht ist, des genaueren
zu zeigen, daß und in welcher Weise die klassische „transzen-
dentale“ Methode eine Methode der Dialektik darstellt, auf
ausgesprochen dialektischer Gedankenhaltung beruht und in aus-
gesprochen dialektischer Beweisführung sich bewegt. Zuhöchst und
ganz allgemein gesprochen bildet nach Kants Darlegungen und Über-
zeugung der „Kritizismus“ darum die Überwindung von Rationalis-
mus auf der einen und Empirismus auf der anderen Seite, weil er
beide, nachdem er beide hinsichtlich des ihnen innewohnenden
Rechtes bzw. Unrechtes durchschaut hat, nun so weit miteinander
verbindet, als sie im Rechte sind: er versteht ihre Dialektik sofort
als einen begreiflichen Gegensatz; er schlägt sich nicht einseitig nur
2. Die Idee der Dialektik bei Kant
165
zu dieser oder nur zu jener Partei, sondern hebt ihre Gegensätzlich-
keit auf in der dialektisch unterbauten Einheit des Kritizismus.
Dieser Kritizismus ist demnach die dialektisch gewonnene Synthese
von Rationalismus und von Empirismus: Er ist Dialektik und
Synthese zugleich!
Welche anderen dialektischen Entgegensetzungen auch noch
sonst in ihm ihre synthetische Lösung erreichen, in welchem höchsten
konstruktiven und spekulativen Sinne überhaupt der Kritizismus
als synthetische Dialektik und dialektische Synthese zu gelten hat,
das kann in dem vorliegenden Zusammenhänge auch nicht einmal
angedeutet werden, so verlockend ein solcher Nachweis auch wäre;
er gehört jedoch nicht unmittelbar zu unserem Vorhaben. Nur die
kurze Bemerkung sei eingeflochten, daß im Kritizismus auch die
dialektische Überwindung des Gegensatzes von Determinismus und
Indeterminismus unter betonter Aufrechterhaltung des Rechtes der
einzelnen Pole in diesem Gegensatz erreicht ist: Die einzelnen Ver-
standes- und Vernunftsynthesen begründen die Notwendigkeit der
Natur, da sie selber ja nichts als Funktionen der Notwendigkeit
sind. In Hinsicht auf ihren Gebrauch in der Erfahrung sind sie von
objektivierender Notwendigkeit und sichern deshalb auch die Ob-
jektivität und Notwendigkeit der Erfahrung. Nun aber die un-
mittelbar damit gegebene Kehrseite: Als reine Verstandes- und
Vernunftformen nämlich, also ohne die sie bindende Beziehung auf
ihren Gebrauch in der Erfahrung zur Erkenntnis der Welt der Er-
scheinungen, d. h. in ihrer reinen Spontaneität und in der
reinen Vernünftigkeit dieser Spontaneität sind sie dieser
determinierenden Beziehung ledig, werden sie nicht gefesselt durch
ihren Erfahrungsgebrauch, sind sie keine Dienerinnen für die Er-
kenntnis der Welt der Erscheinungen, sind sie unabhängig von
dieser bindend-gebundenen Gegenstandswelt, sind sie absolut und
frei. Und dieser Freiheit, dieser ihrer Autonomie und Absolutheit
verdankt die normative Welt der sittlichen Ideen und des sittlichen
Handelns ihre Geltung, ihre Existenz.
So tragen also auch die Verstandes- und Vernunftsynthesen
diesen dialektischen Zug in sich und an sich: Sie sind in Einer Be-
zugs- und Sinnesrichtung determinierend-determiniert; objektive
und objektivierende Faktoren und Verfassungsstücke der objektiven
Erscheinungswelt, die in ihrem Zusammenhang als undurchbrech-
bar gebunden und in denjenigen Formen, die ihren Zusammenhang
begründen, als undurchbrechbar bindend sich erweist. In einer
166
III. Der dialektische Idealismus
anderen Bezugs- und Sinnesrichtung jedoch, sagen wir einmal: in
dem reinen Ansich ihres Gedachtwerdens, in der reinen Entfaltung
ihrer logischen Geltung, in der reinen spekulativen Autonomie, die
in ihnen steckt, erheben diese Formen und Synthesen sich über
alle empirischen und phänomenologischen Abhängigkeiten und Ge-
bundenheiten, sind sie nicht mehr bloß konstitutiv, sondern regulativ,
sind sie nicht nur Sklaven und Träger der Erfahrung, sondern ihre
Schöpfer und Herren, erheben sie sich frei hinaus und hinein in die
ganz andere Objektivität der intelligibelen Welt, der Welt der Frei-
heit. Es ist keine geringe Entdeckung, die darin besteht, daß Kant
die Dialektik derjenigen Synthesen aufgezeigt hat, auf denen sowohl
unser empirisches als auch unser metaphysisches Wissen beruht, ja
noch mehr, auf denen unser empirisches Handeln und unsere meta-
physischen und ideellen Zwecksetzungen sich gründen. Das Denk-
gesetz der Korrelation, dieses typisch-dialektische Gesetz, fordert
die Korrelation von Naturgebundenheit und Freiheitsnorm. Es ist
doch die Spontaneität, also die Freiheit der Vernunft, durch die
die Naturnotwendigkeit gedacht und erkannt wird. Und wir ver-
stehen den Gedanken der Naturnotwendigkeit nur und vermögen
ihn nur dadurch zu begründen, weil wir ihn, indem wir ihn schaffen,
abheben von dem Gedanken einer Welt, deren Notwendigkeit und
Gesetz die Freiheit ist.
3. Die Idee der Dialektik überhaupt.
Und hier scheint nun, d. h. im Anschluß an die transzendentale
Dialektik Kants und unter Fortführung von Aufklärungen, die die
kritische Philosophie über die Eigentümlichkeit der „dialektischen
Ideen“ erteilt, die sowohl transzendental, d. h. erfahrungbegründend
und determinierend-determiniert, als auch transzendent, d. h. er-
fahrungüberschreitend und frei sind, der tiefste Sinn im Begriff
der Dialektik erfaßt und getroffen, hier scheint nun die Meta-
physik der Dialektik begründet und dem Kern nach ausge-
sprochen: Der Sinn des Begriffes der Dialektik ist die
Idee der korrelativen Einheit der Gegensätze von Natur-
notwendigkeit (Determinismus) und Freiheitsnorm (In-
determinismus). Das ist der philosophisch-kritische Sinn des Be-
griffes der Dialektik. Philosophisch insofern, als die Idee jener Ein-
heit in streng grundsätzlichem und streng spekulativem Sinne zu
verstehen ist, gemäß dem sie sowohl die entscheidende Wesens-
3. Die Idee der Dialektik überhaupt
167
beziehung alles Seienden, seine schlechthin äußerste, seine absolute,
seine, der schicksalshaften Tiefe nach nicht mehr zu überbietende
Synthese als auch seine äußerste dialektische Spannungsweite dar-
stellt. Kritisch aber insofern, als wir bewußt und nachdrücklich
davon Abstand nehmen, diese Wesensbeziehung und Synthese zu
verdinglichen, zu einer „Wesenheit“ zu hypostasieren. Wir achten
demnach weniger darauf und fragen weniger danach, was diese
dialektische Einheit in ontologischer Hinsicht sei, sondern wie sie
wirke, wie sie sich auswirke. Unter diesem Gesichtspunkte jedoch
gilt sie uns als eine Methode, als ein heuristisches Prinzip, als ein
regulativer Gesichtspunkt. Und zwar in dem — wiederum ganz
dialektischen — Sinne, daß diese Idee sowohl ein theoretischer, für
den gedanklich-wissenschaftlichen Aufbau der Wirklichkeit unent-
behrlicher Gesichtspunkt ist, ein Gesichtspunkt, der uns die begriff-
liche Gewinnung eines einheitlichen Weltbildes ermöglicht und somit
die Leitlinie für eine Metaphysik und Totalerkenntnis der Wirklich-
keit bedeutet, als auch ein unentbehrliches Regulativ für unsere
sittliche und wertende Einstellung zu Mensch und Welt, ein Regu-
lativ für unsere seelisch-gemüthafte Auseinandersetzung mit der
Problematik der menschlich-gesellschaftlichen und der naturhaften
Wirklichkeit.
Denn wie in dem Sinn und Gehalt der Idee überhaupt, so ist
auch in dem besonderen Sinn und Gehalt der Idee der Dialektik
diese Doppelaufgabe und Doppelleistung enthalten: Sie ist theore-
tische Funktion für die Zwecke der Erkenntnis; sie ist aber zugleich
praktische Norm für das Handeln. Sie umgreift auf diese Weise die
Polarität des Lebens in Einheit und zur Einheit; sie ist eben dialek-
tische Einheit, dialektische Synthese. Deshalb tragen auch alle die-
jenigen philosophischen Systeme — und sind das nicht die vor-
nehmsten und die wahrhaft klassischen?—, die auf der Methode der
dialektischen Idee beruhen, diesen dialektischen Doppelcharakter
des theoretischen und des ethischen Idealismus. Und deshalb sind
es eben auch diese Systeme, die auf Grund dieses Doppelcharakters
die ganze Polarität des Lebens, nämlich sowohl die Seite der Er-
kenntnis als auch die des Tuns, in sich berücksichtigen, in sich
umfassen und in diesem universellen Berücksichtigen und Umfassen
zugleich auch in sich „aufheben“ und versöhnen. Es mag genügen,
als Beispiele Plato, Kant, Fichte, Hegel anzuführen.
Gerade für die folgenden Überlegungen und Darlegungen ist es
von der erheblichsten Bedeutung, zu beachten, daß in der Idee der
168
III. Der dialektische Idealismus
Dialektik theoretisch-begriffliche, sozusagen rein erkenntnismäßige
und rein auf Erkenntniszwecke sich bewegende Einstellungen un-
trennbar mit seelischen, mit sittlichen, auf die gemüthafte Bezwin-
gung des Lebens gerichteten Auseinandersetzungen und geradezu
mit praktischen Lebenshaltungen und Willensentscheidungen ver-
bunden sind. Ganz kurz ausgedrückt: Die Idee der Dialektik
ist ebensowohl grundlegendes Erkenntnisprinzip als
auch normgebendes Willensprinzip. Dementsprechend
entfaltet sich das System des dialektischen Idealismus
in die beiden Hauptzweige des theoretischen und des
praktischen Idealismus, der theoretischen und der prak-
tischen Dialektik. Die Dialektik ist nicht nur eine — vielleicht
sogar die — Methode der Erkenntnis, sie ist nicht minder ein Ver-
fahren der praktischen Stellungnahme und Entscheidung, eine ge-
rade für die Philosophie ebenso charakteristische als notwendige
Lebensmaßnahme; sie ist Gesinnung und Tat; sie ist eine der Philo-
sophie ureigene Betrachtungsweise und Problemerörterung, aber zu-
gleich eine der Philosophie nicht weniger eigentümliche Problem-
lösung. Denn mit der Vernunft, mit dem Logos ist die Dialektik
„unhintertreiblich“ gegeben, wie Kant sagt. Die innere sachliche
Bezogenheit der Dialektik auf die Einheit des Logos sichert ihre
Entfaltung vor einem Auseinanderfallen der Pole ihrer Betätigung
im Sinne eines schlechten Zweiwelten-Dualismus, der auf die eine
Seite die Welt der reinen Erkenntnis, der reinen Ideen schiebt und
auf die andere Seite die angeblich ideenlose Welt der Realitäten.
Hinwiederum ist durch diese ihre dialektische Selbstentfaltung die
Vernunft gesichert vor einem überspannten panlogistischen Monis-
mus, der den Gedanken der Vernunfteinheit und der Vernunft-
allmacht so stark betont, daß die Gefahr der Zersprengung dieses
Systems sofort dann akut wird, sobald der Blick auf Taten und
Realitäten fällt, die sich jener Vernunfteinheit und Vernunftallmacht
nicht zu beugen scheinen, ja ihr geradezu Hohn sprechen.
In Platos und Kants, ja auch in Fichtes und Hegels dialek-
tischem Idealismus hat die Philosophie den bekannten und land-
läufigen Gegensatz von Monismus und Dualismus bereits über-
wunden und hinter sich gelassen. Jene Denker sind weder die Ver-
treter einer Zweiweltenlehre, die die Erscheinungs- und die Ideen-
welt u. dgl. auseinanderreißt, die das Sein und das Sollen beziehungs-
los einander gegenüberstellt, die dort das ,»Vergängliche“ und ohne
Brücke zu ihm da das ,,Ewige“ ansiedelt, wie das von Platon und
4. Der sittliche Wert der Dialektik
169
von Kant behauptet zu werden pflegt, noch sind sie Identitäts-
philosophen, die, wie das Fichte und Hegel angeblich lehren, die
restlose, die bruchlose Einheit von Sein und Sollen, Erscheinung
und Idee, Praxis und Theorie, Tun und Erkennen zum Prinzip ihrer
Lehre und zum Prinzip der Wirklichkeit machen. Denn die Dia-
lektik trägt beide Pole, ganz gleich, wie diese bezeichnet werden
mögen, als korrelative Glieder einer inneren Einheit in sich. Der
dialektische Idealismus ist ebensowohl Polaritätsphilo-
sophie und Antinomismus als auch Einheitslehre und
Harmonismus.
4. Der sittliche Wert der Dialektik.
Und sollten nun das überlegene Ansehen, ja, die doch einzig-
artige Weltgeltung, die den soeben genannten Systemen zukommt,
sollte ihre übertheoretische Begründung und Rechtfertigung nicht
auf diesem ihrem Doppelcharakter, auf dieser ihrer Dialektik be-
ruhen? Darauf nämlich, daß sie Theorie und Praxis zugleich sind?
Darauf, daß sie ihre Eigentümlichkeit nicht darin ausprägen und
erschöpfen, nur einen rein erkenntnismäßigen, sozusagen einen in
der Hauptsache „wissenschaftlichen“ Wert in sich zu tragen und
nur den Absichten und Zielen der Erkenntnis und der „willensfreien“
Auffassung und Betrachtung zu dienen, sondern auch in voller
Nachdrücklichkeit dem Leben, dem Handeln zugewendet zu sein
und auch dieses Leben in seiner Unruhe und Vielfalt verstehen
und meistern zu wollen?
Eine Ethik, die ihrem Wesen nach auf der Idee der Dialektik
errichtet ist, die also eine Philosophie der Sittlichkeit im Rahmen
des Systems des dialektischen Idealismus darstellt, würde, um einmal
in Stichworten zu sprechen, in der Unruhe des Konfliktes, in dem
Kampf selber, in den immer wieder sich schicksalshaft aufdrängenden
Lebensantinomien kein Laster, sondern — sit venia verbo — eine
sittliche Sünde, eine aus der Dialektik des Lebens emporsteigende
sittliche Ur-Macht erblicken und würdigen. Sie müßte und würde
anerkennen, daß die dialektische Un-Einheit des Lebens, sein Sich-
spannen und Sichsperren gegen die reine Einheit der Idee (z. B. der
Liebe) ganz und gar eine Notwendigkeit, ein notwendiger Bestand-
teil der Lebensdialektik ist, daß Unruhe und Unfriede, daß mensch-
liche Unvollendung und Kleinheit die antinomischen Voraussetzun-
gen für seelische Reinheit und sittliche Vollkommenheit, daß die
170
III. Der dialektische Idealismus
Sünde selber in aller ihrer Disharmonie die antithetische Bedingung
für die Harmonie, für die Heiligung, für die sittliche Erlösung ist.
Denn die „vergängliche“ Erscheinung gehört zur „Ewigkeit“ der
Idee, der Schein gehört zur Wahrheit, die Irrealität gehört zur Reali-
tät, die „Neigung“ als das Sinnliche und Unfreie gehört zur Sitt-
lichkeit der „reinen Pflicht“, das Endliche gehört zum Unendlichen,
das Relative gehört zum Absoluten, das Unreine gehört zum Reinen,
die Sünde gehört zum Heiligwerden, das Niedere gehört zum Höhe-
ren, die Welt der Erscheinung gehört zur Ideenwelt, der mundus
sensibilis gehört zum mundus intelligibilis. Aristoteles hatte nicht
nötig, die Erscheinungen Plato gegenüber zu retten (outguv ra
(paivoneva): sie waren bei Plato längst gerettet, da sie geborgen
waren durch ihre Abhängigkeit von der Ideenwelt, da sie von der
Idee her begriffen, vom Ewigen aus verstanden und gemeistert
waren.
Und bei Kant? Sein kritischer, sein dialektischer Idealismus
unterscheidet sich von Berkeleys absolutem (besser überspanntem
und phantastischem) Idealismus, der viel mehr Spiritualismus und
Verspiritualisierung und Verdampfung der Erfahrungswelt ist, da-
durch daß er die Welt der Erscheinungen so wenig leugnet oder
preisgibt, daß er sie gerade umgekehrt „begründet“, daß er ihre
unantastbare Objektivität, ihre, in den stählernen Formen der Ver-
nunft gesicherte Gegenständlichkeit nachweist. Er kann also ebenso-
wohl als „Realismus“ bezeichnet werden und ist von Kant selber
auch so bezeichnet worden. Genau wie Plato, begründet auch Kant
die Erscheinungen, also die Antipoden der Ideen, aus den „Ideen“,
aus den Synthesen der Vernunft, knüpft auch er die Erde an den
Himmel, das „Vergängliche“ und „Empirische“ an das Ewige und
Metaphysische.
Diese Dialektiker, diese dialektischen Idealisten werden also bei-
dem gerecht, dem Irdischen und dem Ewigen, dem Leben und
der Idee, indem sie beide unablösbar miteinander verknüpfen. Denn
in diesen Systemen offenbart sich der Sinn der Dialektik, der dialek-
tischen Synthese, der nämlich: die Pole der Wirklichkeit miteinander
in Wechselbeziehung zu setzen, das Gebundene, die bloße „Natur“,
die Welt der Erfahrung und der Erscheinungen, über sich hinaus
zu heben durch ihren Anschluß an die „Freiheit“, aber sie eben da-
durch nicht zu vernichten, sondern gerade zu „retten“. Es ist
die Kraft der Dialektik, die schließlich wieder zur,»Ein-
heit“ verhilft. Wir Menschen können und wollen die Vielheit
4. Der sittliche Wert der Dialektik
171
der Erscheinungswelt und die Spannungen und Antinomien des
Lebens nicht missen und nicht unterdrücken — das ist der eine Zug
unseres Wesens. Zugleich aber können und wollen wir die erlösende
Einheit der Idee und die erlösende Idee der Einheit nicht preisgeben
oder als bloßen Schall erklären lassen. Wir haben sie aus mehr als
bloß empirischen und aus mehr als auf Nutzen und pragmatische
Befriedigung abgestellten Bedürfnissen nötig; das Verlangen nach
der Idee gehört zu den metaphysischen und sittlichen Verpflichtungen
unseres Daseins und Handelns.
Der Doppelseitigkeit unseres Verlangens, gleichsam dem Weg
nach oben und dem nach unten, also dem Ganzen unseres Mensch-
seins, den beiden Seelen in unserer Brust entspricht der dialektische
Idealismus. Darum ist er eben diejenige Form der geistigen Arbeit
an der Welt und des geistigen Ringens mit ihr, die, wie sie den gan-
zen Menschen erfaßt und umfaßt, so auch von dem ganzen Men-
schen umfaßt und getragen wird und zum Range der Klassizität
emporgestiegen ist. Der dialektische Idealismus gewann im Kampfe
gegen andere Auffassungs- und Deutungsweisen der Wirklichkeit
darum seine Weltgeltung und wird darum den Sieg behalten, weil er
unvoreingenommen und überlegen der Welt und den Menschen
im universalen Sinne ihre Geltung läßt, ja, diese universale Geltung
versteht und begründet! Er sieht die Pole der Welt, versteht die
Notwendigkeit ihrer Gegensätzlichkeit ebensowohl wie die ihrer
Beziehung zueinander. Er schafft dadurch Einheit zwischen ihnen,
und indem er diese Einheit herstellt, liefert er mit dem Verstehen
auch die Voraussetzung für eine seelische Haltung, die unter der
„Polarität“ des Lebens, die unter seiner ,,Dialektik“ nicht mehr
leidet, sondern sie gemüthaft zwingt und zur Freiheit über alle
Antinomien aufsteigt, ohne diese Antinomien aber irgendwie zu
verkleinern oder zu lästern oder zu verachten. Denn wie könnten
wir die Freiheit erringen, wären die Spannungen und Konflikte,
die Unruhen und Unausgeglichenheiten des Lebens nicht da als
Stoff, als Leben, als Schicksal. So dialektisch ist und bleibt das
Leben, daß es für seine Freiheit die Antinomien zur Freiheit, die
Unfreiheiten gebraucht. Die Notwendigkeit und das Recht dieser
Paradoxien einzusehen, die Größe der Antinomien zu begreifen,
das lehrt der dialektische Idealismus.
Es ist nicht mehr nötig, jetzt noch anzugeben, welche außer-
ordentlich wichtigen Folgen damit für die praktisch-sittliche Stellung-
nahme zur Problematik des Lebens verbunden sind. An dieser Stelle
172
III. Der dialektische Idealismus
darf es nach allen Ausführungen genügen, noch einmal zu betonen,
daß die Dialektik sowohl ein Prinzip des Verstehens und des theoreti-
schen Deutens als auch ein solches von praktisch-weltanschaulicher
und sittlich-normativer Kraft ist. Haben wir einmal eingesehen,
daß das Leben dialektisch-antinomäsch ist, so werden wir es
leichter ertragen und beherrschen. Diese Erkenntnis verhilft uns
zum Heroismus und zum Humor und dadurch zu der zweifellos
stärksten Ausprägung der sittlichen Selbständigkeit und Freiheit.
Sie wirkt auf diese Weise human und humanistisch im reinsten
Sinne, besser: humanisierend und führt zu vorurteilsloser Gerechtig-
keit allem gegenüber, was Mensch ist. Ketzerrichterei ist ihr wesens-
fremd, weil sie keine Spur des Dogmatismus und des rationalistischen
Moralismus an sich trägt, weil sie die Fülle des Lebens offen zugibt,
ja, diese Fülle und Mannigfaltigkeit dem Leben ansinnt. Sie kommt
an das Dasein nicht mit einem ausgeklügelten Maßstab von Voll-
kommenheit heran, sie will es nicht unter eine Sonderklasse von
Wertbegriffen beugen, die nur aus der Theorie und Abstraktion
stammen.
Aller Dogmatismus ist eine grämliche, verdrießliche und ver-
drossen stimmende Weltanschauung. Denn er ,,verurteilt“ immer,
läßt nur gelten, was dem Kanon seiner Voraussetzungen entspricht.
Alles andere ist ,,Sünde“, ,,Sinnlichkeit“, ,,Unvollkommenheit“,
das ,,Niedere“, sei es eine ,»niedere“ Stufe der Erkenntnis, sei es
eine „niedere“ Stufe des Handelns. Diese enge splitterrichterliche
Haltung ist dem theologischen Dogmatismus ebenso eigen wie dem
rationalistischen Dogmatismus der Aufklärung. Dort waren „Fleisch“
und „Fleischeslust“ die häßlichen Flecken, die zu beseitigen waren;
hier war es die „sinnliche“ Erkenntnisform, der der Kampf galt.
Weder dort noch hier eine wahre Humanität und eine helle Gerech-
tigkeit. Weder dort noch hier Freiheit und Humor.
Indem der dialektische Idealismus jedoch zu dieser Geisteshaltung
verhilft, offenbart er das, was an übertheoretischem, an sittlichem
Gehalt in ihm steckt und wirksam werden kann, führt er zu einer
letzten und höchsten „Güte“. Wie unlösbar gehören doch Freiheit,
Güte, Humor zusammen! Wie aber vermögen sie anders gewonnen
zu werden als aus allseitigem Verstehen? Und worin und wodurch
vermag ein philosophisches System seinen Geltungswert deutlicher
auszuweisen als dadurch, daß es das Leben durch allseitiges Ver-
stehen und allseitige Gerechtigkeit über sich hinaushebt, daß es
unserem Dasein die Befreiung vom Druck, unserer Seele den Humor
5. Dialektik — Freiheit — Humor
173
schenkt? Auch darin sprechen sich eine wissenschaftliche Enge
und eine dogmatische Parteilichkeit aus, daß ein philosophisches
System seine Geltung nur in seiner reinen, in sich begründeten
Wahrheit, in seiner zweckfreien Rationalität besitzen soll. Es
wird gesagt, deshalb seien die Griechen eines Ruhmeskranzes würdig,
weil sie das Erkennen von jeder Abhängigkeit von praktischen
Zwecken abgelöst, die Spekulation rein auf sich selber gestellt hätten.
Ihnen vor allem verdanke die Philosophie ihre Autonomie als selbstän-
dige Forschung. Jede Zeile von Platon und von Aristoteles zeigt, daß
dem nicht so ist, zeigt, daß jene ,»Anerkennung“ auf einem Miß-
verständnis beruht, zeigt, daß die griechischen Denker zu groß, zu
universell waren, um die Würde der Philosophie in ihrer abstrakten
Reinheit zu sehen oder auf eine solche abstrakte Reinheit hinzustre-
ben. Jede Zeile von ihnen beweist es, daß der tiefste Bewährungs-
grund der „Wahrheit“ in dem „Guten“ liegt, zu dem die Erkenntnis
verhilft, und zwar darum verhilft, weil wahre Erkenntnis nur aus
dem Quell des Guten stammt und im Guten verankert ist. Keine
„reine“, d. h. graue Theorie boten die Denker Griechenlands, sondern
eine „Lebensphilosophie“, eine Philosophie, in der das Erkennen
und Verstehen seinen eigentlichen Gehalt aus seiner Kraft zieht,
das Leben sittlich zu erhöhen. Wer in Platon nur einen „reinen“
Philosophen erblickt und ihn deshalb anerkennt, tritt an einen der
größten „Weisen“ und Geistesführer mit den Gesichtspunkten und
Wertmaßstäben des abstrakten Intellektualismus heran, macht ihn
zu einem „Rationalisten“ und zum Vertreter einer dogmatischen
Aufklärungslehre. Und ein Gleiches gilt in bezug auf Kant.
5. Dialektik — Freiheit — Humor.
Bedarf es nach allen diesen Ausführungen nun noch einer genaue-
ren Darlegung für das Recht der Behauptung, daß dem Universalis-
mus der Dialektik Güte und Gerechtigkeit, Freiheit und Humor
sozusagen im Blute liegen? Und daß umgekehrt da, wo Güte und
Gerechtigkeit, Freiheit und Humor herrschen, der Universalismus
der Dialektik, sagen wir einmal, als Geisteshaltung und Welt-
anschauung, als Gesinnungsweise und Metaphysik, als Theorie und
Ethos die Grundlage des Bewußtseins, des Wissens und des Ge-
wissens bildet? Wie eines mit dem anderen in Wechselbeziehung
steht, so kann das eine auch für das andere eintreten und als Kri-
terium gelten. Waren nicht stets diejenigen Philosophen, die die
174
III. Der dialektische Idealismus
Güte und die Gerechtigkeit als Haupttugenden bezeichnten, auch
die Lehrer der Freiheit und diejenigen, deren System auf dem Prinzip
der Freiheit errichtet war? Wieder darf es genügen, hier nur kurz
auf Kant hinzuweisen.
Und von dieser Erkenntnis aus wäre es auch ein leichtes,
einmal klarzulegen, welche hohe Rolle in dem System des Kri-
tizismus das Prinzip des Humors spielt! Des Humors in sub-
jektivem Sinne, d. h. als Ethos, und im objektiven Sinne, d. h.
als konstruktive Bedingung für den Kritizismus selber! Nicht um-
sonst war auch Kant als Mensch, als Tischgenosse ein Freund des
Humors! Und wird einmal dieser Anteil aufgedeckt, den der Humor
als Prinzip für das kritische System besitzt, dann wird vollends die
Unhaltbarkeit jener Kennzeichnung sich ergeben, die in Kant immer
in erster Linie einen ,,Rationalisten“ erblickt. Erfolgte nicht Kants
Kampf gegen den Dogmatismus auch aus einem ganz großen Humor
heraus? Wer beide Seiten der Philosophie sieht, nämlich ihre empiri-
stische und ihre rationalistische Entwicklungslinie, und wer beide
Linien in Freiheit zu würdigen vermag, wer diese Freiheit in sich
hat, der ist frei von allem Dogmatismus, der ist ein Fürst im Wunder-
lande des Humors.
Oder schreiten wir nun einmal aus dem strengen Gebiete der
Philosophie für einen Augenblick hinaus in das eigentliche Wunder-
land, in das Land der Kunst. Auch hier erweisen sich die ganz
Großen als ,,Dialektiker“, als dialektische Idealisten; sie erweisen
sich als die ganz Gerechten und als die ganz Gütigen und als die
ganz Freien, die auch in ihren Schöpfungen diese Dialektik, diese
Güte, diese Freiheit, diese Gerechtigkeit versinnlichen, denen nichts
zu klein und nichts zu gering, denen nichts schlecht und nichts zu
schlecht ist, die eben die Pole umspannen und in ihren Götterhänden
treu und dankbar bewahren. Ihnen liegt nichts ferner als jener
dogmatische Moralismus, der Menschen und Taten, Gefühle und
Schicksale, Probleme und Handlungen von Anfang an in eine Wert-
rubrik preßt und erst daraufhin wagt, sich mit ihnen zu beschäftigen,
von ihnen zu sprechen, sie zu veranschaulichen, wenn ihre ,»Wert-
höhe“ festgestellt ist. Dieser dogmatische Moralismus macht
auch in der Kunst das Leben von einer vorgefaßten Bewertung,
Wertabstempelung abhängig, zwingt und zwängt einen Ablauf
in ein Wertschema, vergewaltigt es durch beständige Wertungen
und nimmt ihm dadurch seine dialektische Freiheit und seine
Größe.
5. Dialektik — Freiheit — Humor
175
Der Dialektizismus hingegen hat an dem Leben und an dessen
Dialektik uneingeschränkte Freude; er rüffelt nicht die Bösen und
preist nicht die Guten; er verteilt nicht Satz für Satz, Szene
für Szene Belehrungen und Bewertungen; er geht frei dem Spiel
des Lebens nach und steht nicht hinter ihm mit erhobenem Zeige-
finger und schulmeisterlichen Weisungen und Warnungen. Das Leben
ist dem Dialektiker der Kunst in seiner dialektischen Fülle und
Freiheit heilig; er hat Demut vor seinem Reichtum und vor der
Allseitigkeit seines Glanzes. Er benutzt die ihm verliehenen Gaben
nicht, um das Leben zu bevormunden, um ihm seine Weltanschauung
aufzudrücken, um es zum Text einer Predigt zu machen. Er will
es in seinem Reichtum und in seinem Glanz rein spiegeln; er weitet
sich zum Weltauge, bringt allem Sein seine Liebe und Gerechtigkeit
und seine Güte entgegen; er ist „glücklich“ über die lebendige
Dialektik, über das wirbelnde Spiel in und zwischen den Menschen,
entzückt sich an ihren Tollheiten und Torheiten und klagt nicht
mit greinenden Beschwerden über menschliche Schwächen und
Schlechtigkeiten. Er hat mit anderen Worten die Genialität und
den Universalismus des Humors, weil er im Geiste der „Freiheit“
schafft, weil seine Phantasie nicht durch Moralismus und „Philo-
sophie“ gegängelt, weil seine Seele nicht durch einen „Standpunkt“
entblutet ist.
So ist die Welt Shakespeares, des Freiesten der Humoristen
und des größten unter allen Dialektikern der Kunst. Seine Phantasie
kennt nur den Zaum der Freiheit: Gefiel’s euch, so habt ihr, was
ihr wollt. Seine Welt ist ein Sommernachtstraum, ist ebensogut
ein Wintermärchen. Seine Menschen tragen, ob groß oder gering,
ob klug und weise oder beschränkt, ob wild oder gezähmt, die Trieb-
kraft der Dämonie in sich. Es ist im Grunde alles hexisch, was
geschieht. So ist die Welt Rembrandts, dessen „Polarität“ Georg
Simmel ausgezeichnet verstanden und herausgestellt hat. So ist
die Welt des jungen Goethe. Aber auch im alten Goethe arbeitet
die Dämonie, kreist tief drinnen die Polarität — auch das hat Simmel
erfaßt. So ist die Welt des Schöpfers des Don Giovanni: ein Werk,
ganz erfüllt von dämonischer, von shakespearehafter Dialektik. Wo
findet sich eine ausreichende Bezeichnung für seinen musikalischen
Zauber, für die trunkene Lebenswildheit Don Giovannis? Auch
hier wirbelt und gleißt das Leben selber in seinen Licht- und Schatten-
seiten. Und noch die Untergangsszene ist ganz durchpulst von
erbarmendem Humor. Sie schildert kein Strafgericht, sondern die
176
III. Der dialektische Idealismus
selige Lust am Verhöhnen und Gotteslästern. Kein Bußfertiger
bereut seine Sünden. Denn Giovanni weiß nichts von Sünden und
von Schuld; auch Wolfgang Amadeus Mozart weiß nichts davon.
Sie wissen nur von ,,Leben“, von Jubel, von Kraft, von Freiheit.
Kein Trauermarsch, sondern ein Hymnus beendet diesen Heroismus.
Und die wenigen moralisierenden Schlußworte sind so sehr in Humor
getaucht, daß sie ihren moralistischen Gehalt dialektisch aufheben.
Mozarts Don Giovanni ist eine ,,komische“ Oper im höchsten Sinne,
,,komisch“ wie das Leben selber ,,komisch“, selber ,»humoristisch“,
also dialektisch ist.
6. Die Dialektik im System der Philosophie.
(Die Dialektik zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik.)
Mit allen diesen Andeutungen über das Wesen des dialektischen
Idealismus sollte die grundsätzliche Bedeutung der Dialektik, ihr
Geltungswert als konstruktiver und regulativer Gesichtspunkt in
kurzen Strichen Umrissen werden. Es ist unschwer, zu erkennen, daß
damit ein allgemeines Programm vorgelegt wird, dessen Ausfüh-
rung ein ,,System der Dialektik“ zu ihrem Gegenstände hat.
Doch das eine werden diese Andeutungen wahrscheinlich oder hoffent-
lich bereits haben anklingen lassen: Die Idee der Dialektik stellt
kein Nebenerzeugnis des philosophischen Nachdenkens dar; sie ist
auch kein Ausdruck persönlicher Neigung und Begabung gerade
für diese Art des Denkens, neben die sich ebenbürtig und ebenso
ergiebig andere Formen der philosophischen Betrachtung reihen
könnten.
In den vorangehenden Darlegungen lag der Nachdruck der Kenn-
zeichnung nur auf der allgemeinen Charakteristik der Dialektik.
Hin und wieder wurde die überlegene Wichtigkeit dieses Gesichts-
punktes durch ein schnelles Eingehen auf diese oder jene Sonder-
ausprägung des dialektischen Denkverfahrens beleuchtet. Bei der
genauen Ausführung des Systems müßte vor allem die Dialektik
in den beiden philosophischen Hauptdisziplinen, in der Erkenntnis-
theorie und in der Metaphysik, nachgewiesen werden. Es wäre
zu zeigen —und es ist natürlich auch zu zeigen —, daß beide Diszi-
plinen in doppelter Hinsicht eine Dialektik in sich tragen, und zwar
eine solche in grundsätzlicher und grundlegender Beziehung: diese
Disziplinen sind als solche, als philosophische Disziplinen, in eine
unaufhebbare Dialektik verflochten, in die nämlich, daß eine jede
6. Die Dialektik im System der Philosophie
177
von ihnen selbst als Grunddisziplin sich auf die andere beruft und
stützt, daß sie ohne die andere nicht auskommen, ja, ohne die andere
sogar ihren eigenen Begriff nicht zu erfassen und nicht zu bestimmen
vermag. Denn wenn die Erkenntnistheorie als die Wissenschaft der
Wissenschaft, als dieTheorie der Erkenntnis definiert wird, so ist in dem
Begriff der Wissenschaft bereits die Beziehung auf ein ,,Sein“ als die
reale Grundlage, als die vorwissenschaftlich seiende Wirklichkeit vor-
ausgesetzt, auf die die Arbeit der Erkenntnis erst hinzielt. Dieses „Hin-
zielen“, dieses Bewältigen oder Bewältigenwollen eines „Seins“ hat
aber doch nur dann einen Sinn, wenn dieses „Sein“ als seiend irgend-
wie angenommen, irgendwie gesetzt gilt, selbst wenn es nur als X gilt.
Dann gilt eben dieses X als seiend. Aber das gleiche gilt auch um-
gekehrt. Wie kann denn eine solche metaphysische Setzung des
Seins als gültig behauptet werden, wenn nicht auf Grund der logischen
Gültigkeit der Formen der Erkenntnis, wenn also nicht die Priorität
des metaphysischen Seins im Prinzip verbunden wird mit der Apriori-
tät der Erkenntnis dieses Seins? Auch die ontologische Unbedingt-
heit des Seins, die gewißlich vorauszusetzen, die gewißlich mit aller
ontologischen Strenge anzunehmen ist, ist doch von einer noch so
dogmatischen Ontologie nur vorausgesetzt, nur angenommen im
Rahmen einer Theorie: Denn die Onto-logie ist doch Logik des
Seins. Sie hat doch das „Sein“ nicht als solches. Das heißt: Die
Metaphysik trägt in sich eine Erkenntnistheorie, beruht auf einer
solchen und umgekehrt. Zwischen diesen beiden Grunddiszi-
plinen herrscht das Verhältnis dialektischer Korrelation.
Deshalb ist auch die Frage und der an sie sich anschließende
Streit im Grunde gegenstandslos, ob die Systematik der Philosophie
mit der Erkenntnistheorie oder ob sie mit der Metaphysik zu be-
ginnen habe, und welche der beiden philosophischen Grundwissen-
schaften nun auch wirklich uneingeschränkten Anspruch auf die
Geltung einer solchen Wissenschaft besitzt. Dieser Streit ist ange-
sichts der merkwürdigen Opposition gegen die „ewige“ Beschäftigung
der Kantianer und Neukantianer mit der Erkenntnistheorie lebendig
geworden. Gewisse Richtungen in der Philosophie der Gegenwart
glaubten und glauben noch, gegen diese „Einseitigkeit“ die Not-
wendigkeit einer Erneuerung der Ontologie und einer Wendung zur
Metaphysik empfehlen zu müssen. Wollen wir nicht in einen vor-
philosophischen Dogmatismus zurücksinken, der naiv, der ganz
durchtränkt von dem überheblichen, weil absolutistischen Selbst-
bewußtsein des alten Rationalismus, also unkritisch ein „Sein“ als
Liebert, Dialektik. 12
178
III. Der dialektische Idealismus
solches, eine absolute Substanz, ein ens a se aufsteilte, so bleibt
nichts anderes übrig als die Erkenntnis und die Betonung, daß auch
die Ontologie einer erkenntniskritischen Grundlegung bedarf.
Anderenfalls ist sie nichts als ein Inbegriff dogmatisch-naiver und
jeder Nachprüfung sich entziehender bzw. entzogener einfacher
Behauptungen.
Ist das Bewußtsein dafür geweckt, daß jene beiden philosophi-
schen Grunddisziplinen in dialektischer Wechselbeziehung zuein-
ander stehen, dann ist es eine verhältnismäßig untergeordnete Frage,
mit welcher Disziplin nun die Darstellung der Systematik der Philo-
sophie tatsächlich anfangen soll, z. B. in einer Vorlesung oder in
einem Buch, die etwa den Titel führen: „Einleitung in die Philo-
sophie.“ Es kann sich dann nur noch um Entscheidungen unter
dem Gesichtspunkt der äußeren Zweckmäßigkeit, der Rücksicht auf
die Vorbildung eines bestimmten Hörerkreises, der Eingliederung in
einen bestimmten Lehrplan und seinen Wechsel und in die Stufen-
folge von Unterrichtskursen u. dgl. handeln. Nimmt man eine der
beiden Disziplinen in Angriff, so ist von Beginn an und auch bei
dem Übergang zu einem neuen Problemkreis in ihr die durchgängige
Korrespondenz mit der anderen Disziplin und dem betreffenden
Problemkreis hervorzuheben. Das fordert ähre Korrelation, das
fordert nicht minder das Prinzip der Dialektik, das für die Grund-
legung und für den Aufbau der philosophischen Systematik die
schlechthin maßgebende Bedingung ist. Formulieren wir es einmal
ganz kurz: Das Prinzip der Dialektik oder die Dialektik
als Prinzip ist das Apriori für das System der Philosophie.
Es ist aber, und damit kommen wir zu der zweiten dialektischen
Beziehungsform zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik und zu
dem tieferen Grund dieser vorerst nur formalen und methodologi-
schen Beziehung zwischen ihnen, das dialektische Prinzip deshalb
von jener fundamentalen Bedeutung, weil letztlich nicht bloß zwischen
diesen Disziplinen und Theorien, sondern zwischen ihren Gehalten,
zwischen dem, wovon sie die Theorien sind, das Prinzip der
Dialektik herrscht: Zwischen Erkennen und Sein. Wir
stehen hier vor einer Beziehungsform, deren Bedeutung nicht hoch
genug geschätzt, deren prinzipielle und auch quantitative Trag-
weite nicht stark genug betont werden kann. Vielleicht ist es nicht
zuviel gesagt, wenn gerade diese Beziehungsform als eine Ur-
Antinomie und Ur-Dialektik angesehen und entsprechend gewertet
wird. Und vielleicht ist es sogar möglich, den Gedanken des Ver-
7. Dialektizismus — Identitätssystem — Parallelismus
179
hältnisses von Erkennen und Sein zum Gesichtspunkt einer Typo-
logie der philosophischen Systeme zu machen. Die Durchführung
dieses Gesichtspunktes würde die einzigartige konstruktive Geltung,
die in der Idee dieses Verhältnisses liegt, ans Licht treten lassen.
Eine solche typologische Gliederung ist bereits von den ver-
schiedensten Standpunkten und unter Zugrundelegung der ver-
schiedensten Einteilungsprinzipien versucht worden. So z. B. von
Trendelenburg und von Dilthey. Auch Kant hat mit der bekannten
Einteilung der metaphysischen Systeme in Dogmatismus und Kri-
tizismus, denen beiden gemeinsam als dritter Typus der Skeptizis-
mus gegenüberstehe, eine solche Gliederung vorgenommen.
7. Dialektizismus — Identitätssystem — Parallelismus.
Denken wir nun an unser Verhältnis, so hätten wir mit der
eleatischen Ineinssetzung von Denken und Sein — falls der Eleatis-
mus in diesem Sinne aufzufassen ist — ein Identitätssystem vor
uns. Daß mit einer solchen Ineinssetzung nicht viel anzufangen ist,
daß überhaupt das Denkprinzip der Identität in systematischer Hin-
sicht keine allzu große Fruchtbarkeit besitzt, sei nur nebenbei be-
merkt. Die Identitätssysteme nehmen eigentlich beiden Begriffen,
sowohl dem des Seins als auch dem des Erkennens, ihren autonomen
Sinn und veranlassen eine aschgraue Vermengung derjenigen Be-
stimmungen, die, begrifflich scharf gedacht, doch die Pole aller
Wissenschaft sind. Es sind jene beiden äußersten Eckpfeiler, die,
wenn sie zur Einheit und Einerleiheit verschmolzen werden, im
Grunde allen Kampf, alle Anstrengungen der Wissenschaften ent-
behrlich machen. Denn dann ist ja entweder das „Objekt“ (das
Sein) so in den Erkenntniszusammenhang hineinverlegt, daß es
überhaupt nicht mehr besonders erkannt zu werden braucht bzw.
aus diesem Zusammenhang einfach deduziert werden könnte: Es
wäre kein Problem, keine Aufgabe mehr. Oder das „Subjekt“ (das
Erkennen) hätte seinen logischen Charakter eingebüßt, es wäre
durch sein Hineinverlegtsein in die Sphäre und unter die Kompetenz
des Seins eine denkfremde, eine denkjenseitige, eine außerlogische,
eine ontologische Größe. Ich vermag den Wert nicht zu ermessen,
den diese — von dem alten, klassischen und dem neuen Dogmatismus
immer wieder begangene — Hypostasierung des Denkens zum Sein
besitzen soll. Will der Ontologismus (und Thomismus) damit den
Realitätscharakter des Denkens, sein Wirklich-Sein betonen, so rennt
12*
180
III. Der dialektische Idealismus
er damit offene Türen ein. Denn keine Spielart des Idealismus, und
sei sie diejenige, die mit dem Namen des absoluten Idealismus be-
zeichnet zu werden pflegt, leugnet oder verkennt diesen Realitäts-
wert. Geht doch der Idealismus geradezu darauf aus, die Realität
der Idealität, die Realität der ideellen Synthesen, von denen oben
die Rede war, darzutun, ja diese Realität als die eigentliche, als
die „wahre“ Realität, als die alle empirischen Realitäten a priori
und logisch begründende Realitätsnotwendigkeit nachzuweisen.
Unternimmt es umgekehrt der Ontologäsmus, die Realität des Seins
gegenüber seiner angeblichen „Subjektivierung“ durch den Idealis-
mus zu retten, versucht er, die durch den transzendentalen (er-
kenntniskritischen) Idealismus angeblich vorgenommene Verdün-
nung und Auflösung der Wirklichkeit zu einem illusionistischen
Schein abzuwenden, so muß gesagt werden: Diese Rettung der
Wirklichkeit ist gegenstandslos, die auf sie gerichtete Arbeit be-
beruht auf einem Mißverständnis. Allerdings auf einem Miß-
verständnis, das seit der Entstehung des Idealismus, und zwar
nicht erst seit dem Entstehen des kritischen Idealismus, unzählige
Male aufgetreten ist. Immer wieder ist die Besorgnis geäußert
worden, daß der Idealismus die Realität in Abrede stelle,
wobei die eine Form des Dogmatismus, die rationalistisch-meta-
physische, an die „absolute“ Realität dachte, die andere Form des
Dogmatismus, nämlich der Positivismus und Empirismus, an die
Realität der Erscheinungswelt. Diese Besorgnis, nicht selten ge-
radezu zu einer Anklage gesteigert, ist hinfällig. Welche Ausprägung
des Idealismus leugnet die Realität des Seins, wenn wir von der
verstiegenen Form des Berkeleyschen, besser als Spiritualismus zu
bezeichnenden Idealismus absehen? Der spekulative Idealismus hat
das Bestreben, die Realität an sich mittels der dialektischen Kon-
struktionen zu erfassen, mag er diese Realität das Absolute, das
absolute Ich, die Weltvernunft, die absolute Idee, den absoluten
Geist usw. nennen. Der kritische Idealismus erfaßt nicht bloß, son-
dern er deduziert und begründet die Realität der Erscheinungswelt,
er deduziert und begründet ihre Objektivität.
Worauf mag dieses Mißverständnis wohl zurückzuführen sein?
Wenn nicht auf einfache Unkenntnis gegenüber dem Idealismus,
besonders gegenüber dem kritischen als dem eigentlich dialektischen
Idealismus, dann auf eine genuine, auf eine sozusagen angeborene
Befangenheit in dogmatisch-ontologistischen Vorstellungs- und Auf-
fassungsweisen. Ich meine damit keineswegs eine nur dem Einzelnen
7. Dialektizismus — Identitätssystem — Parallelismus
181
zuzuschreibende, nur aus seiner Erkenntnis- und Willensindividua-
lität stammende Befangenheit, sondern eine habituelle und charak-
terologische Eigentümlichkeit der Erkenntnis und Weltanschauung,
eine prinzipielle, oft auch traditionell und entwicklungsgeschichtlich
bedingte Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus der geistigen
Einstellung und Auffassung. Trifft diese Ansicht in bezug auf den
tieferen Grund des oben berührten Mißverständnisses zu, dann wird
auch der merkwürdige Umstand begreiflich, daß es so außerordent-
lich häufig auftritt und zugleich so selten zu beseitigen ist. Es ist
gleichsam verankert in dem metaphysischen Weltanschauungstypus,
den ein Mensch schicksalsmäßig in sich trägt und nun in den ver-
schiedensten Richtungen seiner geistigen und seiner praktischen
Betätigung zum Ausdruck bringt, einem unentrinnbaren Zwang
unterliegend. Wie die Weltanschauungen selber, die sich in be-
stimmten metaphysischen Systemen nur ein verhältnismäßig logi-
sches Gewand geben, Schicksalsmächte und übergeordnete geschicht-
liche Gewalten sind, so ist auch der Anschluß an ein solches System
und an die in ihm verkörperte Weltanschauung keine Sache des
Beliebens oder der willkürlichen Wahl. Die Weltanschauungen und
ihre Vertretung durch die Menschen gehören zu den ewigen, ehernen
Ringen, die unseres Daseins Kreise umspannen und halten. Daher
die geringe Aussicht gegenseitigen Verstehens, daher die Aussichts-
losigkeit, sich gegenseitig zu überzeugen, daher die durchgängige
Ergebnislosigkeit aller Widerlegungsversuche, daher der große, der
dauernde, der großartige Kampf zwischen den Weltanschauungen
und ihrer philosophischen Systematisierung.
So ist auch die Identitätsphilosophie die Bekundung einer solchen
unwillkürlichen Überzeugung. In ihr bricht die metaphysische Sehn-
sucht nach universaler Einheit, die für ganze Zeiten und Geschlechter
von charakterologischer Bedeutung ist, hervor. Negativ ist es die
Angst vor dem Zwiespalt, vor der Spannung, die Sorge vor der
Antinomie und ein damit verbundenes Mißbehagen, die zur Auf-
stellung der Einheit und Übereinstimmung von Denken und Sein,
von Logos und Welt, von Idee und Wirklichkeit treiben. Positiv
der harmonistische und humanistische Wesenszug, jener machtvolle
Typus des Monismus, jener Typus des Geistes, in dem Giordano Bruno
und Spinoza, Lessing und Goethe, Schleiermacher und Schelling
sich zusammenfinden: eine klassizistisch-humanistische Überzeu-
gungsgemeinschaft trotz der ,,Romantiker“, die ihre Mitglieder sind.
Aber immer wieder ist gegen diesen Monismus oder Pantheismus
182
III. Der dialektische Idealismus
die unaufhebbare Dialektik und Problematik der Wirklichkeit aus-
zuspielen. Immer wieder muß ihm und allen von ihm vorgebrachten
„Lösungen“ gegenüber die Unerschöpflichkeit der Antinomien be-
tont werden, d. h. der Gedanke, daß die Polarität des Lebens jede
Harmonie immer wieder zersprengt oder, was nichts weniger be-
deutet, in Frage stellt. Besser gesprochen, daß die ,,Einheit“ immer
wieder Aufgabe und Problem wird. Bleibt das nicht das Gefährliche
an dem Humanismus und Harmonismus, daß er dazu neigt, den
Wunsch nach Einheit schon für das ausreichende Mittel zur Er-
reichung der Einheit oder gar für die wirkliche Einheit zu nehmen?
Wo er aber diese Einheit als Aufgabe und Ziel hinstellt und lehrt,
was am deutlichsten bei seiner pädagogischen Form und bei der
Aufstellung des ihm eigentümlichen Bildungsgedankens zu sehen
ist, da wird er notgedrungenermaßen und folgerichtig zum — dialek-
tischen Idealismus. Auch auf dem Gebiete der Erziehung und der
Erziehungswissenschaft erweist diese Form des Idealismus ihre
Fruchtbarkeit, muß, mit anderen Worten, der Humanismus, der
einer der unvergänglichen Standpunkte zur Gewinnung wahrer Bil-
dung ist, dialektisch werden. Auch er muß einsehen, daß das Sein
des Menschen und sein Sollen keine Identität sind, daß sie solche
auch nie werden, daß also zwischen ihnen eine immanente Spannung
obwaltet, die die Voraussetzung aller tieferen Erziehung darstellt.
Anderenfalls gerät er in einen pädagogisch mehr als bedenklichen
Behaglichkeitszustand und Quietismus, verkennt auch er, zusammen
mit allem Monismus und aller Identitätsphilosophie, daß die „Ein-
heit“ von Sein und Sollen, Tatsache und Idee keine Gegebenheit
und kein „Ergebnis“, sondern eine Aufgegebenheit bedeutet, daß
zwischen ihnen eine — gerade in erzieherischer Richtung — ebenso
wohltätige als notwendige Dialektik nicht nur besteht, sondern zu
fordern ist.
Und vielleicht ist eine tiefere Begründung für das Recht
der Dialektik und für die Geltung des Gesichtspunktes der Dia-
lektik nicht zu erbringen als durch den Hinweis auf ihre sittlich-
erzieherische Notwendigkeit! Sie wäre dann sogar eine ethi-
sche Norm! Sie wäre ein sittliches Postulat! Und bedeutet sie
das nicht in Wirklichkeit? Ergibt sich ein Beweis oder mindestens
eine Stütze für diese Behauptung nicht aus der höchst beachtens-
werten Beziehung, die zwischen dem dialektischen und dem ethischen
oder normativen Idealismus seit den Zeiten Platons vorhanden ist?
Denn seit damals gilt es, die Dialektik, versucht man in die letzte
7. Dialektizismus — Identitätssystem — Parallelismus
183
tiefste Schicht ihrer „Wahrheit“ einzudringen, als Norm, als Auf-
gabe, d. h. eben als Idee zu verstehen und demgemäß zu verwenden.
Nicht nichtssagende Einheit, nicht problemleere oder problem-
vernichtende Übereinstimmung von Sein und Idee, von Wirklich-
keit und Wahrheit, sondern ein gegenseitiges Einanderfordern, Ein-
andernotwendigsein, ein wechselweises Aufeinander- und Gegen-
einanderdrücken, eine gegensatzträchtige Einheit, die in immer
neuen Reibungen und Konflikten bezeugt, daß ihre Pole nicht von-
einander loskommen und dennoch auch nicht in graue Vereinerlei-
ung verschmelzen, das ist diejenige Einheitsidee, die der dialek-
tische Idealismus, die der ethische Dialektizismus als seine schöpfe-
rische Voraussetzung in sich trägt.
Wie aber dieser Dialektizismus sich von dem Monismus der
Identitätsphilosophie unterscheidet, so unterscheidet er sich nicht
weniger stark von einer dritten Auffassungsweise bezüglich des Ver-
hältnisses von Sein und Denken. Das ist die sogenannte Parallelis-
mustheorie, auch wohl Präformationssystem (Crusius) oder Theorie
der prästabilierten Harmonie genannt. Nach ihr sind Sein (Realitas)
und Denken (Cogitatio) zwei selbständige Substanzen oder jedenfalls
zwei selbständige Wesensseiten einer Grundsubstanz, die in der
Form eines harmonistischen Parallelismus einander zugeordnet,
besser einander nebengeordnet sind. Diese Auffassung sucht die
auf der Hand liegenden Schwierigkeiten bzw. Unhaltbarkeiten der
Identitätshypothese, von denen oben einige Punkte angedeutet
wurden, zu vermeiden. Sie gewahrt und beachtet die Verschieden-
heit, die Diskrepanz von Denken und Sein. Aber in ihrem berech-
tigten Bestreben, die Haltlosigkeit des Monismus zu umgehen,
verfällt sie der nicht weniger argen Unmöglichkeit des Dualismus,
keiner geringeren Seltsamkeit als der Monismus. Nun bemerkt der
parallelistische Dualismus natürlich die unschwer wahrzunehmende
Gefahr eines beziehungs- und brückenlosen Auseinanderfallens der
beiden Substanzen Denken und Sein. Die Gefahr ist damit gegeben,
daß diese beiden Substanzen den Charakter von selbständigen
Wesenheiten besitzen sollen. Die in dieser Auffassung zutage
tretende ungeheure, eigentlich unbehebbare Schwierigkeit liegt
nicht in der unkritischen Verdinglichung des Denkens zu einer
,,Substanz“, sondern in der Erklärung der metaphysischen Selb-
ständigkeit und der ontologischen Autonomie dieser beiden Sub-
stanzen. Werden in ihnen solche absolut selbständigen Wesen-
184
III. Der dialektische Idealismus
heiten gesehen, dann ist die Möglichkeit einer Beziehung zwischen
ihnen ausgeschlossen, oder aber eine Beziehung wäre nur unter
Preisgabe ihrer absoluten Autonomie denkbar. Nun soll und kann
gemäß den Voraussetzungen dieses dualistischen Substantialismus
jene Selbständigkeit in keiner Bezugsweise eingeschränkt werden.
Dabei bleibt es ganz unerheblich, ob Denken und Sein als zwei Sub-
stanzen, wie bei Descartes, oder ob sie als zwei Attribute an der
Grundsubstanz gedacht werden, wie bei Spinoza. Soll die monisti-
sche Entscheidung außer Spiel bleiben, und besonders ein Descartes
ist ein Logiker von zu großem Scharfsinn, um die katastrophale
Schwäche jedes Monismus nicht zu durchschauen, so liegt die Ge-
fahr, in das Extrem zu fallen, nur allzu nahe. Aber nun muß trotz-
dem eine Beziehung zwischen den Substanzen angenommen werden.
Dazu scheinen die Wissenschaften zu zwingen, in erster Linie die
mathematischen Naturwissenschaften, die ja die Eroberung der
Welt der Tatsachen durch die Formen des Denkens auf Schritt
und Tritt zeigen. Dazu scheint das praktische Handeln des Men-
schen nicht weniger zu zwingen; denn auch dieses erweist unauf-
hörlich die Überwältigung des Stoffes durch die Kraft der Klugheit,
die Bezwingung der chaotischen Fülle des Gegebenen durch die
formenden und ordnenden Synthesen des Intellektes. Was ist in dieser
Verlegenheit also zu tun? DieAushilfe besteht in der Annahme einer
wechselseitigen Aufeinanderabgestimmtheit, eines Parallelismus der
beiden Substanzen. Denn das Verhältnis des Parallelismus wahre am
sichersten die unaufgebbare Selbständigkeit der beiden Substanzen.
Zugleich bringe die Theorie des Parallelismus die Erkenntnis der
doch offensichtlichen Beziehung zwischen ihnen zu logisch einwand-
freiem Ausdruck.
Welche seltsame, wunderliche Theorie ist dieser Dualismus, dieser
Parallelismus. Nicht nur eine wunderliche Theorie, sondern auch
eine Wundertheorie. Begreiflich, daß Kant ihr spitzigen Spott zuteil
werden läßt. Sie gehört augenscheinlich zur Gruppe jener allgemeinen
,,Lehren“, von denen man die Begriffsbestimmung wohl in Schrift-
zeichen niederschreiben oder in Sprachlauten aussprechen kann,
ohne mit diesem Tun einen Sinn verbinden zu können. Auch der
dualistisch-parallelistische Substantialismus gibt sich den Anschein
einer philosophischen Theorie. Wie wenig er das ist, zeigt bereits
die vollständige Begriffsleere oder Unbegrifflichkeit in der Definition
dieser Theorie. (Ebenso steht es, um noch ein Beispiel anzuführen,
mit der Definition, die vom Naturalismus bzw. Materialismus ge-
7. Dialektizismus — Identitätssystem — Parallelismus 185
geben werden kann.) Denn kein Mensch mit Verstand vermag zu
begreifen, was die Behauptung eigentlich bedeute, daß zwei Sub-
stanzen in einem Parallelitätsverhältnis zueinander stehen oder sich
befinden. Welches Kriterium bietet sich, um ihr Verhältnis gerade
als das der Parallelität, doch eine mathematische Bestimmung, zu
fassen? Innerhalb der mathematischen Konstruktion hat der Ge-
danke der Parallelität oder des Sichentsprechens einen guten, einen
gültigen Sinn. Handelt es sich hier doch um zwei, kraft des Denkens
als parallel konstruierte oder als parallel gedachte Größen, um Größen,
die einer und derselben Seinsweise und Seinsrichtung angehören, eben
der mathematischen, die deshalb derselben Logik unterstehen und der-
selben geistigen Dimension eingegliedert sind. Sie sind bereits kraft
ihres gemeinsamen Ursprungs und des ihnen gemeinsamen Erzeu-
gungsfaktors, nämlich der Spontaneität des Logos, „parallel“. Sie
sind ferner parallel, weil sie in ihrer Natur so gedacht, so erdacht
sind, daß diese Parallelität weiter kein Wunder ist. Und nur mathe-
matische Gebilde (Linien, Flächen) können auf Grund dieser Her-
kunft aus der mathematischen Erkenntnis in diesem — rein mathe-
matischen — Verhältnis zueinander stehen. Aber alle diese, für die
Parallelität maßgebenden und sie ermöglichenden und erzeugenden
Voraussetzungen fallen bei der Theorie des substantialistischen (in
einer engeren Form: psycho-physischen) Parallelismus schlechter-
dings weg. Es ist ein Spiel mit Worten, zu behaupten oder auch
nur zu vermuten, daß zwei Substanzen und dazu noch zwei Sub-
stanzen, die ihrem Wesen und Sinn und ihrer Begriffsbestimmung
nach die Antipoden zueinander sind, in jenem mathematischen
Verhältnis der Parallelität miteinander stehen. Mit diesem, in dem
vorliegenden Falle gänzlich leeren, gänzlich unangebrachten und
abwegigen Ausdruck wird nichts als eine Verlegenheit und nichts
als ein, aus schiefen Voraussetzungen herausfließendes und deshalb
auch ganz schiefes Geheimnis umschrieben. Das Land der Metaphysik
ist, so möchte ich ein bekanntes Bild Kants abwandeln, überall
von Geheimnissen umlagert. Das jedoch sind echte und tiefe, mit
logischer Notwendigkeit sich dialektisch ergebende Geheimnisse, keine
Scheingeheimnisse. Die ganze Parallelismustheorie ist, falls sie nicht
überhaupt eitel Mystik ist, wie in derTat bei einigen ihrer Vertreter,
eine langatmige Redensart. Erst unternimmt sie eine schon von
Anfang an unzulässige Hypostasierung und Substantialisierung
zweier Begriffe, dann reißt sie, was nicht weniger unzulässig ist,
diese Hypostasen absolut auseinander, zerbricht damit das Denk-
186
III. Der dialektische Idealismus
gesetz der Korrelation und vergeht sich gegen den Organismus des
Logos, in dem jeder Punkt mit jedem anderen in unaufhörlicher
Wechselbeziehung steht, um schließlich mit dem, für diesen Fall
unsachlichen Gedanken, besser: mit dem leeren Worte, es läge doch
ein Parallelismusverhältnis vor, ihren Scheinbau, ihr Kartenhaus zu
krönen. Eine dualistische Metaphysik ist eine noch größere Un-
geheuerlichkeit als eine monistische Metaphysik. Der Streit, ob
diese oder jene Metaphysik im Rechte sei, ist nicht etwa nicht zu
entscheiden: so steht es in bezug auf echte metaphysische Probleme
und echte metaphysische Antinomien, er ist vielmehr gegenstandslos,
er ist eine logische Donquichoterie.
Der soeben erwähnte Streit zwischen Monismus und Dualismus
ist durch denjenigen Standpunkt, den wir hier als Dialektizismus
usw. bezeichnen, also nicht etwa gelöst. Die Antinomie: Monismus-
Dualismus ist im Dialektizismus bereits von Anfang an aufgehoben,
so daß ihn jener Streit überhaupt nicht mehr berührt und nicht mehr
beschäftigt. Denn die dialektische Geisteshaltung und Gedanken-
führung versteht und erfaßt von Anfang an das Verhältnis von
Sein und Denken, Erscheinung und Idee, und wie die Verhältnispaare
lauten mögen, unter dem Gesichtspunkt der innerlich notwendigen
Wechselbeziehung. Sie versteht und erfaßt diese Relation, und diese
Relation ist es, die ihr als die schöpferische und konstruktive Synthese
für den Gesamtaufbau der geistigen Wirklichkeit gilt. Indem diese
schöpferische und konstruktive Synthese dialektischer Natur ist,
trägt die geistige Gesamtwirklichkeit im großen und im
kleinen die Züge der Dialektik. Der tiefste metaphysische
Quell aber für diese Dialektik in den aufbauenden Synthesen und
in der Struktur des Ganzen ist darin gegeben, daß die Vernunft
selber Dialektik ist. Das hat der Begründer der abendländischen
Philosophie, das hat Plato mit seiner Ideenlehre gezeigt. Und diese
grundlegende Erkenntnis ist durch die kritische Philosophie und
in ihr wiederum erneuert worden. Es ist die Frage und der Streit
entstanden, ob und in welchem Sinne und Umfange Kant Platoniker
sei. Er ist es schon deshalb, weil er Dialektiker ist. Er ist es, weil
jede echte konstruktive Philosophie Dialektik ist.
Dialektik und Kritik sind bis zu einem gewissen Sinne und in
nicht unbeträchtlichem Grade Wechselbegriffe. Keine philosophische
„Kritik“ ist ohne Dialektik möglich und ohne Dialektik durchführ-
bar. Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß die Dialektik
diejenige Methode darstellt, mittels der die Kritik ihre Aufgabe
8. Platon und kein Ende
187
der „Grundlegung“ eines Kulturgebietes unternimmt und vollzieht
(S. 164). Indem wir in dem Zusammenhang unserer Untersuchung
aber immer wieder betonen, daß der Begriff der Dialektik den-
jenigen der Kritik in sich schließt, so daß wir hier in den
Ausführungen selber kritische Dialektik treiben, müssen wir
zugleich erkennen und betonen, daß wir hier, was sich aus diesen
Gedanken als selbstverständlich ergibt, ebensogut von einer Kritik
der Dialektik als der Absicht und Aufgabe unserer Ab-
handlungen sprechen können. Denn da „Kritik“ Grundlegung
bedeutet, d. h. Begründung eines Kulturgebietes aus seinen tran-
szendentalen Bedingungen, so zielt diese Grundlegung stets und
notwendigerweise auf die Dialektik hin, die die Geltung der tran-
szendentalen Apriorität für das zu begründende Gebiet besitzt:
Kritische Grundlegung ist dialektische Deduktion.
8. Platon und kein Ende.
Für die Rechtfertigung dieser Behauptung, nach der die Dialek-
tik also die für die Philosophie schlechthin grundlegende
und wegweisende apriorische Idee bedeutet, ferner für den
Zweck einer etwas genaueren Kennzeichnung dieses Dialektizismus,
sind folgende Gesichtspunkte maßgebend:
Wenn die Idee der Dialektik die soeben erwähnte fundamentale
und kategoriale Wichtigkeit besitzt, dann muß sie auch in jeder
echten und wahrhaften Wendung zur Philosophie beherrschend her-
vortreten und in jeder Erneuerung der philosophischen Arbeit ihre
spekulative Kraft beweisen. In der Tat zeigt sich nun in der Er-
neuerung der Philosophie in der Gegenwart ein solches Hervortreten,
eine solche Erneuerungder Dialektik. Das ergibt zunächst die folgende
Untersuchung. Sie darf vielleicht nach zwei Seiten hin als beachtens-
wert gelten: Einmal in bezug auf die in philosophischer Hinsicht
so aussichtsreiche Renaissance der Dialektik selber. Es ist ein Krite-
rium für den Geist und für den Sinn, für das Wesen und den Wert
der in unserer Zeit unbestreitbar sich vollziehenden oder wenigstens
vorbereitenden Erneuerung der Philosophie, daß diese Erneuerung
mit der Renaissance der Dialektik nicht bloß Hand in Hand geht,
sondern erst auf dieser Renaissance beruht und in ihr ihre Voraus-
setzung und ihre Leitidee besitzt. Ferner darin, daß die Erneuerung
der Philosophie im wesentlichen eine Tat derjenigen Denker der
Gegenwart ist, die in ihrem Denken dialektische Züge tragen und
188
III. Der dialektische Idealismus
überhaupt in ihrer ganzen Einstellung und Gesinnungsweise Freunde
der Dialektik und somit — Platoniker sind.
Auch die gegenwärtige Renaissance der Philosophie
ist Renaissance des Platonismus. Auch sie ist wahrhafte
Renaissance der Philosophie nur insofern, als sie Renaissance des
Platonismus ist. Wie sehr diese beiden Renaissancen zusammen-
gehören und Zusammengehen, zeigte sich in der Geschichte des
Geisteslebens und der Philosophie schon mehr als einmal. Die
Wiedererstehung der Philosophie im 15. Jahrhundert zur Zeit des
Humanismus war Wiedererstehung Platons. Der gewaltige Um-
schwung, der in der Philosophie durch die Entstehung von Kants
Kritizismus erfolgte, war Wiedererstehung Platons. Die Philosophie
ist Platonismus, weil sie Dialektik ist, und weil Platon Dialektiker
ist. Jede ihrer Stufen und Wandlungen ist eine Stufe und Wandlung
im Geiste der Dialektik. Jede ihrer Stufen und Wandlungen offen-
bart die Ewigkeit des Platonismus. Der ,,Ewige Plato“ ist das
Gesetz ihres Schicksals, ist ihre Ewigkeit.
Es bedarf nun aber wohl nicht noch einer ausdrücklichen Ver-
sicherung und näheren Begründung dafür, daß hier der Gedanke
der Renaissance Platons nicht als die Überzeugung einer mechani-
schen Wiederholung des alten klassischen Platonismus, desjenigen
Platon, der seine Dialektik in einer Reihe unsterblicher Dialoge
niedergelegt hat, aufzufassen ist. Das kann schon deshalb nicht
gemeint sein, weil ich nur zu gut die Dialektik kenne, die mit der
sog. Platon-Auffassung und mit der Geschichte des Platonismus
untrennbar verbunden ist. Wie jede lebendige Geistesmacht, bedeutet
auch der Platonismus in einer Beziehung eine viel zu komplizierte
und viel zu singuläre und individuelle und in anderer Hinsicht eine
doch von bestimmten zeit- und kulturgeschichtlichen Umständen ab-
hängige Gestalt und Leistung, als daß seine unveränderte Aufnahme
durch ein anderes Individuum, durch einen anderen Zeitgeist und
in veränderte Gesinnungs- und Lebenslagen möglich wäre. Dazu
kommt die Vielheit von Auffassungs- und Deutungsweisen, die der
Platonismus, wie jede andere große philosophische oder künstlerische,
rechtliche oder sittliche, wissenschaftliche oder religiöse Erscheinung,
nicht etwa bloß erlaubt, sondern geradezu unumgänglich fordert.
Vielleicht läßt sich das Problem der Hermeneutik gerade an der
Entwicklung der Platon-Deutungen und an den Prinzipien dieser
Deutungen ausgezeichnet verfolgen und klären. Jedes wirklich leben-
dige Zeitalter und Geschlecht sieht sich, ob bewußt oder unabsicht-
8. Platon und kein Ende
189
lieh, zu einer Auseinandersetzung mit der Gestalt und Leistung
Platons gezwungen. In der Geschichte dieser Auseinandersetzungen
treten wie mit innerer Systematik beinahe sämtliche Gesinnungs-
formen und Wertungen, über die der menschliche Geist verfügt,
hervor. Das, was wir mit einer allgemeinen Bezeichnung ,»geschicht-
liche Entwicklung“ zu nennen pflegen und zu nennen lieben, hat
zu ihrem Kern immer den Kampf für oder um oder gegen eine große
Idee und Schöpfung der Geistesgeschichte. Nur in einem solchen
Kampf leben wir wirklich, nur durch ein solches Ringen gegenständ-
licher Art kommen wir menschlich, seelisch, sittlich, intellektuell
„weiter“. Zu den Genien des Geisteslebens gehören diejenigen Per-
sönlichkeiten, die die Auseinandersetzung mit ihnen fordern. Mit
dieser Behauptung ist zugleich ein Kriterium des viel umstrittenen
Geniebegriffes gegeben. Und es ist nicht das geringste Zeugnis für
die schöpferische Kraft solcher Individuen und ihrer Leistungen,
daß sie zum Kampf für oder gegen sie aufrufen, diesen Kampf uns
als sittliche Pflicht aufzwingen.
In der Art der Platon-Renaissance offenbaren sich Wesen und
Wollen und die konkreten Züge und Zeichen einer Zeit oder eines
Individuums. Deshalb ist auch jede Platon-Renaissance eine zeit-
geschichtlich oder individuell bedingte Abwandlung der echten
Dialektik des griechischen Denkers. Sie gewährt die Grundlage
für den Rückschluß auf die Gesinnung und Fähigkeit eines Zeitalters
und für die Erkenntnis der Besonderheit seiner Stellung in dem
Zusammenhang des geschichtlichen Lebens und seines Charakters,
durch den diese Stellung weniger geschaffen als innerhalb des ge-
schichtlichen Zusammenhanges kenntlich gemacht wird. Diese Ab-
wandlung ist so groß, daß ihre einzelnen Stufen die Entfernung von
dem originalen Platonismus anzeigen und die Höhe der Selbständig-
keit und Eigenart in der Auseinandersetzung mit ihm verdeutlichen.
Diese Abwandlung stigmatisiert das Gesicht einer Zeit so sehr, daß
die für sie charakteristische Dialektik gerade durch ihre Verschieden-
heit gegenüber derjenigen Platons wie ein Steckbrief wirkt, der die
Züge der Zeit scharf umreißt und beschreibt. An keiner anderen
Geisteshaltung und Wesensrichtung läßt sich das, was ein Zeitalter
oder ein Geschlecht sucht, oder das, worin dieses Suchen und Streben
seine objektive Form gefunden hat und bereits als Mittel zur Herr-
schaft über das Leben erprobt ist, so eindringlich klarmachen wie
an der Einstellung zur Dialektik, wie an dem Gebrauch, den es
von ihr macht, wie an der Gestalt, die es ihr gegeben hat, um mit
190
III. Der dialektische Idealismus
allen den Schwierigkeiten und Widersprüchen, mit allen den Auf-
gaben und Fragen fertig zu werden, vor die die betreffende Zeit
oder das betreffende Geschlecht sich gestellt sieht. Denn die Dialek-
tik ist, diese Wiederholung sei gestattet, nicht allein ein entscheiden-
des Erkenntnisprinzip, sie ist auch eine entscheidende Willens- und
Gesinnungsform und wird von hier aus zu einem entscheidenden
Werkzeug für den Bau des Lebens einer Zeit und eines Geschlechtes.
Daß aber gerade an ihr und an der jeweils geschaffenen Ausprägung
der Dialektik Zeit und Geschlecht ihr schärfstes Kriterium besitzen,
hat seinen letzten Grund in dem Primat der Dialektik für alles
geistige Leben überhaupt, hat seine Notwendigkeit in der über-
empirischen, in der metaphysischen und schöpferischen Kraft der
Dialektik. Sie ist für alles Sein und Leben von wesentlicher Bedeu-
tung. Deshalb bietet sich eben von ihr aus die Möglichkeit, das
Wesen einer Zeit zu erfassen und zu verstehen.
9. Die Autonomie der Metaphysik.
Eindringlicher und überzeugender noch als die geschichtliche
Darlegung der Renaissance der Dialektik muß hinsichtlich ihrer
systematischen Bedeutsamkeit derjenige Nachweis gelten, der
ihre konstruktive Funktion eben für die Systematik der Philosophie
selber, und hier natürlich in erster Linie für die „Metaphysik“ auf-
zudecken unternimmt. Zu den immer wieder auftretenden und oft
mit mehr als mit intellektueller Anteilnahme behandelten Streit-
fragen der Philosophie gehört die, die sich auf das Wesen der
Metaphysik bezieht. Jeder Überblick über die Entwicklung der
Philosophie und der allgemeinen Geistesgeschichte zeigt den Kampf
für und wider die Metaphysik. In diesem Kampfe sind wohl sämt-
liche Standpunkte eingenommen worden, die denkbar und möglich
sind, um die Berechtigung der Metaphysik darzutun bzw. um diese
Berechtigung zu bestreiten. Eine Typologie dieser Argumente zu-
gunsten bzw. zuungunsten der Metaphysik verzeichnet, wie wir
sahen, überhaupt alle theoretischen und alle außertheoretischen
Haltungen des Geistes, verzeichnet alle seine gedanklichen Waffen
und den ganzen Inhalt seines Rüstungsarsenals. Wie die tiefsten Er-
wägungen für die Begründung und die Geltung der Metaphysik,
so sind auch die schärfsten Einwände gegen sie vorgebracht worden:
ein seltsames und ergreifendes Schauspiel. Versetzt man sich in
seinen Sinn und seinen Verlauf, so drängt sich die Erkenntnis auf,
9. Die Autonomie der Metaphysik
191
daß es sich hier nicht um ein „Schauspiel“ im äußeren Verstände,
sondern um eine der allerwichtigsten und allerernstesten Angelegen-
heiten der menschlichen Kultur handelt. Die Stellungnahme zur
Metaphysik charakterisiert Wesen und Wert eines Menschen und
ist bis weit hinaus über seinen intellektuellen Bildungsgrad mit-
entscheidend für sein Geschick. Beinahe durch nichts anderes unter-
scheiden sich Zeitalter und Geschlechter so sehr voneinander als
durch die Art dieser Stellungnahme und die Schätzung und die
Pflege der Metaphysik. Auch die bisweilen fanatisch gesteigerte
Ablehnung der Metaphysik, die leidenschaftliche Geringschätzung,
ja Verhöhnung der metaphysischen Spekulationen, die Verdächti-
gung der Metaphysiker als Förderer wissenschaftlicher Verdunklung
und als Freunde geistiger Rückständigkeit und geistigen Rück-
schrittes, man denke auch hier an Nietzsches glühenden Einspruch
gegen die Metaphysik und gegen ihre Vertreter, die „Hinterweltler“,
alle diese doch ebenso ungewöhnlichen als auffallenden Erregtheiten
verraten, gewollt oder ungewollt, die Wichtigkeit, die der Meta-
physik innewohnt. Selbst die Bestreitung dieser Wichtigkeit legt
in ihrem Ton und Inhalt Zeugnis für die Metaphysik ab.
In scheinbar unverständlichem und unbehebbarem Gegensatz
zu dieser offenkundigen Bedeutung der Metaphysik steht nun
die Unentschiedenheit und Unsicherheit, die in bezug auf die be-
griffliche Bestimmung des Wesens der Metaphysik herrscht. Aber
diese Unentschiedenheit ist begründet und begreiflich. Sie stellt
keinen Einwand gegen das Recht und den Wert der Metaphysik
dar — sie ist umgekehrt ein strikter Beweis für dieses Recht und
diesen Wert. Schon darin prägt sich einer der grundsätzlichen
dialektischen Züge der Metaphysik aus, daß ihre Bedeutung
für das allgemeine Geistesleben im umgekehrten Verhältnis zur
Anerkennung eines allgemeinen und allgemein zugestandenen Be-
griffes des Wesens der Metaphysik sich befindet. Nur um wirklich
Großes kann es einen so ununterbrochen andauernden und so heftig
geführten Streit geben. Die Frage, was Metaphysik überhaupt sei,
hätte nicht eine solche Fülle von positiv und zustimmend oder
negativ und abweisend gerichteten Antworten ausgelöst, wenn diese
Frage nicht zu den wichtigsten Fragen der Menschheit gehören
würde. Unverkennbar steigt in dem Problem der Metaphysik eine
Schicksalsfrage aus den —eben metaphysischen — Tiefen des Geistes-
lebens hervor. Und daß eine Bewältigung dieser Frage oder zum
mindesten eine Auseinandersetzung mit ihr von allen Kreisen und
192
III. Der dialektische Idealismus
Schichten des Bewußtseins und der Kultur aus versucht wird, ergibt
sich folgerichtig daraus, daß das Problem der Metaphysik mit allen
Kreisen und Schichten des Bewußtseins und der Kultur in engst-
verflochtener Wechselbeziehung steht. Zwischen der Problematik
ihres Begriffes und ihrer schicksalshaften Stellung innerhalb der Kultur
waltet ein einleuchtender und notwendiger Zusammenhang, ja, diese
eigentümliche Problematik ist ein deutliches und beredtes Zeugnis für
ihre Macht und für ihr Ansehen. Einer solchen Problematik kann nur
teilhaftig sein, was die Macht des Schicksals in sich trägt. Denn was
ist mehr und in höherem Sinne ,,Problem“ als das Schicksal, und
was ist mehr und in höherem Sinne „Schicksal“ als das Problem?
Die einzigartige, ganz dialektische Allseitigkeit der Metaphysik,
ihre Beziehung sowohl zur Religion wie zur Kunst, zur Geschichte
ebensogut wie zum Recht, zur Wissenschaft nicht minder als zur
Wirtschaft, macht es verständlich, daß der Versuch unternommen
wurde, von seiten aller dieser Kulturgebiete und Kulturformen der
Metaphysik gerecht zu werden und ihre Eigentümlichkeit zu er-
fassen. In dem einen Falle wurde sie in einen Zusammenhang mit
der Religion oder mit der Kunst gebracht, wurde sie wohl geradezu
als ein Ausdruck des religiösen Glaubens oder der künstlerischen
Einbildungskraft angesehen und entsprechend gewertet. In einem
andern Fall suchte man ihre Beziehung zur Wissenschaft aufzu-
decken, sei es, daß sie als die Voraussetzung und Grundlegung,
sei es, daß sie als das Ergebnis und die Zusammenschließung der
Wissenschaften aufgefaßt wurde. Alle diese Betrachtungs- und
Auffassungsweisen sind aus den oben angedeuteten Gründen be-
rechtigt. Aber sie sind im Vergleich zu jener oben betonten dialek-
tischen Allseitigkeit der Metaphysik zu einseitig; säe beziehen sich
nur auf die eine oder die andere Wesensseite der Metaphysik: sie
werden dem Ur-Sinn der Metaphysik nicht gerecht — ihrer Dialektik!
Sie bringen die Metaphysik in die Gefolgschaft des einen oder des
anderen Spezialgebietes und verengen dadurch ihre Totalität, also
wieder ihre — Dialektik! Indem sie die Metaphysik in dieses oder in
jenes Beziehungsverhältnis sperren, untergraben sie ihr eigentliches
Wesen, vergehen sie sich gegen die Autonomie der Metaphysik.
Und doch ist auch der Begriff der Metaphysik, genau wie derjenige
jedes anderen Kultur- und Erkenntniszweiges, nur zu finden unter
Zugrundelegung der Autonomie der Metaphysik.
Gewiß, diese Autonomie ist viel schwerer zu fassen und zu be-
stimmen als diejenige z. B. der Wissenschaft oder des Rechtes.
9. Die Autonomie der Metaphysik
193
Denn diese Autonomie der Metaphysik ist eine ausge-
sprochen dialektische, und zwar eine dialektische nach innen
und nach außen. Nach außen — das soll heißen hinsichtlich ihrer be-
ziehungsreichen Stellung innerhalb des geschichtlichen Lebens und
der geschichtlichen Kulturformen; das ist bereits erwähnt worden.
Nach innen — das soll heißen: Der Begriff der Metaphysik
selber ist Dialektik! Und gerade in dieser Dialektik des Be-
griffes der Metaphysik und dadurch auch in der ganzen Struktur
und Aufbaugestalt der Metaphysik prägt sich das aus, was in den
folgenden Ausführungen als die Autonomie der Metaphysik be-
zeichnet worden ist. Die Frage nach der Autonomie der Meta-
physik, nach der inneren und nach der äußeren Eigenart der Meta-
physik, bedeutet die Aufdeckung der Dialektik der Metaphysik.
Die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Grundbegriffen,
dem der Autonomie und dem der Dialektik, echten Kategorien
für die Grundlegung und für die Systematik der Metaphysik, er-
leuchtet sich erst dann, dann aber sofort, sobald die Kritik der
Metaphysik nicht von einem nur einseitigen Standpunkt aus vor-
genommen wird. Wohl erhob sich die Frage: „Wie ist Metaphysik als
menschliche Naturanlage und als subjektive Befriedigung gewisser
menschlicher Sehnsüchte, eben der metaphysischen, möglich ?“ Diese
psychologische Betrachtungsweise entstand bezeichnenderweise im
Zeitalter des Mangels adäquaten Verständnisses gegenüber der Meta-
physik, sie entstand, als die psychologische Fragestellung und die
psychologische Methode eine Art von Alleinherrschaft oder doch
von Vorherrschaft ausübten — in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts. Das war die Einstellung z. B. von Fr. A. Lange und
Friedrich Nietzsche. Nach doppelter Richtung ist diese Art der
Frage unangebracht, eigentlich ungerecht und unzulässig. Erstens
in logischer: Denn von ihr wird bereits der Begriff der Metaphysik
vorausgesetzt. Um zu bestimmen, in welcher Hinsicht eine Neigung
des menschlichen Geistes gerade als eine metaphysische bezeichnet
werden und gelten kann, müssen wir bereits wissen, was unter
„metaphysisch“ überhaupt zu verstehen äst. Der Begriff „meta-
physisch“ ist eine logische Apriorität, ist eine Kategorie,
die aus psychologischen Erklärungen und Aufklärungen nicht ab-
zuleiten ist, sondern schon die logische Bedingung für diese psycho-
logischen Erklärungsversuche der subjektiven Entstehung und der
subjektiven Befriedigungsweise bestimmter menschlicher, seelischer
Tendenzen darstellt. Diese psychologische Fragestellung ist aber
Uebert, Dialektik. 13
194
III. Der dialektische Idealismus
noch in einer anderen Beziehung, in nicht bloß logisch-formaler,
sondern in transzendental-objektivistischer, sinnwidrig. Sie ver-
sieht es nämlich in prinzipieller Hinsicht von Anfang an darin, daß
sie, statt nach der Metaphysik als einem objektiven Gebilde der
geschichtlichen Kultur zu fragen, ihr Augenmerk auf bestimmte
subjektive Anlagen und Neigungen und auf subjektive Hoffnungen
und Wünsche einstellt. Diese Verwechslung einer objektivistisch
mit einer subjektivistisch gerichteten Untersuchungsweise war im
Zeitalter der Vorherrschaft des Psychologismus, also der Anwen-
dung der psychologisch-subjektivistischen Methode auf die Erkennt-
nis sämtlicher Kulturgebiete, eine alltägliche Erscheinung. Und
wenn dann die Antwort gegeben wurde, daß die Metaphysik aus
dem Verlangen nach einer ,,absoluten“ Erkenntnis des Absoluten
hervorgeht, und daß sie kraft bestimmter dichterischer Synthesen
eine solche absolute Welt erdichtet, so war diese, als Ehrenret-
tung der Metaphysik gemeinte Behauptung, die die Metaphysik
zu einer subjektiv und bloß subjektiv gültigen Schöpfung der dich-
terischen Phantasie machte, die ärgste Verkennung der Metaphysik.
Es liegt hier vergleichsweise dieselbe Verwechslung vor, wenn
die psychologische Untersuchung des künstlerischen Erlebens und
Genießens und der Persönlichkeit des Künstlers und des Kunst-
freundes meint, mit ihren Ergebnissen schon die Objektivität der
Kunst, die Objektivität der Welt der Kunstwerke, ihr wesenhaftes
Dasein als Gegenstände der Kultur, ihre Existenz als bestimmt
geformte, aus dem Erleben des Menschen herausgestellte Gebilde
erfaßt und begriffen zu haben. So auch bei der Metaphysik. Wohl
regen sich in der Brust des Menschen eigentümliche Sehnsüchte,
die als metaphysische Bedürfnisse bezeichnet zu werden pflegen,
und die den Charakter eigentümlicher Dringlichkeit tragen. Es
entsteht z. B. das Verlangen, den Urgrund oder die Urgründe alles
Seins oder den Sinn und das Ziel des Lebens kennenzulernen.
Wie nun die Antworten auf diese Fragen lauten und sich gestalten
mögen — schon zu jeder einzelnen subjektiven Antwort braucht
der metaphysisch gerichtete Mensch objektive Gestaltungsprinzi-
pien und objektive kategoriale Synthesen, die, indem sie als „Ant-
worten“ gelten, über die Subjektivität des Verlangens hinaustreten
und ein eigenes, ein objektives Reich von Formen als Ant-
worten auf subjektive metaphysische Fragen darstellen. Und den
Eigensinn, die objektive Gültigkeit dieser metaphysischen Formen,
dieser metaphysischen Ideenwelt suchen wir zu erkennen, wenn wir
10. Die „Wissenschaftlichkeit“ der Metaphysik
195
danach fragen, wie Metaphysik als solche, als Inbegriff und Ein-
heit eines autonomen Zusammenhanges objektiver geistiger Prin-
zipien möglich ist.
Das Kapitel ,,Die Dialektik der Metaphysik“ hat die
Aufgabe, diese Autonomie der Metaphysik aufzudecken. Sie sucht
zu zeigen, daß sich diese Autonomie auf der Dialektik begründet,
daß die Metaphysik, mit anderen Worten, die begriffliche
Realität der Dialektik, die Realität der Dialektik in
den Formen des Begriffes darstellt. Diese Ureigentümlichkeit
der Metaphysik ruht darauf, daß jeder Begriff, auf den sie sich
stützt und den sie verwendet, sowohl in seiner formalen Struktur
als auch in seinem sachlichen Gehalt dialektischer Natur ist. Sollte
dieser Nachweis geglückt sein, dann ist damit die grundlegende Be-
deutung der Dialektik an einer der wichtigsten Stellen im System
der Philosophie dargetan, nämlich die Wirksamkeit der Dialektik
in den tiefsten, eben metaphysischen Schichten der Philosophie.
Dann ist dargetan, daß die Dialektik zu den schöpferischen kon-
struktiven Formen und Methoden der Philosophie überhaupt ge-
hört. Die Autonomie der Philosophie ruht auf der in
der Dialektik begründeten Autonomie der Metaphysik.
Denn die Antwort auf die Frage: Wie ist Metaphysik überhaupt
möglich? lautet: Sie ist möglich als Dialektik. Vgl. Kapitel VI.
10. Die „Wissenschaftlichkeit“ der Metaphysik und das Problem
des Scheins.
Keinesfalls jedoch ist die Metaphysik, wie ich mit Betonung
sogleich hinzufüge, die einzige und ausschließliche Realisierung und
Objektivität der Dialektik. Sie ist diejenige Form der Objektivie-
rung der Dialektik, die die Gestalt des Begriffes und der Erkenntnis
angenommen hat. Allerdings eine von der Form der positiven
Wissenschaften durchaus abweichende Gestalt. Wie die Art und
Weise des „dialektischen“ Begriffes und der „dialektischen“ Er-
kenntnis beschaffen ist, das muß unsere Untersuchung des genaueren
darlegen. Sie hat u. a. zu zeigen, daß es die spezifische Dialektik
der Metaphysik ist, die die Sondergestalt der metaphysischen Er-
kenntnis bedingt. Wir erblicken in der Metaphysik auch eine be-
stimmte Form der Erkenntnis. Daß ein vollgültiges Recht da-
zu vorliegt, kann mit keinem Wort bezweifelt oder in Abrede gestellt
13*
196
III. Der dialektische Idealismus
werden. Alsdann aber muß zugleich der Gedanke der Eigenart
der Metaphysik in strengster Beachtung bleiben.
Natürlich ist es erlaubt zu fragen: „Wie ist Metaphysik als
Wissenschaft möglich?“ Aber die Beantwortung darf schon von der
Einleitung und dem ersten Schritte an nicht so eingerichtet werden,
daß der eigentümliche Modalitätswert einer bestimmten Wissen-
schaftsgruppe, sagen wir: der mathematischen Naturwissenschaft,
zur Richtschnur für die Antwort und zum Kriterium des Wertes
der Metaphysik erhoben wird. Das hieße, die Metaphysik einer ihr
fremden „Kritik“ unterstellen. Auch hier muß, gemäß der mehr
als berechtigten methodischen Forderung des Klassikers der Kritik,
die betreffende Sache aus sich selbst heraus verstanden und aus
den ihr eigenen und gemäßen Kategorien heraus begründet werden.
Durch die Aufwerfung jener Frage nach der Möglichkeit der Meta-
physik als Wissenschaft hat Kant unendlich viel dazu beigetragen,
das Wesen der Metaphysik und den ihr eigentümlichen Geltungs-
wert zu klären. Zunächst scheint es so, als sollte ihr Wert ganz und
gar durch ihre Gegenüberstellung zur mathematischen Naturwissen-
schaft und durch den Vergleich ihres „problematischen“ Erkenntnis-
wertes mit der unantastbar sicheren, mit der „apodiktischen“ Er-
kenntnis dieser Wissenschaften bestimmt und entschieden werden.
Da diese Gegenüberstellung und dieser Vergleich natürlich zu ihren
Ungunsten ausfallen, sobald das Kriterium der mathematisch-natur-
wissenschaftlichen Apodiktizität als ausschließlich maßgebender Ge-
sichtspunkt zur Bewertung des Wissenschaftswertes der Metaphysik
angesehen und angewendet wird, glaubten gewisse Richtungen im
Alt- und im Neukantianismus, daß damit überhaupt das Todes-
urteil über die Metaphysik gefällt sei!
Davon kann keine Rede sein. Und davon ist auch bei Kant
keine Rede. Jene Fragestellung diente dazu, Scheinansprüche der
Metaphysiker aufzudecken und abzuwehren und den der Metaphysik
eigentümlichen Geltungssinn schon nach der negativen Seite hin
abzugrenzen. Bereits darin zeigt sich die methodische Fruchtbarkeit
der kantischen Fragestellung. Es handelte sich zunächst darum, dar-
zutun, was die Metaphysik nicht ist. Aber der Nachweis, daß sie
nicht Wissenschaft im mathematisch-naturwissenschaftlichen Moda-
litätssinne ist, veranlaßt Kant nicht zu der Folgerung, daß sie nun
überhaupt wertlos und nichts als ein „Blendwerk“ sei. Nur solange
die Erkenntnisprinzipien der positiven, auf Erscheinungen bezogenen
Wissenschaften die einzig und allein ausschlaggebenden Kriterien
10. Die „Wissenschaftlichkeit“ der Metaphysik 197
zur Prüfung des Erkenntniswertes einer geistigen Leistung bilden,
kann jenes absprechende Urteil über die Metaphysik Geltung be-
halten. Kant war ein viel zu großer und viel zu gerechter ,,Kritiker“,
um in bezug auf die Wertung und Anerkennung der Metaphysik über-
haupt, d. h. der Metaphysik in ihrer Gesamterscheinung in jene Ein-
seitigkeit zu geraten, deren sich nicht wenige Kantianer schuldig ge-
macht haben. Durch die Ansicht, daß Kants Erkenntniskritik der
Metaphysik einen endgültig vernichtenden Schlag versetzt habe, wird
geradezu eine ältere Stufe des Neukantianismus, wird seine Anfangs-
stufe charakterisiert. Gegen diese Auffassung erhebt sich mit
zwingenden Gegenargumenten die Schätzung, die durch Kant der
Dialektik zuteil wird. Diese Schätzung ist mehr als beachtenswert.
Und zwar deshalb, weil sie selber durchaus — dialektischer Natur
ist. Kant hat zur Dialektik ein dialektisches Verhältnis. Er bejaht
und er verneint sie. Auch in dieser Hinsicht ist er kein Dogmatiker.
Indem er der Dialektik dialektisch gegenübersteht, erweist er sich
als ihr Kritiker, damit ebenfalls das enge Verhältnis zwischen Kritik
und Dialektik erweisend. Denn mittels der dialektischen Methode
wägt er das Für und das Wider in bezug auf die Dialektik ab; in
seiner kritischen Gerechtigkeit und Freiheit beseitigt er nur die
üblen Seiten, nämlich die sophistischen Auswüchse der Dialektik,
die eine Krankheitsform derselben darstellen, während er die wert-
vollen, die fruchtbaren Züge durchaus anerkennt.
Die Dialektik der Metaphysik ist, wie Kants Kritik der tran-
szendentalen Dialektik zeigt, nur dann verwerflich, wenn sie ihre
Forschungsweise und ihre Forschungsergebnisse als „wissenschaft-
lich“ im Sinne der mathematischen Naturwissenschaften ausgibt.
Lediglich dann ist sie als ein irreführendes Blendwerk, als ein
Gaukelspiel mit Scheinwerten anzusehen und abzutun. Aber der
,,Schein“, den sie erzeugt, hat, sobald wir die unzulässige Parallele
mit der positiven Wissenschaft beiseite lassen, noch einen zweiten
Wert! Er ist und bleibt ein Schein! Durch seine dialektische Er-
zeugung unterscheidet er sich grundsätzlich von der durch die Ver-
standesprinzipien (Kausalität, Substantialität usw.) begründeten Er-
scheinung und Erscheinungsobjektivität. Aber als „Schein“ besitzt
auch er eine „Objektivität“. Diese Objektivität ist nicht mit der
Erscheinungsobjektivität zu verwechseln, wie sie von den Naturwis-
senschaften erarbeitet, d. h. erkannt wird. Ausdrücklich — und mit
dem höchsten Recht, so möchte ich hinzufügen — spricht Kant von
einem „objektiven Schein“. Das kann nicht, wie interpretiert wurde,
198
III. Der dialektische Idealismus
die subjektive Welt persönlicher Einbildungen oder nur künstle-
rischer, auch wohl nur pragmatischer Fiktionen sein. Es ist vielmehr
eine durchaus objektive, objektiv gültige Welt. Wir müssen eben
mehrere objektive Wirklichkeiten annehmen. Die eine ist die der ge-
wöhnlichen empirischen Gebilde; es ist die Welt der Erfahrung, die in
der Hauptsache durch die Kategorie der Kausalität begründet und
bestimmt wird im Verein mit den übrigen Verstandeskategorien.
Aber die Verstandeskategorien sind nicht die einzigen Synthesen,
über die der Geist verfügt, mit denen er arbeitet, mittels deren er
eine Welt aufbaut. Er verfügt auch noch über eine Zahl von ,,dialek-
tischen“ Kategorien, z. B. über die Idee des Unbedingten, über die
Idee des Scheins usw.
Gerade diese Idee, die Idee des „transzendentalen“
Scheins, ist eine „Kategorie“ von höchst eigentümlichem
Gepräge und höchst beachtenswerter Fruchtbarkeit. Sie
nämlich stellt ebenfalls eine Realisierung der Dialektik dar! Eine
ganz andere Realisierung und einen ganz anderen Realisierungssinn
als die durch die Verstandessynthesen herbeigeführten, wie wieder-
holt sein mag. Die Autonomie der dialektischen Ideen darf nicht
unterschätzt werden. Besonders darf diejenige Realitätsweise, die
sich auf diese Autonomie gründet, nicht mit der Realitätsweise der
Erfahrungswelt verwechselt oder aber, falls diese Verwechslung
nicht begangen wird, nicht überhaupt geleugnet werden! Das wäre
der übliche Fehler des sogenannten Positivismus, eines in philoso-
phischer Beziehung unmöglichen Standpunktes. Denn er kennt keine
andere Wirklichkeit als die der gewöhnlichen Erscheinungen. Er
weiß nichts von einer metaphysischen Realität, die auf einer Reihe
autonomer Ideen beruht, auf Ideen dialektischer Funktionsweise.
Indem diese dialektische Funktionsweise sich in die Form des Be-
griffes kleidet und die Züge einer Theorie, einer Lehre, einer Er-
kenntnis annimmt, entsteht das, was wir Metaphysik zu nennen
pflegen als die dialektische Erkenntnis des Reiches der „dialekti-
schen“ Ideen.
Nun gehört es zu den Grundeigentümlichkeiten gerade der Ideen,
sowohl in „theoretischer“ als auch in „praktischer“ Beziehung
gültig und wirksam zu sein. Das hat bereits, wie wir oben sahen,
Platon dargetan. Kant ist ihm in dieser nicht entschieden genug
zu betonenden Auffassung durchaus gefolgt. Deshalb muß also bei
der „praktischen“, d. h. bei der sittlichen Betätigungsweise der
dialektischen Ideen wiederum eine eigentümliche metaphysische
10. Die „Wissenschaftlichkeit“ der Metaphysik
199
Wirklichkeit entstehen, eine eigentümliche Welt des objektiven
„Scheins“. Die rein logische Funktion der dialektischen Ideen
schafft die Begriffswelt der Metaphysik. Was für eine Wirklichkeit
entsteht bei der „praktischen“ Funktionsweise der Ideen, dann also,
wenn sie als Funktionen des Sollens sich äußern? Wir wissen, es
ist die „Wirklichkeit“ der Sittlichkeit. Wie aber sieht nun diejenige
Wirklichkeit aus, die gemeinsam aus der „theoretischen“ und aus
der „praktischen“ Funktion der dialektischen Ideen ursächlich
hervorgeht und sich zu ihrer sinnlichen Verkörperung bestimmter,
aber nach jeder Richtung dialektischer Hilfen der künstlerischen
Phantasie und der Formen der Kunst bedient? Das muß offenbar
wieder eine eigene und eigenartige Realätätsweise der Dialektik sein.
Wir wollen bereits hier die Antwort geben, die dann in späteren Teilen
unseres Buches ihre nähere Begründung erfährt: Es ist das die
Wirklichkeit des Märchens! Das Märchen ist eine be-
stimmte Objektivationsweise der Dialektik! Es ist eine der
großen Schöpfungen der Dialektik, in der gleichfalls die Kraft der
Dialektik sich rechtfertigt und bewährt. Das Märchen ist die
dialektische Wirklichkeit des „Scheins“. Keine bloße Schein-
wirklichkeit. Keine subjektive Einbildungs- oder Vorstellungswelt.
Sondern eine Realität. Eben diejenige Realität, in die die Dialektik des
Scheins, in die die objektive Dialektik des Scheins sich kleidet; eine
Realität, in der dieser Schein sein dialektisches Dasein besitzt, und
in der die Dialektik neben ihrer theoretisch-begrifflichen Objekti-
vität als Metaphysik und ihrer normativen Objektivität als Welt
des sittlichen Sollens noch eine dritte große Objektivität und Reali-
tätsweise hat. Das Märchen beruht auf der Apriorität des Scheins,
und zwar auf der transzendentalen, d. h. also auf der objektiv
gültigen Apriorität des Scheins. Indem dieser „transzendentale“
Schein das Reich des Märchens begründet, erweist er seine objektive
kategoriale Leistungsfähigkeit. Auf ihm beruht das Märchen „seiner
Möglichkeit nach“.
Hier haben wir die Antwort, wenn wir im Geiste und unter der
Weisung der kritischen Philosophie die Frage stellen: „Wie ist das
Märchen überhaupt möglich?“ Es ist möglich auf Grund der Dialek-
tik des Scheins. Nicht des Scheins der Dialektik. Das hieße Frage
und Antwort mißverstehen oder verfälschen. Denn der Dialektik
eignet nicht der Charakter eines bloßen Scheins. Den hat sie bloß,
wenn sie zu Sophismen und Sophistikationen gemißbraucht wird,
ln Wahrheit besitzt sie wahrheiterzeugenden Wert und darum
200
III. Der dialektische Idealismus
objektive und objektivierende Geltung, besitzt sie Wahrheit. Und
eines der kraftvollsten Zeugnisse und Belege für die wahrheiterzeu-
gende und objektivierende Funktion der Dialektik ist die ,»Wahr-
heit“ und Realität des Märchens. Nicht so sehr des Märchens als
eines künstlerischen Gebildes, als des objektiven Inbegriffes einer
eigenartigen ,,Wirklichkeit“.
11. Der „Grund“ der Dialektik.
Halten wir einen Augenblick inne, um uns in einer zusammen-
fassenden Überlegung den Gesamtgehalt der vorhergehenden Dar-
legungen zu vergegenwärtigen. Wir erkannten die schöpferische
Funktion der Dialektik für die Philosophie und für die Allgemein-
heit des Lebens. Wir behandelten die Dialektik also insofern,
als sie „Subjekt“, Erzeuger und Träger des Lebens und der Philo-
sophie ist. Nun aber entsteht die Aufgabe, die Dialektik selber zum
Gegenstand der Untersuchung zu machen, zu zeigen, worauf sie
ihrem Wesen nach beruht, und in welchen begrifflichen Hauptformen
sie zum Ausdruck gelangt, d. h. wie sie sich nun bei ihrer tatsäch-
lichen Verwendung als konstruktiver Gesichtspunkt dialektisch aus-
wirkt, dialektisch betätigt.
Die Metaphysik erweist sich stets als der Gang zu den Müttern
oder mindestens als der Versuch, zu ihnen zu gelangen. Weniger
bildlich gesprochen: Metaphysik ist immer der intellektuelle Ver-
such einer Erkenntnis des Absoluten, einer Erkenntnis der abso-
luten Ideen, einer Erkenntnis des „Urgrundes“ oder der „Urgründe“
alles Seins. Wenden wir die metaphysische Fragestellung auch auf
unser Problem an. Das heißt: wir wollen auch nach dem „Urgrund“der
Dialektik fragen; und wir müssen diese Frage aufwerfen, da wir
„Metaphysik“ der Dialektik zu treiben suchen.
Ist diese Frage jedoch noch zu beantworten, ja, hat sie selber
überhaupt noch einen Sinn? Ist im Reiche der Erkenntnis die
Dialektik des Geistes nicht die tiefste und höchste, nicht die ab-
schließende und schlechthin grundlegende Stellungnahme und Me-
thode? Wir würden also noch den Grund für die geistige Grund-
funktion zu erkennen verlangen. Ist das nicht unmöglich? Liegen
in dieser Frage und in diesem Wunsche nicht logische Widersinnig-
keiten beschlossen? Doch nicht! Denn es handelt sich hier um
eine — Dialektik im allerhöchsten Sinne. Nämlich um die Dialektik
der Selbsterkenntnis der Dialektik! Sie vollziehen wir auch sonst
11. Der „Grund“ der Dialektik
201
in häufigen und gar nicht fernliegenden Fällen: bei jeder philo-
sophischen Erkenntnis der Philosophie, also dann, wenn wir philo-
sophisch uns mit der Philosophie als Gegenstand beschäftigen.
Eine solche Philosophie der Philosophie ist nichts anderes als Selbst-
erkenntnis des erkennenden Geistes, sie ist nichts anderes als Dialek-
tik der Dialektik. Gerade Hegel hatte sehr Unrecht, das Unter-
nehmen Kants, nämlich eine Erkenntnis der Erkenntnis zu geben, mit
dem unsinnigen Bemühen jenes Scholastikers zu vergleichen, der das
Schwimmen erlernen wollte, bevor er ins Wasser ging. Hegels Spott
ist hier gegenstandslos. Erkenntnis der Erkenntnis, Philosophie
der Philosophie, Dialektik der Dialektik treibt der Metaphysiker
immer; er treibt sie seit Platos „Theaetet“. Und auch Hegel hat sie
getrieben, und zwar in nicht unergiebiger Weise. Getrieben aber hat
er sie, weil er eben — Dialektiker war.
Und so fragen auch wir als Metaphysiker nach dem ,,Grunde“
des Grundes, nach dem „Gründe“ der Dialektik. Dieser Grund kann
kein anderer als die schöpferische Freiheit des Geistes sein, als der
Geist in der ganzen tiefen Spontaneität seiner Freiheit. Denn diese
Spontaneität und Freiheit ist in der Tat derjenige Quell, aus dessen
geheimnisvoller Kraft schließlich jene Grundsynthesen aller philo-
sophischen und wissenschaftlichen Welterkenntnis stammen, die das
intellektuelle Gerüst und Rüstzeug für den Aufbau der gedanklichen
Wirklichkeit, für die Form des globus intellectualis bilden. Mit
mathematisch-mechanischer Sicherheit lassen sich diese Grundsyn-
thesen nicht aus der höchsten Freiheitssynthese ableiten, wie das
in den Tagen des spekulativen Idealismus in der Gestalt eines —
ebenso seltsamen wie großartigen — Deduktionsschemas versucht
wurde. Seltsam ist dieser Versuch trotz seiner Großartigkeit und
Kühnheit, weil ihm die Vorstellung eines automatischen und rationa-
listischen Aufeinanderfolgens der konstruktiven Geistessynthesen
zugrunde liegt. Er steht der alten, der aufklärerischen Auffassung
vom Wesen des Bewußtseins doch in einigen Punkten nahe. In
mehr als merkwürdiger — vielleicht wieder nur dialektisch zu ver-
stehenden — Paradoxie zu der seit Descartes mehr und mehr be-
tonten Spontaneität des Bewußtseins, einer Lehre, die bekanntlich
in Leibniz einen ihrer geistvollsten und erfolgreichsten Anwälte
hat, steht eine Art von „Maschinentheorie“ des Bewußtseins. Viel-
leicht ein Niederschlag und Rückschlag der mit der Neuzeit anheben-
den und seit der Aufklärung sich immer mehr und mehr durchsetzen-
den allgemeinen Mechanisierung und Mathematisierung der Wirk-
202
III. Der dialektische Idealismus
lichkeit. Denn nur ein mathematisches und mathematisch tätiges
Bewußtsein schien eine mathematische Erkenntnis und damit ein-
geschlossen die universale Mathematisierung der Wirklichkeit hervor-
bringen zu können. Wie auch umgekehrt diese mathematisierte
Wirklichkeit in einem entsprechenden Bewußtsein und in einer ent-
sprechenden Geisteshaltung und Geistesarbeit ihr logisches Abbild
haben mußte.
Wird jedoch mit der Idee der Freiheit des Geistes, wohl der
gewaltigsten Idee des philosophischen Idealismus, voller Ernst ge-
macht, dann muß sich diese Freiheit eben in der Hervorbringung
aller Grundsynthesen auswirken, wenn anders dieser Schöpfungs-
vorgang nicht den Charakter eines automatischen, eindeutig bestimm-
ten und mathematisch gearteten Mächens an sich tragen soll. Das
heißt natürlich nicht, daß diese Grundsynthesen die Züge der Will-
kür und der Subjektivität aufweisen. Sie können das nicht, da sie
Erzeugnisse des Geistes sind, und der Geist immer in der Form
allgemeingültiger Ordnungen tätig ist. Wohl aber heißt das: Es
ist unmöglich, für die geistigen Grundsynthesen einen anderen Grund
als die dialektische Freiheit des Geistes anzugeben. Ihr Hervortreten
aus diesem Quell der Freiheit ist nicht so zu verstehen, wie wir das
Hervortreten von mechanischen Erzeugnissen aus der Arbeit einer
Maschine Vorhersagen und berechnen können. Es waltet dort kei-
nerlei mechanische Determination. Wir vermögen, mit anderen Wor-
ten, nicht zu deduzieren, warum nun gerade diese und keine anderen
Grundsynthesen aus der Freiheit des Geistes hervorgehen. Diese
Freiheit ist ihrem vollen Wesen nach ein ,,freier“, ein dialektischer
Grund, und deshalb betätigt sie sich auch frei und dialektisch.
Wir können und dürfen in höchster metaphysischer Spekulation
nur sagen, daß die Dialektik aus dem Geiste der Freiheit stammt,
und daß ein ,»freier“ Geist sein Wesen verleugnen oder preisgeben
würde, wenn er in einer anderen Form als der dialektischen sich
betätigte. In keiner Sinnform kann diese Freiheit besser, ungebro-
chener, „wahrer“, sich selber treuer zur Wirksamkeit gelangen als
in der Form der Dialektik. Umgekehrt kann die Dialektik, falls wir
voll und ganz ihr Wesen und ihren Sinn begreifen, auf keinen anderen
„Grund“ zurückgeführt werden als auf die Freiheit des Geistes
und auf den Geist der Freiheit. Es sei aber rückhaltlos zugegeben,
daß mit diesen Ausführungen keine rationale Beweisführung, keine
mathematische Ableitung der Dialektik aus der Freiheit gegeben ist.
Hier handelt es sich um einen Akt metaphysischen Verstehens und
11. Der „Grund“ der Dialektik
203
metaphysischer Spekulation, der von anderer Beschaffenheit und
anderer Tragweite ist als eine streng rationale, als eine mathematisch-
naturwissenschaftliche Begründung, die mit logisch und mathe-
matisch bestimmten und berechenbaren Abhängigkeiten und Ent-
wicklungen arbeiten kann. Daß wir in der Freiheit den Grund der
Dialektik und in der Dialektik den notwendigen Funktionsausdruck
der Freiheit erblicken, ist uns in der Korrelation beider ideeller
Spontaneitäten, der Freiheit und der Dialektik, verbürgt und ge-
sichert. Wir stehen damit vor einem in metaphysischer Hinsicht
letzten Aufschluß, vor einem Aufschluß, der schon hart die Grenze
des Mythos berührt und von dem ewigen Geheimnis des Mythos
ein Eckchen zu lüften wagt.
Denn daß wir es nur ganz offen und unumwunden bekennen:
Die Ideen der Freiheit und der Dialektik tauchen bereits hinein in
die Sphäre des Mythos, und es hieße, dem lieben Gott allzusehr in die
Karten gucken, wollten wir diese Ideen noch rational beleuchten und
zu logischer Klärung bringen. Es könnte als ein müßiges Beginnen
verurteilt und als ein Verstoß gegen die logische und wissenschaft-
liche Verantwortlichkeit und Gewissenhaftigkeit getadelt werden,
wollte das Nachdenken noch den Grund dafür ergrübeln, weshalb
der erkennende Geist sich gerade der dialektischen Methode bedient.
Die innere Begründung und Rechtfertigung für diese Freiheitstat
des Geistes fließt aus der systematischen Kraft, mittels der die
Methode der Dialektik durch ihre nicht weiter ableitbare, keiner
höheren Macht zuzuweisende Selbstentfaltung die Wege für die
menschliche Erkenntnis bahnt. Wo gibt es eine wissenschaftliche
Möglichkeit, um die Notwendigkeit dafür zu deduzieren, daß der
erkennende Geist gerade in der Form der Dialektik sich entfaltet?
Wo eine wissenschaftliche und stetig logische Verbürgung dafür,
daß der Prozeß der dialektischen Selbstentfaltung noch von einem
ihm übergeordneten Willen geleitet wird? Wo eine wissenschaftliche
und stetig logische Aufklärung und Auskunft darüber, durch welche
Triebkräfte dieser ungeheuere Prozeß ins Rollen gebracht wird?
Wir verfügen nicht über die Mystik des Offenbarungsglaubens und
nicht mehr über den Doktrinarismus des absoluten Rationalismus,
um mit der ersehnten und einer Selbsttäuschung doch so leicht
unterworfenen Gewißheit angeben zu können, weshalb der Dialektik
jene überlegene Stellung im Reiche des Geistes zukommt. Ohne
dem Skeptizismus und gar dem Relativismus auch nur die kleinste
Spur einer Berechtigung in metaphysischer Beziehung einzuräumen,
204
III, Der dialektische Idealismus
tragen wir dennoch keine Scheu vor der Erklärung: Hier ist ein
dunkler, unheimlicher Funkt. Es klafft eine metaphysische Lücke,
die darin besteht, daß wir den Deduktionspunkt für die Dialektik
nicht mehr aufzuweisen vermögen, d. h. nicht mehr mit rationaler
Bestimmtheit aufzuweisen vermögen. Denn von jenem ,,Grunde“,
den wir oben als die Freiheit des Geistes bezeichneten, ist eine rein
logische Kennzeichnung nicht mehr möglich. Und darum ist auch
eine rein logische Deduktion der Dialektik aus der Freiheit nicht
mehr möglich.
Ohne Zweifel bedeutet das Zurückgreifen auf die Spontaneität
der Freiheit das Zurückgreifen auf eine nicht mehr rationale Größe
und auf eine nicht mehr rationale Funktion. Indem wir das ohne
weiteres zugeben, wollen wir aber ferner darauf hinweisen, daß jenes
Zurückgreifen auf jeden Fall die Berufung auf eine absolute Größe
und auf eine absolute Funktion bedeutet. Das sollte durch den
Ausdruck,,Grund“ für die Dialektik bezeichnet werden. Das Forschen
und Fragen nach dem Grunde der Dialektik gehört zu den wesent-
lichen Aufgaben einer „Metaphysik der Dialektik“, die wir, wie
gesagt, in dem betreffenden Kapitel behandeln. Dieses metaphysische
Forschen übersteigt bei dem Versuch, jene Aufgabe zu lösen, die
rationale Zone. Das ist nicht weiter verwunderlich und auch nicht
zu beanstanden. Denn in j e d e r metaphysischen Frage und demgemäß
auch in jeder metaphysischen Antwort liegt eine dialektische Tran-
szendenz zur gewöhnlichen Rationalität vor. Ich vermag für diesen
Übergang, der für die Metaphysik in jeder ihrer Spielarten ebenso
charakteristisch wie entscheidend ist, keine besseren, jedenfalls keine
anderen Begriffe zu finden als solche, die dem Ideenbereiche des
Mythos angehören. Begriffe aus diesem Ideen- und Wahrheitsbe-
reiche sind durch zwei Merkmale ausgezeichnet. Erstens dadurch, daß
in ihrer Struktur neben rationalen Zügen und rationalen Kriterien
auch solche von überrationaler, nur innerlichstem Verstehen und Ver-
nehmen sich erschließender Natur enthalten und wirksam sind. Wenn
wir z. B. den Begriff des Absoluten oder den Gottes oder den der
Freiheit denken, also ausgesprochen metaphysische Begriffe, so ver-
schmilzt sich in dem Sinn eines solchen Begriffes ein rationaler und
positiv wissenschaftlicher Gehalt mit einem logisch transzendenten,
mit einem irrationalen und schon mystischen Gehalt. Darin prägt
sich nach einer Richtung die unaufhebbare Dialektik der meta-
physischen Begriffe aus. Unsere später folgenden Darlegungen wer-
den diesen Gedanken noch genauer zu begründen und zu verdeut-
12. Der Freiheitsmythos
205
liehen suchen. Zweitens tragen Begriffe aus dem Gedankenbereich
des Mythos stets den Zug der Unabhängigkeit von empirischen
Tatsachen, von zeitlich-räumlich-kausal gebundenen Umständen.
Sie haben immer eine Bezugsrichtung auf ein Absolutes, sei es ein
Absolutes religiöser Natur, ein Gott, oder ein Absolutes ethischer
Natur, z. B. eine absolut vollkommene Persönlichkeit oder Gesinnung
oder Tat, oder ein Absolutes kriegerisch-politischer Natur, z. B. ein
unvergleichlicher Held usw. Das gilt natürlich auch für diejenigen
Fälle, in denen eine geschichtliche Gestalt oder Vorzeit für den Mythos
benutzt wird. Denn auch in diesen Fällen verliert sich das eigentlich
und konkret Geschichtliche, indem es zu einer vorbildlichen Erhaben-
heit, Stärke, Güte, Weisheit usw. oder gerade umgekehrt zu absolu-
ter Verwerflichkeit emporgeführt, emporgedichtet', zur Übergegen-
ständlichkeit, zu einer Ewigkeit, mit einem Wort: zu einem Symbol-
wert erhoben wird. Hier ruht die enge Verwandtschaft zwischen
Märchen und Mythos, die beide ganz dialektische Gebilde, sozusagen
Kronzeugen der Dialektik sind.
12. Der Freiheitsmythos.
Die genauere Prüfung der Kriterien mythischer Begriffe zeigt
deutlich die Zugehörigkeit der Idee der Freiheit zu dem
Reiche des Mythos. Das war es, was wir klären und entwickeln
wollten. Doch vielleicht sträubt sich die moderne wissenschaftliche,
also fast ganz rationalisierte Bewußtseinshaltung dagegen, den Grund
für eine geistige Funktion und Leistung, wie es die Dialektik ist,
dem Gebiete des Mythos zuzuordnen und geradezu als eine mythische
Größe anzusehen. Eine solche Abwehr ist einen Augenblick lang
verständlich, so lange nämlich, als wir den Begriff und alle Funk-
tionsformen des Bewußtseins ausschließlich rationalistisch und positi-
vistisch auffassen. Läßt sich diese Auffassung aber restlos aufrecht-
erhalten? Bindet sie diesen Begriff und alle Bewußtseinsfunktionen
nicht zu sehr an eine einseitige, nämlich an die rationalistische Vor-
stellung vom Wesen des Bewußtseins und des Geistes, eine Vorstel-
lung, die in der Hauptsache zur Zeit der Aufklärung ausgebildet
wurde? Ist der Begriff des Bewußtseins und sind, was uns jetzt
besonders interessiert, die geistigen Synthesen, selbst die der Wissen-
schaft, ausnahmslos rationalistischer Struktur und restlos rational
durchschaubar? Beziehen sie sich nicht in recht beträchtlichem
Umfange doch auf — ein Geheimnis und auf ein Wunder? Wirken
206
III. Der dialektische Idealismus
sie sogar als Erkenntnisfunktionen nicht in einer Weise, daß die
Überzeugung von ihrer Rationalität eine gewisse Selbsttäuschung
darstellt? Ist jener Prozeß, den wir als dialektische Selbstentfaltung
des Begriffes zu bezeichnen pflegen, so geartet, daß er in allen Punk-
ten und Stufen seines Verlaufes als eine rein rational ablaufende
Entwicklung, als eine gleichsam mathematische Linie gelten kann?
Ja, ist selbst eine rein mathematisch funktionale Reihe so ganz frei
von Geheimnissen? Ist nicht sogar das angeblich rationalste Gebilde,
die Zahl, ein Wunder? Ist es frei von Geheimnissen?
Wir nennen den Klassiker der Dialektik, Hegel, einen Panlogisten,
weil er die ganze Wirklichkeit der Herrschaft des Logos, der Vernunft
unterstellt habe. Doch darf dieser Standpunkt des Panlogismus
nicht mit dem des Rationalismus gleichgesetzt werden, wie das unter
Verkennung des überrationalen Charakters des Hegelschen Systems
nicht selten geschieht. Der Begriff des Panlogismus ist sehr viel
umfassender als der des Rationalismus, er ist in demselben Sinne
umfassender, als der Begriff der Weltvernunft umfassender ist als
der des Verstandes, als der der Ratio, wenngleich der Rationalismus
denselben — übertriebenen und nicht zu verwirklichenden — An-
spruch wie der Panlogismus erhob, den nämlich, die ganze Fülle und
Vielheit der Wirklichkeit mit den Formen und Formeln des Ver-
standes zwingen zu können. Nun darin unterscheiden sich beide
Standpunkte, daß dem dogmatischen Rationalismus das Moment
der Dialektik so gut wie ganz fehlt, während es für den Panlogismus
von grundlegender Tragweite ist.
Indem der Panlogismus nun unter dem Einfluß des ihm immanen-
ten dialektischen Momentes von einer notwendigen Selbstentfaltung
des Begriffes und des Geistes spricht und diese Selbstentfaltung durch
die gesamte Stufenleiter der Entwicklung der Vernunft darstellt,
bezieht auch er sich auf ein mystisches und mythisches Element,
haben auch nach ihm und für ihn die Begriffe ein inneres geheimes
„Leben“, das der logisch-rationalen Analyse sich entzieht. Daß die
Vernunft sich in dieser dialektischen Entwicklung objektiviert, be-
ruht auf ihrer Freiheit. Die dialektisch sich auswirkende Freiheit
ist das Gesetz der Vernunft, die Freiheit selber in ihrer Vernunft
ist der Grund der Dialektik. Als dieser „Grund“ aber gehört sie
ohne Zweifel bereits dem Reiche des Mythos an. Denn in der Idee
der Freiheit verschmilzt ein rationaler Sinn, z. B. der des logischen
Sollens und der logischen Wahrheit, mit einem durchaus irrationalen
Sinn und Gehalt, der sich darin ausprägt, daß diese Idee an letzte
12. Der Freiheitsmythos
207
Tiefen gemüthafter Natur in unserer Brust appelliert und die Stimme
einer transzendenten Pflicht mystisch anklingen läßt. Dazu kommt
die absolute Geltung, die in dieser Idee wirksam ist, eine Forderung,
die rücksichtslos jede empirische Einschränkung durchbricht, die
den Anspruch und das Recht des Primates über alle menschlichen
und geschichtlichen Lebensformen und Betätigungen besitzt. Die
Metaphysik der Dialektik führt bei ihrem notwendigen Nachforschen
nach dem Grunde der Dialektik zu dem Mythos der Freiheit.
Wir können diesen Gedanken auch in einer weniger metaphysi-
schen Fassung so ausdrücken: Jenseits der festen und streng walten-
den Bewußtseinssynthesen und Geistesformen, mit deren Hilfe wir
in der Philosophie und in den Einzelwissenschaften die geistige Wirk-
lichkeit aufbauen, müssen wir eine freie Schöpfungskraft als bewir-
kenden Grund annehmen, ln welcher Weise annehmen? Die An-
nahme selber scheint mir mit voller Berechtigung notwendig. Worauf
aber bezieht sie sich? Das heißt: Ist jene schöpferische Freiheit
nur eine „Idee“ in kantischem Sinne, im Sinne eines heuristischen,
eines regulativen Prinzips, um theoretisch die Metaphysik „möglich“
zu machen? Besteht ihre Wirklichkeit „nur“ in ihrer Idealität als
Gesichtspunkt, als Norm, als Forschungsmaxime? Oder schließt
jene Annahme zugleich die Beziehung auf eine metaphysische Reali-
tät in sich, auf ein „Wesen“, auf ein „Seiendes“, wie z. B. der
religiös gestimmte Mensch hinter allen Erscheinungen die Wirklich-
keit Gottes als die schöpferische Grundursache aller Weltbegeben-
heiten annimmt? Dürfen, müssen wir den — unkritischen — Schritt
zur Hypostasierung der Freiheit wagen? Dürfen, müssen wir wieder
in die Denkweise des alten, von Kant mit so unwiderstehlichen Gegen-
beweisführungen angegriffenen und niedergezwungenen Dogmatis-
mus und Ontologismus einmünden? Eine Schicksalsfrage, eine
Schicksalsentscheidung. Verfälschen wir, falls wir diesen Schritt
vollziehen, nicht die Reinheit und Klarheit des Standpunktes des
Kritizismus? Mischen wir in die kritische Stellungnahme nicht dog-
matische, doktrinäre, ontologische Züge ein, vielleicht unter dem
Einfluß religiöser Neigungen und religiöser Wünsche? Behaupten
wir in bezug auf jene Realität der Freiheit nicht mehr, als wir wirk-
lich und ernstlich „erkennen“ können?
Die Wendung zu jener Hypostase der Freiheit, zu ihrer meta-
physischen Verdinglichung ist an sich unter der Einwirkung von
zwei Stellungnahmen möglich. Ob unter philosophisch-kritischem
Gesichtspunkt ebenfalls, das ist nur mit einem Nein zu beantworten.
208
III. Der dialektische Idealismus
Jene beiden anderen Stellungnahmen sind die verabsolutierende
des religiösen Glaubens und die verabsolutierende des dogmatischen
Rationalismus, wie den letzteren die etwa von Descartes bis Leibniz
und seinen Nachfolgern reichende Aufklärung ausgebildet hat. Dieser
dogmatische Rationalismus vermaß sich, die Realität des Absoluten
in strengen, logisch überzeugenden Beweisführungen darzutun. Er
hatte zu diesem Zwecke bekanntlich ein System kunstvoll-künst-
licher Beweisführungen ausgearbeitet, das die Gemüter der Menschen
jahrhundertelang in sonst seltenem Ansehen beherrschte, und das
den Charakter eines großartigen intellektuellen Glaubensbekennt-
nisses trug. Seit der Entstehung und dem Durchdringen der kriti-
schen Philosophie ist dieser, auf bemerkenswerter Geisteseinmütig-
keit beruhende Bann gebrochen. Zwar wurde der Rationalismus als
solcher keineswegs beseitigt oder gemindert. Im Gegenteil. Viel
zu eng ist er mit der europäischen und abendländischen Kultur ver-
schmolzen, viel zu dauernde und umfassende Erfolge bis weit über
das Gebiet der Wissenschaft hinaus kann er zu seinen Gunsten
buchen, als daß er eine Einschränkung erfahren oder gar zur Ab-
dankung gezwungen werden konnte. Die Geschichte unserer Kultur
weist eine Zunahme, weist eine quantitative und qualitative Ver-
stärkung des Rationalismus und der allgemeinen Rationalisierung
und Verwissenschaftlichung unserer Gesinnung auf. Der Prozeß der
Aufklärung ist mit nichten abgeschlossen. Und kein Einspruch wird
den ,,Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmün-
digkeit“ verhindern, wird dem Menschen den Mut nehmen, „sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, wird
ihm das Vertrauen auf diesen Mut rauben können. Gleichgültig, ob wir
diese Entwicklung begrüßen oder beklagen — Tatsache ist, um noch
weiter mit den Worten Kants zu sprechen, daß wir wohl noch nicht
in einem aufgeklärten Zeitalter, aber wohl in einem Zeitalter der
Aufklärung leben. Kein Zweifel auch, daß diese Bewegung unauf-
haltsam weitere Fortschritte machen wird.
Aber die Bezugsrichtung des Rationalismus hat seit den Tagen
der eigentlichen Aufklärung eine wesentliche Änderung im Sinne
wesentlicher Vereinfachung erfahren, und auf diese Weise ist der uns
ins Blut übergegangene Rationalismus außerordentlich verstärkt
worden. Er konnte seine Kraft sammeln und sie an einem bestimmten
Punkte zur Eroberung einer bestimmten Stelle, zum erfolgreichen
Durchbruch an einer bestimmten Stelle einsetzen. Der alte wissen-
schaftliche Rationalismus war nämlich insofern in seinem Interesse
12. Der Freiheitsmythos
209
geteilt, als er in einer Richtung mit aller Macht des Verstandes und
den großartigsten Ergebnissen sich der Erkenntnis der Erfahrungs-
welt, der Welt der Erscheinungen widmete und hierfür ein wunder-
voll feines Netz von Methoden gewoben hatte. Es ist überflüssig,
über seine Leistungsfähigkeit und über seine Leistungen in dieser
Hinsicht auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Der Weg der
positiven Wissenschaften als der Träger und Ausführer des Rationalis-
mus ist ein Triumphzug sondergleichen. Aber Hand in Hand mit
dieser, auf das Diesseits gerichteten Forschungsweise ging die meta-
physische Form des Rationalismus, die sich unter Benutzung der
neuen mathematischen Naturwissenschaften um die Aufrechterhal-
tung eines alten, eines sehr alten, nicht erst aus dem Mittelalter
stammenden Erkenntniswunsches und Erkenntniszieles bemühte,
nämlich um die mathematisch sichere und mathematisch gesicherte
Erkenntnis des Absoluten, mochte dieses nun als Substanz oder
als Gott oder als absolute Natur— im Unterschied zur erscheinenden,
erfahrungsgegebenen Natur — oder als Freiheit usw. bezeichnet
werden.
Die Herrschaft dieser Form des metaphysischen Rationalismus
ist durch die Kritik Kants zerstört worden. Das ist allbekannt
und von allen, zum Verständnis dieser Tat fähigen Köpfen anerkannt.
Wohl gibt es noch immer Kreise, die an jener rationalistischen
Metaphysik festhalten und sie gegen Kant verteidigen bzw. geradezu
zu erneuern suchen. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich hier,
wie unschwer nachzuweisen ist, aber um gefühlsmäßig, um religiös,
um kirchlich, also von vornherein um nicht vorurteilslos eingestellte
Bemühungen der Verteidigung oder Wiederherstellung der alten dog-
matischen Spekulation. Es sind Bemühungen, die blind sind gegenüber
dem durch den Kritizismus erreichten Fortschritt in der Philosophie
und in der Erkenntnis der Grenzen einer objektiv gültigen Wissen-
schaft. Psychologisch sind diese Wiederbelebungsversuche verständ-
lich. Wie gesagt, hingen doch an der alten Metaphysik nicht nur der
Kopf, sondern auch das Herz der Menschen und der Jahrhunderte: Sie
war ihnen sowohl eine Angelegenheit des Intellektes als auch eine
solche des Glaubens, des Gemütes, in nicht geringem Ausmaße auch
eine sehr ernst genommene Angelegenheit der Tradition, der Pietät,
der Autorität, der Liebe. Und diese Momente spielen in der Anhäng-
lichkeit an den alten Dogmatismus eine recht erhebliche Rolle;
sie zeigen, daß auch die Versuche um die Aufrechterhaltung des
traditionalistischen Dogmatismus von mehr-als-wissenschaftlichen,
Uebert, Dialektik. 14
210
III. Der dialektische Idealismus
daß sie von außerkritischen Motiven gespeist werden. Sie vermögen,
obwohl sie als kulturgeschichtlich und philosophiegeschichtlich be-
merkenswerte Tatsachen eben da sind und die Aufmerksamkeit auf
sich lenken, doch die andere Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen,
daß sie ihrem prinzipiellen Geltungswert nach einer hinter uns liegen-
den Stufe der philosophischen Entwicklung angehören. Nicht alles,
was geschichtlich weiterlebt oder eine geschichtliche Erneuerung
erfährt, lebt darum auch prinzipiell und systematisch weiter. Auch
in der Entwicklung der Philosophie treten bisweilen Gespenster
auf. Ihre Entwicklung trägt nicht immer die Züge einer geradlinigen
Weiterarbeit; sie unterscheidet sich auch in dieser Hinsicht deutlich
genug von derjenigen der positiven und konkreten Wissenschaften.
Sie bewegt sich nicht bloß in oft recht seltsam begründeten und
recht seltsam geformten Krümmungen, sondern häufig sind in ihr
auch recht merkwürdig begründete und recht wunderlich geformte
Rückfälle anzutreffen.
Diese Anhänglichkeiten und Rückfälle haben ihren Grund darin,
daß die ,»Wahrheiten“ der Philosophie mit eigentümlichen Gefühlen
verbunden sind und deshalb neben ihrem intellektuellen Wert auch
das Gepräge von Gefühls- und von Pietätswerten tragen. An diesen
Gefühls- und Pietätswerten, die eine besondere Autoritätskraft und
Traditionsmacht ausströmen, hängt das Herz der Menschen. Sie
erscheinen ihnen als etwas Ehrfurchtgebietendes, fast Heiliges. Die
alten „Wahrheiten“ der Philosophie ähneln auch in dieser Beziehung
in einer dem Kundigen nicht auffälligen Weise den sog. Wahrheiten
der von der Kirche verwalteten Religion. Der Angriff gegen sie
wird demgemäß auch als ein Angriff gegen ein fast wie ein persön-
liches Gut empfundenes Heiligtum aufgenommen und entsprechend
beantwortet. Das läßt sich mit unverkennbarer Deutlichkeit an
der Erregung ersehen, die Kants Kritik des dogmatischen Rationalis-
mus auslöste. Nicht ein rein intellektuelles Gedankengebäude schien
von Kant getroffen, sondern ein Wert schien verletzt, beinahe möchte
ich sagen, schien entweiht, der im Gemüt der Menschen verankert
war und mit mehr als bloß intellektueller Sorgfalt gepflegt wurde.
Wir wissen, daß die Verwundungen des Herzens und des Gemütes
heftiger schmerzen als die Angriffe gegen den Verstand, als seine
Bedrohung oder Niederlage. So wird auch der allgemeine geistes-
geschichtliche Eindruck erklärlich, den Kants Kritik hervorrief. Be-
merkt und empfunden wurde nur die Widerlegung des Dogmatismus,
der den Jahrhunderten teuer und lieb geworden war, und an dessen
12. Der Freiheitsmythos
211
Ausbau und Stärkung die philosophisch und metaphysisch begabte-
sten Köpfe mit einer eben durch gefühls- und gesinnungsmäßige An-
teilnahme vertieften Leidenschaft mitgearbeitet hatten. Ungleich
weniger wurde die doch offen am Tag liegende positive Seite der
Kritik empfunden, ihr Eintreten für die andere Richtung des Ratio-
nalismus, für die, die der Erkenntnis der Erfahrungswelt zuge-
wendet ist.
Denn gemäß der Doppelnatur und Doppelrichtung des Rationalis-
mus ist auch das Verhältnis der kritischen Philosophie zu ihm ein
doppeltes, ja ein dialektisches. Der begründeten Ablehnung der
metaphysischen Form, d. h. der kritischen Widerlegung der alten
dogmatischen Metaphysik, entspricht Wort für Wort und Gedanke
für Gedanke die begründete Zustimmung zu dem empirisch gerichte-
ten Rationalismus, der seinen klassischen Ausdruck und Nieder-
schlag in den mathematischen Naturwissenschaften gefunden hatte.
Jene Widerlegung der rationalistischen Metaphysik ist nun aber
eine nicht bloß zeitgeschichtlich bedeutsame Tat. Weit hinaus über
ihre geschichtliche Tragweite ist sie von prinzipieller Wichtigkeit
für das System und für den Sinn der Philosophie. Sie fördert nicht
bloß deren geschichtliche Entwicklung, sie erzeugt eine grund-
sätzlich neue Stufe in der philosophischen Auseinandersetzung mit
der Wirklichkeit. Nur der, der es sich hat angelegen sein lassen,
mit reiner Sachlichkeit, vielleicht sogar in innerem Kampf gegen
überlieferte und liebgewordene Überzeugungen durch diese Stufe hin-
durchzugehen, nur der, der sich mit dem Geist der Kritik in langer
Hingabe erfüllt hat, kann die prinzipielle Tiefe und Schwere der
durch Kant veranlaßten Wendung verstehen und beurteilen. Auch
hier heißt es, die Angelegenheit nicht von einem ihr fremden Ge-
sichtspunkt und unter dem — wenn auch noch so leichten und viel-
leicht kaum bemerkten — Druck einer vorgefaßten Meinung erfassen;
auch hier heißt es, immanente Kritik treiben. Und die Folge eines
solchen Erlebnisses ist das Eingeständnis, daß der alte dogmatische
Standpunkt der alten ontologischen Metaphysik überlebt, überholt
ist. Bei dem Versuch, ihn zu erneuern oder zu zeigen, daß seine
Widerlegung dem Kritizismus nicht gelungen sei, prüfe man sich
ernstlich, ob sich in wissenschaftlicher Hinsicht ein jenseitiges und
absolutes Sein mit den Mitteln der Wissenschaft erkennen läßt,
oder ob der Glauben, eine derartige Erkenntnis sei möglich oder
sogar geglückt, nicht auf der unbemerkten Hypostase von Begriffen
und Begriffssynthesen, auf der naiven, d. h. also auf der dogmati-
14*
212
III. Der dialektische Idealismus
sehen Verdinglichung von Gedankenwesen zu Seinswesen beruht.
Wer diesem Glauben huldigt, der hat damit den Beweis geliefert,
daß er einem veralteten Standpunkt, einer grundsätzlich über-
wundenen Stufe der philosophischen Entwicklung angehört.
Damit sind wir nun —endlich — an demjenigen Punkte angelangt,
den wir zur Gewinnung einer für unsere Frage und für unseren Fall
entscheidenden Feststellung erreichen mußten. Wie kritische Grenz-
setzung und kritische Geisteshaltung überhaupt die Hypostase, die
Ontologisierung von Ideen verbietet, was natürlich weder gegen die
Notwendigkeit noch gegen die objektive Geltung der Ideen etwas
besagen will, so verbieten sie uns auch die Hypostase der Freiheits-
idee (vgl. S. 213 ff.). Wir halten an dieser Idee fest, sehen in der Frei-
heit den tiefsten Grund der objektiven und objektivierenden Geistes-
formen und damit überhaupt den tiefsten Grund der geistigen
Wirklichkeit, der Wirklichkeit des Geistes und seiner Wahrheit.
Wir lassen diese schöpferische Freiheitsidee als einen ewigen und
absoluten Schöpfungsakt und als einen Mythos gelten. Aber indem
wir sie als schöpferische und absolute Idee und als Mythos verstehen
und aufnehmen, wollen wir damit die kritische Vorsicht wahren
und die kritischen Lehren über die Grenzen der Erkenntnis des
Seins walten lassen. Das heißt: Eine substantielle Realität ist die
Freiheitsidee nicht, so sehr wir immer ihre Absolutheit und ihre
Transzendenz betonen. Die Auffassung dieser Idee im Sinne sub-
stantieller Realität würde uns eine unmögliche, eine naive, durch
nichts als durch die Mystik des Offenbarungsglaubens oder durch
den Rückfall in den ontologisierenden Rationalismus veranlaßte
Willkür, als die verdinglichende Umbiegung einer notwendigen Ge-
dankensetzung in die Realität einer Substanz bedeuten. Mit dem
Begriff der „mythischen Wirklichkeit“, mit dem Gedanken eines
„objektiven Mythos“ soll jene Existenzweise absoluter Natur be-
zeichnet werden, die sich ebenso von der Existenzweise der objek-
tiven Welt der Erscheinungen wie von der weniger geheimnisvollen
als unheimlichen und spukhaften Existenzweise absoluter Dinge,
der Dinge an sich unterscheidet. Daß die Welt des Mythos schließ-
lich in keiner Weise mit der psychischen Welt subjektiver Einbil-
dungen und Fiktionen zusammenfällt, sondern im strengen Gegen-
satz dazu ein durchaus objektives Dasein führt und sich nach objek-
tiven Gestaltungsprinzipien aufbaut, braucht nach all den oben
entwickelten Ausführungen kaum noch betont zu werden.
13. Die kritische Geisteshaltung
213
13. Die kritische Geisteshaltung.
Jene kritisch-idealistische und mythologische Auffassung der
Freiheitsidee und des Freiheitsgrundes hat nun auch ihrerseits wieder
eine außerordentlich tiefgreifende Folge und Auswirkung. In dieser
Auswirkung bekundet sich überhaupt ein allgemeiner, sehr beachtens-
werter Ausdruck derjenigen entscheidenden Stellung, die die kri-
tische Geisteshaltung innerhalb der modernen Kultur einnimmt.
Wir wollen nämlich in den nun folgenden Zeilen den Kritizismus
weniger als eine besondere philosophische Lehre, denn als einen
Wesenszug der allgemeinen neuzeitlichen Entwicklung ins Auge
fassen. Erst unter dieser Betrachtungsweise kann eine umfassende
und unvoreingenommene Erkenntnis und Würdigung dessen erfol-
gen, was der Kritizismus überhaupt für das moderne Leben bedeutet.
Von der einen Seite aus wird diese Bedeutung als geradezu un-
vergleichlich hoch veranschlagt und dem Kritizismus die Geltung
einer Art von Schicksalsmacht, ebenbürtig den anderen großen
geschichtlichen Gewalten, die das moderne Leben geformt haben,
zugebilligt. Von der anderen Seite aus wird der Kritizismus für
eine vorübergehende Zwischenhandlung angesehen, wenn nicht für
eine bereits überwundene und vorübergegangene Episode, die auf
philosophischem Gebiet in einer Beziehung durch die Entstehung
der sogenannten Lebensphilosophie, in anderer Beziehung durch die
Erneuerung der ontologistischen Metaphysik und auf allgemein
kulturellem Gebiet durch die Wendung zum religiösen Irrationalis-
mus (als Parallele zu jener Lebensphilosophie) erledigt sei bzw. vor
ihrer Erledigung stünde. Es würde eine eigene, außerdem sehr reiz-
volle, in philosophischer wie in kulturgeschichtlicher Hinsicht recht
ergiebige Aufgabe darstellen, diesen Behauptungen einmal nachzu-
gehen, ihre Voraussetzungen ans Licht zu stellen und das Maß ihrer
Berechtigung zu prüfen.
Mir scheinen die Überzeugungen, die eine vor der Tür stehende
bzw. bereits eingetretene Überwindung des Kantianismus zum
Ausdruck bringen und sogar von einem endgültigen Abschluß der
kantischen Bewegung sprechen, ganz unberechtigt. Soweit sie nicht
aus offenbarer Unkunde oder aus der Stimmung des Wunsches als
des Vaters so mancher Behauptungen oder aus dem Ressentiment
stammen, sind sie bereits aus wissenschaftstheoretischen Über-
legungen heraus gegenstandslos. Für die „Grundlegung der Geistes-
wissenschaften“, mit den Worten Diltheys: für die „Kritik der
214
III. Der dialektische Idealismus
historischen Vernunft“ hat der Kritizismus noch unendlich viel
zu leisten und vermag er unendlich viel zu leisten. Das jedoch
interessiert uns in dem vorliegenden Zusammenhang weniger. Viel
wichtiger ist es, daß jene Überzeugungen von einem Veraltetsein
des Kritizismus dessen eigentliche Stellung im Geistesleben glatt
verkennen, daß es ihnen entgeht, wo diese Stellung überhaupt liegt
oder zu suchen ist. Mögen sich in der Philosophie neue Richtungen
auftun, mag ein Wandel der philosophischen Einstellung und Inter-
essen eintreten, mögen sich diese Interessen mit mehr oder minder
großem Erfolg durchsetzen, so entwurzeln jene Entwicklungen nicht
die systematisch und geistesgeschichtlich verankerte Stellung des
Kritizismus. Bei ihm handelt es sich nicht bloß um eine spezifisch
philosophische Theorie. Deshalb sind diejenigen Angriffe, die dem
Kritizismus als philosophischem Lehrsystem zugedacht sind, einfach
gegenstandslos. Sie prallen an seiner geschichtlich erwiesenen Macht
und an seiner systematischen Bedeutung ab.
Wie aber ist es möglich, den Kritizismus zu ,,überwinden“ oder
seine bevorstehende Überwindung anzukündigen, sobald die Erkennt-
nis gewonnen ist, daß er ein Element, ein Faktor, ein Ausdruck
der ganzen modernen europäischen Entwicklung und Bildung,
daß er ebensowohl ihr Ergebnis als ihr Träger und Förderer ist1)?
Nicht auf Einzelgebieten, nicht auf einzelnen Bahnen äußert sich
diese eigentümliche Geltung in erster Linie. Darum ist es eine
irrige oder unzulängliche Einstellung, wenn nur diejenige Bedeutung
erwogen wird, die der Kritizismus z. B.für die Erkenntnistheorie oder
für die philosophische Ethik oder für die Religionsphilosophie hat,
und wenn sich nun gegen diese Form und diesen Grad der Bedeutung
die Angriffe richten. Nicht bloß innerhalb der Grenzen der spezi-
fisch philosophischen Entwicklung, sondern aus der Allgemeinheit
und Substanz des modernen Geisteslebens ist der Kritizismus nicht
wegzudenken. Ja, es hieße nicht nur ungeschichtlich, sondern gerade-
zu „kulturlos“ denken, sobald seine Bedeutung als allgemeine
Geistesmacht, seine Rolle als „Potenz“, als Produzent und als
Produkt außer Betracht bleibt, mag diese Rolle im übrigen mit
Beifall oder Mißbehagen, mit der Hoffnung auf eine Fortsetzung
2) Dem genaueren und begründenden Nachweis dieser Stellung der kritischen
Philosophie im Zusammenhang der europäischen Geistesentwicklung und ihrer
allgemeinen schöpferischen, antreibenden Bedeutung für diese Entwicklung
dienen die Werke von Eugen Kühnemann „Kant“ (1923) und von Heinrich
Rickert „Kant als Philosoph der modernen Kultur“ (1924).
13. Die kritische Geisteshaltung 215
und Zunahme oder mit der Sehnsucht nach einer Beendigung be-
gleitet werden.
Als Geisteshaltung und Gesinnung, als Erkenntnisweise und
Methode, als Lebensauffassung und Lebensbewertung, als Ausdruck
einer metaphysischen Stellungnahme zur Wirklichkeit und als Aus-
druck einer bestimmten metaphysischen Deutung der Wirklichkeit
gehört der Kritizismus zu uns im guten und im schlechten Sinne.
„Kritisch“ ist unsere mathematische Naturwissenschaft, da sie
nicht mehr nach dem „Wesen“ der Dinge forscht und nicht mehr
die quinta essentia zu erspähen trachtet. „Kritisch“ ist auch die
biologische Naturwissenschaft, denn sie vermeidet die Verdinglichung
des Prinzips der „Lebenskraft“ oder verbleibt in ihrer antivitalisti-
schen Untersuchungsweise auf den Bahnen der experimentellen
Forschung. Alle Formen unserer Naturwissenschaft streben nur
nach der Erkenntnis der Gesetze der Erscheinungen; sie suchen
bzw. erreichen einen mathematischen Ausdruck für diese Gesetze.
Was aber,,hinter“den Erscheinungen steckt, darauf richtet sich ihr
Augenmerk nicht.
„Kritisch“ sind unsere historischen Geisteswissenschaften sowohl
bei der Verwertung der Quellen und bei der Rekonstruktion ver-
gangener Zeiten und Menschen als auch bei der Bewertung ihrer
Ergebnisse. Sie gestatten die Möglichkeit zu einem Fragezeichen,
sie sträuben sich nicht gegen die Berechtigung und Freiheit einer
„anderen“ Auffassung und empfinden die Bezeichnung, daß sie
eines gewissen Relativismus nicht ganz ledig wären, nicht als die
Aufprägung eines schimpflichen Brandmals. Keiner ihrer Methoden,
sei es die philologisch-historische, sei es die mit den Begriffen des
Typus, der Struktur, der Gestalt arbeitende geistespsychologische,
sei es die ausgesprochenermaßen deutende und normative, eignet
jener dogmatische und selbstgerechte Charakter absoluter und un-
umstößlicher Sicherheit, der die Fähigkeit für sich in Anspruch
nimmt, der „Geschichte“ bis ins Herz zu sehen und das eigentliche
Zentrum aller Motive des Geschehens und aller Stufen des histori-
schen Verlaufes aufdecken zu können. Eine interessante Parallele
herrscht zwischen dem Ernst und der methodischen Sachlichkeit
der historischen Forschung, die der Außenseite und der Empirie
des Geschehens nachgeht und alle „geschichtlichen“ Faktoren und
Umstände der Ereignisse ins Auge faßt, und ihrer „kritischen“
Vorsicht gegenüber allen geschichtsmetaphysischen Spekulationen
und Konstruktionen. Je mehr sich die „Geschichte“ zu einer stren-
216
III. Der dialektische Idealismus
gen Wissenschaft ausgebildet hat bzw. auszubilden strebt, um so
größer wird der kritische Geist in ihr. Er wird größer nach zwei
Seiten hin, wie es der philosophische Kritizismus auch grundsätz-
lich fordert und als methodisches Verhalten vorschreibt: nach der
Seite der Ablehnung einer Geschichtsmetaphysik im spekulativen
Sinne bzw. der Ablehnung einer Verquickung der Geschichtsmeta-
physik mit der positiven kritischen Forschung, ferner nach der Seite
des konkreten und positiven Aufbaues und der Verfeinerung eben
dieser kritischen Forschung.
„Kritisch“ ist unser Verhältnis zur Überlieferung und zu den
geschichtlichen Autoritäten und damit nicht bloß zu der soeben
berührten historischen Erkenntnis, sondern zum geschichtlichen
Leben und seinen Wirkungszusammenhängen. Gerade das ist ein
Zustand von schwerstwiegender Tragweite für unser inneres und für
unser äußeres Dasein und Ergehen, für die innere und äußere Ge-
staltung der Gegenwart und der Zukunft. Denn diese Form der
„Kritik“ bezieht sich mit derselben Kraft, mit der sie der Ver-
gangenheit gilt, auch auf die Zukunft. Und wie wichtig für das
gegenwärtige Dasein, d. h. für jede „Gegenwart“ der Geschichte,
gerade die Zukunft ist, wie stark das, was erst werden kann und
werden soll, schon in die Gegenwart eingreift, weiß jeder, der sich
auch nur äußerlich mit dem Leben der Geschichte beschäftigt. Mit
jeder Sekunde und mit jedem Hauch, mit jedem Gedanken und
mit jeder Tat wird die Gegenwart Zukunft, schiebt sie sich hinaus
und hinein in das, was noch nicht ist, wird die Zukunft Gegenwart,
wird das, was erst ideell vor uns liegt, was erst im Reiche der
Absichten und Wünsche existiert und in seiner Verwirklichung nach
Form und Charakter von der Freiheit unseres Willens abhängig
und noch in das freie Spiel unseres Beliebens gestellt zu sein scheint,
ununterbrochen und mit Blitzesgeschwindigkeit schwerste, härteste,
realste Realität.
Wie „kritisch“ wir der Zukunft gegenüberstehen, zeigt das sehr
bezeichnende Fehlen eines auf sie sich beziehenden Dogmas. Wir
verfügen nicht mehr über die allgemein anerkannte Sicherheit eines
theologischen Dogmas, das mit autoritärer Festigkeit die ganze Ent-
wicklung unseres Geschlechtes etwa durch die Formel: Sünden-
fall-Sühnung durch die Kirche-Jüngstes Gericht, umspannt.
Ebensowenig können wir angesichts der ungeheueren Erweiterung
des historischen Blickfeldes und der zunehmenden Verstrickung in
die Fülle der Wirklichkeit und in ihre Widersprüche und Spannungen
13. Die kritische Geisteshaltung
217
noch den Werdegang der Geschichte als eine kontinuierliche und
allseitig sich ausbreitende „Erziehung des Menschengeschlechtes“
auffassen, wie es Lessing und Herder, Kant und Schiller taten.
Nicht mehr vermögen wir unter Anwendung der konstruktiven Auf-
fassung der spekulativen Geschichtsphilosophie mit Fichte zu
sprechen: „Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, daß
sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Ver-
nunft einrichte“ („Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“). Selbst
der Betrachtungsweise und den Betrachtungsergebnissen des größten
Geschichtssystematikers des spekulativen Idealismus, Hegels, billigen
wir heute nicht mehr eine restlose Treffsicherheit zu, sie erschöpfen für
uns nicht die ungeheuere Problematik des historischen Lebens. Hegel
vertritt in großartigen Konstruktionen die „Vernunftansicht der
Weltgeschichte“. Von der Philosophie der Weltgeschichte sagt und
fordert er: „Der einzige Gedanke, den sie mitbringt, ist der einfache
Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß
es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist. Diese
Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung
der Geschichte als solcher überhaupt.“
Schon hier stutzen wir. Ist diese Voraussetzung notwendig?
Hegel behauptet es mit begreiflichem und von seinem Standpunkt
aus berechtigtem Nachdruck. Er betont: „Daß nun solche Idee
(nämlich die Idee der Vernunft in der Geschichte) das Wahre, das
Ewige, das schlechthin Mächtige ist, daß sie sich in der Welt offen-
bart und nichts in ihr sich offenbart als sie, ihre Herrlichkeit und
Ehre, dies ist es, was, wie gesagt, in der Philosophie bewiesen und
hier so als bewiesen vorausgesetzt wird.“ Er verficht die Not-
wendigkeit dieses „apriorischen Verfahrens“. Wenn gegen dasselbe
ein Einwand erhoben werde, so sei das der Philosophie gleichgültig.
„Um das Substantielle zu erkennen, muß man selber mit der Vernunft
daran gehen.“ Die Philosophie „wird in der Gewißheit, daß die
Vernunft das Regierende ist, überzeugt sein, daß das Geschehene
sich dem Begriffe einfügt“. Sie „geht a priori zu Werke, insofern
sie die Idee voraussetzt. Diese ist aber gewiß da; das ist die Über-
zeugung der Vernunft.“ Ist jedoch schon diese Voraussetzung nicht
zu eng genommen? Das soll nicht heißen: Die Geschichtsphilosophie
bedarf keiner Voraussetzung, keiner Idee als eines Leitgedankens, als
methodischen Prinzips. Es ist der nicht zu bestreitende und nicht
zu beseitigende grundsätzliche Vorzug der idealistischen Geschichts-
philosophie, eine solche Voraussetzung aufzustellen, von einer „Idee*
218
III. Der dialektische Idealismus
als Konstruktionsgrundlage auszugehen und an der Idee der Einheit
als methodischer Bedingung sich zu orientieren. Die systematische
Idee der Einheit ist für jede philosophische Leistung von konsti-
tutiver und regulativer Tragweite. Doch muß es gerade diese
Idee sein? Wirkt hier im Hintergründe nicht der Einfluß einer
theologisch-teleologischen, ja geradezu einer theokratisch-teleolo-
gischen und harmonistischen Auffassung, die als Dogma die freie
und dialektisch überlegene Übersicht über die Mannigfaltigkeit des
geschichtlichen Lebens und dessen freie und dialektische Würdigung
fesselt?
Diese Bedenken erfahren eine kritische Steigerung angesichts der
Formulierung, in die Hegel Inhalt und Sinn der Weltgeschichte zu-
sammenfaßt: ,,Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein
der Freiheit, — ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu
erkennen haben.“ „Des Geistes Substanz ist die Freiheit. Sein
Zweck in dem geschichtlichen Prozesse ist hiermit angegeben.“
(Die angeführten Stellen aus „Vorlesungen über die Philosophie der
Weltgeschichte“, 1. Band: „Die Vernunft in der Geschichte“.)
Können und dürfen wir noch heute mit derselben vertrauensvollen
Zuversicht von einem unaufhaltsamen „Fortschritt im Bewußtsein
der Freiheit“ sprechen? Doch nur dann, wenn wir die „Freiheit“
zu kritischen Vorbehalten haben und ausüben? Nur dann, wenn
wir die Idee der Freiheit ganz frei, ganz kritisch, ganz dialektisch
auffassen und verwenden und ihr auch die Idee zunehmender Bin-
dungen und einer Vermehrung der Klammern, der Abhängigkeiten
— z. B. durch den Staat, durch zahllose Organisationen, durch den
Beruf, durch die Herrschaft der Technik, durch Wissenschaft und
Wissen usw. — einordnen. Ich verstehe es durchaus, wenn die auf
naturwissenschaftlicher Erkenntnis beruhende Einfügung des mensch-
lichen Willens und Tuns in die Allgemeinheit und in die Allmacht
naturgesetzlichen Geschehens, etwa in der Technik und durch sie, zu-
gleich als eine Art der Herrschaft über die Natur und als eine Form der
Freiheit über sie begriffen wird. Ich verstehe es durchaus, wenn
Hegel behauptet, daß des Geistes Grund und Substanz die Freiheit
sei. Ein Teil der vorangehenden Überlegungen bewegte sich auf
Bahnen und gelangte zu Ergebnissen, die denen Hegels nicht un-
beträchtlich nahestehen. Die Kritik betrifft auch nicht das Prinzip
als solches, sondern die mir viel zu harmonistisch erscheinende
Vorstellung von der Betätigungsart und dem geschichtlichen Werde-
gang des Freiheitsprinzips. Für Hegels monistischen und humanisti-
13. Die kritische Geisteshaltung
219
sehen Harmonismus sind die gewaltigen Leidenschaften nur Material
für die glättende Klärung durch die Vernunft, sind die ,,Antithesen“
nichts als Vorstufen für die sie aufhebende Synthese, sind die tra-
gischen Konflikte und Spannungen nicht um ihrer selbst willen von
geschichtlichem Wert; es äußert sich in ihnen keine selbständige
Tiefe des geschichtlichen Kampfes. Sondern jeder geschichtliche und
sittliche Wert verwirkliche sich nur oder erst in dem siegreichen
Durchdringen der Vernunft. Nur in und auf ihrer Höhe liege alles
Licht, liegen alle Wahrheit und Schönheit und alle Seligkeit und
Erlösung.
Aber das ist es nun gerade, was unser Bewußtsein und unsere Ur-
teile nicht mehr gutheißen können. Wir sind so gerecht, so kritisch
auch gegen die Vernunft und gegen ihre Siege und Triumphe, daß
wir eine sehr begründete Zurückhaltung gegen alle Siege üben. Wir
können nicht bloß so ohne weiteres in den Preis der „Vernunft“ ein-
stimmen, sondern wir achten und ehren auch in dem Noch-nicht-
Vernünftigen, in den Reibungen und Zwiespältigkeiten positive
Werte. Uns ist die Harmonie, uns ist der Ausgleich nicht immer
der auf jeden Fall wünschens- und lobenswerte Ausgang. Uns ist
das geschichtliche Leben nicht mehr ein nur in eindeutig folge-
richtigem, durchgängig vernunftgemäß bestimmtem Stufengang sich
aufgipfelndes Werden. Es ist uns nicht mehr eine so einheitliche und
geschlossene Bewegung, daß wir es von Anfang bis Ende als eine
in reiner Zielstrebigkeit begriffene Reihe restlos-sinnhaft mitein-
ander verwobener Gestalten und Ereignisse auffassen könnten. Es
ist uns nicht mehr möglich, dieses Schauspiel mit jener ruhigen
Freude zu begleiten, die dem humanistischen Zeitalter eigen war,
und aus der heraus Lynkeus, der Türmer, sein Danklied singt. Auch
Hegel hätte sich und seine Augen glücklich preisen können, daß
ihnen der Anblick der Welt vergönnt war. Auch in ihm lebt, auch
aus ihm spricht beim Studium von Gott und Mensch jenes anteil-
volle „Behagen“, das seines Zeitgenossen Goethe Stimmung und
Urteil lenkt. Das ist ersichtlich nicht jener flache Optimismus, den
Schopenhauer, auch in diesem Falle kein objektiver Kritiker und
kein zuverlässiger, kein verständnisfähiger und verständnisgewillter
Berichterstatter, der spekulativen Geschichtsmetaphysik tadelnd
vorwirft. Von Schopenhauers negativer und skeptischer Einstellung
gegenüber der Geschichte aus läßt sich weder „Geschichte als Wissen-
schaft“ noch „Geschichte als Metaphysik“ treiben. Wir sind weit
entfernt, die Menschen und ihr Handeln mit doktrinärem Griesgram
220
Ul. Der dialektische Idealismus
zu schmähen und in dem Spiel des Lebens nichts als ärgerlichen
Unsinn zu finden. Mit dem Gefühl der Bewunderung, der Ergriffen-
heit sehen wir auf die Großartigkeit dieses Spieles; wir können uns
seinem Eindruck, seiner Gewalt, seiner Herrlichkeit nicht entziehen.
Doch in dieses Gefühl und in das ihm entsprechende Urteil mischt
sich ein geheimes, wenn auch noch so leises Grauen; eine Unruhe,
ein Bangen will uns nicht ganz frei geben. Wir hoffen wohl auf die
Sicherheit seines Sinnes, auf die Gewißheit, daß in ihm eine Idee
walte und sich offenbare. Aber zugleich fühlen und wissen wir, daß
mit dem Leben ein ungeheuerer Einsatz, ein ungeheueres Wagnis
verbunden ist. Diese Stimmungen und Erkenntnisse waren Hegel
und Goethe gewiß nicht fern und fremd. Auch sie wußten um die
ursprunghafte Problematik, die allem Seienden eingebettet ist. Doch
zugleich mit diesem Wissen war ihnen auch das Wissen um eine
Form der Lösung, der Bewältigung dieser ,,Qual“, dieses Leidens
verliehen. Sei es, daß diese Form die Gestalt eines philosophischen
Systems oder die eines Dichtwerkes trug. Dort war es die Vernunft,
war es der „Begriff“, hier war es ein Lied oder ein Epos oder ein
Drama, durch die das Leiderleben und das Hindurchgehen durch
die zerreibenden Spannungen und Widersprüche der Wirklichkeit
ihre sie fassende und umfassende und sie dadurch beschwichtigende
Form und innerliche Bewältigung erfuhren, durch die sie „aufge-
hoben“ wurden.
Selbst wenn auch für uns jeder „Ausgang ein Gottesurteil“ ist,
so sind wir doch von der allseitigen „Gerechtigkeit“ dieses Urteils
nicht mehr so ohne weiteres überzeugt. Oder wenn wir dieser Ge-
rechtigkeit noch gewiß sind, so schieben sich vor den Abschluß ihrer
Deutung ernste Hindernisse. Zum mindesten scheint ihre Ein-
deutigkeit in Frage gestellt oder noch erneutem Durchdenken und
schwerer Kritik unterworfen. Die Kritik erhebt sich immer aufs
neue, nicht bloß als ein intellektueller Vorgang, sondern als eine
geradezu sittliche Forderung und Mahnung, als eine Angelegenheit
des Gewissens und der Verantwortlichkeit. „Kritik“ ist für uns
nicht bloß eine gelegentlich betätigte Eigenschaft, sie steht vielmehr
in innerer und unauflösbarer Beziehung zu unserer Lebensmitte
und ist ein Ausdruck unseres Wesens geworden.
„Kritisch“ stehen wir der Vergangenheit gegenüber. Das gelangt,
worauf schon oben kurz hingewiesen wurde, in der nichts weniger
als unbeanstandeten Geltung, die die alten überlieferten Autoritäten
persönlicher und organisatorischer Form für uns heute haben, zu
13. Die kritische Geisteshaltung
221
handgreiflichem Ausdruck. Die Pietät ist zu einem recht schweren
Problem geworden. Es hieße, dieses Problem verkennen, wollten wir
die Meinung vertreten, sein Aufkommen entstamme einem zuchtlosen
und willkürlichen Neuerungsdrange und einer nervösen Unruhe.
Vielmehr hängen sein Entstehen und sein Sichdurchsetzen mit jener
allgemeinen kritischen Geisteshaltung zusammen, die nach mancherlei
Richtungen und auf mehr als einem Kulturgebiete den fast unheim-
lichen Versuch eines gewaltsamen Bruches mit der Vergangenheit
anzunehmen neigt1). Wie immer auch die Voraussetzungen, das
Recht und die Aussichten dieser Tendenz beurteilt werden mögen —
jedenfalls ist nicht zu bestreiten und nicht zu verheimlichen, daß
unser Verhältnis zur Vergangenheit in den Zustand einer ernsten
Krise getreten ist. Ein auffälliges Zeugnis dafür bildet das offen-
herzige Bekenntnis sehr vieler und nicht unbeträchtlicher Forscher,
daß die Entwicklung ihres Sondergebietes in eine unverkennbare
Krise eingemündet sei bzw. einzumünden drohe (Psychologie,
Nationalökonomie, Mathematik, theoretische Physik usw.).
J) Eine eindrucksvolle, aus tiefstem Miterleben genährte Behandlung des
Problems der Pietät, und zwar eine Behandlung auf der Grundlage und im
Rahmen einer grüblerischen und gläubigen Metaphysik des Geistes bietet
Peter Wust: „Naivität und Pietät“ (1925). Auch Wust fragt, ob das uner-
bittliche Vorwärts des Geistes zur Freiheit und alle dadurch heraufbeschworenen
Gefahren nicht gebieterisch eine Wendung zur Naivität und Ehrfurcht fordern;
oder ob es für uns und unsere Kultur kein Rückwärts mehr gibt „zum An-
fangsstadium schöner, unschuldiger Naivität“, wenn einmal die Reflexions-
höhe Kants und Hegels erklettert ist? Und ferner: Ist eine Rückkehr zu
ursprünglicher Pietät noch zu erwarten, wenn einmal der aus Wesensgesetzendes
Geistes heraus geborene Individualismus das Ich aus der Gemeinschaft, ja, aus dem
schönen Zusammenhang mit der Natur herausgerissen hat? (S. 7f.). Eine warme,
religiös durchglühte Liebe zu allem Seienden und die unwiderstehliche Sehn-
sucht nach Harmonie, sowie endlich die Gewißheit der Erfüllung dieser
Sehnsucht führen Wust zu dem edlen und humanen Glauben an die sichere
Möglichkeit der Aufhebung aller Dialektik zwischen Natur und Geist, sie
machen ihn zu einem innigen Anwalt des Harmoniegedankens. Das Wirrsal
des Lebens, die Leiden und Zwiespalte des Seins klären und versöhnen sich
ihm dadurch, daß Naivität und Pietät die Kraft kosmischer Liebesgesetze
besitzen, und daß „der ontologische Gesamtsinn dieses seelischen Doppel-
phänomens“ darin besteht, „den Gefahren der Freiheit durch die Natur zu
begegnen“ (S. 225), daß der Kontingenztrieb der Ehrfurcht und Pietät als die
eigentliche synthetische Grundkraft der Seele der Tendenz des Geistes nach
Herauslösung aus der schönen Einheit des göttlichen Seins das Gegengewicht
hält (S. 226). Auch der Harmoniegedanke von Wust ist unterbaut durch
Einflüsse von seiten des Christentums, und zwar eines Christentums, das etwa in
Franz von Assisi seinen reinsten Vertreter findet, und von seiten des deutschen
222
III. Der dialektische Idealismus
Es kann allerdings ein Zweifel darüber obwalten, welche Rich-
tung der Kritik, diejenige in bezug auf die Vergangenheit oder
die betreffs der Zukunft, für unsere Gesinnung charakteristischer,
für die Gestaltung unseres Lebens wichtiger ist. Das mag bei den
verschiedenen Menschen sehr verschieden sein und auf sie verschieden
wirken. Eine umfassende Typologie und typologische Anthropologie
sowohl des Menschen unserer Zeit in seiner Allgemeinheit als auch
seiner einzelnen Gesinnungsformen und Handlungen würde diese
verschiedenartigen kritischen Einstellungsweisen und Einstellungs-
ergebnisse in ihren inneren Motiven und Strukturen zu verstehen
und darzustellen haben. Wie wertvoll und wie ergiebig wäre in
diesem Zusammenhang eine systematische Charakterologie desjeni-
gen Typus, den wir den kritischen nennen können bzw. zu nennen
pflegen.
Weist nun das Verhältnis, das wir zu einer Person oder zu einem
Zeitalter oder zu einem Gegenstand haben, das Gepräge der „Kritik“
auf, dann ist es unvermeidlich, daß diese Krise auch die betreffende
Person usw. selber umklammert, daß sie selber „kritisch“ für uns
werden. Natürlich nicht zunächst ihr Sein, nicht zunächst ihre Wirk-
lichkeit als solche. Dieses Sein, diese Wirklichkeit können wir
objektiv erfassen, allerdings auch nur unter ganz bestimmten Ein-
schränkungen. Wohl aber nehmen ihr Wert an sich und ihr Wert
für uns „problematische“ Züge an. Und ist das erst der Fall, dann
wird es sehr schwer, wenn nicht unmöglich, die Sphäre auch ihres
Seins, den Kreis ihrer Wirklichkeit von diesem Akt der Problemati-
Humanismus und Klassizismus. Aus der Neigung unseres Verfassers, die
Versöhnung über die Dialektik, die Pietät über die Autonomie obsiegen zu
lassen, spricht eine edle, liebevolle Menschlichkeit, ähnlich derjenigen, von
der auch Guardini erfüllt ist, spricht das Bedürfnis nach einer Einheit, die
meines Erachtens jedoch weniger der philosophischen Spekulation als den
Stimmungen und Hoffnungen des Glaubens zugänglich ist. Ich habe den
Eindruck, als wenn Wust in jener Tendenz des Geistes zur Freiheit einen
sündhaften Auflehnungsversuch gegen den Frieden der Natur erblickt, dessen
Bedrohung die Metaphysik zu unterbinden habe. Jedenfalls scheint mir auf
Grund jener Einflüsse die Dialektik des Geistes, der Wust in feinsten Ana-
lysen nachgeht (in dem genannten Werk ebenso wie in dem erst kürzlich
erschienenen Werk „Die Dialektik des Geistes“, 1928), nicht ganz frei und
objektiv bis in ihre letzten Folgen und in ihrer ganzen grandiosen Herbheit
gewürdigt zu werden. Auch Wust gehört mehr zu den Vertretern einer
„harmonistischen“ als zu denen einer „tragischen“ und „kritischen“ Dialektik
(vgl. in unserem Text S. 306ff.).
13. Die kritische Geisteshaltung
223
sierung und des Problemwerdens frei zu halten. Wir müssen dann
mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß aus ihrem Wesensgrunde
unvorhergesehen dämonische Mächte zerstörend, irreführend empor-
wirbeln, Mächte, deren Spiel und Wirkungswillen, deren Absicht
und Wirkungserfolge wir nicht durchschauen, geschweige denn vor-
herbestimmen und leiten können. Wir müssen mit einem unbe-
rechenbaren Risiko rechnen! Das eben ist die Dialektik in unserem
Verhältnis zur Zukunft und damit auch die Dialektik in unserer
Zukunft selber! In anderer Ausdrucksweise: Auch die Zukunft
ist für uns in das Zeichen des Problems getreten. Gewiß:
Was kommen wird, kommt und gestaltet sich nach ewigen und
ehernen Gesetzen. Das ist in der Wirklichkeit der Geschichte nicht
anders als in der Wirklichkeit der Natur. Aber in unserem Ver-
hältnis zu diesen beiden Formen der Wirklichkeit besteht nun die
grundlegende Unterscheidung: Die Zukunft der naturhaften Wirk-
lichkeit können wir aus unserer Kenntnis der naturgesetzlichen
Zusammenhänge heraus und kraft der bis jetzt dadurch gewonnenen
Beherrschung der Naturgesetze und der Naturerscheinungen in ge-
wissem Umfange und mit nicht geringer Sicherheit festlegen und
a priori bestimmen, und zwar bestimmen in theoretischeren erkennt-
nismäßiger Hinsicht und auch in praktisch-technischer Hinsicht.
Eine solche Bestimmung ist uns in bezug auf die Zukunft der ge-
schichtlichen Wirklichkeit hingegen nicht bloß in formaler, sondern
auch in inhaltlicher Beziehung verwehrt. Können wir doch kaum
mit auch nur antastender Sicherheit das, was wir „Sinn“ der Zukunft
zu nennen pflegen, erkennen oder bestimmen. Sobald das Nach-
denken sich dieser Zukunft und ihrem Sinn zuwendet, scheint
aus den Hintergründen des Lebens, wie aus Urschichten, über die
ein wohltätiger Nebel gelagert hat, eine Unruhe, eine Besorgnis,
eine Angst aufzusteigen, die nicht bloß in intellektuellen Schichten
ruhte und nicht bloß durch rein gedankliche Motive ausgelöst
wurde, auch nicht nur eine Angst um die theoretische Sicherheit
des historischen Erkennens bedeutet: Sie ist und bedeutet viel,
viel mehr!
Wir wollen diese Angst, über die an gegebener Stelle ganz aus-
führlich die Rede sein wird, als metaphysische Lebensangst
bezeichnen. Das soll heißen: Hinter allen in die Form der Erschei-
nungen tretenden Vorstellungen, Zielsetzungen, Wertgebungen,
Handlungen des Menschen, hinter dem ganzen bunten Netz von
Meinungen, Auffassungen, Plänen und Wünschen und hinter dem
224
III. Der dialektische Idealismus
ganzen inneren und äußeren Tun, in das uns der Tag verstrickt,
und in das wir den Tag verstricken, wirkt ein geheimnisvoll absoluter
Urgeist. Sein Walten hat seinen Grund in seiner Freiheit, und seine
Form ist der Rhythmus der Dialektik. Seine Existenz als feste Kraft
unbedingt anzunehmen, sehen wir uns zwingend genötigt. Dennoch
bleibt diese Annahme trotz aller intellektuellen Bemühungen um
eine völlig durchschlagende Beweisführung und trotz aller morali-
schen Forderungen, die uns die Annahme dieser Realität ins Gewissen
schieben, mit einer letzten, nicht behebbaren Fragwürdigkeit um-
kleidet. Es gehört zu den Grundtendenzen der ,,Kritik“, sich der
Schranken der menschlichen Erkenntniskraft bewußt zu bleiben.
Es gehört zu den Grundleistungen der „Kritik“, die Problematik,
die Dialektik in der Idee des Absoluten aufgedeckt und dem modernen
Bewußtsein gegenwärtig gemacht zu haben. Keineswegs im Sinne
des Skeptizismus, für den unsere Ausführungen mit keiner Zeile
eine Unterstützung und mit keinem Worte einen Beitrag liefern
wollen. Wir ziehen die Realität des Absoluten nicht in Zweifel. Zu-
gleich dünkt es uns gedanklich unvollziehbar, dieser absoluten Reali-
tät in absoluter Uneingeschränktheit habhaft zu werden, solange
das „Leben“ uns umspielt. Bei aller theoretischen und moralischen
Anstrengung vermögen wir dennoch von dem Menschlichen, von
der „Geschichte“ nicht völlig loszukommen. Auch in denjenigen
Ideen, die auf das Höchste, auf das Absolute gerichtet sind, schwingt
Irdisches mit, ist empirisches Material enthalten. Beide, das Ab-
solute und die auf ihn gerichtete Idee, sind mit einer Dialektik
behaftet.
Zu dieser Selbstbeschränkung führt diejenige Erkenntnisart, die
für den in dem vorliegenden Buche vertretenen dialektischen Idealis-
mus bezeichnend ist. Sie zeigt, daß auch in die „Idee“ eine Dialektik
eingewoben ist, daß diese niemals in völliger Reinheit in dem Bewußt-
sein und in den Handlungen des Menschen zum Ausdruck gelangt,
daß zwischen dem prinzipiellen metaphysischen Sinn der „Idee“
und ihrem tatsächlichen Gedachtwerden eine tragische Spannung
von ewiger, von konstitutiver Gültigkeit wirksam bleibt. Ganz
auf das Allgemeine unseres Lebens gesehen, führt der dialektische
Idealismus zu der Erkenntnis, daß wir Menschen überhaupt in
irgendeiner Bezugs- und Sinnesrichtung unseres Daseins immer
zwischen dem Hier und dem Dort, zwischen dem Diesseits und dem
Jenseits, zwischen dem Relativen und dem Absoluten schweben.
Dieser paradoxe Zustand, der bis in die tiefste Schicht unseres Lebens
13. Die kritische Geisteshaltung
225
hinabreicht, ist unseres Wesens Erbteil. Diese Antinomie und Dialek-
tik kennzeichnet unseres Wesens und Wirkens Schicksal. Nur mit
dem Leben selber findet auch sie ihr Ende. Sollen wir dieses Ende
herbeiwünschen und für sein Nahen tätig sein? Die „Aufhebung“
dieser Dialektik war das Ziel des älteren harmonistischen Idealis-
mus unserer klassischen Zeit. Aber sie bedeutet zugleich die Auf-
hebung des Lebens, die Selbstpreisgabe des Lebens, sie bedeutet
eine metaphysische Fahnenflucht, den Abfall des Lebens von sich
selber, seine Untreue gegen sich selber. Ganz wesentlich und ganz
wurzelhaft ruht das Leben in seiner Dialektik, nährt und bereichert
es sich durch sie, braucht es sie, sucht es sie, versucht es, sie für sich
zu erhalten. Ein undialektisches Leben ist ein wertloser, undifferen-
zierter, primitiv-naturalistischer Vorzustand oder eine, dem Kreis
und dem Gehalt schöpferischer Aufgaben und schöpferischer Leistun-
gen sich entziehende bzw. entzogene, nur eingebildete Erlösung und
Seligkeit. Wie bereits gesagt, fordert das Leben aus seiner Freiheit
heraus und wegen seiner Freiheit seine Dialektik. Es erkämpft sie
sich wieder, sobald die Dialektik durch den Dogmatismus, z. B.
durch denjenigen der Religion oder den des traditionellen Rationalis-
mus, eingeengt oder beseitigt wird.
Aber diese Durchtränktheit des modernen Lebens mit Kritik
und Dialektik und diese grundsätzliche und heroische Bewahrung
seines Willens zur Freiheit bringt nun eben das Urphänomender
metaphysischen Lebensangst zur Auslösung. Oft, sehr oft
gelangt diese Auslösung nicht über die Schwelle des Bewußtseins,
tritt sie nicht offen und unmittelbar in die Wirkungsabläufe des
Tages ein. Doch ist sie tief im Innern da. Sie ist da als ein Element
des Lebens, wie wir es jetzt leben, dazu geführt durch hundert
innere und äußere Entwicklungsvorgänge, und in ihm festgehalten
durch hundert innere und äußere Umstände. Es ist kein Zufall,
daß in der Wissenschaft und in der Literatur unserer Zeit so häufig
dasThemader Lebensangst anklingt, daß so häufig auf diesendunklen
Wirkungshintergrund unseres Daseins aufmerksam gemacht wird,
daß so viele Eigentümlichkeiten in unserer gedanklichen wie in
unserer praktischen Betätigung auf ihn zurückgeführt und aus
ihm heraus verstanden werden. Das geschieht nicht bloß durch
die Psychoanalyse Freuds und seiner Schule. Diese Unruhe durch-
zittert die seelische Haltung Strindbergs in mehr als einem Ent-
wicklungsstadium, und ihren Niederschlag findet diese unge-
heure Angststimmung in mehr als einem seiner Dramen und
Liebert, Dialektik. 15
226
III. Der dialektische Idealismus
Epen1). Ihnen gleichen die Bilder Van Goghs, in denen die Lebensangst
aus ihrer metaphysischen Umdüsterung hervorgetreten ist und zu
einem mitgestaltenden ästhetischen Prinzip wurde, ohne dabei ihre
Umdüsterung, ihre Unheimlichkeit zu verlieren. Diese Bilder sind nicht
bloß die Beichte einer schweren künstlerischen Seele, in der das
Grauen vor der Welt zur Übermacht emporstieg, sie sind zugleich das
Bekenntnis eines ganzen und wesentlichen Zuges des Lebens selber.
Und vielleicht liegt erst darin der Grund, weshalb diese Werke uns
so packen und so erschüttern. Es ist, als rissen sie die Schleier weg,
die ein konventioneller Harmonismus oder der uns allen eingeborene
Hang zur Spießbürgerlichkeit um die wahre Natur des Lebens hüllt.
Ganz das gleiche gilt in bezug auf die Werke Strindbergs. Auch
sie offenbaren die „Teufelei“ des Lebens; sie lassen uns in die Schluch-
ten seiner Dämonie hineinsehen; sie bieten eine „Wahrheit“, vor
der wir uns aus dem Verlangen nach „Genuß“ verbergen oder die
wir ableugnen möchten, die aber trotzdem ihre „Wahrheit“ als
Niederschlag jener angsteinflößenden Lebensdämonie nicht einbüßt.
Ich denke auch an die mehr als zeitgeschichtlich bedeutungsvollen
Bilder des Norwegers Edvard Munch, z. B. an sein Gemälde, das er
„Nacht“ betitelt. Es stellt ein nacktes, im Dunklen erwachendes, auf
seinem Bett sich wie unter der Bedrohung durch ein unsichtbares und
doch so furchtbar deutliches Gespenst zusammenkrampfendes Mäd-
chen dar2). Hier wird nicht bloß die Stimmung einer besonderen
empirischen Angst geschildert, die unter dem Eindruck besonderer
Umstände für bestimmte Menschen und auf bestimmt bemessene
Stunden hervorbricht; es ist vielmehr die Angst an sich, die Angst
als metaphysische Realität, es ist diejenige Angst, die unseres Lebens
Zubehör und Symbol ist, von der der Maler ein Bild entwirft, ein
Bild, das jedoch mehr als nur ein Bild ist.
Es wäre lehrreich, die Kunst und die Wissenschaft unserer Zeit
daraufhin ins Auge zu fassen, was sie von dieser Lebensangst und wie
sie diese Lebensangst zur Darstellung bringt. Aus welchen tieferen
Gründen gewahrt und versteht unsere „kritische“ Zeit dieses
*) Vgl. mein Buch „August Strindberg, seine Weltanschauung und seine
Kunst“, 3. Aufl. 1923, ferner Karl Jaspers „Strindberg und van Gogh.
Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung
von Swedenborg und Hölderlin“. 2. Aufl. 1926.
!) Vgl. das ausgezeichnete Buch von Kurt Glaser, Edvard Munch;
Berlin 1917, S. 18 u. 21, das für das Verständnis des großen norwegischen
Künstlers von bahnbrechender Bedeutung war.
13. Die kritische Geisteshaltung
227
Urphänomen der Angst? Ist das Hervorbrechen dieses Gefühls
das seelische Zeugnis einer Urschuld, eines metaphysischen Grund-
vergehens, des Abfalls von Gott, wie der gewaltige Philosoph der
Angst Sören Kierkegaard jenes Grunderlebnis deutet? Indem die
„Lebensphilosophie“ der Gegenwart das „Leben“ zum Gegenstand
ihres Nachsinnens machte, mußte sie jenem Urphänomen be-
gegnen. Denn beide sind tief miteinander versponnen. Der Fall
ist vergleichbar dem nicht minder bemerkenswerten Umstand, daß
eine wesentlich rationalistische Philosophie, wie diejenige des 17. und
18. Jahrhunderts, auf das Problem und auf den Begriff der Angst
nicht stieß. Sie philosophierte nicht bloß in der Form des strengen
und festen Begriffs und entwand damit allem Irrationalistischen nicht
bloß seinen Einfluß, sondern ihr galt auch der Verstand, die strenge
und feste Ratio, als die Grundlage der Wirklichkeit und als das
Ziel alles Strebens, als die Erfüllung der Idee der Vollkommenheit.
Diese Einstellung und die ihr gemäße Weltauffassung beruhten viel
zu sehr auf der, durch die mathematischen Naturwissenschaften
beglaubigten Überzeugung von der unbedingten Herrschaft des Ver-
standes und auf der Gewißheit mathematischer Deduktion aller Er-
scheinungen, als daß sie der Möglichkeit einer Erschütterung dieser
so festgefügten Lebensführung durch das Eindringen irrationaler
Momente überhaupt hätten nachgehen können oder nachzugehen
Veranlassung gehabt hätten.
Diese ganze rationalistische Weltanschauung wies nicht bloß
den Charakter eindrucksvoller Festigkeit in Hinsicht auf ihre Form
und auf die Form ihrer Erkenntnis auf, sie war sich auch durchaus
sicher, alles dieser Festigkeit Widerstrebende oder Gefährdende
überwinden und das Leben in allen seinen Ausstrahlungen, ob in
Kunst oder in Religion, ob in Staat oder Recht, bändigen und durch
diese Rationalisierung auch in seinem Gehalt gegen die Bedrohung
durch dunkle Mächte feien zu können. Damit leugnete oder nahm
sie dem Leben schließlich alle dämonischen und alle tragischen Züge.
Indem sie über dasselbe das beruhigende Licht des Rationalismus
verbreitete, verhalt sie dem Leben selber zur Beruhigung und be-
scheinigte ihm durch ihre Deduktionen den spießbürgerlichen An-
spruch auf Ruhe und das Recht auf das philiströse Verlangen nach
rational gegründeten und rational gestalteten Ordnungen. Das Zeit-
alter der Entstehung und der Ausbildung des Rationalismus ist nicht
ohne Grund zugleich das Zeitalter der Entstehung und der Aus-
bildung der „bürgerlichen“ Weltanschauung und der „bürgerlichen“
15*
228
III. Der dialektische Idealismus
Gesellschaftsform. Und ebenso fehlen nicht ohne Grund sowohl in
der Affektenlehre des Descartes wie in der Spinozas alle Hinweise
auf den Affekt der „Angst“. Jene Geschlechter fühlten sich in den
Voraussetzungen ihrer Existenz und in der Gewißheit der Erreichung
ihrer Ziele zu sicher, als daß sie der Dämonie der Angst eine mehr
als negative Bedeutung hätten zuerkennen können. Das war von
ihrem Standpunkt aus nur folgerichtig. Denn ein so durchrationali-
siertes Erkennen und Dasein verträgt sich nicht mit der Anerkennung
der Dialektik des Lebens. Es würdigt diese Dialektik nur, soweit es
an ihr nicht überhaupt verständnislos vorübergeht, als eine durch
die Allmacht des Verstandes grundsätzlich überwindbare, also nur
vorläufige Stufe der Entwicklung. Das heißt: Dialektik und Anti-
nomik sind ihm lediglich relative und vorübergehende Erscheinungen,
die sich der harmonisierenden Rationalisierung beugen und in die
panlogische Einheit der Wirklichkeit hinabtauchen und somit ver-
löschen.
Mit dieser Erkenntnis stehen wir vor der Einsicht gerade an
demjenigen Punkt, an dem das Versagen der streng rationalistischen
Spielart des Idealismus sich am offenkundigsten zeigt. Dieses Ver-
sagen spricht sich nicht eigentlich in seinem grundsätzlich unvermeid-
lichen Mißlingen der beabsichtigten Rationalisierung der Welt und
einer rationalistischen Erklärung und Ableitung aller Erscheinungen
allein durch den Verstand, wogegen aus methodologischen Gründen
kein Einspruch zu erheben wäre, aus, sondern darin, daß der Ver-
stand als solcher zur absoluten Daseinsquelle erhoben wird. Das
jedoch bedeutet die Hypostasierung eines Gedankens und eines
Inbegriffs von gedanklichen Operationen, nämlich eben des Ver-
standes, der zu einem Ding an sich, zu einem absoluten Wesen
ontologisiert wird. Alsdann aber ist kein Raum mehr für die Dia-
lektik und Antinomik des Lebens vorhanden; die Absolutheit und
Allmacht des hypostasierten Verstandes verträgt und erlaubt ein-
fach keine andere Autonomie. Deshalb also vermag der hier
ins Auge gefaßte Rationalismus dem Leben der Wirklichkeit
und der Wirklichkeit des Lebens nicht gerecht zu werden, weil er
die Autonomie der Lebensdialektik nicht anzuerkennen und zu
dulden vermag. Darin also liegt sein prinzipielles Versagen be-
schlossen. Die Lebensangst aber ist nun gerade ein zwingender
Ausdruck und Beleg für jene Dialektik und für das Leben überhaupt.
Sie ist und bleibt eine positive Instanz, eine eigenmächtige Größe,
die aus den Schöpfungen und aus der Entwicklung der Kultur nicht
13. Die kritische Geisteshaltung
229
wegzudenken ist, da um ihretwillen, um der Befreiung von ihr, zum
mindesten um ihrer Beschwichtigung willen eine Reihe maßgebender
und eindrucksvoller Veranstaltungen überhaupt getroffen, eine Reihe
wichtigster Leistungen nicht allein geschaffen, sondern zu einem
gewissen Teil erst aus ihrer Tiefe heraus verständlich und sinnhaft
notwendig werden. Davon wird noch zu sprechen sein.
Die Fähigkeit zur Erfassung der Lebensangst, der Lebensdämonie,
ist geradezu ein Prüfstein für den erkenntnismäßigen und welt-
anschaulichen Wert eines philosophischen Gesichtspunktes. Wir
deuteten an, daß und weshalb die rationalistische Spielart des Idealis-
mus diese Prüfung nicht besteht. Was ihr eben in dieser Hinsicht
fehlt, das besitzt die dialektische Form des Idealismus in hervor-
stechendem Maße. Wir sahen, daß sie die Methode der Dialektik
auf den Freiheitsgrund zurückführt, aus ihm erklärt und in allen
Schritten und Stufen der Dialektik die Freiheit als wirkendes und
leitendes Prinzip dauernd mitarbeäten läßt. Diese beständige und
grundlegende Tätigkeit schließt aber unverkennbar ein Moment
höchsten Risikos und intelligibler Zufälligkeit in sich. Gewiß, in
empirischer und konkreter Beziehung, etwa bei der Bildung und
dem Ablauf einer bestimmten Gedankenarbeit, erübrigt sich in bezug
auf das Gelingen und die Sicherheit jede unmittelbare ,,meta-
physische“ Sorge. Ergeben sich hier Ablenkungen, Brüche, Irrtümer,
so ist dafür nicht die metaphysische Freiheitsquelle verantwortlich
zu machen, als verschulde sie diese Fehler. Denn bei ihnen handelt
es sich hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und hinsichtlich ihrer
Wirkungsweise um empirische Vorkommnisse, die grundsätzlich ab-
stellbar sind. Es ist z. B. nur nötig, die Aufmerksamkeit zu erhöhen,
die Störung durch subjektive Momente, etwa der Stimmung, aus-
zuschalten, die logischen Grundsätze in möglichst weitem Umfange
zu beachten u. dgl. mehr.
Richten wir jedoch den Blick auf das Ganze aller systematischen
Erkenntnis, und fragen wir nun, wodurch diese Einheit selber ge-
sichert wird, so wird außer dem Dogmatiker kein Denker den Mut
bzw. die Naivität aufbringen können, die Möglichkeit einer höchsten
Problematik und die Zulässigkeit der Idee einer letzten Fragwürdig-
keit zu leugnen. Das soll nicht heißen, es würde damit behauptet
oder als wahrscheinlich eingeräumt, daß alle unsere Erkenntnisse
„falsch“ wären. Eine solche Behauptung ist ganz hinfällig, ja ge-
radezu sinnlos. Denn erstens würde sie selber auf der theoretischen
230
III. Der dialektische Idealismus
Voraussetzung ruhen, daß sie selber „wahr“, daß sie selber gültig ist.
Damit aber wäre die Idee der Wahrheit a priori zugestanden, und zwar
an der entscheidenden Stelle. Zweitens: Wenn „alle Wahrheiten“
falsch sind, dann gibt es keinen Unterschied zwischen wahr und
falsch, und die Kennzeichnung und Bewertung des Systems der
Erkenntnis als falsch oder als wahr wird gegenstandslos. Ferner
drittens: Wie oder wo läßt sich das Recht für die Behauptung be-
gründen, daß die ganze Erkenntnis „falsch“ sei? Gibt es für diese
Behauptung keine Begründung, dann erweist sie sich als leere Redens-
art und als wertlose Gedankenspielerei. Ist eine solche Begründung
beizubringen, dann gelten eben der Gesichtspunkt für diese Begrün-
dung und der Standpunkt, von dem aus sie zu unternehmen wäre,
a priori als „wahr“.
14. Das Numenose der Dialektik.
Mit diesen Bemerkungen, die sich in erkenntniskritischer Hin-
sicht natürlich noch ganz beträchtlich ausbauen ließen, soll nicht
bloß die allgemeine Widersinnigkeit und Haltlosigkeit des Skeptizis-
mus angedeutet werden, sie wollen vielmehr zugleich zum Ausdruck
bringen, daß der dialektische Idealismus im besonderen
mit dem Skeptizismus nicht das mindeste zu tun hat. Kein
Zug in ihm, keine Bedingung seines Wesens, kein Element seiner
Gestalt, seiner Struktur, seines Geltungswertes, seiner Wirksamkeit,
seiner Eigenart als Geisteshaltung und Erkenntnisprinzip, als Welt-
anschauung und Lebensweisung ist im Sinne des Skeptizismus auf-
zufassen und zu verwerten. Die Kategorien: Antinomie, Paradoxie,
Dialektik und ähnliche Kategorien, die alle im Zusammenhang der
vorliegenden Arbeit als konstitutive Begriffssynthesen verstanden
und gebraucht werden, sind mit keiner Silbe dem Gedankenapparat
der Lehre des Skeptizismus zuzurechnen. Durch ihre Aufstellung,
durch ihre Anerkennung und durch ihren Gebrauch soll die sichere,
die objektive Geltung des Erkenntnissystems keine Bedrohung, keine
Beanstandung, keine Einschränkung erleiden.
Wir haben davon gesprochen, daß jede Form der Erkenntnis von
einer unbehebbaren Dialektik erfüllt ist, und zwar um so mehr, je
höher sie auf der Stufenleiter der Erkenntnis steht, je mehr sie sich
mit anderen Worten der Weise der Metaphysik nähert, daß unsere
Weltanschauung dialektisch-antinomischer Natur ist und bleibt, daß
es philosophisch unmöglich ist, ein System der Ethik zu entwickeln,
14. Das Numenose der Dialektik
231
ohne die Idee der Dialektik und der Antinomie zugrunde zu legen,
ja, daß Begriff und Wesen der Philosophie selber ein Ausdruck und
Beleg dialektischer Denkungsart und antinomischer Konstruktions-
form sind. Doch handelt es sich bei allen diesen prinzipiellen Feststel-
lungen um keinerlei Zugeständnisse an den Skeptizismus. Sie wären
es dann, sobald sie eine Unsicherheit, eine Wahrscheinlichkeit der
Erkenntnis der betreffenden Gebiete zum Ausdruck bringen wollten.
Das ist jedoch nicht der Fall. Daß die Philosophie und die Wissen-
schaft, die Theorie und die Lebensanschauung, daß die Wahrheit und
die Wirklichkeit das Gepräge der Dialektik usw. tragen, ist in objek-
tivem und konstitutivem Verstände zu nehmen, sowie vergleichsweise
von der mathematischen Geltung naturwissenschaftlicher Erkenntnis
gesprochen wird. Mit einem Worte: Die Begriffe Dialektik, Antinomik,
Paradoxie u. dgl. besitzen die Bedeutung objektiv gültiger Kate-
gorien, die kraft ihrer eigentümlichen Synthese das System des dialek-
tischen Idealismus gründen und kraft ihres Gebrauches als Prinzipien
der Methoden das System aufbauen und zur Entfaltung bringen.
Durch die Betonung der maßgebenden Mitwirkung jener Kate-
gorien an der Grundlegung und an der Durchführung der ver-
schiedenen Kultursysteme soll nicht bloß ihre formale Bewegtheit,
nicht bloß ihre formale Dynamik hervorgehoben werden, so groß
diese Dynamik in jeder Hinsicht auch ist. Es handelt sich vielmehr
um eine noch viel stärkere Reibung, Spannung, Unruhe als es die-
jenige ist, die innerhalb der Form eines Kultursystems bemerkbar
ist. Jedes Kultursystem, jede geschichtlich-gesellschaftliche Schöp-
fung, gleichgültig ob es eine solche aus der Welt der Theorie oder
eine solche aus dem praktisch-technischen Leben ist, steht in einem
ebenso paradoxen als notwendigen Kampf gegen einen fremden,
feindlichen Faktor, der sich gegen die harmonische Einordnung in
das betreffende System sträubt. Er gehört zu dem System und
gehört zugleich nicht zu ihm; er steht draußen, wird durch Zwang,
durch Konstruktionen, die gerade bei den gedanklichen Höchst-
leistungen sehr oft den Charakter äußerster und kühnster Gewalt-
samkeit annehmen, in das System hineingenötigt, durch Kombi-
nationen und Vergleiche hineininterpretiert und darf trotzdem seine
Außenstellung, seine Abwehrstellung, seine Jenseitigkeit nicht preis-
geben, weil der formenden Kraft des Systems, ja der Pflicht, die
jedes System zur Formung hat, die Möglichkeit, sogar der Sinn zur
Betätigung fehlen würde. Das „Andere“, das „Fremde“, das Feind-
liche ist jedem System um seinetwillen nötig. Die gedankliche Ur-
232
III. Der dialektische Idealismus
synthese des Systems fordert a priori das von der Synthese noch
nicht bezwungene Fremde, ihr Feindliche, verlangt a priori nach
dem — Chaos. Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß die
Einheit der Erkenntnis die heterogene Vielheit erkenntnismäßig
nicht bewältigten sinnlichen Stoffes, daß das System der Sittlich-
keit die Gewalt der Sünde, daß das System des Rechtes den Trotz
des Unrechtes, schließlich das Leben überhaupt die Brutalitäten
und Bedrohungen durch dunkle Mächte fordert.
Deshalb weist jedes Wirklichkeits- und Kultursystem nicht nur
formal und logisch auf einen Antipoden hin, der mit zu seinen Be-
dingungen und Bürgen gehört, sondern es steht auch seinem Gehalt
nach immer in einem tiefen Kampf gegen irgendwen oder irgend
etwas. Es braucht diesen Gegensatz und Kampf, um Gesetz und
Sinn seiner Geltung zu erwirken und zu erfüllen. Das ist seine
Dialektik. Das ist die Dialektik des Seins überhaupt. Sie bedingt
es, daß alles Wirkliche in Theorie und Praxis mit der schöpferischen
und vorantreibenden Kraft des Risikos behaftet ist, daß es einen
erfreulichen Stachel in sich trägt, daß in ihm eine unaufhebbare
Unruhe arbeitet, daß in ihm der Heroismus der Angst lebt, daß
nicht die Vollendung im Sinne klassischer Harmonie, sondern die
Herbheit der Tragik seine Aufgabe und sein Ziel darstellt.
Vielleicht ist der Ausdruck: Lebensangst nicht glücklich, nicht
treffend. Weil er als zu negativ, als eine Bezeichnung für Feigheit,
Unmännlichkeit, Mangel an Impulsen aufgefaßt werden kann. Doch
ist das alles damit nicht gemeint. Es wäre nicht falsch, an Rudolf
Ottos „Numenose“, an das,,Tremendum“ zu denken und an die auf-
peitschenden Gefahren, die allem Leben zum Glück drohen. Religion
und Wissenschaft haben im Verein uns die Gewißheit des Waltens
ewiger Ordnungen gebracht. Ist es aber die ganze Religion und
ist es die ganze Wissenschaft, die diese Lehre geschaffen und uns
geschenkt haben? Wir stellen das Recht dieser Lehre nicht in Ab-
rede. Wir sehen, daß der Glaube an solche Ordnungen einem meta-
physischen Bedürfnis entspricht. Wir gewahren und buchen mit
Stolz die ungeheueren Erfolge, die die Verwirklichung dieses
Glaubens im Denken und Handeln gezeitigt hat. Ohne diese Ver-
wirklichung wäre das, was wir Kultur nennen, nicht möglich. Mir
scheint, daß eine stärkere Rechtfertigung dieses Glaubens nicht zu
erreichen ist.
Aber betonen wir das Walten jener ewigen, ehernen Ordnungen
nicht vielleicht gerade darum so geflissentlich, und sind wir auf
14. Das Numenose der Dialektik
233
ihre Aufrechterhaltung nicht vielleicht gerade darum so eifrig be-
dacht, mit einem Eifer, dem eine etwas nervöse Sorge anzumerken
ist, weil wir im Hintergründe fessellose Gewalten argwöhnen, gegen
die eine Abwehr und Sicherung geboten ist? Es ist ein zu kleiner,
ein zu empirischer Begriff, wenn wir jenes Gefühl als Angst be-
zeichnen, das uns im Hinblick auf jene transzendenten Gewalten
überschleicht. Denn es handelt sich um ein seelisch-sittliches Ur-
phänomen in unserer Einstellung zum Leben, es handelt sich um
ein seelisch-sittliches, darum durchaus positives und aktives Ur-
phänomen des Lebens selber. Es würde niemals zum Ausbruch und
Durchbruch gelangen, wenn das Leben in klassizistische Harmonie
eingebettet wäre oder die Harmonie zu seinem einzigen Ziele hätte.
Es ist die Dialektik des Lebens, die dieses Urphänomen zu immer
neuer Bekundung veranlaßt. Und es gehört nun wieder zu jener
Dialektik, in die auch dieses Urphänomen verflochten ist, daß es
alles, was an Bedrohlichkeiten in ihm steckt, wie Furcht, Grauen,
Besorgnis, mit paradoxer Tatkraft abstößt, und daß es als tragisch-
heroische Gesinnung und als tragisch-heroische Handlung zu posi-
tiver Entfaltung kommt.
Erst indem wir die Idee der Dialektik in diesem Sinne verstehen,
also nicht bloß im Sinne einer formal logischen, am Satz des Wider-
spruches verlaufenden Denkbewegung und Erkenntnistätigkeit
nehmen, erst wenn wir diese Idee nicht einschränken auf die Dia-
lektik des Begriffs, enthüllt sich uns die umfassende Metaphysik
ihres Sinnes, enthüllt sich uns die Metaphysik der Dialektik,
die über den logischen und rationalen Wesenszug der
Dialektik hinwegreicht bis in ihren ethisch-tragischen
und ihren numenos-heroischen Sinn.
Aber diese, der Metaphysik der Dialektik gewidmeten Dar-
legungen wären unvollständig, wenn sie nicht durch die Berück-
sichtigung der Hauptformen der Dialektik ihre notwendige
Weiterführung und Ergänzung erfahren würden. Das heißt: Es ist
erforderlich, auch die am meisten charakteristischen, also typisch-
sten, und die maßgebendsten und entscheidungsvollsten subjektiv-
seelischen und die hervorstechendsten und wirkungskräftigsten
objektiv-formenden Erscheinungsweisen der Dialektik in den
Kreis der Untersuchung einzubeziehen. Mit anderen Worten: Es
gilt, eine Gestalt-, eine Typenlehre, also eine Charaktero-
logie der Dialektik zu bieten oder wenigstens anzustreben.
Vgl. Kapitel V.
234
III. Der dialektische Idealismus
Bei der Behandlung dieser Typen und Gestalten der Dialektik
werden wir so Vorgehen, daß wir die seelisch unmittelbarste Gestalt
der Dialektik, die Dialektik des Erlebens, an den Anfang steilen
werden. Ein solcher Ausgangspunkt lag nahe, weil sich alsdann
sofort zeigen läßt, wie allgemein die Dialektik ist, wie eng sie mit
uns als Menschen zusammenhängt, wie sie, lange vor ihrer Objek-
tivation in Gebilden, die von uns persönlich unabhängig sind,
gleichsam zu unserer Naturausstattung gehört und unseres Schicksals
Zeichen bildet. Nun sind wir als Menschen zugleich aber in die
Objektivation des geschichtlichen Lebens verflochten; wir sind bis
in die feinsten und persönlichsten Verzweigungen unseres Wesens
hinein sowohl Schöpfer und Träger als auch Geschöpfe und Schnitt-
linien der Geschichte. Daraus ergibt sich die erste, aber schick-
salshafte Objektivation der Dialektik, nämlich diejenige
Gestalt der Dialektik, die als „Geschichte“ ein selbständiges Dasein
führt, die, mit anderen Worten, sich in dem verkörpert, was wir
das geschichtliche Leben zu nennen gewohnt sind. Oder in logischer
Fassung desselben Gedankens: Auf die Erörterung der Dialektik
als Erlebnis folgt die Erörterung der Dialektik als Kategorie,
als konstitutive Erkenntnis- und Deutungsform des geschichtlichen
Lebens. Die betreffenden Überlegungen haben von selbst den
Charakter eines Beitrages zur Hermeneutik der Geschichte
angenommen. Denn der Begriff einer „historischen Dialektik“ hat
die ihm eigentümliche logisch-sachliche Bedeutung darin, daß er
eine bestimmte Art und Weise der „Auslegung“ darstellt. Und durch
diesen Grundbegriff der „historischen Dialektik“ kommt es nun,
daß auch alle einzelnen Begriffe, die für das historische Erkennen
eine kategoriale Geltung besitzen, sowohl dialektischer Natur sind
als auch die Objektivität von „Auslegungen“ haben. Dadurch
unterscheidet sich die Objektivität der historischen Erkenntnis und
ihrer Kategorien auf das deutlichste und bündigste von derjenigen
der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.
Durch die Erfassung und Darstellung jener beiden Gestalten der
Dialektik, der seelisch-subjektiven des Erlebens und der logisch-
objektiven des Erkennens, haben wir uns die Voraussetzung ge-
schaffen, um in einen zusammenfassenden Vergleich der in dem vor-
liegenden Buche vertretenen Auffassung vom Wesen der Dialektik
mit den Haupttypen jener Auffassung und jenes Gebrauches der
Dialektik einzutreten, die ich einmal als „klassische Dialektik“ be-
zeichnen möchte. Ich fasse mit dieser Bezeichnung die Mannig-
14. Das Numenose der Dialektik
235
faltigkeit jener dialektischen Standpunkte zusammen, die bei aller
ihrer Verschiedenheit untereinander dennoch darin übereinstimmen,
daß sie in der Dialektik nur ein Hilfsmittel, nur eine Methode, nur
einen Durchgangspunkt für die Erreichung der absoluten Einheit
erblicken. Sie betrachten also die Dialektik nur als einen relativen
Prozeß und lassen ihn in der Absolutheit der Welteinheit „aufge-
hoben'*, beseitigt sein. Für sie alle, und darin spricht sich ihre Ge-
meinschaft aus, bildet die Dialektik ein Werkzeug im Dienste der
Harmonie und der absoluten Einheit der Substanz. Nicht der
Dialektik — und auch nicht der Freiheit, wie zu zeigen sein wird —
billigen sie den logischen und den metaphysischen Primat zu. Nach
jenen genießen die Idee der absoluten Einheit und der absoluten Har-
monie die Geltung der Apriorität. Die Dialektik hingegen ist ihnen
nur eine Form, um diese Einheit und Harmonie zu gewinnen; sie
ist ihnen im Grunde doch nur ein Spiel des Geistes, an dessen Ab-
rollen der Geist sein Gefallen hat, das er sogar notwendig gebraucht,
um sich zu entfalten, um sich zu verwirklichen, das er aber einstellt,
sobald er wieder ,,zu sich selber“ gekommen ist. Die Substanz des
Geistes selber geht nach ihnen in die Dialektik nicht ein, sie wird
von ihr nicht berührt, nicht aufgelockert, nicht in Frage gestellt.
Der Sieg der Einheit und der Harmonie ist ihnen a priori sicher,
und deshalb ist ihnen auch die „Aufhebung“ der Dialektik a priori
sicher. Man könnte sie vielleicht auch als Vertreter einer harmoni-
stisch-harmonäsierenden Dialektik bezeichnen: Sie sind — sit venia
verbo — der Dialektik gegenüber nicht Dialektiker, sondern Harmo-
niker; sie sind undialektische Dialektiker. Das soll der Ausdruck
„klassische Dialektik“ besagen.
Für uns dagegen handelt es sich darum, die ewige Dialektik in
der Dialektik anzuerkennen und aufrechtzuerhalten und diese
Ewigkeit der Dialektik auf den verschiedensten Gebieten aufzu-
decken. Für uns ist die Dialektik gleichfalls ein „Spiel“. Aber kein
Spiel nur am Außenrande der Substanz, nur an ihrer Oberfläche,
sondern dieses dialektische Spiel ist uns die Substanz selber. In ihm
„erscheint“ das „Wesen“ der Dinge nicht bloß, so daß Wesen und
Spiel auseinanderfielen oder wenigstens methodisch voneinander ge-
schieden werden könnten, sondern nach der hier verfochtenen Auf-
fassung decken sich „Erscheinung“ und „Wesen“ der Dialektik,
decken sich „Spiel“ und „Substanz“. Sie decken sich eben in —
dialektischem Sinne! Das heißt: Die Erfassung der Dialektik im
dialektischen Geiste, die Erfassung der Dialektik als Dialektik über-
236
III. Der dialektische Idealismus
hebt uns des Dilemmas, zwischen einer substantialistischen und
einer phänomenologischen Auffassung wählen zu müssen. Es hieße,
ein irreführendes Licht über unsere Auffassung verbreiten, wollten
wir für eine substantialistische Dialektik eintreten, also die Dialektik
ontologisieren. Alsdann wäre sofort die Frage aufgeworfen bzw.
aufzuwerfen, wie das Verhältnis der Dialektik als Substanz der
Dinge zu den tatsächlichen dialektischen Prozessen innerhalb der
Welt der Gesellschaft und der Geschichte sich stellt, eine leere Frage
von unserem Standpunkt aus, eine Frage, die auf einen — unhalt-
baren — metaphysischen Dualismus sich stützt, über den wir
ebenso hinaus sind wie über seinen — nicht minder haltlosen —
Gegenspieler, den metaphysischen Monismus (vgl. oben S. 179 ff).
Schließlich weicht unsere Ansicht vom Wesen der Dialektik von
derjenigen der „klassischen“ Dialektiker auch in ethisch-welt-
anschaulicher Beziehung ab. Diesen Klassikern handelte es sich stets
um eine das Gemüt und seine Unruhe befriedigende Apologie: In
der Harmonie des Absoluten und in der Absolutheit der Harmonie
sind alle Übel, Konflikte, Unstimmigkeiten beseitigt. Ganz tief, ganz
innerlich ist der „klassischen“ Auffassung der Dialektik ein recht
starker christlicher und christianisierender Zug beigemischt. Es
fehlt ihr von Grund aus die Anerkennung des tragischen Gehaltes
der Dialektik; sie nimmt dieser Tragik der Dialektik ihre Autonomie.
IV. Die Metaphysik der Dialektik.
1. Die Dialektik der philosophischen Lösungen:
Die Dialektik der Form.
Jede wahrhaft philosophische Problemlösung und Entscheidung
trägt in sich eine ebenso charakteristische wie untilgbare Span-
nung. Das lehrt die Untersuchung und Betrachtung jedes einzelnen
philosophischen Systems; das lehrt nicht weniger aber auch die ver-
deutlichende Vertiefung in das Wesen und in den Begriff der Syste-
matik der Philosophie überhaupt. Diese überall wirksame Spannung
besteht in der Gegensätzlichkeit zwischen der in sich ruhenden, aus
der Freiheit der Spekulation aufsteigenden und also in sich abge-
schlossenen Vernünftigkeit des Sinnes, die sich in jedem System
und in jedem Systemteil offenbart, auf der einen Seite und der
gleichfalls wohlbegründeten, durch keine Vernunftabsolutheit zu be-
seitigenden Vorläufigkeit, Unvollendetheit und Unvollendbarkeit der
Arbeit in und an der Philosophie auf der anderen Seite. Es macht
die Größe, aber auch das Schicksal dieser Arbeit aus, daß sie, sofern
der Geist der Philosophie wirklich in ihr lebt, in jedem Zuge den
Stempel der Endgültigkeit und einer sozusagen einwandfreien In-
diskutabilität aufweist und in dieser Unbedingtheit doch zugleich
über jede, durch konstruktives Denken erreichte Stufe mit Not-
wendigkeit hinausdrängt.
Durch jene in ihr waltende Vernunftabsolutheit und Vernünftig-
keit gehört die philosophische Arbeit dem erdentbundenen, auto-
nomen Reich einer überzeitlichen, übergeschichtlichen, überpersön-
lichen Idealität an. Alles Konkrete, besonders alles Konkret-Mensch-
liche ist unterdrückt und ausgelöscht; lediglich die kalt fortschrei-
tende Gesetzlichkeit des reinen, im wahrsten Verstände übermensch-
lichen Denkens soll hier herrschen. Sie will ausgesprochenermaßen
selber eine jener absoluten platonischen Ideen darstellen, von denen
sie in einer ihrer großartigsten Aufschlüsse Kunde gibt. Sie sucht
jegliche Abhängigkeit von irdischen Einflüssen und Beziehungen
238
IV. Die Metaphysik der Dialektik
dadurch zu lösen, daß sie alle diese Beziehungen zu „Problemen"
macht; sie strebt für sich die Gewinnung einer Gestalt an, die darum
von jeder geschichtlichen und menschlichen Einschränkung frei ist,
weil sie sich auf Grund einer ungeheuer kühnen und ungeheuer selt-
samen metaphysischen Verabsolutierung in ihren Bestimmungen und
Begriffen als Norm, als unbedingtes theoretisches Richtmaß für
alles Geschichtliche und Menschliche erklärt. Sie erhebt sich da-
durch über die Relativität und Gebundenheit aller bloß geschicht-
lichen Erscheinungen, daß sie diese Erscheinungen nicht nur zum
Problem macht, sondern auch die „Idee“ der Erscheinungen zu
erfassen und einen sinnhaften Zusammenhang dieser Erscheinungen
aufzudecken unternimmt. Eine solche metaphysische Deutung der
Welt der Erfahrung ist jedoch nur möglich, weil die Philosophie
in diesem Deutungsakt aus der Erfahrungswelt hinaustritt, sich über
sie erhebt, sich ihr gegenüber in mythischer Weise verabsolutiert
und in dieser konstruktiven Tat einen in sich und in jener Tat ge-
gründeten autonomen Zusammenhang von unbedingt gültigen Be-
griffen und als unbedingt gültig angesehener Entscheidungen er-
richtet.
Im Gegensatz zu allem Empirismus und zu allen Versuchen einer
historischen Einordnung oder soziologischen Ableitung der philo-
sophischen Systeme ist deren metempirischer Charakter, deren Ent-
hobenheit von den Schwankungen und Wandlungen der geschicht-
lichen Entwicklung zu beachten, zu betonen und zu wahren. Ein
Gedankensystem, das nichts anderes als der Ausdruck und Nieder-
schlag, nichts anderes als sozusagen das theoretische Spiegelbild
seiner Zeit ist, mag eine kulturgeschichtliche oder kulturpsycholo-
gische Zusammenfassung und Vereinheitlichung der Grundzüge seiner
Zeit sein — ein philosophisches System im Sinne einer Philosophie
dieser Zeit ist es noch nicht. Dazu wird es erst dadurch, daß es seine
Zeit in „Begriffe“ faßt. Tut es das aber, dann erhebt es sich schon
begrifflich über seine Zeit; es verselbständigt und verabsolutiert sich
ihr gegenüber, und zwar so sehr, daß es sogar seine Zeit über ihre
Relativität und Unfertigkeit ideell und sinnhaft hinaushebt. Das
Daseinsrecht und der Geltungswert aller philosophischen Arbeit
hängen zu einem entscheidenden Teil geradezu von dieser entschie-
denen Transzendenz über das Geschichtliche, von diesem außer-
ordentlichen Durchbruch in das Reich des Metaphysischen ab.
Hinter der äußeren, der empirischen Geschichte der Philosophie wird
überall der Bau einer metaphysischen Geschichte der Philosophie
1. Die Dialektik der philosophischen Lösungen
239
sichtbar; und wenn der innige und unaufhebbare Zusammenhang
zwischen der Systematik und der Geschichte der Philosophie be-
rechtigtermaßen hervorgehoben zu werden pflegt, so darf jene Dialek-
tik im Wesen der Geschichte der Philosophie nicht außer acht ge-
lassen werden. Zwischen der eigentlichen Systematik der Philo-
sophie als einem aus metaphysischen Voraussetzungen konstruktiv
entwickelten Zusammenhang von Begriffen und der empirischen, in
den positiven Lehren der Philosophen urkundlich zum Ausdruck
gelangenden Geschichte besteht eine merkwürdige Beziehung. Gerade
an der Grenze der empirischen Philosophiegeschichte beginnt die
metaphysische Zone der Philosophiegeschichte und damit die Syste-
matik der Philosophie. Es ist sachlich berechtigt, wenn man
von der Geschichte der Philosophie spricht und das Studium dieser
Geschichte für den Zweck des Eindringens in die philosophische
Systematik empfiehlt, von der ungeschichtlichen, von der absoluten
Geschichte der Philosophie zu sprechen. Und dieser absolute meta-
physische Vernunftgehalt in jeder philosophischen Leistung erlaubt
und berechtigt uns, überhaupt in ihr die „Lösung“ einer Frage zu
erblicken.
Weil also jede philosophische Lösung auf der außer- bzw. un-
geschichtlichen Gesetzlichkeit der autonomen Vernunft beruht, so
leuchtet sie im Lichte der Absolutheit und der metaphysischen End-
gültigkeit. Dennoch — und damit berühren wir ihre andere Seite —
haften ihr trotz aller ihrer zweifellosen Vernunftabsolutheit die
Dynamik der Unruhe und der Unfertigkeit und das echt geschicht-
liche Schicksal einer immer unzureichenden, einer niemals restlosen
Erledigung ihres Problems mit nicht zu übersehender Schärfe und
Eindringlichkeit an. Gewiß wird zu einem Teil ihre Struktur be-
stimmt und beherrscht durch die ewigen Regelungen der Metaphysik,
die sich in unzeitlichen Typen und Sinnesgestalten darstellen, und
deren Aufweisung und Kennzeichnung zu den Hauptaufgaben einer
Charakterologie und Phänomenologie der Metaphysik gehören. Zum
anderen Teil sind es doch aber unverkennbar historische und histo-
risch bedingte Mittel, mit deren Hilfe die Philosophie die Behandlung
und Lösung ihrer Fragen und Aufgaben unternimmt. Bei einer ge-
naueren Betrachtung gerade dieser Art von Mitteln zeigt sich
schnell, daß sie ihrer wesentlichen Natur nach nicht sowohl dem
überpersönlichen Zusammenhang der philosophischen Systematik als
vielmehr der Besonderheit der philosophischen Persönlichkeit ent-
stammen. Daß es gerade diese Gesichtspunkte und Methoden sind
240
IV. Die Metaphysik der Dialektik
und nicht andere, die für die Lösung eines Problems aufgeboten
werden, daß gerade in diesen und nicht in anderen Begriffen die
Formulierung des Problems und der Ansatz zu seiner Behandlung
erfolgen, das läßt sich nicht ausschließlich aus einer übergeordneten,
rein sachlichen Einheit und rein theoretischen Allgemeingültigkeit
metaphysischer Grundeinstellungen und Grundformen ableiten und
erklären.
Auf diese ganze Richtung der philosophischen Arbeit üben die
Faktoren der persönlichen Bildung und Interessiertheit, der Be-
gabung und Schulung, des Geisteszustandes und der Geistestendenz
des Zeitalters bis hinein in die Intimität freundschaftlicher Wechsel-
anregungen und gelegentlicher Bekanntschaften einen oft ausschlag-
gebenden Einfluß. Die „reine“ Vernunft, auf die die Philosophie
sich so oft beruft, erweist sich bei näherer Betrachtung doch vielfach
durchwirkt und bestimmt von historischen und somit relativ gültigen
Trieb- und Formkräften, ja oft sogar von rein individuellen Stim-
mungslagen und ethisch oder ästhetisch oder religiös gefärbten Ge-
sinnungseigentümlichkeiten. Es läßt sich nicht in Abrede stellen,
daß auch persönliche Wünsche und Sehnsüchte auf die Gestaltung
der Problemlösung einwirken, mögen das nun Gemütsäußerungen
aus der Seele des Philosophen oder aus der Seele seiner Zeit sein.
Unter der Herrschaft des Hellenismus wurde z. B. das Seinsproblem
oder das Gottesproblem nicht nur anders bewertet als etwa während
der Scholastik und der in einem bestimmten dogmatischen Glauben
verwurzelten Herrschaft der mittelalterlichen Kirche, es wurde im
Prinzip und von Anfang an anders gefaßt und schon im Ausgangs-
punkt dieser Fassung einer bestimmt vorgezeichneten Entscheidung
entgegengeführt oder besser: entgegengezwungen. Jedes Zeitalter
trägt, wie der einzelne Mensch, in seinem Wesen streng ausgebaute
Geistesfurchen, bewegt sich in seiner Haltung und in seinem Verhalten
auf allgemeinen Bahnen, die ihre Natur dann in der Vorliebe für
gewisse, allgemein anerkannte Begriffe, Urteils- und Beurteilungs-
formen deutlich bekunden.
Hätten wir es bereits an dieser Stelle mit einer Phänomenologie
und Typologie der philosophischen Lösungen, d. h. der Grundformen
und Grundgesetzlichkeiten, in denen diese Lösungen sich aussprechen,
zu tun, so würden wir schon jetzt dem Wesen dieser beiden Haupt-
bildungsfaktoren, dem absoluten Vernunftfaktor und der Mannig-
faltigkeit nur relativ gültiger Formungsbedingungen, sowie der Span-
nung zwischen diesen Faktoren und den Ergebnissen aus dieser
1. Die Dialektik der philosophischen Lösungen
241
Spannung genauere Beachtung schenken. An dieser Stelle kann
es für unseren Zweck zunächst genügen, auf diese Spannung hin-
gewiesen zu haben. Ihre Hervorhebung ist nicht eigentlich neu.
Aber sie ist für unsere Absicht keineswegs nebensächlich. Denn
diese Absicht besteht in der möglichst umfassenden systema-
tischen Aufdeckung der tiefen, unaufhebbaren, durch-
aus systematischen, konstruktiv überaus fruchtbaren
Dialektik der Philosophie, und zwar sowohl der theore-
tischen als der praktischen Philosophie, sowie jeder auf
der theoretischen und der praktischen Philosophie auf-
gebauten Weltanschauung. Die Dialektik ist für die Phi-
losophie schlechthin unentbehrlich. Sie istfürsieschlecht-
hin konstitutiv und regulativ; sie ist ihre Hauptmethode
und ihr vorzüglichstes Konstruktionsprinzäp, das alle
ihre Gebiete durchwaltet, ja trägt, das in ihren Begrün-
dungen, ihren Grundlagen, ihrem Aufbau und in ihren
Lösungen von maßgebender Wirksamkeit ist. Dialektisch
aber sind und bleiben auch die Folgerungen, die sich aus der Grund-
dialektik der Philosophie ergeben. Und die tiefe Antinomik und
Aporetik dieser Folgerungen darf nicht zugunsten eines schnell-
bereiten Harmonismus und Monismus verkannt oder verdeckt werden.
Diese objektive Dialektik der Lösungen bekundet sich auch in
der dialektischen Vielheit von Interpretationen der Philosophie und
der einzelnen philosophischen Systeme, in erster Linie der Haupt-
systeme. Der Umstand, daß über den Sinn z. B. des Platonismus oder
des Kritizismus alles eher als eine auch annähernde Einheit der Auf-
fassungen erzielt bzw. erzielbar ist, erweckt doch die Vermutung,
der Tatbestand zwinge von sich aus zu einer Mehrheit von Ansichten,
und zwar darum, weil in ihm bereits selber eine Mehrheit von Ein-
stellungen und Voraussetzungen, von rationalen und von irrationalen
Antrieben und Gesetzlichkeiten, von Gedankenformen und Gedan-
kentendenzen und eine Mannigfaltigkeit verschiedenartiger, verschie-
denwertiger und verschiedendeutiger Strukturfaktoren angelegt und
wirksam sind. Eine Aufgabe von hohem Reiz, der Dialektik der
Interpretationen nachzugehen. Die Dialektik der Lösung kehrt hier
in einer etwas vertiefteren und komplizierteren Gestalt wieder, und
zwar insofern, als jede Interpretation gleichsam die Wiederholung
einer Lösung, die Lösung einer Lösung darstellt. Sie gilt zunächst
nicht dem ursprünglichen Problem eines Systems, sondern zunächst
der Behandlung bzw. Lösung des Ursprungsproblems durch jenes
Liebert, Dialektik. 16
242
IV. Die Metaphysik der Dialektik
System. Die Dialektik der Interpretationen und die Dialektik der
Lösungen erheben sich oft bis zur vollen Höhe eines Mythos. Die
meisten Interpretationen sind, und zwar aus völlig erklärlichen Grün-
den, durchaus mythische Bilder, wie wir schon früher angedeutet
haben (S. 204f.). In dem Mythos, den eine Zeit oder ein einzelner
Ausleger von dem Wesen eines Systems zeichnet, befreit die Deutung
sich aus der Bewegung der Dialektik. Sie schafft sich in ihm ein
festes, ein als bündig und schlüssig anerkanntes Bild des betreffen-
den Systems. Ein solches Bild, ein solcher Mythos wäre nicht
möglich und nicht nötig, wenn die in dem Mythos gedeutete System-
gestalt nicht dialektischer Natur wäre. Ohne die Voraussetzung der
Dialektik würde eine Interpretation verblassen zu dem Schatten
eines formalen Nachdruckes der Lösung. Alsdann aber wäre sie
keine Interpretation, sondern lediglich eine nichtsbesagende tech-
nische Abschrift.
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen:
Die Dialektik des Problems.
Die Dialektik der philosophischen Lösungen ist jedoch gleichsam
nur die Außenseite und Oberfläche der philosophischen Grund- und
Urdialektik. Die Erkenntnis des Wesens dieser Urdialektik und die
Überzeugung ihrer Unaufhebbarkeit und zugleich ihrer Fruchtbarkeit
steigern und stärken sich bei einer Betrachtung der Struktur der philo-
sophischen Fragen. Denn sobald die Frage selber zum Problem
gemacht wird, d. h. die Frage in ihrer grundsätzlichen philosophischen
Bedeutung, also der Begriff der Frage, dringen wir tiefer in das Herz
jener eigentümlichen Geistigkeit, Geisteshaltung und objektiven
Geistesstruktur ein, die allgemein als Philosophie bezeichnet wird.
Schon in dem der Philosophie eigentümlichen und oft rücksichts-
los sich äußernden Streben nach Vereinheitlichung und Systematik
spricht sich ein unmittelbarer und nicht mißzuverstehender Hinweis
auf jene Antinomik und Problematik aus. Daß dabei der Begriff
der Antinomik und Problematik nicht im Sinne des Relativismus,
nicht im Sinne der Behauptung zu nehmen ist, als sollte gesagt
werden, daß in der Philosophie alles ,,antinomisch“ und „problema-
tisch“ sei, braucht nicht ausdrücklich betont zu werden. Der hier
vertretene Gedanke der immanenten und innerhalb der eigentlich
philosophischen Betrachtungsweise nicht restlos auflösbaren antino-
mischen Dialektik der Philosophie hat mit irgendeinem Skeptizismus
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen 243
auch nicht die Spur einer Gemeinschaft. Denn die von uns gemeinte
Problematik, Antinomik und Dialektik hat für die philosophische
Systematik die Bedeutung der sichersten systematisierenden Form-
idee und Formkraft.
Aus welchem anderen, aus welchem tieferen Grunde drängt aber
alle philosophische Arbeit mit so unentwegter Beharrlichkeit zur
Systematik, wenn nicht aus dem, in dieser Systematik einen Wall
und Schutz gegen die in ihr wühlende dynamische Dialektik, die
zugleich Systematik ist, aufzurichten? Denn von einer solchen
urlebendigen Dynamik ist die Philosophie erfüllt, erfüllt bereits in
dem ersten Ansatz ihrer Probleme und in der sachlichen wie subjek-
tiven und persönlichen Motivierung ihrer Probleme. Das soll nicht
heißen, daß nicht auch in der Religion, in der Kunst, in der Wissen-
schaft eine solche Dynamik und Dialektik am Werke wäre. Welches
Kulturgebiet könnte sie entbehren oder restlos fernhalten? Würde
es damit nicht sein Leben, seine „Möglichkeit“, seine schöpferische
Voraussetzung preisgeben? Welches Gebilde ist frei von ihr? Sie
gehört zum „Wesen“ jedes Seins; sie ist eine seiner Grundgesetzlich-
keiten, eine seiner metaphysischen Bedingungen, einer seiner wesent-
lichen Formungsfaktoren. Denn der Geist ist Prozeß und Bewegung,
aber Bewegung nicht im physikalischen, zahlenmäßig bestimmbaren
Sinne, auch nicht im Sinne einer mechanischen Dynamik, sondern
Bewegung in der Dialektik und als Dialektik.
Die dialektische Dynamik der Philosophie unterscheidet sich von
derjenigen der anderen Geistes- und Kulturgebiete durch ihre quali-
tative Außerordentlichkeit, durch ihre Unbedingtheit, Unabge-
schwächtheit und Unabschwächbarkeit, in ethisch-ästhetischen Kate-
gorien ausgedrückt: durch ihren Heroismus, und zwar durch einen
Heroismus in ganz tragischer Gestalt! Mit anderen Worten: Es ist
die Eigentümlichkeit der Philosophie, daß die dynamische Dialektik
als Gedankenform und als regulatives Prinzip hier zu freiester Ent-
ladung und zu grundsätzlich ungehinderter Entfaltung gelangt. Diese
Dialektik offenbart sich hier sozusagen in ihrem Ansich; sie erschließt
sich hier in ihrer vollen Kraft und in ihrer ganzen Tiefe. Und insofern
als sie den Grundzug und die Strukturform des menschlichen
Geistes darstellt, wenn nicht sogar des Geistes überhaupt, also einer
der Hauptträger aller geistigen und aller seelischen Erscheinungen
ist, offenbart und bekundet sich in ihr eine der wesentlichsten Be-
gabungen des menschlichen Geistes, wenn nicht sogar das Wesen
des Geistes überhaupt. Das Wesen des Geistes erleuchtet und be-
16*
244
IV. Die Metaphysik der Dialektik
währt sich an dem Geist der Philosophie, sobald dieser Geist der
Philosophie in seiner vollen Dialektik und in der ganzen Dynamik
antinomisch-synthetischen Denkens verstanden und anerkannt wird.
Das soll besagen, daß diese Dialektik keineswegs nur ein theoretisch
gemeintes und nur theoretisch gültiges Erkenntnisprinzip bedeutet,
sondern daß sie weit darüber hinaus die Geltung eines metaphysischen
Weltprinzips in sich trägt.
Vielleicht hat also kein anderes Kulturgebiet die Systematik so
nötig als die Philosophie, weil nirgendwo anders der Strom der dialek-
tischen Bewegtheit und Unruhe so stark flutet wie bei ihr, weil kein
anderes Kulturgebiet eine solche, in sich vielverschlungene und seine
Einheit bedrohende Fülle von Motiven, Tendenzen, Auffassungs-,
Wertungs- und Deutungsweisen auch nur als Möglichkeiten seiner
Existenz und als Rechtsausweis für seine Geltung umspannt, wie
das hinsichtlich der Philosophie der Fall ist. Gerade ihre tiefe
Problematik und Dialektik ist es, durch die die Philosophie sich zur
Anwendung des heroischen Gewaltmittels der Systematik gezwungen
sieht. Weil alle Philosophie so unausdenkbar dialektisch und proble-
matisch ist, gehört zu ihrem Begriff die Idee des Systems, ist diese
Idee eine der unaufgebbaren Aprioritäten der Philosophie.
Blicken wir in diese Dialektik und Problematik jetzt noch schärfer
hinein.
Alle philosophischen Systeme, ganz gleich, welche Richtung sie
vertreten, welcher Qualität sie sein mögen, beanspruchen die Aner-
kennung, eine Lösung der metaphysischen Probleme zu bringen.
Es handelt sich nicht um eine absichtlich oder unter Vorbehalten
aufgestellte Fiktion; sie tun nicht so, als ob sie die ,,Welträtsel“
gelöst hätten, sondern bei denkbar stärkster Ablehnung jedes noch
so leisen Relativismus gilt ihnen ihr System, gilt ihnen ihre Lösung
als die Lösung, als die einzig mögliche, als die einzig zulängliche,
als die einzig zulässige Lösung. Die Idee der „Lösung“ ist für sie eine
ihrer Leitideen, und die Idee ihrer Lösung ist für sie die Voraus-
setzung für alle Arbeit an ihrer Systematik.
Aber jener soeben berührte Anspruch der philosophischen Systeme,
der nämlich, die metaphysischen Probleme nun wirklich und end-
gültig klargestellt und gelöst zu haben, zerschellt immer wieder,
so oft er auch erhoben, mit allen möglichen Beweisgründen vertreten,
mit allen möglichen Beweisstützen versehen worden ist. Er zerschellt
vor der oft erschütternden Erkenntnis eines doch noch ungelösten
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
245
Restes, eines doch noch nicht völlig gelichteten Dunkels. Ja, viel-
leicht hat die Geschichte der Metaphysik zum mindesten den durch-
aus positiven Erfolg, daß die Gewißheit der Rätselnatur alles Seienden
sich trotz allem Rationalismus, trotz aller vorschreitenden äußeren
Intellektualisierung nur gesteigert hat. Ist die Geschichte der Meta-
physik zum guten Teil nicht ein Weg in die Rätsel? Ich meine das
nicht im Sinne eines Hinweises auf tatsächliche mystische Richtun-
gen, die den metaphysischen Rationalismus auf Schritt und Tritt
als sein ihm notwendiges Gegenbild begleiten. Sondern jenseits alles
partikulären Rationalismus und alles partikulären Mystizismus
nimmt das metaphysische Denken den Lauf, daß es sich immer
mehr in das Geheimnis der metaphysischen Probleme verliert, sich
immer mehr in ihr Dunkel einbohrt, sich immer mehr mit dem para-
doxalen Bewußtsein eines Wissens von diesem Dunkel erfüllt.
Und diese untilgbare Paradoxie besteht darin, daß wir zwar um
dieses Dunkel wissen, daß jedoch trotz allem „Wissen“ dieses
Dunkel sich nicht aufhellt oder mindert. Nur metaphysische
Außenseiter nehmen den Kampf um die metaphysischen Probleme
in der naiven Hoffnung eines baldigen und sicheren Sieges auf.
Der wirkliche, entsprechend veranlagte und vorgebildete Meta-
physiker ist aber der Metaphysik gegenüber ,,kritisch“ geworden.
Das soll keineswegs heißen, er lehne sie grundsätzlich ab. Er ist
kritisch, insofern er die Tiefe ihrer Probleme und die Schwierigkeiten
auch nur einer angemessenen Problemstellung mit voller Verantwort-
lichkeit gewahrt und ein Darauflosmetaphysizieren dem Dilettantis-
mus überläßt. Die Zurückhaltung der Metaphysik gegenüber, die
die unmittelbar hinter uns liegenden Jahrzehnte in so auffälliger
Bestimmtheit zeigen, braucht gar nicht in einer Scheu oder Angst
vor der Metaphysik oder in einer Unfähigkeit begründet zu sein —
sie kann auch ebensogut ihren Grund in einer Ehrfurcht vor den
metaphysischen Problemen, in der Einsicht eben in die Dialektik
und in die tiefe Problematik dieser Probleme besitzen.
Und ist ein solches Verhalten der Natur der Sache nicht durchaus
gemäß? Es entspricht zwar einem Zuge des menschlichen Gemütes,
sich mit dem Bewußtsein der Problematik nicht allzusehr zu be-
lasten, die Dialektik nach Möglichkeit auszugleichen, sie „aufzu-
heben“ und sich dem harmonisierenden Monismus zuzuwenden. Ist
jedoch diese — oft vorschnelle — Beseitigung der Problematik dem
Geiste der Philosophie ganz angemessen ? Fordert dieser Geist nicht,
in die Aporien der Probleme hineinzusteigen? Denn dieser Geist
246
IV. Die Metaphysik der Dialektik
ist doch dialektischer Natur. Er wühlt auf und besänftigt nicht nur;
er orientiert sich an dem Gesichtspunkt der Spannung und Gegen-
sätzlichkeit und nicht nur an der Idee der Einheit und Harmonie
oder nur an einer Einheit, die nicht von Anfang an als Identität ge-
dacht wird, sondern ihr Gesetz in der Entfaltung von Gegensätzlich-
keiten auswirkt. Zugunsten des Monismus und Harmonismus lassen
sich viele und einleuchtende Gründe, und zwar solche subjektiver
und objektiver Natur, anführen. Der stärkste ist wohl der, daß die
,,Vernunft“ doch schließlich als Einheit genommen und als Einheit
anerkannt werden muß, und daß ohne sie keine Wesenserkenntnis
und keine Wesensbestimmung der Wirklichkeit erfolgen kann. Aber
in diesem Falle wird die Vernunft doch in einem zu einfachen und
zu einfach rationalistischen Sinne aufgefaßt; es wird in ihr lediglich
die eine Seite, die verstandesmäßige, gesehen und berücksichtigt,
nicht aber auch ihr dialektisches, problemaufspürendes, problem-
erzeugendes Element. Gerade vor dem Richterstuhl der Vernunft
erheben sich die Probleme, die der Verstand einer rationalistischen
Lösung überantwortet. Gerade je tiefer ein philosophisches System
gräbt, je größer seine systematische Kraft ist, um so mehr Probleme
läßt es nicht nur offen, sondern um so mehr Probleme wirft es über-
haupt auf. Und bestehen darin nicht eben seine Größe und Fruchtbar-
keit? Daß der Platonismus, der Spinozismus, der Kritizismus die
Gewalt und Gestalt europäischer Schicksale annehmen konnten,
beruht nicht zuletzt auf der Kraft, mit der sie dem philosophischen
Ringen Probleme darboten und die philosophische Arbeit überhaupt
zu einem Ringen, zu einem Kampf vertieften. Der Begriff der plato-
nischen Idee oder der Begriff der kantischen Kritik, der Gedanke
der deduktiven oder der der transzendentalen Methode, der Gedanke
der Einheit der spinozistischen Substanz und des Verhältnisses
zwischen Substanz und Attribut, die Idee des Apriori oder der des
Verhältnisses zwischen der theoretischen und der praktischen Ver-
nunft und was der tausend Grundbestimmungen jener philosophi-
schen Systeme mehr sind — umspannen sie nicht alle außerordent-
liche Probleme, außerordentlichste Schwierigkeiten, fordern sie nicht
geradezu zu Fragen, vielleicht zu Einwänden auf, spornen sie nicht
geradezu unsere theoretischen Sorgen an?
Und wie die Frage nach dem Wesen der Wahrheit und nach den
Bedingungen zur Lösung dieser Frage zu den Grundaufgaben der
philosophischen Bemühungen gehört, so fragen wir, und zwar mit
einer nicht nur aus rein theoretischen Interessen aufsteigenden
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
247
Erwartung, nach der „Wahrheit“ der philosophischen Systeme selber.
Keines von ihnen ist im eigentlichen Sinne nicht wahr; keines aber
auch ganz wahr. Und ist der beruhigende Hinweis darauf, daß die
Wahrheit nur in dem — doch unvollendeten und unvollendbaren —
Ganzen der philosophischen Gesamtentwicklung enthalten sei1), nicht
so etwas wie eine Vertröstung, so etwas wie eine Ausflucht? Dann
umfaßte das einzelne System gewissermaßen nur einen Teil der
Wahrheit. Welche unausdenkbaren Schwierigkeiten und Unklarheiten
jedoch in der Behauptung verborgen sind, daß das einzelne System
nur eine Stufe in dem unendlichen Gesamtprozeß der philosophischen
Systematik darstellt, braucht nicht besonders erwähnt zu werden.
Bestünde jene Behauptung zu Recht, dann müßte der Wahrheits-
wert einer solchen Stufe eindeutig präzisiert werden. Wie aber wäre
das möglich, da die Feststellung des Wahrheitswertes der gesamten
Entwicklung durch einwandfrei geklärte Begriffe und überhaupt
durch begriffliche Erwägungen nicht erreichbar ist? Eine derartige
Bestimmung müßte sich stets und unvermeidlicherweise überlogischer
Entscheidungen bedienen.
Ja, steckt in jeder philosophischen Entscheidung nicht überhaupt
ein überlogisches Moment? In dem einen Falle ist es ein Willens-
moment, das sich in dem — bisweilen ethischen — Entschluß, zu
einer Lösung zu gelangen, äußert; in dem anderen Fall spricht ein —
oft ästhetisch oder religiös gefärbtes — Gefühl, das sich in dem
Glauben an eine Lösung bekundet, ein entscheidendes Wort. In
die „Wahrheit“ jedes philosophischen Systems ist Zeitliches und
Überzeitliches in einer eigentümlichen, in dem Einzelfall nicht immer
eindeutig entwirrbaren Verbindung eingeschmolzen. Es gehört einem
geistigen Typus an, von dem das eine Zeitalter oder der eine Mensch
sich mehr angezogen fühlt als ein anderes Zeitalter oder als ein
anderer Mensch. So eindrucksvoll und — für viele Geschlechter und
Sinnesarten — überzeugend auch die einzelnen metaphysischen Sy-
*) Ein bekanntlich von Hegel vertretener Gedanke. Mit diesem Gedanken
steht in — scheinbarem — Widerspruch desselben Denkers Wertung oder
Überwertung des eigenen Systems, das den vollendeten Ausdruck der Wahr-
heit an sich darstelle. Abgesehen von dieser Überschätzung, die ja kein sin-
gulärer Fall ist, sondern von fast allen Philosophen ihrer Leistung gegen-
über vorgenommen wird, so wird jener Widerspruch durch die Behauptung
Hegels gemildert, daß sein System es sei, das die gesamte Entwicklung der
Philosophie in sich trage, in sich „aufhebe“, daß es, mit anderen Worten, die
allumgreifende Zusammenfassung und damit Beendigung dieser Gesamtent-
wicklung sei.
248
IV. Die Metaphysik der Dialektik
steme sein mögen, eine so reiche und anziehende Ausbeute das Nach-
denken der Metaphysiker auch geliefert haben mag, so bewegt und
vielfarbig das Bild ihrer Erkenntnisse, ihrer Wertungen, ihrer Welt-
deutungen auch ausgefallen ist: eine rückhaltlos befriedigende Ant-
wort, eine endgültige Beschwichtigung unserer Sorgen, eine all-
seitige und durchdringende Erhellung oder Bannung desjenigen Ge-
heimnisses, das wir Wirklichkeit oder Leben nennen, darf uns
nicht zuteil werden.
Diese Behauptung soll keinerlei Tadel, keinerlei Herabsetzung
der Metaphysik einschließen. Die intellektuelle Gigantomachie, die
als Philosophie bezeichnet zu werden pflegt, büßt von ihrer Größe,
büßt von ihrer tragischen Schönheit nichts ein, auch wenn den Kämp-
fern kein voller Sieg beschieden ist. Denn ist das Aufspüren der
Probleme, ist das Leben in und mit ihnen nicht jeder sogenannten
Lösung gleich zu achten ? Verliert eine Lösung nicht überhaupt ihren
Gehalt und ihren Sinn, wenn in ihr die Dynamik der Probleme auf-
gehoben, wenn durch sie die Möglichkeit des Weiterfragens unterbun-
denist? Hat sie ihr Recht zum guten Teil nicht dadurch verwirkt, ist
sie nicht zu einer leeren Form dadurch ausgehöhlt, daß sie dem Grund-
gesetz der Philosophie, nämlich dem Gesetz der Dialektik, sich hin-
dernd in den Weg stellt? Gehört es nicht zum Wesen, zur
Haupteigenart, zum Schicksal der Philosophie, daß sich
zwischen ihren uralten und ehrwürdigen Fragen auf der
einen Seite und ihren Antworten sowie dem Charakter
diese rAntworten kein restloser, kein allseitiger Einklang
ergeben will, ergeben kann? Keine Auskunft der Metaphysik
ist auf die Dauer geschützt gegen den Stachel jener Fragen, die ewig
sind und darum immer aufs neue gestellt werden, weil wir sie immer
neu erleben, weil sie uns wie mit Schicksalsmacht immer aufs neue
überfallen. Die metaphysischen Fragen sind Urerlebnisse
der menschlichen Seele. In ihnen tritt die menschliche Seele
über den Kreis ihres erfahrungsmäßigen Daseins hinaus; durch sie
bemächtigt sich unserer Seele einer Dialektik, die aller rationalen
Klarstellung überlegen ist, ja, für die ein rationaler Ansatz- und Aus-
gangspunkt sich nicht nachweisen läßt.
Es kann ein Zweifel darüber bestehen, wem der Primat in unserem
Innenleben gebührt, ob jenen metaphysischen Urfragen, von denen
wir bald noch genauer sprechen werden (S. 251 u. ö.) oder jener
Dialektik. Was sich sagen läßt, ist wohl nur folgendes: Beide gehören
zu den Urbegabungen des menschlichen Geistes; beide haben ihre
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
249
Wurzel da, wo die empirische Zone unseres Geistes sich mit ihrer
metaphysischen schneidet, wo der Übergang aus dem einen Reiche
in das andere erfolgt. Dieser Übergang ist kein alltäglicher Vorgang;
er ist auch kein empirischer Vorgang und deshalb mit den Mitteln
keiner Erfahrungswissenschaft aufzuhellen, am wenigsten mit den
Mitteln irgendeiner Naturwissenschaft. In mystischer oder in
theologischer Ausdrucksweise wäre auch von einem Geheimnis oder
von einer Gnade zu sprechen. Vielleicht sind diese Bezeichnungen
auch darum nicht unangebracht, weil die Anwendung rein rationaler
Bestimmungen ausgeschlossen ist und zudem nicht weiterhelfen
würde. In jenen Bezeichnungen klingt aber so etwas wie ein Hin-
weis darauf an, daß für die Erfassung jener Vorgänge und Übergänge,
die für unser Wesen und für unseren Wert als Menschen von ent-
scheidender Wichtigkeit sind, eine dem religiösen Verhalten analoge
Sinneinstellung und Deutungsfunktion erforderlich ist. Mit einer
ethischen Wendung ließe sich vielleicht sagen: Es ist eine unbedingte,
schlechthin ausschlaggebende Forderung, für diese metaphysischen
Urfragen und Urerlebnisse reif zu werden, zu ihrem Sinn heran-
zureifen. Mit diesen Urerlebnissen ist kein empirisches Erlebnis
vergleichbar; denn jedes empirische Erlebnis untersteht den all-
gemeinen psychischen Gesetzlichkeiten, es wird durch sie geformt
und mitbedingt. Insofern aber ist jedes empirische Erlebnis durchaus
unfrei, so einschneidend seine Bedeutung für unser Leben auch sein
mag. Oder besser: wir sind und bleiben in ihm unfrei, wir sind und
bleiben in ihm Kinder, ja Sklaven der empirischen, der kausal-
empirischen Regelungen unterworfenen diesseitigen Welt. Mit den
metaphysischen Urerlebnissen hingegen bricht eine ganz andere,
eine neue Welt über uns herein. Wie das möglich ist, und welche
Bedeutung der Einbruch dieser neuen Welt für uns besitzt, endlich,
was das für eine neue Welt ist, alles das wird uns im folgenden noch
ausführlich beschäftigen (z. B. 268ff.,320ff.,326ff.). Denn es genügt
natürlich in keiner Weise, auf die mystische Bedeutsamkeit dieser
Urerlebnisse bloß hinzuweisen oder diese Bedeutsamkeit emphatisch
zu verherrlichen; wir haben gerade in der Philosophie die unleugbare
Pflicht, alle Gegenstände, von denen wir reden, in ihrem Wesen und
Wert auch begrifflich zu festigen und begrifflich zu klären. Insofern
ist jede Philosophie „rationalistisch“, muß jede Philosophie den all-
gemeinen Forderungen, die für alle wissenschaftliche Erkenntnis
gelten, Genüge tun, wenn sie nicht in leere Redereien oder in die un-
kontrollierbaren Ausbrüche gefühlsseliger Schwärmereien geraten will.
250
IV. Die Metaphysik der Dialektik
An dieser Stelle lenkt aber nicht nur die Übersubjektivität der
metaphysischen Fragen und Fragestellungen die Aufmerksamkeit
auf sich, sondern die wurzelhafte und darum unausrottbare Spannung
zwischen dem Sinn, zwischen der Gewalt der aufgeworfenen Probleme
und allen Formen möglicher Auskünfte. Die metaphysischen Fragen
wachsen, strömen, drängen in uns hervor aus der wesenhaften Schicht
unseres Lebens, aus jener Lebensschicht, die bereits jenseits der
empirischen Lebensbewegung und aller biologisch und anthropolo-
gisch bestimmbaren Lebensbetätigung liegt; sie steigen empor aus
überempirischen Schichten, aus Tendenzen und innersten Verant-
wortlichkeiten, aus einem Sollen und aus einer Freiheit, die die
banale Tatsache unseres Lebens zum Logos des Lebens erheben,
und die allein uns das Recht und die innere Erhobenheit
geben, von einem Sinn unseres Lebens zu sprechen. Es handelt
sich, mit anderen Worten, um den Inbegriff jener Geistes-
tendenzen, in denen die Intelligibilität unseres moralischen, also
metempirischen Charakters sich offenbart. Die Auskünfte, die Ant-
worten tragen in sich nicht diese schicksalsschwere Wucht; sie be-
kunden niemals erschöpfend, wer und was wir ,»eigentlich“ sind. Sie
gelten mehr für uns, insofern wir dem Verbände der Geschichte
angehören, insofern wir „Erscheinungen“ sind, als insofern wir in
unserer Brust ein „heilig Geheimnis“ umspannen, dessen Lebendig-
keit viel zu groß, viel zu tief, viel zu „jenseitig“ und verhängnis-
voll-großartig ist, als daß es sich auch nur annähernd in sinnliche
Formen umsetzen, in empirischen Leistungen aussprechen könnte.
Die Antworten der Metaphysik werden in unvermeidlich veräußer-
lichenden begrifflichen Prägungen ausgegeben; sie sind zu einem
guten Teil bedingt durch die empirische Verfassung des Antworten-
den, durch den von Zufälligkeiten nicht freien Stand seines Wissens,
durch die subjektiven Fähigkeiten und Eigenarten seines Wesens,
durch seine Abhängigkeiten von hundert bestimmten und von tausend
nicht bestimmbaren Umständen. Für unsere philosophischen Fragen
sind wir selber verantwortlich auf Grund der intelligiblen Freiheit,
die unser ureigenstes Eigentum sein soll, die niemand, kein Gott
und keine Welt, unserem Leben verleihen kann, verleihen darf,
sondern die nur wir selber uns schenken, mit der nur wir selber uns
begnaden, die nur wir selber uns nehmen und uns belassen können.
Dafür jedoch, daß wir diese Fragen beantworten, und wie wir sie
beantworten, können wir außer uns auch noch andere Menschen
verantwortlich machen, können wir außer von uns auch von anderen
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
251
Menschen verantwortlich gemacht werden. Für die von den Philo-
sophen erteilten Antworten sind die Herkunft und Erziehung, sind
der empirische Charakter und der empirische Typus, dem der be-
treffende Philosoph angehört, ist die allgemeine geistig-geschicht-
liche Lage, die ihn umgibt, und mit der er sich auf irgendeine Weise
auseinandersetzt und abfindet, mitmaßgebend und deshalb mit-
verantwortlich.
Die Welt der Fragen ist die Welt unseres metaphysischen Wertes
und Schicksals; mit den Antworten dagegen stehen wir innerhalb
der Welt der Geschichte. Die metaphysischen Probleme tragen den
Charakter und die Würde der Absolutheit; die ihnen zuteil werdenden
Antworten sind immer in irgendwelche Relativitäten eingebettet,
ja, sie sind in irgendeiner Beziehung immer relativ. Der Sinn der
kantischen Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori
ist unabhängig von den Besonderheiten des Aufklärungszeitalters,
in dieser Frage steckt ein „ewiger“ und ewig aktueller Sinn. Aber
schon die Art der begrifflichen Formulierung dieser Frage, abgesehen
von der Antwort und der rationalen Technik dieser Antwort, atmet
deutlich den Geäst der Aufklärung. Der fragende Metaphysiker
klopft immer an das Tor der Unendlichkeit; er macht sich stets einer
Grenzüberschreitung „schuldig“; er fordert immer Gott und das
Schicksal heraus. Der antwortende Metaphysiker zwingt, drückt
die Unendlichkeit der Frage zurück in die Endlichkeit und Enge
einer bestimmt umschriebenen, logisch möglichst eindeutigen, einer
möglichst rationalisierten Form. Indem er ein System erbaut,
veräußerlicht er unvermeidlich die prometheische Dynamik der Fra-
gen, mechanisiert er ihre Dialektik. Ein System als solches ist niemals
rein dialektisch, weil es immer irgendwelche „Lösungen“ darbietet,
weil es Entscheidungen trifft. Die Dialektik der Lösungen, von der
in dem vorhergehenden Kapitel die Rede war, besitzt nicht die Züge
jener elementaren, jener gewaltigen, um nicht zu sagen jener
gewalttätigen Dialektik, die in der Tiefe der Probleme wühlt. Die
Dialektik der Lösungen ist eine bereits in systematisierende For-
mungen übergehende Bewegung; sie ist der Beginn des Stillstandes
der Dialektik, natürlich keineswegs ihr völliger Stillstand, aber der
Ansatz, der Übergang zu ihm. Keine der tatsächlichen Lösungen,
so viele ihrer in der Geschichte der Philosophie hervorgetreten sind,
vollzieht einen restlos durchschlagenden Ausgleich, erreicht eine
endgültige Entspannung der Dialektik. Ihr Sinn jedoch ist der,
eine solche Entspannung nur in die Wege zu leiten, die Bahn zum
252
IV, Die Metaphysik der Dialektik
Ausgleich erst zu ebnen. Es ist gerade wieder die Dialektik in diesem
Sinn und in dieser Absicht, daß solche Entspannung tatsächlich
niemals erfolgt: ein Zeichen für die Stärke der Dialektik, die innerhalb
der Philosophie niemals zu endgültigem Aufhören gelangen kann.
Oder aber die Philosophie müßte ihrer Aufgabe, müßte ihrem Sinn
untreu werden. In dem Augenblick, in dem die Dialektik erlischt,
gibt die Philosophie ihr Szepter an ein anderes Kultur und Wesens-
gebiet ab, an die Religion. Die philosophischen Lösungen und Ant-
worten sind eine bereits gemilderte, eine schon etwas abgeschwächte
Form der Dialektik; sie sind die Dialektik an der dialektischen
Grenze der Dialektik, um paradox zu sprechen.
Der im obigen gekennzeichnete dialektische Zwiespalt zwischen
dem Ursinn der Probleme, in dem die volle Gewalt der Dialektik
arbeitet, und der historisch-begrifflich-formalistisch abgeschwächten
Dialektik der Antworten, der Lösungen, ist der zwingende Ausdruck
und das überführende Zeugnis jener dialektischen Problematik, die
die Wesenseigenart der Philosophie ausmacht. Hier erst sehen wir
den tieferen Grund für die Unfertigkeit und Unvollendbarkeit aller
Systeme: Keine Lösung vermag der Dialektik der Probleme gerecht
zu werden und genug zu tun. Was in der Antwort dargeboten
wird, ist eine Abdämpfung und Beruhigung der Problemdialektik,
ist ein Gerinnen des Lebens zur Form, in der begreiflicherweise nur
noch ein Bruchteil der ursprünglichen Bewegtheit wirksam und
nachweisbar ist. Aber in den Begriffen, in den Entscheidungen, in
den Systematisierungen aller wirklich großen philosophischen Lei-
stungen ist von dieser ursprünglichen Dynamik noch etwas zu ver-
spüren ; hier ist die Glut noch nicht ganz erkaltet, die Brandung noch
nicht ganz versandet. Und vielleicht besteht darin das Merkmal ihrer
Größe, daß sie bis hinein in einzelne und untergeordnete Formulierun-
gen das Brausen und Kochen in ihrer Tiefe noch ahnen lassen, daß
ihre Form jeder Zeit in Gefahr steht, von der dialektischen Grund-
kraft gesprengt zu werden. Darum erfährt auch gerade die Form
der klassischen Systeme eine immer sich wiederholende Umbildung
und Neugestaltung. Jede neue Darstellung, die von ihnen gegeben
wird, ist nicht sowohl eine neue Darstellung ihres formalen Gefüges
als vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem Problem- und Sinn-
gehalt dieser Form. Nichts welkt von den klassischen Systemen
so schnell als gerade ihre Form; nichts dauert so unerschütterlich
als ihr Problem- und Sinngehalt. Nicht um die „Form“ des Platonis-
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
253
mus oder des Kritizismus geht unser Ringen, sondern wir versuchen
mittels einer neuen Darstellung dem Platonismus oder dem Kritizis-
mus eine neue Form zu geben, weil wir vermittels der neuen Form
uns des ewigen Gehaltes jener Systeme bemächtigen wollen. Die
Form sinkt hier beinahe herab zur Bedeutung eines Mittels. Schon
in der außerordentlich hohen Zahl von „Darstellungen“, die die
klassischen Systeme gefunden haben, spricht sich die geringere Wich-
tigkeit der Form gegenüber dem Problemgehalt aus. Damit soll
keineswegs eine absolute Herabsetzung der Form, der Lösung, ver-
treten werden. Wer selber an der Entwicklung der Philosophie durch
aktive Mitarbeit sich beteiligt, weiß, wie wichtig die Berücksichtigung
der Form, wie sehr die klare und saubere begriffliche und methodische
Gestaltung zu schätzen ist. Ohne Form kein Inhalt; ohne System
kein Problem; ohne begriffliche Fügung und Regelung keine Dialektik.
Die Form der philosophischen Systeme ist keine Äußerlichkeit; sie
ist kein dem Gedankengehalt äußerlich aufgeklebter, unorganisch
aufgepreßter oder bloß herumgelegter Rahmen; sie steht mit dem
Sinn- und Problemgehalt in einer durchaus engen Verbindung. Aber
sie ist doch immer „Darstellung“ der zugrunde liegenden Problematik
und deshalb ein Schritt auf dem Wege zur Entspannung, ein Schritt
der Entfernung von dem Kampf in der Tiefe, ein mehr oder minder
weit greifender Ansatz zu einem Fertigwerden mit den Problemen.
Natürlich kein wirkliches und endgültiges Fertigwerden oder gar
Fertigsein, ein Erledigen, aber keine Erledigung.
Nunmehr können wir die oben ausgesprochene Behauptung von
der ewigen Problematik und Dialektik der Philosophie (vgl. S. 53ff.,
241) mit größerem Rechte und ohne Zweifel mit größerer Sicherheit
wiederholen: Sollte die Spannung zwischen Frage und Antwort
und die zunächst als geschichtliche Tatsache vorliegende Unfertigkeit
des wissenschaftlich - philosophischen Denkens ihren eigentlichen
Grund nicht in einer antinomischen Spannung im Begriff der Philo-
sophie selber besitzen ? Sollte jener Tatbestand nicht auf eine ebenso
typische wie notwendige, also auf eine systematisch geforderte Un-
abschließbarkeit hinweisen? Sollte er nicht vielleicht der zwang-
läufige Ausdruck einer ewigen, einer tragischen und dennoch überaus
fruchtbaren Unausgeglichenheit und spannungsträchtigen Unaus-
gleichbarkeit sein? Aber einer Unausgleichbarkeit, die sich nicht
sowohl aus einer nur subjektiven, nur empirisch-anthropologischen
Gründen entstammenden, als vielmehr aus einer im Wesen und Begriff
der Philosophie selber gelegenen Antinomie und Dialektik erklärt!
254
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Mit anderen Worten: Aus einer objektiven, zum Schicksal des
denkenden Geistes überhaupt unabtrennbar gehörigen Antinomik
und Dialektik!
Hinter dem buchmäßig ausgeführten System, das wir das plato-
nische oder das kantische nennen, steckt die Dialektik des Ideen-
gehaltes des Systems. Und die Metaphysik dieser Dialektik, nicht
aber die in den Schriften der Philosophen zutage tretende und nach-
lesbare Metaphysik lebt in der Tiefe der Antinomik der Probleme,
und sie lebt von dieser Antinomik. Bestünde diese Antinomik und
Dialektik nicht als durchaus überpersönliche Voraussetzung, be-
stünde sie nicht in dem Geltungswerte einer sachlichen Apriorität,
dann würde der philosophischen Arbeit auch ihr überpersönlicher,
ihr sachlich gültiger Ansatzpunkt fehlen. Schon in und mit der Idee
des Problems, diesem Apriori für jegliche Systematik, ist die
Idee der Antinomik und Dialektik innerlichst gesetzt. Oder aber
es handelt sich gar nicht um ein echtes metaphysisches Problem,
z. B. um das Problem des Seins oder um das der Freiheit, sondern
nur um ein zufällig aufgerafftes, dem empirischen Bewußtsein irgend-
wie und irgendwo aufstoßendes empirisches Problem. Wäre jedoch
das metaphysische Problem nicht immer und unvermeidlich dialek-
tisch-antinomischer Natur, dann brauchte es der Systematik nicht
erst zur Verfügung gestellt zu werden; jegliche Bemühung um seine
Lösung wäre von vornherein entbehrlich; es wäre von Anfang an ge-
löst, mit anderen Worten: es wäre kein Problem, sondern nur eine
gelegentliche Frage.
Neben der Beachtung und Vertiefung der Problematik, neben
der voranschreitenden Erkenntnis der Notwendigkeit und der Größe
der Dialektik können die Versuche um Harmonisierung ruhig weiter-
bestehen. Aber alles Fahnden nach einem einheitlichen Erkennt-
nisgrund und Weltgrund setzt doch voraus, daß dieser einheitliche
Erkenntnis- und Weltgrund zunächst als Problem aufgestellt wird.
Damit soll weder seine Existenz noch seine Einheit noch die Möglich-
keit seines Findens geleugnet oder bezweifelt werden. Aber alles das:
Existenz, Einheit, Erkenntnismöglichkeit, muß für eine kritische
Philosophie zunächst einmal als Problem gelten; das — riesengroße —
Wagnis des Infragesteliens, des Zurfragesteliens muß erst einmal
unternommen werden, bevor wir ihre Lösung vollziehen. Oder
aber wir befinden uns von Anfang an in und unter dem Banne eines
außer-, eines vorphilosophischen Dogmatismus. Jene Erhebung in
das Reich des Problems ist ein autonomer philosophischer Akt, der
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen 255
natürlich mit dem skeptischen und relativistischen Verhalten nichts
gemein hat.
Der Begriff des Problems hat unter dem Gesichtspunkt der
kritischen Philosophie einen ganz anderen Geltungswert als inner-
halb des Skeptizismus. Und vielleicht läßt sich der weltenweite
Unterschied zwischen der kritischen und der skeptischen Geistes-
haltung und Philosophie an keinem Begriff schärfer verdeutlichen
als an dem Begriff des Problems. Es hat sich uns oft die Gelegen-
heit ergeben, diesen Unterschied des genaueren zu beleuchten.
Jetzt sei nur bemerkt, daß der Skeptizismus eine durchaus will-
kürliche, durchaus subjektive Ansicht mit einem völlig subjektivi-
stischen, regellosen Verfahren ist. Er vermag von sich aus seinen
Begriff des Zweifels in keiner Weise methodisch zu rechtfertigen und
zu begründen; ja, er vermag den Zweifel noch nicht einmal im strengen
Sinne des Begriffs zu verwenden. Bei folgerichtigem Verhalten müßte
er an seinem Zweifel zweifeln und an dem Zweifel des Zweifels wieder
zweifeln und so weiter ins Aschgraue. Der Skeptizismus hat nicht
die methodische Kraft einer strengen und ernsten Theorie. Wenn
er seiner skeptischen Tendenz treu bleibt und keine Anleihen bei
einer wirklichen philosophischen Theorie macht, dann erlischt er
sofort in reine Willkürlichkeiten, dann zerflattert er in ein leeres
Spiel nichtiger Behauptungen. Woher will er das Recht nehmen,
seine Begriffe in dem Sinne von Kategorien, von Grundbegriffen zu
verwenden, wie es doch für eine ernste autonome Theorie geboten
ist? Er ist nichts als ein haltloser Negativismus und Nihilismus ohne
aufbauende systematische bzw. systematisierende Fähigkeit. Er ist
von ausgesprochen destruktiver Tendenz. Damit ist gesagt, daß er
nicht die Bedeutung einer philosophischen Theorie, eines philoso-
phischen Standpunktes, einer philosophischen Methode besitzt; er
gefällt sich in dem — natürlich zu ewiger Ergebnislosigkeit verur-
teilten — Versuche, zu behaupten, daß alle Erkenntnis angeblich
zweifelhaft, daß alles Seiende in seinem Bestände und Wert an-
geblich fragwürdig und unsicher sei. Woher weiß er das? Mit wel-
chem Grad von Sicherheit kann er diese Behauptung aussprechen?
Wie vermag er überhaupt sie zu vertreten? Mit der im skeptischen
Sinne geäußerten Behauptung, daß alles problematisch sei, ist im
Grunde gar nichts gesagt. Dieser theoretische Pessimismus hätte eine
relative Möglichkeit nur und erst dann, wenn er seine Behauptungen
und Kategorien an einer autonomen systematischen Theorie mißt,
wenn er sich an dem System der philosophischen Kritik orientiert.
256
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Für die kritische Philosophie hingegen hat der Begriff der
Problematik, ebenso wie der der Dialektik und Antinomik, den
Wertcharakter einer autonomen Kategorie. Besteht das Wesen des
Dogmatismus in der naiven Setzung des Seins und in der aller Be-
gründung bereits voraufgehenden Anerkennung dieser Setzung, so
steht der Skeptizismus in einem polaren Gegensatz dazu. Indem er die
einwandfreie Begründungsmöglichkeit des Seins bezweifelt, gibt er
in diesem Zweifel bereits den Sinn und das theoretische Recht seines
Zweifels preis; denn ein sinnvoller Zweifel ist theoretisch nur mög-
lich in Hinsicht auf die ihm prinzipiell und a priori übergeordnete
Instanz der theoretischen Begründbarkeit des Zweifels. Kein Zweifel
ohne den Logos des Zweifels. Die kritische Philosophie nimmt da-
gegen von vornherein den Begriff des Problems eben als Begriff,
als Kategorie, d. h. sie bezieht das Erlebnis des Problems schon im
Akt des Erlebens auf den Logos des Problems; sie verankert das
Erlebnis des Problems, mag dieses eine seelisch noch so überwälti-
gende Kraft in sich schließen, ganz unmittelbar in der konstruk-
tiven Methode der dialektischen Systematik und der systematischen
Dialektik.
Immer wieder sehen wir uns zu dieser Paradoxie geführt, die
ihre Eigenart darin besitzt, daß die Philosophie von ihrer Problematik
lebt und durch sie gedeiht, daß die Problematik die Systematik
fordert und sie zugleich unaufhörlich sprengt, daß die Bewegung
und Unruhe der Dialektik unaufhörlich auf die Ruhe formaler Ein-
deutigkeit bezogen ist und diese formale Eindeutigkeit sofort ab-
lehnt und ihr gegenüber das Prinzip des Problemseins aufrichtet.
Es gibt kein philosophisches System, und kein philosophisches
System ist möglich oder denkbar, in dem diese dialektische Pro-
blematik nicht „aufgehoben“ wäre im Verhältnis zu dem ihm zeit-
lich oder logisch voraufgehenden System. Also „aufgehoben“ im
Sinne Hegels, d. h. gerade doch wirksam und lebendig. Wäre sie
aufgehoben im Sinne der Beseitigung und Tilgung, dann wäre das
betreffende System nur ein leeres Wortgehäuse. Es würde einer
erneuten sachlichen Arbeit keine Anknüpfung bieten. Eine erschöp-
fende philosophische Weltformel — suggerieren wir uns einmal die
Meinung, sie wäre aufstellbar — würde weder von „Philosophie“
noch von „Welt“ etwas enthalten; sie wäre nichts als eine — Formel.
Sie wäre das Kunstprodukt eines vielleicht großartigen, aber rein
formalistischen Rationalismus. Welcher Wahrheitswert könnte ihr
eignen, da sie die problemhaltige Tiefe des Lebens in allgemeinste
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
257
Formbestimmungen zerdehnt und die Individualität der Lebens-
erscheinungen bis zur vollständigen Unkenntlichkeit ausweitet. In
ihr hat die Form des Begriffs eine so hohe Allgemeinheit, eine solche
äußerste Dehnung erreicht, daß diese Form schließlich zerfließt
und jede Festigkeit einbüßt. Auch an dem Begriff der Form erweist
sich die Gültigkeit der Dialektik: Keine Form darf allzusehr, darf
allzu ausschließlich zur Form werden bzw. Form sein, wenn sie als
Form Bestand und Geltung bewahren will.
Die im obigen getanen Äußerungen werden uns vor dem Ver-
dacht schützen, daß wir die Bedeutung der Form unterschätzen
oder mißachten. Die Form ist schon darum nötig, um die Probleme
überhaupt nur zu begreifen, um sie uns begrifflich gegenständlich
zu machen. Das tun wir dadurch, daß wir zunächst einmal ver-
suchen, sie zu formulieren. Was wir dadurch erreichen, ist erstens
die notwendige Erhebung der Probleme in das Reich der Begriff-
lichkeit und damit in das der Begreiflichkeit. Alsdann kann ihre
begriffliche Bearbeitung in Angriff genommen werden. Ferner ver-
mögen wir nur durch diese relative Verbegrifflichung der Probleme zu
einem Kennenlernen und zu einer wissenschaftlichen Bekanntgabe
der Probleme zu gelangen. Wir kommen auf diese Weise dazu, eine
Geschichte, einen Zusammenhang der Probleme zu entwickeln, was
ohne ihre systematisierende Formulierung und Formalisierung nicht
geht. Ohne diese Formulierung könnten wir nicht zeigen, wie jene
entstanden, in welchen Gestalten und unter welchen Bedingungen
sie in das geistige und in das wissenschaftliche Leben eingetreten
sind, welcher Art endlich die Behandlung war, die ihnen widerfuhr.
Mit anderen Worten: Ohne rationale und rationalisierende Formu-
lierung „wüßten“ wir nichts von der Welt der Probleme. Wir wären
außerstande, ihre Psychologie und ihre Geschichte zu schreiben;
wir wären außerstande, eine Logik und eine Ethik der Probleme zu
geben. Und wie wäre ohne jene formulierende und formalistische
Rationalisierung eine Metaphysik der Probleme möglich?
Sofort aber erhebt sich die Frage nach dem Wesen dieses Ra-
tionalismus und Formalismus. Schon jetzt können wir mit aller
Bestimmtheit sagen, daß seine Kraft die Bewegtheit der Problematik
nicht abschnüren, nicht unterbinden darf. Er ist für die Existenz
und für die wissenschaftliche Erfassung der Problematik unent-
behrlich. Er dient ihrer Vermittelung. Der theoretische Geist
schafft sich diese Vermittelung und bedient sich ihrer, um durch
sie der Problematik gerade habhaft zu werden, um durch sie in die
Liebert, Dialektik. 17
258
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Problematik tiefer einzudringen. Also hat er an der Problematik
seinen wiederum auch ihm unentbehrlichen Gegenstand; und da es
gegen die Natur der Sache wäre, diesen Gegenstand einfach zu ver-
rationalisieren, hat er an und in ihm zugleich seine Grenze. Beide
— Problematik wie Rationalismus — sind notwendig aufeinander
bezogen; notwendig durchdringen sie einander in gewissem Um-
fange. In jedem Begriff, den der Rationalismus aufstellt und ver-
wendet, muß etwas von dem dynamischen Charakter der Proble-
matik leben und sich äußern. Umgekehrt darf aber die Dynamik
der Problematik nicht jedes Formalismus und Rationalismus spotten,
will sie nicht in wesenlose und unerfaßliche Verschwommenheiten
entarten. In dem Begriff, in der Form des Gedankens, mittels der
die Problematik ihre wissenschaftliche Erkenntnis findet, muß etwas
von der Dynamik dieser Problematik nachzittern, weiterglühen,
weiterschwingen.
Darin versah es der aufklärerische, an der Mathematik und an
den mathematischen Naturwissenschaften orientierte Rationalis-
mus. Er überspannte die Leistungsfähigkeit und den Geltungswert
der rationalen Form; er maß alle Erscheinungen in zu einseitiger
Weise an der eindeutigen Strenge des mathematischen und logischen
Gesetzes, aber eben eines solchen logischen Gesetzes, dessen „Logos“
lediglich dem Logos der Mathematik nachgebildet war. Die Form
war alles; das Problem des Inhaltes und der Inhalt des Problems
schienen dagegen nur um der Form willen ein Recht zu haben.
Und da diese Form den Charakter der Allgemeinheit, nicht nur den
der Allgemeingültigkeit trug, so entfiel vollends die Möglichkeit,
dem Inhaltsproblem und Probleminhalt in seiner Besonderheit
Genüge zu tun, seine Individualität zu wahren und durch die ratio-
nale Formulierung und Formalisierung hindurchschimmern zu
lassen. Ganz abgesehen davon, daß dabei auch alle Anschaulichkeit,
alle sinnfällige Konkretheit verloren ging. Alles dieses macht es durch-
aus begreiflich, daß die aufklärerische Sonderart des Rationalismus
für eine angemessene Erkenntnis und für eine verstehende Darstel-
lung des geschichtlichen Lebens untauglich war und untauglich ist.
Denn die Paradoxie der Erkenntnis und des Verstehens der Ge-
schichte besteht in der Errichtung und Aufrechterhaltung begriff-
licher und begrifflich zusammenfassender Gedankenformen bei
gleichzeitiger individuell seelischer und anschaulicher, also mehr
erlebnismäßiger Nachschöpfung des betreffenden geschichtlichen
Lebensvorganges.
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
259
Daß diese scheinbar polar zueinanderstehenden Faktoren im
Akt der Erkenntnis und des Verstehens sich miteinander verbinden,
einander durchkreuzen, ist unbestreitbar. Ebenso unbestreitbar
jedoch ist die dialektische Natur dieser Verbindung. In dem Ver-
hältnis zwischen der Rationalität des Begriffs und der Dynamik
des Problems des Erlebens und des Erlebens des Problems prägt
sich eine eigenartige, der näheren Betrachtung mehr als würdige
Dialektik aus. Und es ist natürlich eine der Hauptaufgaben unserer
Untersuchungen, ein genaueres Bild dieser Dialektik zu entwerfen,
eine Phänomenologie und Charakterologie wenigstens der Umrisse
dieses dialektischen Rationalismus zu geben. Dann erst wird
die einzigartige konstruktive Bedeutsamkeit dieses methodischen
Prinzips in voller Klarheit ans Licht treten. In der Gegenwart ist
so oft die Rede davon, daß sich die Wissenschaft in dem Zustand
einer Krisis befände, und daß es eine unabweisbare Forderung sei,
die Wege für eine neue, für eine bewegtere, für eine reichere Erkennt-
nisform zu ebnen. Und drängt in der Tat nicht vieles, wenn nicht
sogar alles, auf eine „Revolution der Denkungsart“, um ein von
Kant gern und häufig angewendetes Wort hier gleichfalls zu ge-
brauchen? Eine vollständige Preisgabe des Rationalismus und
rationalen Formalismus ist aus hundert Gründen gleichwohl ein Ding
der Unmöglichkeit; sie wäre eine Versündigung an dem Geist der
Wissenschaftlichkeit, abgesehen von der Aussichtslosigkeit ihrer
Durchführung. Andererseits hat sich, und das ist in erster Linie
der Erfolg der Geistes- oder Geschichtswissenschaft und der ge-
schichtswissenschaftlichen Bildung und Belehrung, unser Blick
außerordentlich verfeinert für die unermeßliche Wichtigkeit des
Individuellen, des Irrationalen oder des „Lebens“, um einen Lieblings-
ausdruck der Gegenwart zu gebrauchen. Wir können vielleicht
auch von einer Verfeinerung des Blickes und des Verständnisses
für das „Problematische“ des Lebens sprechen.
Mit zweifelloser Bestimmtheit läßt sich sagen, daß in den Kreisen
der Philosophie schon lange ein Bewußtsein von der „Problematik“,
der Irrationalität, der Dialektik der Wirklichkeit vorhanden war.
Die Arbeiten der Dilthey-Schule gehen, soweit diese Arbeiten ge-
schichtlich gerichtet sind, u. a. auf die Erkenntnis der Entstehung,
der Wandlung und der Ausbreitung eben dieses Bewußtseins. Ist
es jedoch in den weiten Kreisen der naturwissenschaftlichen Welt mit
derselben Energie lebendig gewesen? Herrschte hier nicht viel
mehr das Vorbild der mathematischen Erkenntnisform mit seinen
17*
260
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Merkmalen der Exaktheit und der Bestimmung der Erscheinungen
durch rationale Gesetzlichkeiten? Doch bei rückhaltloser Anerken-
nung der Großartigkeit und der Leistungsfähigkeit dieser allgemein-
mathematischen Erkenntnisart und Weltauffassung, dieser so über-
aus erfolgreichen wissenschaftlichen und philosophischen Methode
erscheint uns heute gerade ihre Logik als zu einfach, ihr Be-
griffsgerüst als zu elementar, zu eindeutig. Daran ist keines-
wegs die als Musterbild dienende und als Leitform benutzte Mathe-
matik schuld; denn diese kann als Mathematik nicht einfach und
nicht eindeutig genug sein. Schuld ist, falls es überhaupt ange-
bracht ist, diesen Ausdruck anzuwenden, die rationalistische Ge-
sinnung, die der mathematisch-formalistischen Methode jenen hohen
Platz anwies; schuld sind das rationalistische Ethos dieser Gesinnung
und die Rationalität seiner Logik. Es ist gar nicht ausgemacht,
daß die Logik gerade oder nur in der Mathematik, diese viel mehr
als Gesinnung denn als Einzelwissenschaft genommen, ihr metho-
disches Vorbild erblicken muß. Besitzt die soeben erwähnte Wissen-
schaftskrisis ihren eigentlichen Grund nicht in dem Streben nach
einer relativen Loslösung von der traditionellen formal-logischen
Technik, von einer mathematisierenden oder von einer nach der
Mathematik wenigstens sehnsuchtsvoll hinschauenden Logik? Das
heißt, in dem Streben nach einer bewegteren, reicheren,,»problemati-
scheren“, dialektischeren Logik? Nach einer Methode und einer
Erkenntnisform, die rational und doch problemerzeugend, die
formal und dennoch problembewahrend, die wissenschaftlich und
dennoch für die dialektische Lebendigkeit des Problemlebens und
der Problemmitteilbarkeit nicht gefährlich sind.
Oder ist dieses Verlangen abwegig und sinnlos? Drängt es auf
das anscheinend tollkühne und überhebliche Unternehmen der Schaf-
fung etwa einer neuen Logik hin? Wie wäre eine solche neue
Logik möglich? Inwiefern wäre sie neu, könnte sie neu sein? Soll
damit die Forderung der Preisgabe der alten Logik verbunden sein?
Doch wie wäre es überhaupt möglich, auch nur den Begriff einer
solchen neuen Logik zu formulieren, zu definieren und zu allge-
meiner Verständlichkeit zu bringen? Jede neue Formulierung, jede
neue Definition muß an Bekanntes, an anerkannt Gültiges an-
knüpfen, soll sie verstanden werden. Oder aber man versteigt sich
zu ebenso wilden wie unkontrollierbaren Behauptungen, wenn nicht
sogar zu luftigen Utopistereien, die des erweislichen Gehaltes er-
mangeln. Ferner: Besitzen wir eine solche dialektische Logik nicht
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
261
bereits in der Logik Hegels? Versieht sich oder versagt diese
Logik etwa in Hinsicht auf die Dialektik? Was wäre an ihr aus-
zusetzen?
Hinwiederum kann die Berechtigung des oben aufgeworfenen Ver-
langens füglich nicht geleugnet werden. Ebensowenig seine Dring-
lichkeit und Aktualität. Sehen wir zunächst ganz von der Möglich-
keit der Ausführung und Verwirklichung ab — ist das in jenem
Verlangen enthaltene Problem grundsätzlich abzuweisen? Haben
wir nicht alle mehr oder minder den Eindruck, daß die nach dem
Prinzip und der Methode der alten Logik errichteten Systeme der
Philosophie und der Weltanschauung in irgendeiner Beziehung über-
lebt und veraltet sind, daß sie dem Bewußtseinszustand und der
Geistesrichtung unserer Zeit nicht mehr völlig entsprechen? Zwar
ist ein „Eindruck“ keine ausreichende Begründung. Doch wäre es
vorurteilsvoll, ihn ganz zu unterschätzen. Und der häufig getane ab-
lehnende Hinweis auf die angebliche Fragwürdigkeit und Neue-
rungssucht des gegenwärtigen Geisteszustandes ist zu billig und
zu alltäglich, um allzu ernst genommen zu werden. In ihm bekundet
sich nur ein Mangel an geistesgeschichtlicher und geschichtsphilo-
sophischer Einsicht, der ein positives Verständnis für das titanische
Wollen unserer Zeit ausschließt. Immer noch waren diejenigen die
verständnisvolleren Deuter einer Zeit, die ihr Ringen mit be-
sonnener Achtung verfolgten, als diejenigen, deren Hand allzu frei-
gebig und allzu schnell Lob oder Tadel ausstreute. Zuneigungen
bzw. Abneigungen dürfen da keine Rolle spielen, wo es in erster
Linie auf — ein natürlich kritisches — Verständnis und auf sach-
liche Würdigung ankommt. Aus tiefsten, alle Kultur- und Wert-
gebiete ausnahmslos umfassende Erschütterungen kämpfen wir
heute um neue Lebensgrundlagen und Lebensformen; und wenn
dieser Kampf in einiger Zeit natürlich einer gewissen Ruhe weichen
wird, so wird die frühere Seelenstimmung und Gesinnungsart sich
dennoch nicht wieder einstellen. Gewiß ist es unangebracht, den
augenblicklichen Schwankungen, Krisen, Änderungsversuchen und
Neubildungen im Geistesleben der Gegenwart einen zu hohen Wert
beizumessen und ihnen gegenüber zu vergessen, daß jede Revolution
schließlich in eine Evolution einmündet. Aber ebenso unangebracht
ist es, die Notwendigkeit in dem Auftreten dieser Schwankungen
und Wandlungsansätze zu verkennen, nicht zu sehen, daß es sich
hier um organische und gesetzliche Vorgänge handelt, also nicht
um vorübergehende Ausbrüche planloser Willkür.
262
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Ob wir es bedauern oder verurteilen, ganz gleich: Die Pflicht
zur Objektivität zwingt uns zu der Feststellung, daß über Europa
der Geist der Unruhe, der Dynamik, der Dialektik in einem ganz
tiefen und wehen Sinne hereingebrochen ist. Die hohe ethische
Forderung des Humanismus nach ausgeglichener Wesensgestaltung
lebt als ein fernes, wahrscheinlich dauernd verlorengegangenes
Ideal in unserer Brust. Ja, vielleicht besitzt sie nur noch geschicht-
lichen Wert, so hoch in manchen und nicht in den schlechtesten
Kreisen dieser Wert auch geschätzt werden mag. Wir gewahren es
allerorten, nicht bloß in dem Kampf um das humanistische Gym-
nasium: Die schicksalsvolle Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat
Geisteshaltungen und Formen der Weltanschauung und Formen
der Auseinandersetzung mit der Welt entstehen lassen, die sich mit
der harmonischen Sinnesart des Humanismus in keinen restlosen
Einklang bringen lassen. Sie stehen sogar, so wenig sie schon zur
Ausreifung und Durchbildung gelangt sein mögen, in einem Span-
nungsverhältnis zu dieser Sinnesart. Und wieder sind es nicht die
Schlechtesten unter uns, die dieses Spannungsverhältnis mit pein-
vollem Druck durchleiden. Sie kennen und verteidigen wohl den
einzigartigen Bildungswert der humanistischen Erziehung, können
sich aber der Erkenntnis nicht entziehen, daß neue Gesinnungsformen
und neue Weltbewertungen unwiderstehlich heraufgezogen sind, und
daß dieser Wendung ein Recht und eine Notwendigkeit nicht abge-
sprochen werden kann. Zu viel ist seit der Blüte des Huma-
nismus allerorten geschehen, geschehen auf intellektuellem, auf wirt-
schaftlichem, auf rechtlichem, auf künstlerischem usw. Gebiet, als
daß nicht auch ein Umschwung in unserer seelischen Verfassung
sowie in den Voraussetzungen und in der Struktur unserer theore-
tischen Weltbetrachtung erfolgen müßte.
Unter der Oberfläche unserer Lebensgestaltungen, hinter den
— oft so stabil erscheinenden — Formen unserer Leistungen zittert
und zuckt eine Unruhe, schwingt eine Dialektik, die aus dem Be-
wußtsein heraus entstanden ist und wachgehalten wird, daß alles
Seiende doch „nur“ geschichtlicher Herkunft ist und deshalb keine
Endgültigkeit in sich trägt. Wir können die Bedeutung dieses Be-
wußtseins nicht hoch genug veranschlagen; die Einwirkung der
historischen und der historistischen Betrachtungs- und Beurteilungs-
art der Dinge ist wirklich von geradezu gewaltigem Ausmaß. Alle
Lebensformen und Organisationen scheinen als ewige Mitgift, als
unverlierbares Erbgut eine nie zu tilgende Problematik mit-
2. Die Dialektik der philosophischen Fragen
263
bekommen zu haben. Sogar die großartigste Ausprägung des
rationalen Formgedankens, nämlich die Technik, behält sich vor,
gerade in ihren Höchstleistungen noch etwas von dieser Dialektik
wiederzugeben. Sie sucht nach der ästhetischen Seite hin das Starre,
das rein Mathematische, das Nüchtern-Zweckmäßige zugunsten des
Biegsamen und Schwunghaften zurücktreten zu lassen. Die Tech-
nik will nicht als die Gegnerin oder als die Überwinderin des Lebens
gelten, sondern als seine gefällige Dienerin; sie will selber vom
Rhythmus des Lebens, aus dem sie hervorgegangen ist, erfüllt
bleiben. Sie will den Strom des Lebens nicht beseitigen, sondern
auffangen, ihn seinem Ziel zuführen. Sie will keine tote Konstruk-
tion, sondern dynamische Helferin des Lebens sein. Unsere Technik
ist wie von Blut durchpulst; sie ist nicht bloß Form der Bewegung,
nicht bloß rationale Regelung elementarer Absichten und Willens-
impulse des Menschen, sondern in ihren Motoren, in ihren fisch- oder
vogelgleichen Flugzeugen, in der Geschmeidigkeit und Eleganz ihrer
Schiffe, in der geballten Masse ihrer Fabrikanlagen: überall atmet
Bewegung. Auch in dieser durchgeformtesten Form der Dynamik
rinnt die Dynamik, spielt die Dialektik. Auch in der großartigsten
Überwindung eines Problems — z. B. bei einer ungeheueren Eisen-
bahnbrücke oder einer in Eisregionen sich hinaufschiebenden Draht-
seilbahn — klingt in berückender Melodie noch etwas von der
Phantastik des „Projektes“, von der Kühnheit und Problematik
des Grundplanes an. Das ist wohl der größte Reiz und Zauber
unserer Technik, daß sie eben nicht bloß „Technik“, nicht bloß
Lösung, nicht bloß Entscheidung, nicht bloß Erledigung, nicht bloß
formale Bezwingung einer Aufgabe ist, sondern daß in ihr überall
diese Aufgabe spürbar bleibt, daß in ihr ein Hauch des zugrunde
liegenden Problems nachzittert. Gerade ihre „Triumphe“ bestätigen
die Richtigkeit dieser Auffassung. Und deshalb dürfte es nicht un-
angemessen sein, auch von einer Dialektik der Technik zu sprechen,
und zwar insofern, als unsere Technik immer mehr, immer noch
etwas anderes als Technik ist und gerade in diesem „Anderen“
gleichfalls eine der Bedingungen ihrer Möglichkeiten besitzt. Selbst
bescheideneren Formen, geringfügigeren Errungenschaften der
Technik bleibt der Nachhall des Problems eigen. Auch sie lösen
ihre Aufgabe nicht bloß in einer verständigen, einer erschöpfen-
den, in einer naheliegenden, in einer verständlichen Art. Wenn
wir angesichts außerordentlicher technischer Leistungen mit
Recht von der überwältigenden Großartigkeit der Technik spre-
264
IV. Die Metaphysik der Dialektik
chen und dabei das Wort vom „Wunder“ der Technik nicht
scheuen, dann blitzt mit diesem Ausdruck ein oft recht deutliches
Gefühl für die Ungeheuerlichkeit des Problems auf, das den Aus-
gangspunkt und die Anregung für jede technische Leistung bildet,
und das gerade aus der Ungeheuerlichkeit, aus der überrationalen
Rationalität seines Bewältigtseins noch seine Tiefe heraushallen
läßt. Was unsere Bewunderung erweckt, ist nicht nur die Lösung
des Problems, sondern die Kraft des Problems in der Lösung. Je
gewaltiger eine Lösung ist, um so gewaltiger offenbart sich gerade
in ihr das Problem dieser Lösung. Und auf welchem Kulturgebiet
liegt es übrigens anders? Ganz gleich, ob es sich um ein Gemälde,
um eine Symphonie, um ein Drama usw. handelt. Eben weil die
„Lösung“ des Faustproblems eine so großartige ist, offenbart sie
mit überwältigender Macht die Eigenart dieses Problems. Es ist der
Ausweis für die Größe einer Lösung, daß sie ihr Problem nicht zur
Verkümmerung bringt, sondern es umgekehrt in seiner Autonomie
und Urlebendigkeit sicherstellt. Die Macht des Problems gehört
nicht weniger als die Macht der Form zu den Schicksalsgewalten,
die unser Leben beherrschen, ja, in deren Spannung und Dialektik
unser Leben überhaupt erst die Eigenart seiner Bewegung und
seiner Tiefe verwirklicht.
Dieser über alle Maßen wichtige Umstand rechtfertigt die Be-
hauptung und führt zu der Erkenntnis, daß jene antinomistische
Spannung zwischen bindender Regelung durch die Form und dem be-
wegend-bewegten Erleben des Problems überhaupt den Sinn des
Lebens ausmacht, seine Fülle und zugleich seine Schwere, seinen
Prozeßcharakter und den entscheidenden Teil seiner Verschlin-
gungen bedingt. Wo ein Übermaß nach der einen oder nach der
anderen Seite hin vorliegt, da erstickt das Leben entweder unter
der Strenge vergewaltigender Formprinzipien, da entleert es sich
in dem Walten allgemeiner und zwangsmäßig tätiger Ordnungen
und Organisationen, oder es fällt auseinander in die atemlose Un-
ruhe seines Drängens und Stürmens, es löst sich auf in dem Reich-
tum seines Rauschens und seines Rausches. Auch in dem ästhetisch
so wundervollen Gedanken von der geprägten Form, die lebend sich
entwickelt, ist in logischer Hinsicht kein voller Ausgleich geschaffen.
Denn dieser Gedanke ist unverkennbar dialektischer Natur, und sein
Inhalt trägt alle Züge einer Antinomie. Er besagt eben, daß das
„Wesen“ des Lebens auf dem ungeheueren Gegensatz in der Einheit
einer lebend sich entwickelnden Form beruht. Eine Abschwächung
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
265
dieses Gegensatzes, dessen ewige Fruchtbarkeit sich im Wesen und
in der Wirksamkeit jeglicher geschichtlichen Persönlichkeit und Lei-
stung bekundet, führt immer auch eine Minderung in der Kraft
und in der Entfaltung des Lebens selber herbei. Und je tiefer wir
in das Wesen eines seiner beiden Faktoren eindringen, um so zwin-
gender stellt sich die Einsicht in die Notwendigkeit, in die Unver-
meidlichkeit und in die schöpferische Bedeutung dieses Urgegen-
satzes, dieser Grundantinomie ein.
Der untilgbare Gegensatz nun, in dem das Problem zum Form-
faktor steht, macht sich auch dadurch geltend, daß in seinem, in
des Problems Innern Gewalten kreisen von ganz irrationaler, von
ganz emotionaler Natur. Dieser irrationale, dieser emotionale Be-
standteil ist aus dem Problem nicht fortzudenken. Im Problem
spricht sich etwas Gemüthaftes, wie wir sagten, etwas Erlebnishaftes,
sozusagen etwas unmittelbar Seelisches und Seelenhaftes aus (vgl.
S. 248f.); und es verliert von dieser ursprungshaften Irrationalität in
demselben Maße, in dem es sich der regelnden Form unterwirft. Es
quillt in ihm etwas unfaßlich Dämonisches auf, das zunächst der
Bändigung und der Harmonie durch die Ordnung der Form wider-
streitet, aber gerade darum der Bändigung und Harmonie nur um
so bedürftiger ist.
Der Hinweis auf diesen irrationalen und dämonisch-numinosen
Hintergrund des Problems lenkt unsere Untersuchung nun in die
Richtung einer Psychologie des Problems. Es ist das die Auf-
gabe, die im folgenden Kapitel ihre Behandlung finden soll.
3. Der Urgrund des dialektischen Problems:
Die Angst als seelisches Urphänomen.
a) Jeder von uns kennt aus eigenen und vielfachen Erfahrungen
die einschneidende Bedeutung des Erlebens für unser ganzes Dasein.
Wir kennen diese Bedeutung aus zahlreichen Schilderungen in der
Literatur. Wir kennen sie ferner aus der Philosophie, nämlich aus
den Richtungen des Voluntarismus, des Emotionalismus, des Ir-
rationalismus, d. h. aus den nachdrücklichen Betonungen, die die
sogenannte, mannigfach ausgebaute und abgestufte „Lebens-
philosophie“ dem Moment des Erlebens hat zuteil werden lassen.
Daß dieser philosophische Standpunkt dem objektiven Leben und
dem subjektiven Erleben die ihnen gebührende Stellung innerhalb
der Erkenntnis und Bewertung der Wirklichkeit neben der begriff-
266
IV. Die Metaphysik der Dialektik
liehen, neben der diskursiven Erkenntnisart verschaffte, darf ihm
als ein unleugbares Verdienst gebucht werden. Wenn er diese Hervor-
hebung, wie oft der Fall ist, aber auf Kosten der begrifflichen Form
der Erkenntnis und zuungunsten des Begrifflichen und Formalen
überhaupt vollzieht, wenn er das Begriffliche und Formale gern als
eine untergeordnete, bisweilen minderwichtige Existenz- und Er-
kenntnisweise hinstellt, dann ist er in derselbenEinseitigkeit befangen,
deren sich der formale, aufklärerische Rationalismus aus Vorliebe
für die Kraft des Begriffs durch die Unterschätzung der Fülle und
der Problematik des Lebens und Erlebens schuldig machte. Gewiß
ist jede Welterkenntnis und Weltanschauung mit dem Merkmal der
Einseitigkeit behaftet, weil auch der umfassendste und reichste
Menschengeist immer einseitig ist und einseitig bleibt. Doch dieser
untilgbaren und sozusagen absoluten Einseitigkeit gegenüber ver-
mögen wir Menschen die relativen Einseitigkeiten, wie sie uns in
den Standpunkten der Lebensphilosophie bzw. des Rationalismus
entgegentreten, durchaus zu überwinden. Und die Gewinnung einer
neuen Stufe der philosophischen Erkenntnis und der philosophischen
Entwicklung pflegt stets von der Einsicht in die Einseitigkeiten der
ihr historisch oder systematisch vorangehenden Stufen und von dem
Willen bzw. von der Fähigkeit zur Überwindung dieser Einseitig-
keiten abhängig zu sein.
Indem wir in den Ausführungen des vorliegenden Buches be-
wußtermaßen der Erreichung einer solchen neuen Stufe zustreben,
sind wir dennoch weit entfernt von der Meinung, nun etwa die
entscheidende Lösung unter allen Möglichkeiten philosophischer Welt-
konstruktion geliefert zu haben. Diese Meinung wäre nichts als
eine haltlose Übertreibung, die auch als solche von der unaufhaltsam
weiterschreitenden philosophischen Gedankenarbeit entlarvt werden
würde. Unsere „Lösung“, d. h. der Standpunkt des dialektischen
Idealismus, sieht ihr Recht in der denknotwendigen Verbindung
des formalen Rationalismus, der um der begrifflichen Entschei-
dungen willen die innere Fruchtbarkeit und Dynamik des Problems
nicht zu reiner Entfaltung gelangen ließ, und des irrationalistischen
Problematizismus der Lebensphilosophie, die mehr den schim-
mernden, aber auch schillernden Ausdruck „Leben“, die die Irra-
tionalität eines Problems lieber als die Geformtheit eines Gedankens
zur Grundlage und zur Wurzel ihrer Weltdeutung gemacht hat. Es
ist ein — vielleicht nur bescheidener — Gültigkeitsausweis für eine
philosophische Arbeit, wenn sie eine bewußt erstrebte und deutlich
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
267
nachweisbare Stellung im Gesamtzusammenhang der philosophischen
Entwicklung einnimmt. Denn darf diesem Gesamtzusammenhang
nicht die Bürgschaft für eine solche Arbeit überantwortet und zu-
gemutet werden? Wie ein jeder von uns in bedingenden und binden-
den sozialen Gemeinschaften steht, so ist auch jede vorzugsweise
theoretische Leistung nur möglich innerhalb eines theoretischen
Gesamtverbandes und innerhalb eines allgemeinen Gedankenstromes.
Ihre Eigenart und ihre Autonomie aber besitzt eine solche Leistung
allerdings erst durch die Art und durch die Kraft, mit denen sie
jenem Zusammenhang eine irgendwie neue Wendung und ein irgend-
wie neues Gepräge zu geben vermag. Denn das ist die Dialektik
jeder Leistung, die darin sich ausdrückt, daß die Zugehörigkeit der
Leistung zu einer umfassenden und tragenden Entwicklung sich
verbindet mit der Eigenart und Autonomie der Leistung. Fehlt
jene Zugehörigkeit, so leidet eine Arbeit an allen den Gebrechen, die
für die Ausbrüche überspannter Originalitätssucht bezeichnend sind.
Fehlt ihr die Autonomie, dann ermangelt sie nicht nur der denke-
rischen Haltung und der notwendigen moralischen Selbständigkeit,
sondern sie erhebt sich dann auch nicht in jene übergeschichtlichen,
in jene ewigen Bezüge, in denen die Freiheit der Ideen beheimatet
ist, und durch die wir allererst zu verantwortlichen Schöpfern
unserer Gedanken werden.
In dem Bewußtsein der doppelten Beziehung des dialektischen
Idealismus sowohl zum formalen Rationalismus als auch zur
problematizistischen Lebensphilosophie wollen wir nun zunächst
die Beziehung zur Lebensphilosophie stärker ausnutzen. Und so
fragen wir jetzt in dem angedeuteten Sinne nach dem Lebens-
hintergrund desProblems (vgl. S. 242ff.), nach der Art und Weise,
wie es im Numinosen und Irrationalen verankert ist. Von der be-
grifflichen Verwurzelung des Problems in einer der logischen Klärung
unterworfenen philosophisch-systematischen Idee sehen wir also jetzt
ab. Daß das Problem eine solche Verwurzelung besitzt, ist ebenso
unbestreitbar wie bekannt. Hingewiesen sei z. B. auf das Verhältnis der
Attribute des Bewußtseins und der Ausdehnung zur Substanz oder
an das Verhältnis der Attribute zueinander in der Philosophie
Spinozas. Oder man denke an den Begriff der Monade bei Leibniz
und an die Behauptung dieses Philosophen, daß die Monade kraft
ihrer selbst das ganze Universum in sich spiegele. Wir können auch
ein Beispiel aus der griechischen Philosophie wählen, nämlich
268
IV. Die Metaphysik der Dialektik
das Verhältnis der Welt der Ideen zur Welt der Erscheinungen bei
Plato oder an die eigentümliche Ordnung, die in dem Reiche der
Ideen herrschen soll. Überall ergeben sich hier Schwierigkeiten und
Probleme, die ihre Voraussetzung in einer logischen Konstruktion,
in einer begrifflichen Spannung, in der Unvollendetheit einer Theorie
besitzen. Solcher begrifflicher Spannungen lassen sich tausende an-
führen. Sie durchziehen in akuter und in latenter Form die ganze
Geschichte und die ganze Systematik der Philosophie. Sie bedingen
die Möglichkeit der theoretischen Weiterarbeit; sie sind die theore-
tischen, die gedanklich abstrakten Antriebe für diese Arbeit.
Daß wir diese Art der Antriebe nicht im Auge haben, wenn wir
nach dem Lebenshintergrund der philosophischen Probleme fragen
bzw. suchen, dürfte nach allem Gesagten ohne weiteres deutlich
sein. Wir können und sollen in der Philosophie nicht anders, als
unseren Problemen eine theoretische Einkleidung zu geben. Das
machen wir auch in dem vorliegenden Falle, wenn wir die Formu-
lierung wählen: Wie sind die philosophischen Probleme überhaupt
möglich? Der Sinn dieser Frage zielt jedoch hin auf einen außer-
theoretischen Tatbestand; er zielt hin, in der Weise der Lebens-
philosophie, auf den Tatbestand des „Lebens“.
Von der Grundlage dieser Sinneinstellung aus geben wir die Ant-
wort: Seinem übertheoretischen Gehalt nach hat das
phil osophische Problem als solches, d. h. das Problem als
Problem in der Unmittelbarkeit seiner Entstehung, seiner Zeugung
und seiner Geburt, seine primäre Bedingung in dem Grund-
gefühl der Angst. Wir meinen nicht eine konkrete Angst, etwa die
um die Erreichung bzw. Bewahrung eines bestimmten Einzelgutes;
wir meinen nicht eine empirische Sorge um dieses oder jenes. Wir
meinen überhaupt keinen empirischen Zustand unserer Seele, keine
Regung oder Erregung, die wir als Mitglieder einer bestimmten
gesellschaftlichen Ordnung, als Angehörige eines Berufes, als Kämp-
fer um ein einzelnes subjektives Ziel hätten bzw. haben. Das
Grundgefühl der Angst, von dem wir hier sprechen, hat
den Charakter eines metaphysischen Urerlebnisses (vgl.
S. 225ff., 229).
Biologie und biologisch orientierte Weltanschauungen pflegen dar-
auf hinzuweisen, daß für die lebenden Wesen ihr Eintritt in die Welt
mit einem tiefen Schrecken, mit einem erschütternden Entsetzen
verbunden sei. Und sie erklären diesen Schrecken durch die un-
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
269
behagliche Plötzlichkeit, mit der das Verlassen des warmen Mutter-
leibes und die ganze gewaltige Veränderung während des Geburts-
aktes erfolgen. Aber auch diesen Schrecken haben wir nicht im Auge,
wenn wir die metaphysische Lebensangst zum Gegenstände unserer
Betrachtungen machen. Denn dieser Schrecken währt nur verhält-
nismäßig kurze Zeit; er weicht dem Gefühl der Anpassung an die
neuen Umstände, so tief er seinerzeit auch gewesen sein mag. Höchst-
wahrscheinlich hat er sich sogar dem Habitus unseres Wesens sehr
stark eingeprägt, und er wirkt in ihm wie eine mit der Tatsache
unseres Lebens gesetzte Mitgift. Aber er ist doch nur die unan-
genehme Folge eines Ereignisses, die bei entsprechender Vervoll-
kommnung der ärztlichen Entbindungstechnik und bei ander-
weitiger Verfeinerung der Rücksichten in bezug auf die Mutter und
das Kind recht wohl abgestellt bzw. von Anfang an unterdrückt
werden könnte. Seine Verminderung oder Beseitigung liegt auf dem
Wege der empirischen Entwicklung. Man kann sich sogar vor-
stellen, daß er durch geeignete Veranstaltungen in ganz starke
Gefühle des Behagens und der Freude verwandelt werden könnte.
Ferner fehlt ihm, wie überhaupt allen vornehmlich biologisch be-
gründeten Erlebnissen und Ereignissen, der Wertcharakter des
Tragischen; was ihm eignet, das ist allerhöchstens der Begleit-
zustand des Unangenehmen, des Mißlichen, des Verstoßes gegen
das Gefühl des Behaglichen.
Immerhin könnte dieser biologisch und physiologisch fundierte
Schrecken als ein Hinweis auf jene metaphysische Lebensangst
gelten; er ist wie ihr äußerer, sinnfälliger, auch dem Tagesbewußtsein
sich aufdrängender Ausdruck, hinter dem noch eine sozusagen jen-
seitige Macht lauert, und in dem diese Macht von sich Kunde gibt.
Aber jener Schrecken ist doch nur eine Art von Zubehör, von Sturm-
zeichen, von Schatten jener Macht. In ihm und durch ihn klagt
aus geheimnisvollen Tiefen ein ewiges Leid, eine ewige Unruhe, eine
ewige Besorgnis von ganz elementarer Natur, eine Besorgnis, die
zu dem Willen zum Leben nicht erst als eine Eigenschaft oder als
eine Folge hinzutritt, die unter bestimmten Bedingungen auch ab-
stellbar wäre. Jene metaphysische Lebensangst ist vielmehr eine
Wesenstendenz in dem metaphysischen Lebenswillen selber; sie ist
ein innerlichster Faktor seiner Verfassung, eine notwendige Voraus-
setzung seines Sinnes, ein unaufhebbares Moment seines Gehaltes,
eine Möglichkeit seiner Entfaltung. Denn in dem Lebenswillen
steckt ganz tief die Dialektik der Unruhe darum, weil er ohne diese
270
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Unruhe sich überhaupt nicht betätigen würde, weil er ohne ge-
heime Angst überhaupt keinWillen wäre. Die völligeSicherheitin bezug
auf sich und auf sein Wollen und in bezug auf die Erreichung seines
Zieles würde ihm seine Dynamik rauben; sie würde einschläfernd
wirken. Eine Angst muß dem Willen im Blute stecken, um ihn
vorwärtszutreiben, um ihn aufzupeitschen; er muß sie in sich
tragen, sie in sich einschalten, um die Frische, um die Quellkraft
seines Strebens, um seine Unermüdlichkeit nicht einzubüßen. Das
ist die Apologie und Teleologie jener Angst.
Denn die Angst, wie wir sie hier im Sinne haben, schwächt und
untergräbt nicht die Energie des Lebens, sondern sie dient dem
Leben zur Förderung. Was wäre das Leben ohne Gefahr, ohne
Einsatz, ohne Risiko? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, heißt
es in einem Spruch der Volksweisheit. Und setzt ihr nicht das
Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein, singt Schillers
Wallensteinsoldat. Die Vorstellung, daß ein Wunsch, daß ein Plan
nicht seine Verwirklichung finden, daß eine Unternehmung fehl-
gehen könnte, wirkt anspornend und Kräfte weckend; sie erhöht
die Verantwortlichkeit und das Maß der Umsicht und der Vorberei-
tungen. Die Möglichkeit eines Versagens, eines Fehlgriffes, eines
Mißerfolges hebt das Selbstbewußtsein; jeglicher Ausschluß eines
Mißlingens züchtet eine spießbürgerliche Sorglosigkeit; die apriori-
sche Gewißheit des Sieges lähmt die Kräfte des Kampfes, macht
überheblich und unlebendig, macht starr und unwachsam. Das
Leben braucht die Bedrohung. Und die tausend und abertausend
Schutzmaßnahmen, Sicherungsversuche, Sicherungseinrichtungen,
die die Natur geschaffen und die Erfindungsgabe des Menschen er-
sonnen haben, was sind sie anders als Belege der Angst gegen mög-
liche Gefährdungen, als Vorkehrungen der Vorsicht gegen mögliche,
nicht vorhersehbare, wie aus dem Hinterhalt heimtückisch hervor-
brechende Überfälle und lästige Angriffe? Neben eine psychologische
und als solche wertungsneutrale Betrachtung der Angst ist eine
ethische Würdigung der Angst zu setzen, um dem Sinn dieses un-
geheueren Phänomens voll gerecht zu werden. Und von der Erkenntnis
ihrer gewaltigen moralischen Bedeutung aus ist kein großer Schritt
mehr zur Einsicht in ihre religiöse und religionsschaffende
Funktion. Sprechen wir jetzt auch davon noch.
b) Eine der großen und auffallenden Einseitigkeiten der sogenann-
ten Lebensphilosophie besteht in der übermäßigen Betonung des Ge-
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
271
dankens, daß dem Leben der Primat gegenüber aller rationalen For-
mung und aller Begrifflichkeit gebühre. Davon war bereits mehrfach
die Rede. Eine zweite, nicht minder große und nicht weniger auf-
fallende Einseitigkeit der Lebensphilosophie ergibt sich aus ihrer
zu einfachen, zu monistischen, fast möchte ich sagen, zu harmoni-
stischen Fassung und Auffassung des Lebensbegriffes. Die Dialektik
des Lebens ruht nicht bloß in der unzertrennlichen Bezogenheit
des Lebens auf die polare Festigkeit der Form — sie zeigt sich nicht
weniger stark auch in einem schweren Antagonismus, in einem ganz
seltsamen Widerspruch, in dem das Leben zu sich selber steht. Die
Lebensphilosophie pflegt das Leben als unendliche Fülle, als all-
gewaltigen Strom, als unwiderstehlichen Schwung, als allmächtige
Kraft anzusehen und, wie ein Hinweis auf Nietzsche oder auf
Bergson lehrt, es deshalb mit entsprechendem Nachdruck zu
preisen. Aber diese Kraft ist doch nur die eine Seite des Lebens.
Das Leben im absoluten Sinne als unbrechbare und schöpferische
Kraft ist nicht der volle Gehalt des Lebens. Das klingt mehr als
paradox. Aber diese Formulierung der Paradoxie trägt ihre Be-
rechtigung auf Grund der realen Paradoxie des Lebens. Denn
das Leben wäre kein Leben, wäre nicht denkbar und möglich,
wenn ihm sein Zuendegehen, wenn ihm seine Vergänglichkeit nicht
innerlichst und ganz notwendig mitgegeben und unverlierbar ein-
gewoben wäre.
Wie ist diese Behauptung gemeint, und wie ist sie zu begründen?
Bekanntlich veranlaßt die Gewißheit des empirischen, des physio-
logischen und psychologischen Abschlusses des empirischen Daseins
durch den äußeren Tod zu zahlreichen rechtlichen, sozialen und
moralischen Vorkehrungen. Daß wir unsern Haushalt bestellen, für
unsere Kinder sorgen, Bestimmungen über unsere Hinterlassenschaft
treffen, das alles sind eigentlich doch eigenartige und paradoxe
Maßnahmen angesichts der Überzeugung, daß dem Leben Absolut-
heit und Allmacht eigene. Sind alle Testamente, ihr juristischer
Charakter hier natürlich beiseite gelassen, etwa Überlistungen des
Lebens oder wenigstens Ansätze und Versuche zur Überlistung des
Lebens, und zwar der Vergänglichkeit des Lebens? Ist aber mit der
Inangriffnahme einer solchen Überlistung nicht bereits die Ver-
gänglichkeit des Lebens zugegeben, und zwar als durchaus positiver,
dem Leben selber zugehöriger Bestandteil des Lebens selber?
Testamente sind Sicherungen, sind Versicherungen des Lebens
gegenüber dem Mutwillen des Lebens, gegenüber irgendwelchen
272
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Eingriffen. Was könnten jene Sicherungen aber leisten, welche
Gewähr könnte ihnen innewohnen, wenn das Leben absolut wäre,
wenn seine Kraft die ausschlaggebende Dominante wäre ? Wir kleinen
und vergänglichen Menschen wagen das Unternehmen, das Grund-
phänomen des Lebens durch willkürliche Festsetzungen unsererseits
zu bevormunden, es irgendwie in Fesseln zu legen, es sich nach
unserem Willen richten zu lassen? Haben wir damit nicht bereits
die ungeheuerliche Voraussetzung gemacht oder die ungeheuerliche
Forderung erhoben, daß das angeblich allgewaltige Leben dennoch
seine Urkraft nicht restlos zu entfalten, seinen Strom nicht ohne
Behinderung dahinrasen zu lassen vermag? Haben wir damit nicht
die ungeheuere Voraussetzung gemacht, daß das allgewaltige
Leben, dieses Grundphänomen aller Erscheinungen, trotz-
dem in sich — eine Schwäche trage?!
Jetzt klärt sich unser Gedanke der Lebensangst noch mehr.
Wovor fürchten wir uns eigentlich? Doch nicht vor der über-
wältigenden Größe und Pracht des Lebens! Wäre das Leben durch-
aus absolut, umspannte es uns und alle Erscheinungen mit aus-
nahmsloser Macht und Herrlichkeit, dann wären wir in ihm aufs
beste geborgen. Dann erzeugte und trüge, dann nährte und sicherte
es uns und alles Sein mit seinem unendlichen Strom und Reichtum.
Was brauchten wir dann zu sorgen und uns zu ängstigen? In diesem
Strom aber sind Sandbänke, in diesem Meere sind Klippen; in dieser
angeblichen Allgewalt steckt eine Schwäche, wuchert eine Unvoll-
kommenheit: ln die Unvergänglichkeit des Lebens ist seine Ver-
gänglichkeit sinnhaft eingebettet. Daß das Leben irgendwie doch
nicht ganz Leben, daß seine Kraft irgendwie doch nicht restlos Kraft
ist, daß unser Vertrauen, das wir ihm und seiner Kraft entgegen-
bringen, irgendwie getäuscht und gelähmt werden könnte, daß
dieses urmächtige Leben seinen Gegner in sich hat, daß es zu sich
selber antagonistisch und dialektisch steht, das erweckt das Grauen
vor ihm, das entzündet die Lebensangst.
Kein jämmerliches Wimmern, kein jammerndes Greinen. Son-
dern ein tiefes Ergriffensein, ein Zittern um das Leben und um uns
und um alles Sein steckt in dieser metaphysischen Lebensangst.
Ebenso wie wir zittern, wenn wir das Schicksal eines großen Men-
schen in einer Dichtung verfolgen, ebenso wie wir ergriffen sind nicht
sowohl angesichts der Tatsache seines Unterganges, sondern vielmehr
angesichts der Notwendigkeit dieses Unterganges. Und wie nicht
der Untergang als solcher, sondern seine Unvermeidlichkeit das
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
273
Wesen des echten Tragischen ausmacht, so löst auch die Erkenntnis
dieser Schicksalsnatur eines Unterganges' eine Angst von ganz
tragischer Natur aus. Und jene metaphysische Lebensangst, von
der wir hier sprechen, ist von tragischer Lebensstimmung ganz
erfüllt. Da diese Lebensstimmung jedoch tragischen Charakter hat,
besitzt sie zugleich das Gepräge und alle Züge des Heroismus. Die
Stimmung des glaubensvollen Dennoch gehört zu ihren Wesens-
merkmalen. Die heroische Seelenhaltung ruht auf dem Mut zum
Wagnis; in ihr lebt und wirkt eine tiefe Freiheit und eine entschie-
dene sittliche Selbständigkeit, und zwar schon darum, weil sie von
der Sorge um das Gelingen oder Mißlingen eines Planes oder einer
Unternehmung nicht beschwert ist. In dieser Freiheitsstimmung und
Selbstgewißheit, die um den Ausgang nicht bangt, ja, die nach dem
Ausgang überhaupt nicht fragt, ist die heroische Seelenhaltung
gleich weit entfernt von den primitiven Stimmungen und Welt-
anschauungen, die wir als Optimismus bzw. als Pessimismus zu be-
zeichnen pflegen.
In jedem Optimismus bzw. Pessimismus ist, bedingt durch
den naiven Dogmatismus, auf dem sie sich gründen, eine — fast
unmoralische — Befangenheit enthalten; beinahe möchte ich von
einer Feigheit sprechen, die in ihnen zum Ausdruck gelangt. Denn
von Anfang an haben sie eine unfreie Entscheidung in bezug auf
das Ende, in bezug auf den Schlußpunkt gefällt. Sie wagen es nicht
frisch darauf los, sondern stützen und sichern sich, statt die Kraft
des Lebens und der Seele autonom dahinströmen zu lassen, durch
eine vorgefaßte Ansicht über das Wesen und den Wert der Wirk-
lichkeit. Der Optimismus wiegt sich in dem Behagen, daß alles in
der Welt gut eingerichtet sei oder wenigstens zu einem guten Ziele
führe; der Pessimismus leidet unter dem unfrohen Druck der Über-
zeugung von der Schlechtigkeit der Welt. So berührt die Erwägung
recht seltsam, welche von beiden Weltauffassungen als die eigentlich
moralische zu gelten habe oder ob mit dem Gedanken der Notwendig-
keit ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander erst der wahre
moralische Gesichtspunkt für eine angemessene Lebensanschauung
und Lebensbewertung gewonnen sei. Sowohl im Optimismus als im
Pessimismus bekundet sich eine seelisch und moralisch und intel-
lektuell gebundene Geisteshaltung. In ihnen bekundet sich durch
die einseitige und positive Entscheidung, die sie über das „Wesen“
der Wirklichkeit getroffen haben, ein Determinismus des Urteils
und eine charakteristische Unfreiheit der Gesinnung. Diese Züge
Liebert, Dialektik. 18
274
IV. Die Metaphysik der Dialektik
geben ein Recht zu der Behauptung, daß jene Weltauffas-
sungen viel mehr in psychologisch begründeten, also bereits fest-
gelegten Gemütszuständen ihre Wurzel haben als in jener Geistes-
freiheit, die die Voraussetzung einer wahrhaft sittlichen Lebens-
anschauung bildet. Sie behaupten, die Welt ist gut bzw. schlecht
oder in der fiktionalistischen Wendung: der Optimist sieht die Welt
so an, als ob sie gut, der Pessimist sieht sie so an, als ob sie schlecht
wäre. Aber ob so oder so: In jedem Falle liegt eine dogmatisch vor-
gefaßte Entscheidung und eine Beengung in der selbstverantwort-
lichen Auseinandersetzung mit der Problematik der Welt vor. Wie
jedoch kann angesichts dieser Sachlage dem Optimismus bzw. dem
Pessimismus die Bedeutung sittlicher Standpunkte eingeräumt
werden? Sind sie nicht höchstens Objekte ethischer Untersuchun-
gen? Ihnen ist an der Welt oder in der Welt nichts mehr „fraglich“.
Für sie ist in der Welt und an der Welt alles — im Sinne ihrer
Theorie — festgelegt, und sie selber sind — im Sinne ihrer Theorie —
sowohl in ihrer Problemstellung als in dem Geiste ihrer Antwort
nicht minder festgelegt: Sie sind — eben als Theorie — nichts
weniger als frei. In ihnen lebt nicht der kritisch-sittliche Geist, der
vor jeder Entscheidung die Kraft besitzt, die ganze Welt „in Frage
zu stellen“, jener heroische Geist, der so frei ist, jenseits jeder Bin-
dung zu stehen, jener heroische Geist, der hinreichend Mut besitzt,
um nicht die Entscheidung, sondern den Kampf zu lieben. Ihr
Wesensmerkmal ist schon in logischer Hinsicht eine vorzeitige und
vorschnelle Beschwichtigung der heroischen Lebensangst. Kann
man nicht sagen, sie ängstigen sich vor der Lebensangst, und zwar
so stark, daß sie ihr durch eine dogmatische Sicherstellung in bezug
auf den Wert oder Unwert des Lebens ausweichen? Sie sind nichts
weniger als heroische Geisteshaltungen, der Pessimismus so wenig
wie der Optimismus. Alle ihre Spielarten und alle ihre Mischformen
liebäugeln mit dem Gedanken der Ruhe, der Ergebung. Sie alle
tragen als Grundtendenz das Bestreben in sich, die aufreizende
Dialektik des Lebens durch den Dogmatismus eines positiven bzw.
negativen Werturteils zu harmonisieren, die sittliche Freiheit der
Stellungnahme in einen bequemen Determinismus umzubiegen, dem
reizvollen antinomischen Tumult des Daseins die Bergung in die
Einseitigkeit einer Entscheidung vorzuziehen. Nicht die heroische
Einstellung der Problematik, sondern eine sich der Freiheit des
Wagnisses und dem Wagnis der Freiheit entschlagende bürgerliche
Gesinnungsrichtung spricht aus ihnen.
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
275
Nur der Heroismus dagegen hat die Kraft zu rückhaltloser und
offener Bejahung der Lebensangst. Für ihn ist das Leben nicht
durch eine Entscheidung, nicht durch eine Bindung, nicht durch
einen so oder so gearteten Abschluß beglaubigt und gesichert. Er
fragt nicht, ob das Leben gut, ob es schlecht, ob der Verlauf seines
Sinnes auf Gewinn oder auf Verlust, auf Glück oder auf Unglück
gerichtet sei. Das Leben selber ist für ihn in einem viel zu hohen
Verstände Frage, Wagnis, Unsicherheit, Spiel, Freiheit, Dialektik,
als daß er eine Beruhigung und Antwort, eine Sicherung und Be-
freiung auf einem anderen Wege als auf dem, der zur Religion
führt, erwarten könnte.
Nur wer bis in den Kern seines Wesens und seiner Gesinnung
hinein die Geisteskraft des Heroismus in sich lebendig fühlt, vermag
den Gedanken der ewigen Dialektik und Problematik des Lebens
zu denken und zu ertragen. Nur ein solcher Charakter hat die
seltene Fähigkeit, diesen Gedanken nicht durch eine optimistische
oder pessimistische Theorie zu verwässern. Nur wem das Leben
bis in die letzte Tiefe einmal zum „Problem“ geworden, nur wer
einmal gewagt hat, hinter alles Leben, mag es als gut oder als
schlecht gewertet werden, mit heroischem Entschluß ein Frage-
zeichen zu setzen, nur wer einmal von allem Drang und Zwang
des Daseins innerlichst frei geworden ist, nur wer der Entscheidung
gegenüber gleichgültig wurde, ob dem Leben mehr Glück und Lust
oder mehr Unglück und Unlust innewohne, der nur vermag jene
höchste Freiheit auszuüben, die vor der Erhebung zur Religion sich
bekundet. Wer die tragische Angst um das Dasein, wer die zer-
quälende Sorge um das Leben nicht wirklich durchkämpft hat oder
vielleicht auf Grund einer auf Ausgleich und Harmonie angelegten
Wesensverfassung überhaupt nicht wirklich zu durchkämpfen vermag,
wer den furchtbaren Kampf, den diese Angst mit sich bringt, nicht
durchfechten kann, der wird niemals in das Heiligtum der Religion
eintreten. Ohne Golgatha keine Erlösung; ohne Passionsweg keine
Heiligung; ohne Angst und Sorge keine Verklärung; ohne Ver-
zweiflung kein Aufstieg; ohne ein Hindurchgehen durch alle Win-
dungen und Nöte der Problematik keine wirkliche und endgültige
Überwindung der Dialektik. Die überempirische, die metaphysi-
sche Spannung der Lebensangst fordert und erreicht eine restlose
Entspannung nur in jener Lösung, die aus dem Geiste der religiösen
Freiheit, d. h. aus dem Geiste unbedingter Erhebung über alle
18*
276
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Ängste und Sorgen, über alle Dialektik und Problematik stammt.
Aber der Geist dieser Freiheit vermag auch umgekehrt seine Kraft
von Grund aus nur dem zu entfalten, er kann seinen Sinn nur
dem bewähren, wem das Leben wirklich zum Problem geworden
war, wen die Angst des Lebens nicht wie eine gelegentliche Stimmung
und Laune ergriffen hatte, sondern über den sie mit der Größe
und mit der Großartigkeit einer unwiderstehlichen Schicksalsmacht
hereingebrochen war. So rechtfertigt sich die obige Behauptung
von der religiösen und der religionsbildenden Wichtigkeit der meta-
physischen Lebensangst (S. 275). Gewiß ist sie nicht die einzige
Wurzel und Quelle der Religion. Denn die Religion hat mehr als
nur eine Voraussetzung. Das Wesen und die verschiedenartige Be-
deutung dieser Voraussetzungen aufzudecken und zu klären, gehört
zu den Aufgaben einer systematischen Religionsphilosophie, mit der
wir es hier nicht zu tun haben. Uns war lediglich daran gelegen,
in der metaphysischen Lebensangst eine der Vorbedingungen der
Religion auszuzeichnen und darauf hinzuweisen, daß dieses Er-
lebnis keine untergeordnete Rolle in dem Haushalt der Religion
spielt.
c) Ein Bedenken jedoch taucht auf. Handelt es sich bei allen
diesen Erörterungen über das Wesen der Lebensangst als eines der
seelischen Urerlebnisse nicht um müßige und hinfällige, weil gegen-
standslos gewordene metaphysische Spekulationen? Kommt dem
Begriff der Lebensangst für uns noch eine lebendige Bedeutung zu?
Oder gehört sie nunmehr nicht in die Reihe wesenloser Schemen
und Schatten ? Man könnte vielleicht noch das Zugeständnis machen,
daß die Beschäftigung mit ihr ein gewisses antiquarisches, auch
wohl ethnologisches Interesse habe, insofern als bei primitiven
Völkern und bei einer primitiven Weltanschauung die Furcht vor
Dämonen, vor Gespenstern, vor unerklärlichen, dem Menschen
feindlich gesinnten Gewalten eine solche Angst entstehen ließe und
wachhalte. Hat aber der Fortschritt der wissenschaftlichen Er-
kenntnis und der unwiderstehliche Gang der Aufklärung durch die
zunehmende Einsicht in die undurchbrechbare Geltung und in die
eiserne Notwendigkeit der allwaltenden Naturgesetze jene Angst
nicht endgültig verbannt? Wo sie noch herrscht, ist sie da mehr als
ein atavistisches Überbleibsel, als ein Zeichen rückständiger Senti-
mentalität oder als der offenkundige Ausdruck einer nervösen, einer
pathologischen Gemütsverfassung? Die vorschreitende wissen-
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
277
schaftliche Bildung ist, so könnte gegen die Behauptung, daß auch
uns die Lebensangst noch umschnüre, eingewendet werden, gleich-
bedeutend mit einer vorschreitenden Rationalisierung und Intellek-
tualisierung der menschlichen Gesinnung. Diese Entwicklung jedoch,
die der Geschichte der europäischen Kultur den unverkennbaren
Stempel aufprägt, führt zwangsläufig zu einer radikalen Ver-
scheuchung aller gemütsmäßigen Unsicherheiten und aller irratio-
nalen Dumpfheiten. Damit sei dann auch die Wurzel ausgerodet,
aus der die Lebensangst erwachse. Und wenn auch die Erkenntnis
der strengen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen, seien es Er-
scheinungen der physikalisch und chemisch bestimmten Natur, seien
es solche der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, einge-
standenermaßen auch nicht vollendet sei, so ist eine solche Er-
kenntnis doch das Ziel aller wissenschaftlichen Bemühungen, sie ist
sowohl ihr intellektuelles als auch ihr moralisches Ziel, und jeder
Schritt auf dem Wege zu diesem Ziel ist zugleich ein Schritt auf
dem Wege zur Verminderung und schließlichen Tilgung alles Irra-
tionalismus und aller Lebensangst.
Hand in Hand mit der inneren Rationalisierung der Gesinnung,
des Gefühlslebens, der Sittlichkeit des europäischen Menschen
schreite ferner die ungeheuere Rationalisierung seines äußeren Da-
seins, das immer mehr von erstaunlich durchorganisierten, technisch
glänzend aufgezogenen und mit vollkommener Zuverlässigkeit ar-
beitenden Sicherungen getragen und umfangen werde. Wohl läßt sich
nicht ausmachen, wem der Vorrang, wem die Überlegenheit zu-
komme, ob jener Rationalisierung und Organisierung des europäi-
schen Gemütes oder jener Vertechnisierung des äußeren, des poli-
tischen, des rechtlichen, des wirtschaftlichen, des bildungsmäßigen
Daseins. Doch sehen wir, daß beide Entwicklungsreihen einander
deutlich entsprechen, daß sie nicht nur nebeneinander herlaufen,
sondern sich auch unauflöslich und aufs tiefste beeinflussen. Ist
aber Inneres und Äußeres durch lückenlose Organisationen umspannt
und in ihnen und durch sie verfestigt, dann müsse es als ein nich-
tiges Spiel betrachtet werden, wollte man sich die organisatorisch
und technisch verbürgte Ruhe des Lebens auch nur durch die
leiseste Besorgnis schmälern oder rauben lassen.
Suchen wir, um möglichst unparteiisch zu sein, diese Einwände
gegen die Wertung der Lebensangst noch weiterzuführen.
Im Verlaufe des 17. Jahrhunderts bildete sich, wie allgemein be-
kannt, auf Grund der Entstehung der modernen mathematischen
278
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Naturwissenschaften eine ausgesprochene und kraftvolle mathema-
tische, also rationalistische Konstruktion und Auffassung der Wirk-
lichkeit aus. In dieser Auffassung und durch sie triumphierte der
Gedanke der einheitlichen, durch die Wissenschaften logisch zu be-
wältigenden, weil überhaupt logischen Gesetzlichkeit alles Seienden.
DieserGesetzlichkeitwurdediezartesteSeelenregungebenso unterstellt
wie die Existenz des Staates und der menschlichen Gesellschaft.
Die philosophisch bedeutendsten Niederschläge dieser Konstruktion
und der ihr zugrunde liegenden Gesinnung sind die großartigen
Systeme von Descartes und von Hobbes. Wir nennen sie klas-
sisch, und zwar mit doppeltem Recht. Erstens pflegen wir in jenem
mathematisch-physikalischen Rationalismus gewohnheitsmäßig die
„klassische“ Geisteshaltung und die „klassische“ Betrachtungsweise
der Erscheinungen zu erblicken. So sprechen wir von der „klas-
sischen“ Physik oder von der „klassischen“ Nationalökonomie
darum, weil diese Wissenschaften nach dem Vorbild des mathema-
tischen Rationalismus gebaut sind. Ferner besitzen jene philoso-
phischen Systeme auch darum Anspruch auf die Bezeichnung des
Klassischen, weil sie mit einzigartig umfassender Kraft den ganzen
Geist des aufklärerischen Rationalismus wäderspiegeln, weil sie
diesen Geist in ihrer Methode, in ihren Voraussetzungen und ihren
Ergebnissen auf das treueste zum Ausdruck bringen. Kein Zug in
diesen philosophischen Leistungen, aus dem der mathematisierende
Rationalismus nicht zu uns spräche, der nicht mit „klassischer“
Vollkommenheit ein logischer Abdruck jenes Geistes wäre. Durch
die ungeheuere logisch-naturwissenschaftliche Weltkonstruktion sei
nun dem irrationalistischen Glauben an das Walten und Wirken ge-
heimer und unheimlicher Mächte, der in dem mittelalterlichen Welt-
bild als mitbezeichnende Tönung enthalten war, der Boden ent-
zogen. Mit freier Verstandeskraft und mit dem allgültigen Werk-
zeug mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis steht der
neue Mensch der Wirklichkeit gegenüber, gegründet in der Gewiß-
heit, alle Erscheinungen durch dieses Werkzeug theoretisch und
praktisch meistern zu können.
Was braucht er hinfort also noch Angst zu hegen? Wo könnte
es in dieser rationalen Welt, in dieser rationalen, restlos begreiflichen
Weltgesetzlichkeit, in diesem mit mathematischer Vernunft aus-
gestatteten Kosmos einen dunklen Winkel geben, aus dem eine
unfaßliche, für die Erkenntnis problematische Macht hervorzu-
brechen vermöge ? Und ist es nicht eine schon durch bloße Erfahrung
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
279
leicht belegbare Tatsache, daß es gegen alle Angst kaum einen
stärkeren und entscheidenderen Gegner gibt als die die Nebel der
Unheimlichkeit und die Besorgnis vor dem Kommenden verscheu-
chende Erhellung der Welt durch feste Erkenntnis, besonders in der
kristallklaren Form und in der schneidenden Schärfe mathematischer
Begrifflichkeit ? Vor dem Auge des modernen Menschen spannt sich
die Wirklichkeit als eine gegen jeden willkürlichen und transzendenten
Eingriff restlos gesicherte Einheit und Gesetzlichkeit aus. Nur die
Kraft der Vernunft wirkt in ihr, also keine mystische, keine uner-
klärliche, keine in schwarze Einsamkeiten gehüllte Macht, sondern
eine Macht, über die wir widerspruchslos gebieten mittels der un-
vergleichlichen Waffe der Erkenntnis. Nichts vermag sich dem Schnitt
dieser Waffe zu entziehen: die mathematische Analyse der Erschei-
nungen deckt die Gesetzesstruktur alles Seienden auf; die Annahme,
daß in diesem Seienden ein nicht auflösbarer Rest, ein besorgliches
Problem hätte übrigbleiben können, ist unstatthaft geworden; es
scheint sonnenheller Tag zu werden bzw. geworden zu sein. Mit der
„Problematik“ des Lebens ist auch die Angst vor dem Leben ge-
schwunden oder mußte schwinden. Da das Buch der Natur in geo-
metrischen Figuren, also in zahlenmäßig ausdrückbaren Gebilden,
geschrieben ist, wie nach dem Vorgänge Galileis alle großen Natur-
forscher und Philosophen jener Zeiten behaupteten, ist die Natur,
ist das Leben so klar strukturiert, sind alle Vorgänge in ihrem
Wesen und in ihrem Werden so eindeutig verankert und gesichert,
daß uns das furchtlose Selbstbewußtsein jener Geschlechter ohne
weiteres erklärlich wird. Und diese Freiheit und Furchtlosigkeit,
diese Unbefangenheit und rationale Selbständigkeit hatten sich von
ihrer intellektuellen Voraussetzung aus schließlich zu allgemeinen
sittlichen Forderungen erweitert und verstärkt. Aus der theoreti-
schen Freiheit der Vernunft ist eine Weltanschauung, ist eine Welt-
überzeugung hervorgegangen, für die die Idee der sittlichen Freiheit
ebenso Grundlage wie Ziel ist, und die mit vollkommenem Erfolge
dahin gestrebt hat, diese Idee dem Gewissen der modernen Men-
schen einzuprägen, das ganze Wesen und alle Leistungen des mo-
dernen Menschen in dieser Freiheit zu verankern und durch sie
beglaubigen zu lassen.
d) Den Höhepunkt in dieser unentwegten Logisierung und ratio-
nalen Vereinfachung des Weltbildes und in der dadurch bewirkten
rationalen Beruhigung und Sicherung des Gemütslebens bildet über
280
IV. Die Metaphysik der Dialektik
die Zwischenstufen Leibniz, Wolf, Lessing, Aufklärung, Kant
schließlich das System Hegels. So sehr auch Hegel seinen Gegen-
satz zu der sogenannten ,,Bewußtseinsphilosophie“ des Descartes,
die er im subjektivistischen Sinne verstand und wohl auch —
mißverstand, betonte, so ist sein Vernunftmonismus, sein Pan-
logismus dennoch die folgerichtige Zusammenfassung einer phi-
losophischen, weltanschaulichen, wissenschaftlichen und allgemein-
geistigen Entwicklung von etwa zwei Jahrhunderten. Dieser Pan-
logismus deutet die Wirklichkeit als die einheitliche, mit un-
widerstehlicher Konsequenz sich durchsetzende Entfaltung des
Bewußtseins der Freiheit und der Freiheit des Bewußtseins;
sie ist ihm ein einziger Vernunftorganismus und eine einzige Ver-
nunftorganisation; in ihr erstrahlt die Helligkeit des Wissens mit
immer mehr wachsender Stärke. In diesem allumfassenden Prozeß,
in dieser sich ständig steigernden Verwirklichung der Herrschaft der
,,ldee“, in dieser Selbstoffenbarung der Vernunft schwindet vor der
Fackel des absoluten Geistes alles Dunkel, werden alle Probleme
gelöst. Eine der kühnsten und charakteristischsten, aber aus den
Voraussetzungen des Hegelschen Systems sich notwendig ergebenden
Behauptungen besteht in der wiederholt ausgesprochenen Über-
zeugung, daß die Vernunft als die Schöpferin und Trägerin aller
Probleme naturgemäß imstande sein müsse und tatsächlich auch
imstande ist, alle Probleme zu lösen. Das Werkzeug für diese Lösung
ist bekanntlich die dialektische Methode in der Sondergestalt, die
Hegel der Dialektik gab. Mittels dieses Verfahrens hebt die Ver-
nunft schließlich alle Probleme auf, und zwar dadurch, daß sie deren
Vernunftgehalt immer mehr zur Erkenntnis bringt. Also dringt
diese Dialektik nicht sowohl in den urwüchsigen Problemsinn der
Vernunftprobleme als vielmehr in ihre rationale Aufhebbarkeit ein;
diese Dialektik versenkt sich nicht in die Tiefe der Probleme, steigt
nicht bis in ihre Irrationalität herab. Die Vernunft „überlistet“ viel-
mehr alle Problematik, säubert die Welt von dem — Hegel so unsym-
pathischen, ja verhaßten — Glauben an die Realität und Selbstän-
digkeit des Irrationalen. Diese Dialektik ist ein allmächtiges Auf-
klärungs- und Sicherungsorgan; sie räumt im rationalen Sinne auf
mit dem Glauben an logisch irgendwo und irgendwie unerfaßliche
Bestände der Wirklichkeit.
Wie ganz antidialektisch diese Hegelsche Dialektik vorgeht, wie
ganz undialektisch sie Hegel versteht, wie ganz unangemessen zu
ihrem Begriff sie von Hegel genommen wird, wie unzutreffend die
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
281
Ansicht ist, die gerade in diesem Philosophen den wahren Dialek-
tiker erblickt, das wird uns noch eingehend zu beschäftigen haben
(vgl. S. 306ff.). Hier interessiert uns nur die für unseren Zweck nicht
genug zu bewertende Tatsache, daß die Dialektik bei Hegel und
für Hegel nicht eine problemaufwerfende, nicht eine in Probleme
verstrickende, sondern eine problembeseitigende Rolle spielt. Sie
wirkt durchaus im Geiste jenes aufklärerischen und mathemati-
sierenden Rationalismus, von dem oben die Rede war, mochte
Hegel seinen Abstand von ihm noch so sehr betonen.
Das zeigt sich mit aller Deutlichkeit natürlich in der Hegelschen
Oeschichtsphilosophie. Über die Größe dieser Leistung soll kein
Wort verloren werden. Der Begriff der Geschichte ist hier mit
seltener Kraft gepackt. Aber gepackt doch eben unter den ein-
schränkenden Bedingungen des konstruktiven Panlogismus. Dasheißt,
das von ihm gezeichnete Weltbild ist nicht erst in der Ausführung,
sondern bereits in der Anlage zu einfach, zu schematisch — es ist
mit einem Wort zu ruhig. Aber gerade in diesem Umstand spricht
sich eine geistige Grundeinstellung aus, die von der charakteristi-
schen Gewißheit erfüllt ist, daß die Bewegungen und Spannungen
des geschichtlichen Lebens schließlich doch immer wieder von der
Vernunft beherrscht und überwunden werden. Der Vernunft wird
stets der endliche und endgültige Sieg zufallen; ihr Licht verscheucht
alle Widrigkeiten und damit auch alle Besorgnisse. Die Dialektik der
Geschichte wird an der versöhnenden Kraft des vernünftigen Geistes
geheilt; ihr Spiel zerstiebt; sie gibt sich selber auf; am Ende
erstrahlt nur die reinigende Herrlichkeit der absoluten Idee.
Je tiefer der Blick in Hegels Geschichtsmetaphysik eindringt,
um so klarer wird die Erkenntnis, daß bei ihm die Dialektiknicht zum
Wesen, nicht zum Innern der Vernunft gehört. Denn die Ver-
nunft in der Auffassung und Darstellung Hegels ist viel zu sehr
gefestigte Einheit, sie ist viel zu sehr sich selbst und alle Erschei-
nungen sichernde und erlösende Bindung, als daß sie sich selbst
auch in ihrem Wesen und Gehalt der Gefahr der Dialektik und der
Bejahung der Problematik der Welt auslieferte. Die Hervorhebung
des dialektischen Charakters alles Geschehens gilt nur der Außen-
seite, gilt nur der Geschichte des Geschehens. In ihrem Sein hin-
gegen bleibt die Wirklichkeit, d. h. die Vernunft, unbehelligt, un-
bedroht von aller Dialektik. Im Grunde ist für Hegel also der
Kampf, der sich in der geschichtlichen Wirklichkeit abspielt, im
Grunde sind die Reibungen und Antinomien des Lebens gar nicht
282
IV. Die Metaphysik der Dialektik
so gefährlich, sie greifen nicht so tief ein, daß sie die Vernunft-
substanz selber zernagen könnten. Überall setzt sich die Stimmung
des Ausgleichs, setzt sich der Wille zur Lösung, zur Entspannung
durch. Im Grunde trägt das Spiel der Vernunft nicht jenen restlos,
nicht jenen erbarmungs- und rettungslos tragischen Charakter,
der sich in der sinnlichen Wahrnehmung darbietet. Das philoso-
phisch vertiefte, das durch die absolute Erkenntnis geschärfte Auge
gewahrt überall die ruhige Erhabenheit eines vernünftig zusammen-
geschlossenen, eines zur Vernunft zusammenschließbaren Werdens,
das seines Weges und seines Zieles sicher ist. Ihm ist die Vollendung
nicht eine unerreichbar ferne Aufgabe, nicht ein bloßes Postulat,
zu dem der Mensch mit dem schmerzlichen Bewußtsein, es doch
nie erreichen, es doch nie verwirklichen zu können, aufblickt. Eine
solche tragische Dialektik wohnt dem Werden nach Hegel nicht
inne. Sondern überall und immerfort gestaltet sich die Vollendung,
realisiert sich die Idee, gelangt das Werden zur Harmonie, spricht
es sich in harmonischen Gebilden aus. Der Panlogismus der speku-
lativen Philosophie ist mit der humanistischen Weltansicht inner-
lichst verbunden.
Und da wir Menschen der Erreichung der Vollendung gewiß
sein können, da wir von der allmächtigen Kraft der sich und uns
vollendenden Vernunft getragen werden, so strahlt von dieser
Philosophie eine unverkennbare Beruhigung der Dialektik, eine
tröstliche Stillung aller etwaigen Besorgnis aus. Sie sucht mit
ihren Gedankengängen uns davon zu überzeugen, daß wir zu dem,
was wir als Vorstellung unserer moralischen Verpflichtung in uns
hegen, auch wirklich kommen werden, daß die Antinomie zwischen
Idee und Erfüllung, zwischen Sollen und Sein ihre Aufhebung findet.
Schon das philosophische Erfassen und Durchschauen dieser Anti-
nomie ist ein großer Schritt auf dem Wege zu ihrer Beseitigung.
Denn jenes Erfassen ist ein Akt, ist eine Tat der Vernunft; in ihm
erkennen wir die Vernunft in dieser Antinomie; in ihm erkennen
wir, daß die Antinomie keine endgültige und keine selbständige
Größe ist, daß sie, wie sie aus der Tätigkeit des vernünftigen Geistes
stammt, auch in dieser Tätigkeit ihre Aufhebung erfährt: die Ver-
nunft bewältigt alle Probleme schon dadurch, daß sie sie stellt.
Wer sich unter den Einfluß dieser Hegelschen Deutung des Ver-
laufes und des Sinnes des Weltgeschehens stellt — und dieser Ein-
fluß reicht weit hinaus über die im engeren Sinne sich mit der Philo-
sophie Beschäftigenden —, wer den humanistischen und harmoni-
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
283
stischen Geist jener harmonisierenden Vernunftphilosophie in sich
aufgenommen hat, über den muß in der Tat die Stimmung der
Ruhe, die Gewißheit der Überwindung aller dialektischen Auf-
gewühltheit kommen. Und somit gehört auch Hegel, und gerade
er mit in erster Linie, zu den Helfern gegen alle Lebensangst. Ihr
ist gerade durch ihn auch von der Seite der Philosophie aus der
Boden entzogen worden.
e) Ist also die Behauptung nicht vollauf gerechtfertigt, daß die
wissenschaftliche und philosophische Entwicklung der Zeit von
rund 1600 bis zu Hegels (und Goethes) Tode, d. h. bis 1831
(bzw. 1832) dem Begriff der Lebensangst allen Inhalt und alle ob-
jektive Gültigkeit genommen hat? Jener beunruhigende Seelen-
zustand konnte grundsätzlich doch nur so lange in uns lebendig
bleiben, als wir noch nicht über das Rüstzeug verfügten, das uns
in den Stand setzte, mit der Problematik der Welt theoretisch und
praktisch fertig zu werden (vgl. S. 275). Hat, wie wir soeben sahen,
die gewaltigste Geschichtsmetaphysik, die der modernen Philo-
sophie geglückt ist, sogar die aufbohrende Frage nach dem ,,Sinn“
der Welt nicht sowohl als ein ewiges Problem denn vielmehr als
eine auch dem endlichen Menschengeiste erreichbare Antwort und
Lösung behandelt? Von allen Seiten kamen Sicherungen, auf allen
Gebieten erhöhten sich die Sicherungen, um das Wagnis des Lebens
auf ein Mindestmaß herabzudrücken, um den Einsatz des Lebens
möglichst schnell in einen Gewinn zu überführen, von der leben-
sichernden Organisation des Staates angefangen bis zu Hagel- und
Viehversicherungen hin. Die Gesetzlichkeit des Irdischen wurde uns
sowohl von der konkreten Wissenschaft als durch die Spekulationen
der Philosophie so einwandfrei aufgedeckt, daß unsere Arbeit sich
ihm mit beruhigtem Vertrauen zuwenden durfte und zugewendet hat.
Mit den Ausführungen auf den vorangehenden Seiten glauben
wir in der Hauptsache die wichtigsten, die nächstliegenden und
die eindrucksvollsten Gegengründe, die sich gegen die „Philo-
sophie der Lebensangst“ anführen lassen, zusammengestellt zu
haben. Prüfen wir nun ihr Gewicht.
Es wird rückhaltlos zugegeben werden müssen, daß jene Be-
ruhigung eingetreten — war, und daß Wissenschaft (und die aus
ihr hervorgehende Technik) und Philosophie in der Richtung der
Verstärkung und Festigung dieser Beruhigung gewirkt haben. Diese
Entwicklung spricht sich auch in der einzigartigen Entschlossenheit
284
IV. Die Metaphysik der Dialektik
aus, mit der die Ansiedelung im Diesseits und die Zuwendung zu
den positiven und konkret-praktischen Aufgaben in Angriff genom-
men und durchgesetzt wurden. Ohne Bedenken, ohne irritierendes
Schwanken gab man sich den Arbeiten hin, die für die Bemeisterung
des empirischen Daseins erforderlich waren. Seelisch und welt-
anschaulich bekundet sich diese Entwicklung in der Entstehung und
Ausbildung eines ungemein starken Realismus, der eigentlich auf
allen Gebieten zur Herrschaft kam, nicht nur auf dem Felde der
Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft.
Dieser kraftvolle Realismus der Gesinnung, der auch durch die
— doch nur Episode gebliebene — Romantik im ersten Drittel des
19. Jahrhunderts nicht erschüttert wurde, ist keineswegs unver-
einbar mit dem Idealismus unserer klassischen Periode. Es ist
überhaupt eine oberflächliche Ansicht und Behauptung, die dahin
geht, daß zwischen Realismus und Idealismus eine grundsätzliche
Kluft bestehe. Eine grundsätzliche Kluft liegt nicht vor. Höchstens
eine Verschiedenartigkeit im einzelnen und in gewissen einzelnen
Handlungen und Wendungen. Alle Vertreter des Idealismus drängen
vielmehr, wie jeder Blick in ihre Schriften lehrt, auf die Bekundung
einer durchaus aktivistischen Geisteshaltung; und sie suchen die
Möglichkeit und das Recht dieses Aktivismus durch seine Verwur-
zelung in den denkbar sichersten Bürgschaften, nämlich in der Kraft
des Geistes und in den aus dieser Kraft hervorgehenden „Ideen“,
zu beglaubigen. Die „Ideen“ des Geistes bedeuten ja nicht will-
kürliche und luftige Einbildungen, sie bedeuten nicht leicht zu be-
seitigende Gebilde schwärmender Spintisiererei oder krause An-
nahmen und Forderungen weitabgewendeter Grübelei, die ihre Her-
kunft und ihren Wohnsitz in Wölkenkuckucksheim hätten: sie sind,
nach einem schönen Worte Platos, die stählernen und eisernen
Klammern für alles Seiende. Aus den „Ideen“ stammen die tech-
nischen Errungenschaften der Neuzeit; aus der „grauen Theorie“
quillt jede praktische Leistung. Ist eine technische Errungenschaft
doch nichts anderes als eine in die Welt der Wahrnehmung umge-
setzte Idee, ist sie doch nichts anderes als ein „objektivierter“ Ge-
danke, ermöglicht und begründet durch die Systematik eines
Denkens, das seine Wurzeln in der freien, sinnhaften Idealität der
Konstruktion besitzt. Wer die Geschichte des modernen Denkens
kennt, weiß, daß alle seine Vertreter ein klares Bewußtsein von
den durchaus idealistischen Voraussetzungen unserer Erkennt-
nis besaßen, daß sie aber zugleich die „realistischen“ Konse-
3. Der Urgrund des dialektischen Problems 285
quenzen dieser idealistischen Grundbedingungen gewahrten und
betonten.
Der Siegeszug der modernen Wissenschaft ist in erster Reihe
durch die unvergleichliche Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit
möglich geworden, mit der das Denken die Natur zu beherrschen
lernte; er ist möglich geworden durch die ungeheuere intellektuelle
Geschicklichkeit und Verschlagenheit, die sich in der ebenso raffi-
nierten wie heroischen Ausnutzung der Naturkräfte bekundet.
Ohne Zweifel waltet ein enger, nur noch nicht hinlänglich durch-
schauter, ganz dialektischer Zusammenhang zwischen dem Idealis-
mus, der sich seit dem Beginn der Neuzeit in der Philosophie, und
zwar sowohl in der Erkenntnistheorie als in der Metaphysik, und
in der Wissenschaft ausbildete, auf der einen Seite und den Er-
folgen auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Technik, des Handels
und der allgemeinen Einstellung des modernen Menschen zur Wirk-
lichkeit auf der anderen Seite.
Ein Hinweis auf das Wesen der modernen Maschine mag
genügen, um die Behauptung zu stützen, daß zwischen Idealismus
und Realismus die denkbar strengste Verbundenheit herrscht.
Denn der Idealismus ist nicht bloße Theorie; der Realismus nicht
bloß Ausdruck der Praxis. In der Schaffung und in dem Gebrauch
der Maschine offenbart sich die Innigkeit, mit der die dialektische
und paradoxe Paarung von Idealismus und Realismus erfolgt. Ist
es zuviel gesagt, wenn ich die Behauptung wage, daß die Maschine
eineder großartigsten Verkörperungen der Dialektik,daß
auch sie eine Fleisch und Blut gewordene Dialektik ist?
Sie ist von der Freiheit und Spontaneität des Denkens erzeugt,
allerdings und ganz gewiß von einer Freiheit, die in ihrer Betätigung
streng nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit verläuft. Immer aber
ist es doch die Gesetzmäßigkeit der Freiheit, immer ist es doch eine
dem Schöpfungsakt nach freie, vernünftige, sich nur nach ihrer
eigenen Logik und Dynamik richtende Gesetzmäßigkeit. Eine
Gesetzmäßigkeit, die ihrem Wesen und Sinn nach rein autonom,
rein vernünftig, rein ideell, losgelöst von jeder irdischen Abge-
zwecktheit und jeder unmittelbaren Nutzanwendung ist. Ihre
Logik ist die Logik des Geistes, die sich aus der Vernunft des Geistes
heraus begründet, entfaltet und regelt. Es ist vielleicht die höchste
Form des Spieles, der als Leitgedanke, als Leitmotiv und als Ziel-
punkt nichts anderes dient als die Logik der Idee, d. h. die Logik
einer Notwendigkeit von rein geistiger Bestimmtheit, sei das eine
286 IV. Die Metaphysik der Dialektik
begriffliche, eine theoretische oder eine ethische oder eine ästhetische
Bestimmtheit.
Nun aber die paradoxe Ergänzung und Kehrseite. Diese rein
ideelle, rein vernünftige, rein dynamisch ausschwingende Gesetz-
mäßigkeit des Geistes schlägt sich selbst in Fesseln; sie bändigt
sich selbst; sie mechanisiert sich, sie nimmt den Zwang des Stati-
schen, des Materiellen, des Mechanischen, des zunächst ganz Un-
geistigen auf sich. Sie bindet sich durch den Übergang in die Starr-
heit eiserner Fassung — das Wort eisern nicht bloß in bildhaftem,
sondern in wörtlichem Sinne genommen. Der schärfste Ausdruck
dieses ungeheueren Erstarrungsprozesses der freidynamischen Gei-
stigkeit, dieses großartigen Abfalles der überrationalen Logik der
Idee von sich selbst ist die Zahl: das Sinnhaft-Geistige verkörpert
und verdichtet sich so, daß es — berechenbar wird, daß es be-
rechnet wird. Es senkt sich in die ihm scheinbar fremde und feind-
liche Sphäre des Technischen ein; es technisiert sich; es wird tech-
nisiert. Es steht auf und entsteht als sein — scheinbar vollkomme-
nes — Gegenbild, nämlich als Maschine.
Hat es in diesem Entwicklungsgang seinen Sinn preisgegeben?
Ist dieser Sinn nicht seine Freiheit, seine Autonomie und seine
gerade un- oder übermechanische Dynamik? Verlor es etwa seine
Seele und seine Innerlichkeit? Für die Bestimmung und Beleuch-
tung seiner eigentlichen Natur, seiner Natur als Geist, als Freiheit,
als Sinn konnten wir ethische und ästhetische Kategorien anwenden.
Ist das noch möglich angesichts seiner Verhärtung in das Mecha-
nische und Nutzhafte der Technik? Verflachte seine Tiefe, sozu-
sagen seine Vieldimensionalität etwa zur rationalen Eindeutigkeit
und rational-eindeutigen Handhabung, die überall da vorhanden
sein müssen, wo wir einen Gegenstand für konkrete Gebrauchszwecke
verwenden wollen und tatsächlich auch verwenden? An sich können
wir den Sinn des Geistigen nicht definieren, nicht durch rational
geformte Kategorien fassen, da er ja die überdefinitorische Voraus-
setzung jeder Definition und jeder kategorial geregelten Erkenntnis
ist. Aber jetzt, bei seiner Umformung in ein technisches Gebilde,
wird er auf einmal faßbar, bestimmbar, definierbar, und zwar durch
Zahlengrößen? Wo blieb seine innerliche Beweglichkeit, seine reiz-
volle und unausschöpfliche Problematik?
Gewiß gibt es keine schiefere Behauptung als die, die den Geist
als eine Maschine bezeichnet. Gewiß gibt es kein unfruchtbareres
und haltloseres Verfahren als das, der Arbeit des Geistes durch eine
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
287
mechanistische Betrachtung und durch die Zuhilfenahme von
„Hebeln und Schrauben“ auf die Spur kommen zu wollen. Aber
in jedem Hebel, in jeder Schraube steckt der Geist, dessen dialek-
tisches Wesen und dialektische Wirksamkeit sich immer neu darstellt.
Bedeutet es nicht den Gipfelpunkt der Dialektik und Paradoxie,
daß die freie Bewegtheit des Geistes ihre Kraft in die Starrheit
maschinenhaften Daseins einsargt, sich selber zum Antipoden wird
und nun gerade in diesem vollen Fremdwerden gegenüber ihrer ur-
sprünglichen Verfassung eine mechanische Leistungsfähigkeit be-
tätigt, die der Technik durch ihren scheinbaren Sieg über das Geistige
möglich wurde? Die Paradoxie verschwindet angesichts der Einsicht,
daß die Technik und ihre Maschinen realisierter Geist, realisierte
Idee sind. Hingegen bleibt unerschütterlich die Dialektik in diesem
Verhältnis bestehen, und zwar als die ausschlaggebende und not-
wendige Voraussetzung in diesem Verhältnis zwischen zwei Größen,
die auf den ersten Blick miteinander nichts zu tun zu haben scheinen,
Idee und konkrete Praxis, und die dennoch dialektisch miteinander
verwoben sind.
Es ist einfach nicht wahr, daß die Technik der Wider-
part des Geistes sei. Der Geist verfügt über viele Ausdrucks-
möglichkeiten und Gebärden, er lebt in zahllosen Gestalten, die
ihm zunächst ganz fremd, ja feindlich gegenüberzustehen scheinen.
Die Maschine ist aber schon darum nicht eine seiner geringwertig-
sten Objektivationen, sie ist schon darum nicht eine seinem Wesen
ferne Bekundung, weil erst und gerade durch sie die zunächst rein
logischen Gedankenformen die kraftvollste, die unwiderstehlichste,
die zwingendste Verkörperung finden: die Uhr verkörpert die Ge-
dankenform der Zeit, wie das Auto die des Raumes und jede Maschine
in ihrer Arbeit die Gedankenform der Kausalität verkörpert. Gegen-
über den so oft ausgestoßenen Klagen, daß die Maschine den Geist
versklave und den Menschen zu einem mechanischen Handlanger,
zu ihrem toten Diener herabwürdige, darf auf die Befreiung, auf
die Entspannung hingewiesen werden, die der Mensch der Technik
verdankt. Ohne die technischen Leistungen wäre unser Dasein un-
gleich ärmer an Freuden, nicht bloß ärmer an Bequemlichkeiten.
Der Motorradfahrer fühlt sich stolz auf seiner dahinrasenden Ma-
schine, denn er fühlt, wie er auf ihr und durch sie und im Grunde
doch nur durch sich selbst und durch die in ihm waltende Vernunft
zum Herrn über die Hindernisse der Entfernung wird: er erlebt
den Raum, indem er ihn meistert und überwindet. Das mechanische
288
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Hilfsmittel der Zeitmessung, das wir Uhr nennen, setzt uns in den
Stand, über die Zeit zu disponieren. Indem wir das tun, erheben wir
uns zu Herren über sie. Doch auch hier nach dem Prinzip der Dia-
lektik: Nur dadurch werden wir zu Herren über die Zeit, daß wir
ihr gehorchen. Wir disponieren über die Zeit, indem wir sie über
unsere Arbeit, über unseren Tag disponieren lassen, indem wir ihr
zugestehen, unsere Arbeit einzuteilen.
Herrschaft und Gehorsam, Freiheit und Unterordnung begeben
sich in demselben Atemzug. Der Geist schafft sich in der Technik
seinen Helfer, indem er seine ideelle Freiheit und ihre Sphäre, also
sich selbst, verläßt. Er begibt sich in die Fron und in die Bindung;
und gerade in ihr und durch sie, d. h. da, wo er ganz Materie ge-
worden, ganz auf empirischen Nutzeffekt eingestellt ist und alles
Freie und Ideelle abgestreift zu haben scheint, schafft er in seiner
Gebundenheit, in seiner Unterwerfung sein neues Leben, sein neues
Dasein, erringt er sich eine neue Herrschaft. Vielleicht eine macht-
vollere Herrschaft als da, wo er vorzieht, sich nur in freiem, roman-
tischem Schweifen auszukosten, als da, wo es ihm beliebt, nur in
der Innerlichkeit subjektiven Erlebens zu bleiben. Das ihm inne-
wohnende Gesetz der Dialektik und Antinomik zwingt und treibt
ihn, die Kraft seiner Freiheit in der Form der Bindung zu bewähren
und zu beweisen. Seine Freiheit ist so tief dialektisch, daß sie ihr
Wesen nur in ihrer Preisgabe klärt und gewinnt. Wer kann die
Dämonie dieser Freiheit des Geistes und die Dämonie in der Dia-
lektik dieser Freiheit ganz durchschauen und ein angemessenes Bild
von ihr entwerfen? Wie kann die Freiheit sich so untreu werden?
Wie kann sie gerade als Freiheit den Zwang zum Abfall von sich
und den paradoxen Druck zur mechanisch-maschinenmäßigen Bin-
dung auf sich ausüben lassen? Ja, wie kann die Freiheit, wie kann
der Geist in diese ungeheuere Dialektik sich verfangen? Sind wir
vielleicht zu der Annahme genötigt, daß die Dialektik nicht bloß
die Form der Betätigung des Geistes ist, wie Hegel behauptete,
sondern daß sie zum Wesen des Geistes und damit zum Wesen alles
Seins gehört? Ja, daß der Geist der Dialektik nichts anderes als
die Dialektik des Geistes ist? Eine Frage, die uns in die Meta-
physik des Geistes und in die Metaphysik der Dialektik hineinführt
(vgl. S. 366ff.). Denn nun handelt es sich nicht mehr um eine Er-
kenntnisfrage, die als solche der Kompetenz der Erkenntnistheorie
untersteht, sondern um eine Wesensfrage, also um ein metaphysi-
sches Problem.
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
289
Gehen wir aber jetzt noch mit einem kurzen Schlußwort auf das
Verhältnis zwischen Geist und Technik ein. Wenn der Geist in der
Technik, in der Maschine eine seiner vorzüglichsten und gerade für
die Neuzeit charakteristischsten Verkörperungen und Funktions-
weisen besitzt, dann ist auch in der Technik, auch in jeder Maschine
durch ihre Bezogenheit auf den Geist ein übertechnisches, ein mehr
als maschinenhaftes Moment eingebaut. Dann ist die Technik mehr
als bloße Technik, mehr als bloßer Niederschlag einer statischen
Dynamik; sie ist mehr als ein in zahlenmäßige Bestimmtheiten aus-
drückbares Gebilde; sie ist mehr als eine in ihrer Struktur abge-
schlossene Endgültigkeit. Sie selbst als Ganzes und jedes ihrer ein-
zelnen Erzeugnisse sind viel mehr als eine Lösung! Auch sie haben teil
an der — Problematik alles Seienden, weil sie eine Gestalt des
Geistes, weil sie eine von der Dynamik und Dialektik des lebendigen
Geistes erzeugte Gestalt des Geistes sind, gleich dem Staat und dem
Recht, der Kunst und der Religion, der Wirtschaft und der Wissen-
schaft: Auch die Maschine ist ein lebendes Wesen. Auch sie hat eine
Seele.
Dann aber ist die Behauptung hinfällig und die Besorgnis gegen-
standslos, daß das Zeitalter der Technik ein Zeitalter des Ungeistigen,
ein Zeitalter der Herrschaft des Seelenlosen sei. In jeder Maschine
zittert und arbeitet das Leben in der Form von doch nur teilweise
gelösten Aufgaben; in jeder Maschine drängt die atemlose Unruhe
des Geistes, drängt die Dialektik und Problematik des Geistes zu
neuen Maschinen. Wie allem Geistgeborenen ist es auch der Maschine
eigen, sich immerfort zu überwinden; es ist ihr eigen, mehr Weg
und Kampf als Ziel und Sieg zu sein! Mit einem Wort: Auch der
Technik, auch der Maschine ist es eigen, muß es eigen sein, Problem
zu sein, Problem zu bleiben.
Jetzt erst können wir es ganz verstehen, weshalb die Technik
doch auch und ganz innerlich dem Wesen unserer Zeit verwandt
ist und ihm sogar entspricht. Einer Zeit, für die nichts charakteri-
stischer zu sein scheint als eine geradezu unermeßliche Problematik,
als eine Aufgewühltheit und als ein unruhevolles Suchen von un-
vergleichlicher Stärke. Wie aber wäre diese seelische Überdynamik
mit dem Geist der Technik in Einklang zu setzen? Nach allgemeiner
Ansicht ist doch der Geist der Technik eher ein statischer, ein ge-
rade in beruhigender und beruhigter Bindung sich betätigender, in
dem Gefüge festigender und gefestigter Formen sich bekundender
Geist. Er scheint in seinem Wesen und in seiner Tendenz dem großen
Liebert, Dialektik. 19
290
IV. Die Metaphysik der Dialektik
Werkzeug, nämlich der Maschine und dem Mechanismus, deren er
sich bedient, zu gleichen; anderenfalls würde er andere Gestalten
schaffen und wählen, um sich darzustellen.
Oder wird unsere Zeit neben anderen Dissonanzen auch von den
aufreizenden Gegensätzlichkeiten zwischen problemschwangeren Er-
regungen auf der einen Seite und einem seiner selbst sicheren Tech-
nizismus auf der anderen Seite zerrissen? Ist es so, daß hier die
„Problematiker“ und „Antinomiker“ stünden und dort die „Tech-
niker“ und „Mechanisten“, diese Bezeichnungen natürlich in cha-
rakterologischem Sinne genommen?
Oder verschärft und verklammert dieser Gegensatz sich vielleicht
so, daß es sich dabei überhaupt nicht um zwei einander äußerlich
gegenüberstehende Heerlager handelt, nicht um eine äußere und
äußerliche Aufteilung und Verteilung der Kräfte und Richtungen
unserer Zeit, sondern um eine Dialektik in der Tiefe jedes Einzelnen
von uns? Indem wir die Frage bejahen, verstehen wir die Dialektik
hier als eine unabweisbare Spannung, die in keiner Weise als
gewaltsame und sinnlose Zusammenkettung niemals in eine
organische Verbindung untereinander zu bringender Unverein-
barkeiten zu nehmen ist, sondern als ein zwar reibungsvolles,
aber fruchtbares und vollauf verständliches, nicht durch willkür-
liche Pressungen entstandenes Verhältnis. Mit anderen Worten:
Die Dialektik gilt uns als die typische Lebensform des
Menschen unserer Zeit. Von ihr befreit uns keine Sehnsucht
nach reiner Harmonie. Gegen sie vermögen keine Wünsche, keine
Forderungen, keine Versuche, die auf die Erneuerung irgendeiner
humanistischen Weltanschauung und Bewußtseinshaltung hinzielen,
etwas auszurichten. Diese Dialektik ist da; sie erfüllt und beherrscht
uns alle, soweit wir am gegenwärtigen Geistesleben teilnehmen und
die Größe, aber auch die schicksalshafte Notwendigkeit in der Ent-
stehung und Ausbreitung dieser Dialektik vorurteilslos würdigen.
Kein Mensch von Sinn und Verstand, von gutem Willen und
Einsicht wird die Schönheit des Humanismus als Weltauffassung
und Gesinnungsart leugnen. Man kann ihn vielleicht die Welt-
anschauung reiner und restloser Innerlichkeit nennen. Ihm eignen
eine gemütvolle Weichheit und Abgerundetheit und die reizvolle
Berufung auf Kulturwerte, die bereits traditionsgemäß eine klas-
sische Geltung besaßen. Und weil er auf solche klassischen Kultur-
werte sich stützte, weil er keine neuen Ideale erst erkämpfte, sondern
das bereits durch die Geschichte beglaubigte Ansehen alter Ideale
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
291
glaubensvoll wieder anerkannte, hatte er es leicht, als Norm aufzu-
treten und bildungsmäßig-erzieherische Forderungen aufzustellen.
Er brauchte nicht erst das Recht zu erweisen, eine Theorie der Er-
ziehung zu entwickeln und seine Anschauungen als Vorbilder emp-
fehlen zu dürfen. Er gründete sich — im Unterschiede von der Welt-
anschauung unserer Zeit — auf die Geschichte und auf diejenigen
ihrer Gehalte, die die im Lichte höchster Wertschätzung und Voll-
endung leuchtende antike Kultur als heilig-geheiligtes Erbgut
hinterlassen hatte. Haftet ihm aber damit nicht zugleich etwas
Dogmatisches, etwas im philosophischen Sinne Historisches an?
Ich meine das nicht als eine Herabsetzung seiner Bedeutung, nicht
als einen Verkleinerungsversuch seiner Kraft. Ein solcher Versuch
wäre kindisch und kindlich zugleich. Ich meine das eher im Sinne eines
Hinweises aufseine „klassische“ Vollkommenheit, aufseine Geschlos-
senheit, seine Abgeschlossenheit, seine Endgültigkeit. Er hat den für
eine Weltanschauung nicht ganz ungefährlichen Vorzug, keine beweg-
teren Spannungen, keine Unausgeglichenheiten zu bergen, nicht eigent-
lich problematisch, nicht eigentlich dialektisch zu sein. Er ist jeden-
falls nicht dialektisch im Sinne des Tragisch-Heroischen; er ist eher die
Weltanschauung des sich vollendenden, des bereits bis zur Erreichung
des Ideals vorgerückten Menschen als diejenige des Menschen, der noch
mitten im Kampfe steht. Ganz begreiflich der Zauber, der von ihm
ausstrahlt. Ganz begreiflich aber auch das Gefühl, daß er in unsere,
nun eben dialektisch gewordene, problemdurchschüttelte Welt nicht
mehr restlos paßt.
Und diese Dialektik als charakterologisch bedeutsame Lebens-
form unserer Zeit können wir am Hervortreten und an der Vormacht-
stellung der Technik genauer beleuchten und genauer verstehen. Daß
die Technik zu dem geworden äst, was sie für uns ist, beruht auf
einem unwiderstehlichen Zwang in der Entwicklung des europäischen
Geisteslebens. Sie ist nicht bloß, wie das in früheren Zeiten der
Fall war, eine Begleiterscheinung und ein Hilfsapparat des Lebens,
den wir je nach Belieben und Umständen ins Spiel setzen, von dem
wir uns aber auch lossagen könnten, sondern sie ist machtvoll ein-
gedrungen in die Substanz unseres Wesens, und sie herrscht hier
als Macht. Wäre sie etwas Äußerliches und Gelegentliches geblieben,
was sie darum nicht bleiben konnte, weil sie die unentrinnbare Folge
der — auf diesen Blättern mehrfach hervorgehobenen — Rationa-
lisierung und Mathematisierung der Gesinnung und der konkreten
Arbeit des modernen Menschen ist, dann wäre sie kein Problem ge-
19*
292
IV. Die Metaphysik der Dialektik
worden. Doch indem sie tief in unser Inneres eingedrungen, indem
sie tief aus unserem Innern hervorgedrungen ist, ist sie selber mit
einer eigentlich ganz untechnischen Problematik behaftet, paart sich
in ihr Technisches, Mathematisches, Formales, Bindend-Gebundenes,
Begriffliches, Konstruktives, Konstruiertes mit der Irritabilität und
problemreichen Dynamik des Lebendig-Geistigen, mit seiner Fülle
bzw. mit den unübersehbaren Möglichkeiten und Wegen zur Fülle,
mit seiner in kein konstruiertes Bett einfangbaren Problematik.
f) So hat die Entwicklung zur Technik die zweifellose Unruhe und
Aufgewühltheit der Gegenwart nicht vermindert, nicht vereinfacht,
so ist sie mit dieser Unruhe, mit dieser Dynamik nicht nur vereinbar,
sondern die aus ihrer Problemtiefe heraus verstandene Technik ist
so recht ein Ausdruck, ein Niederschlag eben dieser Problematik,
die in der Technik unserer Zeit einfach ihre Gestalt und die Be-
sonderheit ihrer Objektivation findet. Wie vergleichsweise die
Dynamik einer anderen Generation sich in der Eigenart eines be-
stimmten Staates oder einer bestimmten Kunst oder einer be-
stimmten Gesellschaftsform objektiv ausgeprägt. Nur muß — diese
Wiederholung sei gestattet — die Technik nicht mit bloß auf das
Technische und auf das Starr-Mathematische eingestellten Augen
gesehen werden; es gilt, sie, metaphysisch deutend und ver-
stehend, aus der ewigen Unruhe und Problematik, ja aus der heroi-
schen Besorgnis des in der Stellung immer neuer Aufgaben sich ge-
fallenden Geistes her zu sehen: man muß sie von ihrer „Idee“ her,
d. h. idealistisch sehen und werten.
Unter diesem metaphysischen Gesichtspunkt jedoch wird nicht
nur ihre Vereinbarkeit mit dem problematischen Geiste unserer
Zeit, wird nicht nur ihre Zugehörigkeit zu diesem voll und ganz
begreiflich, es wird auch klar, daß sie keineswegs die Gegnerin oder
gar die Überwinderin der metaphysischen Lebensangst ist oder sein
kann. (Vgl. S. 276f f. und 283ff.). Nur muß von dem Begriff dieser
Lebensangst der Gedanke ferngehalten werden, als handele es sich
um einen Zustand greinender Zimperlichkeit und wehleidigen
Zagens. In ihr ist gerade umgekehrt ein sehr starker Zusatz von
Verwegenheit, von einem bis zur Tollkühnheit gesteigerten Mut ent-
halten, von Mut nämlich, mit dem Leben das Wagnis des Spieles zu er-
proben. Aus dem Grunderlebnis der Problematik, dem sie entstammt,
und das in ihr ununterbrochen nachwirkt, ergibt es sich, daß mit ihr
nicht selten und besonders in den charakteristischen Fällen sogar die
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
293
Entschlossenheit zu einer Herausforderung des Lebens verbunden ist.
Die neuere Psychologie hat uns darüber belehrt, daß alle wichtigeren
seelischen Zustände und Verhaltungsweisen die Struktur eines oft
paradox gemischten Gewebes zeigen. Diese Feststellung trifft vor-
nehmlich auf die Seelenverfassung des modernen Menschen zu.
Wenn wir weiter oben behaupteten, daß die Dialektik uns als
die typische Lebensform des Menschen der Gegenwart gelte (S. 290)
so meinten wir eben diesen komplexen und komplizierten Zustand,
in dem sich Angst und Verwegenheit, in dem sich ein unheimliches
Grauen und ein aufbegehrender Heroismus, in dem sich Hingabe
an die Strenge und Ewigkeit des Naturgeschehens und kritische
Reflexion über seine „Möglichkeit“, über seine Grundlagen und seine
Geltung in so unausgeglichener Weise in spannungsgeladenen
Kreuzungen wechselseitig durchströmen. Es konnte gar nicht aus-
bleiben, daß wir in diese seelische Dialektik und Antinomik hinein-
gerieten. Der mittelalterliche Mensch maß die Richtung und den
Wert seiner Wünsche, seiner Entscheidungen, seiner Leistungen an
dem ihm durch Kirche und Dogma bekanntgegebenen absoluten
Willen Gottes bzw. des Heilandes. Der Mensch der ersten Jahr-
hunderte der Neuzeit besaß in der mit aller Macht ausgestatteten
mathematisierenden Vernunft einen absoluten Maßstab. Das Zeit-
alter des Neuhumanismus fand die autoritäre Grundlage für sein
Planen und Handeln in dem Mythos, den es sich von dem Wesen
des klassischen Griechentums geschaffen hatte. Auch die Romantik
ermangelte ebensowenig wie die Periode des Sturms und Drangs
eines innerlichst anerkannten Leitfadens, eines Prinzips, das ihr
bei aller ihrer Unruhe dennoch eine bestimmte Grundstimmung und
Grundtendenz schenkte. Das war das Gefühl mit seinem Unendlich-
keitsstreben; es war ein in sich unendliches Gefühl, ein unendliches
Gewoge und Spiel, und ein Gefühl für das Unendliche. Damit war
auch die Romantik verankert in einer Absolutheit, mochte das auch
die Absolutheit der Irrationalität sein.
Welches ist in seelischer und weltanschaulicher Hinsicht jedoch
unsere Stellung gegenüber dem Leben und seinen Ansprüchen?
Wenn wir als Antwort auf diese Frage von einer geistigen Krisis
der Gegenwart sprechen, so geschieht das in keiner Beziehung in
irgendeinem skeptischen oder relativistischen Sinne, noch weniger
mit der Neigung, unserer Zeit deswegen einen Vorwurf zu machen.
Wir verstehen den Begriff der Krisis vielmehr in einem durchaus
anerkennenden, durchaus positiv zustimmenden Sinne, Wir nehmen
294
IV. Die Metaphysik der Dialektik
ihn sogar als Ausdruck eines ungeheuren Reichtums, als Hinweis
auf ein einzigartiges Erbe. Gewiß ist dieser Reichtum nicht leicht
zu tragen; denn die Verantwortung für dieses Erbe ist groß und
schwer. Aber ohne den Druck einer verantwortungsvollen Ver-
pflichtung wäre der Erwerb der Selbständigkeit, wäre der Gewinn
einer eigenen geschichtlichen Stellung keine sonderlich rühmens-
werte Tat. Jede geschichtliche Leistung will erst erkämpft und im
Kampfe erprobt und erhärtet werden.
g) Die Besonderheit unserer geschichtlichen Lage und unserer aus
dieser Lage sich ergebenden Aufgaben läßt sich schwerlich anders
kennzeichnen als durch den Begriff der Dialektik und Antinomik,
vor dessen kritischer Vertiefung wir nunmehr stehen. Und sobald
diese Vertiefung gelungen ist, wird sich uns mit dem Begriff der
Dialektik auch der Begriff der Lebensangst, der Lebensunruhe,
der Lebensdynamik, wie wir ihn hier im Auge haben, geklärt haben.
Wir sprachen von der substantiellen Bedeutung, die die
Technik und der Geist der Technik für uns besitzen. Mit dieser
Bedeutung kreuzt sich nun jedoch eine andere Entwicklungslinie
der europäischen Geistesgeschichte, eine Entwicklungslinie von nicht
geringerer Wichtigkeit als jene, die zur Entstehung des Technizismus
führte. Von ihr muß nunmehr die Rede sein. Es ist das der Geist
des Historismus, wie wir ihn nennen wollen: eine durchaus
andersgeartete und andersgerichtete Einstellung, als es die tech-
nische ist, mit anderen theoretischen Voraussetzungen und mit
anderen ethischen Wertmaßstäben, mit einem anderen Ethos und
mit einem anderen Deutungsprinzip als die technische. Aber auch
sie ist in einer tiefen Dialektik befangen. Und dadurch speist und
fördert sie auch ihrerseits die allgemeine Dialektik unserer Zeit.
Wie der technische Geist eine spezielle, oben behandelte Dialektik
in Sich aufweist, so auch der Historismus.
Wir müssen also eine Mehrheit von dialektischen Spannungen
im Bewußtsein unserer Zeit unterscheiden. Diese Spannungsfülle
sei hier zum Zweck der Klarlegung unserer Gedanken in kurzen
Zusammenfassungen verdeutlicht.
1. Wirtragen in unseine allgemeine Dialektik, die ihren Grund in
der allgemeinen Lebensunruhe und Lebensdynamik hat, in einem
bis zur Haltlosigkeit gesteigerten Übermaß an Bewegtheit und
Problematik. Diese Überspitzung ist eingetreten, weil wir in der
Gegenwart keinen allgemeingültigen, keinen unbedingt autoritären
3. Der Urgrund des dialektischen Problems
295
Maßstab, weil wir keine absolute Norm für unsere Gedanken und
für unsere Taten besitzen. Auch der Gedanke der Naturgesetzlich-
keit bietet keine derartige Gewähr. Und zwar aus zwei Gründen.
Erstens ist es nicht gelungen und kann es nicht gelingen, trotz aller
Anstrengungen, die seitens der spekulativen Philosophie, sei es von
Fichte, sei es von Schelling, sei es von Hegel unternommen
worden sind, für jenen Gedanken den endgültigen Deduktionspunkt
zu finden, d. h. die Naturgesetze aus einem letzten Prinzip abzu-
leiten. Zweitens scheitert aber der Geltungsanspruch der mathema-
tisch formulierbaren Naturgesetze an der Eigenart und Selbstän-
digkeit der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt und an der damit
gegebenen zweifellosen Selbständigkeit der Geisteswissenschaften.
Wenigstens bis zur Stunde ist ein überzeugender und philosophisch
wie wissenschaftlich einwandfreier Nachweis dafür noch nicht er-
bracht, ob von einer Einheit zwischen dem Gedanken der natur-
wissenschaftlichen und demjenigen der geisteswissenschaftlichen
Gesetzlichkeit gesprochen werden kann und in welchem Sinne eine
solche Einheit zu behaupten wäre. Der Hinweis auf den Begriff
der Erkenntnis als einheitliche Grundlage für jene beiden Formen
wissenschaftlicher Erkenntnis genügt nicht. Mit jenem Begriff
der Erkenntnis ist die Idee des Systems der Erkenntnis gemeint.
Daß aller Erkenntnis, wie immer sie beschaffen sein mag, der ein-
heitliche Systemgedanke zugrunde liegt, ist unbestreitbar. Nun
aber setzt erst die eigentliche Aufgabe ein, die darin besteht, die
innere Notwendigkeit und Voraussetzung für jene Verzweigung der
Erkenntnis aufzudecken, d. h. den Punkt für die Entstehung und
das strukturbildende Motiv für die Ausgestaltung jener beiden Er-
kenntnisreihen, für ihre Differenzierung darzulegen. So ist die
Idee der Einheit der Erkenntnis für uns zu einem
Problem geworden und jene Einheit in eine Dialektik hineingeraten.
2. Aber auch innerhalb der naturwissenschaftlich verstandenen
Gesetzlichkeit tritt uns eine Dialektik entgegen. Wir haben sie an
der Dialektik der Technik, an der Dialektik der mechanistischen
Weltanschauung erörtert und können an dieser Stelle von ihrer Er-
örterung füglich absehen.
3. Blicken wir nun auf die Idee der geschichtlich-gesellschaft-
lichen Wirklichkeit und auf die geisteswissenschaftliche Erkenntnis-
form hin, wie diese in der Historie und in der Philologie sich ihre
vornehmsten theoretischen Ausprägungen geschaffen hat, so be-
kundet auch hier sich eine tiefe Dialektik. Von ihr soll sogleich
296
IV. Die Metaphysik der Dialektik
gesprochen werden. Jetzt sei zunächst der kurze Überblick über
die dialektischen Spannungen im Zeitbewußtsein vollendet.
4. Der Ring dieser Spannungen schließt sich insofern, als der
Technizismus auf der einen und der Historismus auf der anderen
Seite untereinander auch in dem Verhältnis einer Dialektik stehen.
Es handelt sich jetzt aber nicht um eine rein theoretische Dialektik.
Diese Art der Dialektik prägte sich bereits in dem Gegensatz zwischen
mathematisch-rationalistischer und philologisch-historischer Er-
kenntnis aus. Was wir jetzt meinen, ist nicht dieser theoretische
Gegensatz, sondern ein weltanschaulicher Gegensatz, d.h.
Technizismus und Historismus gelten uns nicht bloß als Erkenntnis-
formen, sondern als Weltanschauungsformen und von hier aus sogar
als zwei verschiedene Weltformen. Wir stehen damit vor
einer weltanschaulichen Dialektik.
5. Alle weltanschauliche Dialektik weist aber über sich hinaus
bzw. in sich hinein und hinter sich zurück. Sie weist hin auf eine
Dialektik in der Grundeinstellung des vernünftigen Geistes, auf
eine Dialektik in der Haltung der Vernunft selber und damit im
Wesen der Vernunft. Diese Dialektik sei als metaphysische
Dialektik bezeichnet. Zu begrifflicher Ausprägung gelangt sie in den
beiden metaphysischen Grundstandpunkten des Dogmatismus und
des Kritizismus. So werden wir dann von dieser metaphysischen
Dialektik zwischen Dogmatismus und Kritizismus zu
handeln haben. Das ist keine Dialektik mehr, die in erster Linie
für die Geistesart unserer Zeit bezeichnend und aus dieser heraus
zu verstehen wäre. Sie hat vielmehr einen typisch überlegenen,
einen typisch philosophischen Charakter; sie ist eine dialectica
perennis.
V. Hauptformen der Dialektik.
Die ganze Geschichte des abendländischen Geisteslebens, beson-
ders diejenige der abendländischen Philosophie, wird begleitet
und zum guten Teil getragen von einer lebhaften, bisweilen leiden-
schaftlichen Anteilnahme gerade an der Dialektik. Ist dieser Um-
stand bereits an sich beachtenswert, so klärt sich seine Bedeutung
noch weiter durch die leicht belegbare Feststellung, daß es gerade
die Blütezeiten und die Glanzleistungen der philosophischen Arbeit
sind, in denen jene Anteilnahme mit entschiedener Auswirkung sich
bekundet. Das spricht für die enge Beziehung zwischen der Philo-
sophie, ihrer systematischen und ihrer historischen Entwicklung
auf der einen Seite, und dem dialektischen Prinzip und Verfahren
auf der anderen. Gewisse Stufender philosophischen Erkenntnis sind
geradezu gekennzeichnet durch die eigentümliche Gestalt und Anwen-
dungder in ihnen gebrauchten Dialektik. Bestimmten Stufen der Ent-
wicklung der Philosophie entsprechen bestimmteTypen der Dialektik.
Deshalb wird auch unsere Übersicht über die hauptsächlichen
Denkrichtungen und Gruppen, die die Wendung zur Dialektik, sei
es als Programm verkündet und hervorgerufen, sei es in einigem
Umfange bereits durchgeführt haben, bestimmte Hauptformen der
antinomischen Gedankenart hervorheben. Diese Typen der Dialek-
tik wollen wir nun unabhängig von ihren historischen Ursprüngen und
Beziehungen rein in ihrer grundsätzlichen Struktur ins Auge fassen.
Es handelt sich also um eine — allerdings engumgrenzte — Charak-
terologie und Typologie der Dialektik und damit um
einen Beitrag zur allgemeinen Charakterologie und Typo-
logie des geschichtlichen Geistes überhaupt und seiner
Betätigungsweise in der philosophischen Systematik
1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik.
Bei Wilhelm Dilthey, seiner Schule und seinen Anhängern,
wächst das Interesse für die Dialektik heraus aus der intensiven Be-
schäftigung mit der Problematik der geschichtlichen Welt und aus
298
V. Hauptformen der Dialektik
dem Eindringen in die eigentümliche Problematik der geistes-
wissenschaftlichen Begriffsbildung und Begriffe. So sehr Dälthey
auch nach einer theoretischen Grundlegung der Geisteswissen-
schaften strebt und das Begriffssystem aufzudecken sich bemüht,
auf dem der Bau jener Wissenschaft errichtet ist, so sehr ist dieser
ganze Versuch dennoch von einem tiefen Subjektivismus erfüllt.
Dieser Zug ist zunächst sicherlich bedingt durch Diltheys persön-
liche Einstellung zur geschichtlichen Welt. Es ist schon oft betont
worden, daß ihm die reine und strenge Systematik nicht lag, ja,
daß er sie bewußt ablehnte. Denn er sah in ihr einen Gegner des
geschichtlichen Auffassens, eine Vergewaltigung der historischen
Fülle. Diese Fülle widerspricht nach seiner Meinung der starren Ver-
kettung der Begriffe. Selbst die Philosophie ist ihm nichts weniger
als ein einheitlicher Inbegriff reiner Begriffe. Deshalb ist auch ihr
gegenüber jede logizistische Interpretation im Unrecht. Diejenige Ver-
fahrungsart, durch die nach ihm die Aufgabe einer adäquaten Er-
fassung der philosophischen und der geistig-geschichtlichen Welt in
dem ganzen ungeheuren Reichtum und in der ganzen Verwickeltheit
ihres Wesens gelöst zu werden vermag, hat er selber einmal folgender-
maßen gekennzeichnet: ,,Sie erklärt im Gegensatz gegen Hegel die
Entwicklung der Philosophie nicht aus den Beziehungen der Be-
griffe aufeinander im abstrakten Denken, sondern aus den Verände-
rungen in dem ganzen Menschen nach seiner vollen Lebendigkeit
und Wirklichkeit. Sonach sucht sie den Kausalzusammenhang zu
erkennen, in welchem die philosophischen Systeme aus dem Ganzen
der Kultur entstanden sind und auf dasselbe zurückgewirkt haben.
Jede im philosophischen Denken erfaßte neue Stellung des Bewußt-
seins zur Wirklichkeit macht sich gleicherweise im wissenschaftlichen
Erkennen dieser Wirklichkeit, in den Wertbestimmungen des Gefühls
über sie und in den Willenshandlungen, der Führung des Lebens
wie der Leitung der Gesellschaft geltend. Die Geschichte der
Philosophie macht die Stellungen des Bewußtseins zu der Wirklich-
keit, die realen Beziehungen dieser Stellungen aufeinander und die
so entstehende Entwicklung sichtbar“ (,,Der Aufbau der geschicht-
lichen Welt in den Geisteswissenschaften“. Gesammelte Schriften,
7. Band; und ähnlich noch an vielen Stellen).
Diese dynamische Methode ist ein unmittelbarer Ausdruck der
intensiven, oft leidenschaftlich und innerlichst bewegten Anteil-
nahme Diltheys an den Personen und Leistungen der geschichtlichen
Welt. Bei allen seinen Erforschungen dieser Welt fesselte ihn nicht
1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik 299
in erster Linie der rein logische Zusammenhang, nicht die theoretische
und intellektuelle Seite der Kultur. Wie es sich für ihn vielmehr
um die Auffassung des geschichtlichen Lebens einschließlich der
Philosophie in der durchwellten und erregten Breite, Tiefe und Ver-
wicklung seines Gehaltes handelt, so gab er sich dieser bewegten
Verwebung und Verwobenheit der Kulturerscheinungen mit einer
wunderbaren Willfährigkeit und Aufnahmefähigkeit hin. In voll-
kommener Plastik stand ihr Bild vor seinem Auge, und mit künst-
lerischer Wirkungskraft vermochte er das Geschaute zu schildern.
Aber indem er so ganz in seinen Gestalten lebte, indem er sich mit
ihrem Blut durchtränkte und dem dann von ihm entworfenen Ge-
mälde diese Züge des Blutes und der innigsten Beteiligung mitgab,
ward ihm die Betrachtung mehr als eine bloß logische Zergliederung;
das Interesse an ihrer begrifflichen Erfassung trat zurück gemeinsam
mit dem Interesse an der erkenntnistheoretischen und methodo-
logischen Herausarbeitung der begrifflichen Voraussetzungen, auf
denen doch alle wissenschaftliche Erfassung der Geschichte beruht.
Er fühlte sich in seine Gestalten so unmittelbar nachschaffend,
so lebendig, in einem so hohen Grade menschlichen Mitempfindens
und Nachverstehens ein, daß dadurch die etwas zurückgezogene Hal-
tung des Erkennenden und dessen, der über seine Erkenntnis mit
methodischer Bestimmtheit Auskunft zu geben sucht, doch ein
wenig beeinträchtigt wurde. Er war gewissermaßen in einem zu
hohem Maße mitschwingender Kulturhistoriker und Kulturpsycho-
loge, um in einem gleich hohen Maße Methodologe und rein kritisch
gerichteter Erkenntnistheoretiker der Geisteswissenschaften zu sein.
Sein oft großartig tiefsinniger, durch persönlichste Anteilnahme ver-
feinerter Subjektivismus äußert sich in abschließender Form eben
darin, daß die Dialektik der Geschichte und die der Geschichts-
wissenschaft bei ihm noch in der Zone des Erlebens gebannt blieb,
daß wir bei ihm von dem Erleben der Dialektik und von der
Dialektik des Erlebens sprechen können. Mit anderen Worten:
Die Dialektik ist hier noch nicht herausgearbeitet zur Bedeutung
eines fundamentalen, kategorialen Prinzips. Sie ist noch nicht zu
logischer Objektivität gestaltet.
Dieser Subjektivismus der Dialektik besitzt nun außerdem
seine allgemeine theoretische Grundlage in dem geisteswissen-
schaftlichen und geistesgeschichtlichen Psychologismus und Histo-
rismus der 70er, 80er, 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Sie selber aber, die historistische und psychologische Untersuchungs-
300
V. Hauptformen der Dialektik
weise, hat ihre Voraussetzung einmal in der Ablehnung der mathe-
matisch-naturwissenschaftlichen Methodik für die Erkenntnis der
geschichtlichen Welt. Denn nichts schien für diese Erkenntnis un-
geeigneter, ja, ihr geradezu widersprechender als die Anwendung
der kausalgesetzlichen und statischen Methode mit ihrem angeblich
starren, unlebendigen, aphoristischen Begriffsapparat, in dem von
der Bewegtheit und Geschichtlichkeit des historischen Lebens so
nichts zu bleiben schien. Dagegen war die historistische Methode
mit all den in ihr wirksamen Tendenzen der Einfühlung, des Mit-
und Nacherlebens und gemütvollen Verstehens eine scheinbar vor-
treffliche Hilfe, die man nicht verschmähen zu dürfen glaubte, selbst
nicht um den Preis des Relativismus. Wahrscheinlich galt dieser
Relativismus sogar als Ausweis für das Recht des Historismus;
denn eben dadurch spiegelte er in seiner Struktur den eigentüm-
lichen Relativismus des geschichtlichen Lebens deutlich wieder.
Allerdings: Erkannt und betont war damit erst die sozusagen sub-
jektive Seite der Dialektik, die sich in der geschichtlichen Bewegt-
heit spiegelte, jedoch noch nicht ihre begriffliche, ihre kategoriale,
ihre systematische. Doch gebührt Dilthey die stark zu unter-
streichende Anerkennung, daß er wie kein anderer Geschichts-
theoretiker und Geschichtsphilosoph seiner Zeit uns das Auge
für die Dialektik des geschichtlichen Lebens und für die Dialektik
des geschichtlichen Erkennens geöffnet hat.
War das also bereits ein gewaltiger Fortschritt gegenüber allem
bloßen Positivismus, der ja auch in der Erkenntnis der geistigen
Welt jahrzehntelang geherrscht hatte, so kommt hinzu, daß die
historische Forschung erst viel reicheres Material und die Erkenntnis-
theorie der Geisteswissenschaften erst viel tiefere Einblicke in die
schöpferischen Voraussetzungen dieser Wissenschaften erbringen
mußten, bevor an eine Systematik der Dialektik zu denken war und
bevor die Dialektik zu systematischer Durchführung gebracht
werden konnte. Auch in diesem Falle mußte es so sein, daß in
seelischer Hinsicht das Erleben und in historischer Hinsicht die
Materialsammlung der Systematik voraufging. Daß die Dialektik
zunächst erlebnismäßig genommen wurde und ihre Rechtfertigung
und Anerkennung im Erleben fand, entsprach durchaus dem dama-
ligen Stande der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften; wurde
diese doch im subjektivistischen Geiste betrieben. Eine solche Auf-
fassung ist aber ferner begreiflich als Niederschlag des seelischen Ein-
druckes, den die angelegentliche, sozusagen übertheoretische, von
1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik 301
romantischer Einstellung nicht freie Beschäftigung mit der Proble-
matik der geschichtlichen Welt hervorrufen mußte. Aus seelischer
Ergriffenheit formte sich eine, ihre subjektiven Wurzeln offen-
barende subjektive Gestalt der Dialektik. Vielleicht ist das vom
entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt aus überhaupt die erste,
die sozusagen primitive Form, in der die Dialektik auftritt.
Überwunden oder unterbrochen wurde der Prozeß des dialek-
tischen Erlebens sowohl in Griechenland als in der Neuzeit durch
das Auftreten und die Ausbildung des aufklärerischen Rationalis-
mus, der, indem er vorherrschend an der Mathematik und an der
mathematischen Naturwissenschaft orientiert war, auch für die Er-
fassung des geschichtlichen Lebens lediglich naturgesetzlich ge-
artete Begriffe zur Verfügung stellte. In dem Umstand, daß jener
Rationalismus gerade der dialektischen Denkweise so gar keine
Geltung einräumen kann und in seiner ganzen Struktur dieser
Denkweise so fernsteht, ist sicherlich auch sein Versagen gegenüber
den eigentümlichen Forderungen des historischen Erkennens be-
gründet. Um diesen Forderungen gerecht zu werden, ist ein
beweglicherer, dynamischerer Geist vonnöten, als er jenem Ratio-
nalismus eignet. Hier schuf eine Besserung oder mindestens eine
Änderung erst der Geist der Spekulation und der Romantik, in
deren Kreisen gerade die Dialektik die regste und wirkungsvollste Er-
neuerung und Vertretung fand. Und es unterliegt wohl kaum einem
Zweifel, daß das Interesse für die Dialektik ebenso wie ihre metho-
dische Verwendung einen nicht unbeträchtlichen Schuß romantisch-
spekulativer Gesinnung einschließen. Denn während die einfache
und eindeutige Methodik des Rationalismus entweder an Hand des
logischen Prinzips von Grund und Folge oder an Hand des mög-
lichst quantitativ und zahlenmäßig bestimmten Grundsatzes von
Ursache und Wirkung verläuft, ermangelt die dialektische Me-
thode sowohl nach außen als nach innen dieses übersichtlichen, ein-
sinnig geregelten Aufbaus: Es ist, als ob eine geheime Triebkraft
den Zusammenhang der Begriffe hervorbrächte; und das Strömen
dieser Kraft scheint jegliches Starrwerden dieses Zusammenhanges
und auch jedes einzelnen Teiles zu verbieten oder zu vereiteln. Wie
es zu den charakteristischen Forderungen und Leistungen der Ro-
mantik gehört, daß durch sie der Irrationalität des Lebens wieder
ein weiter Spielraum zugestanden wird im Gegensatz zu der
Festigkeit und Härte des Begriffes und des rationalen Gesetzes,
so fließt auch in die romantische Methode, und das ist die Dia-
302 V. Hauptformen der Dialektik
lektik in gewisser Weise, diese Irrationalität und Lebensunruhe
mit ein.
Damit ist ohne Zweifel für die Wissenschaft eine ernste Gefahr
verbunden. Denn wohin geriete die prinzipiell aufrechtzuerhaltende
Begriffsbestimmtheit und Begriffsklarheit der Erkenntnis, wenn
unser Forschen sich restlos der romantischen All- und Über-
beweglichkeit anvertrauen würde? Wir brauchen um der Er-
kenntnis willen die Begriffsbestimmtheiten; wir brauchen die Be-
zogenheit auf die Systematik des Begriffs, des begrifflichen Urteils,
des begrifflichen Schlusses. Ist das aber eingesehen und anerkannt,
dann ist damit die Forderung unabweisbar, streng zu unter-
scheiden zwischen der Dialektik als einem erlebnis-
gesättigten Spiel des Geistes und der Dialektik als
einer festen, disziplinierten wissenschaftlichen Unter-
suchungs- und Betrachtungsweise.
2. Die Dialektik der Geschichte:
Dialektik als Kategorie der Geschichtswissenschaft.
Der geschichtsphilosophische, auch der geschichtslogische Wert
der romantischen Dialektik darf dabei in keiner Weise unter-
schätzt werden. Denn immer wird sich die Vernachlässigung der
Instanz des Lebens auch bei den Zwecken der Erkenntnis rächen.
Trotzdem genügen alle Hinweise auf die Unzulänglichkeit des
üblichen formalen und mathematisierenden Rationalismus eben-
sowenig wie alle Berufungen auf die Unentbehrlichkeit des Lebens,
um den Rationalismus überhaupt zu verabschieden oder auszu-
schalten. Romantik in der Wissenschaft, einseitige Hervorhebung
des Lebensmomentes und einer ausschließlich oder vorherrschend
am Leben orientierten und aus ihm genährten Dialektik treiben zu
einem sachlich haltlosen, gedanklich nichtssagenden Relativismus
und im engsten Anschluß daran zu einem gedankenlosen theoreti-
schen Nihilismus. Das ist die Gefahr, von der jede „Lebensphilo-
sophie“ bedroht ist bzw. zu der sie unvermeidlich führt. Und um
diese Gefahr zu beschwören, bedarf es des entschiedenen Wider-
standes durch den Geist des wissenschaftlichen Rationalismus.
Damit ist nun nicht behauptet, daß das jener oben erwähnte formale
Rationalismus sein muß. Denn dieser ist nicht identisch mit dem
Geist wissenschaftlicher Haltung und Methode überhaupt. Er ent-
2. Die Dialektik der Geschichte
303
spricht lediglich einer bestimmten einzelnen Aufgabeform und einem
bestimmten einzelnen Aufgabengebiet der Wissenschaft.
Aber wie es unmöglich ist, den Geist des Rationalismus voll-
kommen außer acht zu lassen, ebensowenig ist es möglich, die Idee
der Lebensdialektik voll und ganz preiszugeben. Das relative Recht
und die Notwendigkeit beider Standpunkte sind in den vorstehenden
Ausführungen des öfteren gekennzeichnet worden. Daraus aber er-
gibt sich die Forderung ihrer Verbindung (vgl. S. 266ff.; be-
sonders S. 368). Ich möchte den aus dieser Überlegung hervor-
gehenden methodischen Gesichtspunkt als dialektischen Rationalis-
mus oder als den Standpunkt des dialektischen Idealismus bezeich-
nen. Inwiefern er mit der Methode Hegels übereinstimmt bzw. von
ihr sich unterscheidet, wird bald zu berühren sein (S. 306ff.).
Die Entwicklung in der Wissenschaftslehre der Gegenwart scheint
mir diesem Standpunkt sich zu nähern bzw. ihn ganz deutlich
vorzubereiten. Und zwar kommen hierfür zwei sich wechsel-
seitig unterstützende Richtungen in Betracht. Das von Dilthey
gestellte Thema einer „Kritik der historischen Vernunft“ mußte
notwendigerweise immer mehr von allen psychologischen und
geistesgeschichtlichen Nebenfragen und Nebenuntersuchungen frei
gemacht und in seinem logisch-theoretischen Kern verstanden
werden, je weiter die Bemühungen um eine logische Grundlegung
der Geisteswissenschaften fortschritten, und je mehr die Abweichung
einer solchen Grundlegung von der psychologischen Analyse und von
der entwicklungsgeschichtlichen Herleitung der geschichtswissen-
schaftlichen Begriffe erkannt und betont wurde. Schon in
Diltheys engerer Schule regten sich dahinzielende Versuche; sie
fanden ihren Ausdruck in den Unternehmungen einer Theorie
des historischen Verstehens, wie sie z. B. von Eduard Spranger
in erfolgreicher Weise unternommen wird. Diese Entwicklung,
zu einer reinen Theorie im engeren Sinne zu gelangen, läßt sich
bei allen Fortschritten der philosophischen Arbeit beobachten, u. a.
auf dem eigensten Felde der als Logik bezeichneten Disziplin selber.
Auch hier zeigt die Geschichte der Logik etwa der letzten dreißig
bis fünfzig Jahre eine zunehmende Tendenz, alle historisch-gene-
tische oder biologische oder psychologische Auffassung und Inter-
pretation der logischen Gebilde zu überwinden zugunsten einer rein
logisch-systematischen. In bezug auf die uns hier interessierende
Frage kann man davon sprechen, daß immer klarer gerade der
erkenntnistheoretische oder erkenntniskritische Sinn der Aufgabe
304
V. Hauptformen der Dialektik
einer Grundlegung der Geisteswissenschaften verstanden wurde.
Handelt es sich jedoch um eine Theorie, um eine „Kritik“ der
Geisteswissenschaften, also um ihre Grundlegung als objektive
Wissenschaften, dann mußte aus dem Erlebnis der Dialektik immer
stärker eine Umbildung in der Richtung auf den Begriff der Dia-
lektik hervorgehen. Die Theorie mußte dahin gelangen, die Dia-
lektik als objektives Gedankeninstrument und als ob-
jektive Gedankenform auszuzeichnen und anzuerkennen,
d. h. es ergab sich von selbst, ihren Geltungswert als Kategorie
zu erkennen und festzuhalten.
Die Herausarbeitung und Erkenntnis des objektiven, des kate-
gorialen Geltungswertes der Dialektik erfuhr nun ohne Zweifel eine
höchst wirksame Unterstützung durch den Neukantianismus und
durch die in ihm sich vollziehende Entwicklung. Durch sie
wurde der rein prinzipielle und logische Sinn klarer, der in der
Forderung einer Grundlegung der Geisteswissenschaften liegt. So-
wohl bei Georg Simmel als bei Heinrich Rickert ist bereits
in der Fragestellung dieser kantisch-neukantische Einfluß unver-
kennbar. Denn beide formulieren ihre Aufgabe so, daß sie wörtlich
fragen: Wie ist die Geschichte bzw. Wie sind die Kulturwissenschaften
als Wissenschaft überhaupt möglich? Jener tut das in seinem Buche
„Die Probleme der Geschichtsphilosophie“, dieser in der bekannten
Schrift „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“. Die Ge-
nauigkeit der transzendental-kritischen Fragestellung half außer-
ordentlich, die Untersuchung auf die Erfassung gerade des begriff-
lichen — nicht mehr erlebnismäßigen — Apriori des historischen
Erkennens einzustellen. Wenn nun der Begriff der Dialektik und
Antinomik sich als dieses Apriori erweist, so entsteht die bedeutungs-
volle, aber schwierige Aufgabe, eine Logik der Dialektik zu
schaffen und ein System der dialektischen Kategorien zu
entwickeln.
Dieses Erfordernis ist von der Philosophie der Gegenwart mehr
und mehr in seiner Wichtigkeit eingesehen und die Dringlichkeit
seiner Erfüllung ist mehr und mehr hervorgehoben worden. Vor allem
hat Jonas Cohn darauf Anspruch, in diesem Zusammenhang genannt
zu werden (vgl. auch S. 401 ff.). Es kann sich nicht darum handeln,
bloß die allgemeinen, aus der Geschichte der Philosophie schon be-
kannten Antinomien noch einmal darzustellen und zu beleuchten,
sondern dem allgemeinen Begriff der Antinomie die Antinomik und
Dialektik besonders der geschichtlichenErkenntnisgegenüberzustellen
2. Die Dialektik der Geschichte
305
bzw. ihre Beziehungen zueinander klarzustellen. Somit zielt diese Auf-
gabe genauer hin auf eineLogikderhistori sehen Dialektik und
auf die Entwicklung eines Systems der historischen Pro-
blematik und Antinomik. Die Lösung dieser Aufgabe würde
die kritische Grundlegung der Geisteswissenschaften darbieten.
Würde! Klingt aus diesem Wort nicht der Ton des Zweifels
heraus? Ist es nämlich nicht auffällig, daß von allen möglichen
Standpunkten aus der Versuch einer Grundlegung der Geistes-
wissenschaften in Angriff genommen worden ist, aber kaum von
dem des Kantianismus und Neukantianismus? Und widerspricht
es nicht dem Wesen des Kantischen Kritizismus, eine solche Grund-
legung zu liefern? Ist er seinem ganzen Geist und seiner ganzen
Verfassung nach nicht allzusehr an der Mathematik und an der
mathematischen Naturwissenschaft (der theoretischen Physik) orien-
tiert, von deren — der Grundform nach — statischem Charakter aus
sehr viel auch in die Methode des Kritizismus eingedrungen ist, so
daß er seiner Struktur nach zu hart, zu formal-aprioristisch ist,
um ein angemessenes Verständnis für die dialektische Dynamik der
Geisteswissenschaften zu besitzen? Würde er diese Dynamik
nicht allzusehr auf das Prokrustesbett seines formalen Apriorismus
zwingen und ihr damit ihr Leben vernichten? Ist es möglich, unter
Zugrundelegung der Transzendentalphilosophie eine „Logik der
historischen Wahrheit“ zu geben?
Es ist ersichtlich, daß wir damit vor eine Aufgabe gestellt sind,
deren Behandlung sich der Neukantianismus nicht wird entschlagen
dürfen, falls er nicht vor einer der dringlichsten Forderungen, die
der theoretischen Philosophie, die der modernen Wissenschaftslehre
gesetzt sind, kapitulieren will. Kurz gefaßt würde das Thema so
lauten: Kritizismus und Geisteswissenschaft. Der Stimmen sind
nicht wenige, die der Erkenntnistheorie Kants bzw. derjenigen des
Neukantianismus diese Fähigkeit absprechen, d. h. die sie nur für
die kritische Begründung der Mathematik und der mathematischen
Naturwissenschaft als ausreichend erachten. Die Antwort auf das
soeben genannte Problem soll uns in einem späteren Teil unseres
Zusammenhanges beschäftigen. Nur das darf schon jetzt und noch
einmal hervorgehoben werden, daß der Sinn der bezeichneten Auf-
gabe nicht durch die Analyse bloß des allgemeinen Antinomien-
gedankens und der allgemeinen Dialektik getroffen werden würde.
Sondern es gilt, die erkenntnistheoretische Untersuchung in der
Hauptsache und in erster Linie hineinzuführen in die Struktur und
Liebe rt, Dialektik. 20
306
V. Hauptformen der Dialektik
in den Geltungswert der historischen Antinomien, in die Kategorien
der historischen Dialektik, z. B. nicht nur den allgemeinen meta-
physischen Gegensatz zwischen Sein und Sollen, Notwendigkeit und
Freiheit usw. zu begründen und zu entwickeln, sondern die Analyse
einzustellen auf die eigentümliche Art und Weise, in der sich jener
Gegensatz in der historischen Erkenntnis ausprägt. Zum Beispiel
in der unaufhörlichen, unaufhebbaren Reibung zwischen schöpfe-
rischer Selbstverantwortlichkeit und entwicklungsgeschichtlich ge-
gebenen Umständen, zwischen der sittlichen Forderung nach Auto-
nomie und dem geschichtlichen Gesetz der Tradition, zwischen
eigener Prüfung und dem nicht minder notwendigen Glauben an
Autoritäten und der gefühlsmäßigen Abhängigkeit von ihnen u.dgl.
Nur indem die Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften nicht
stehenbleibt bei der Kritik der allgemeinen Dynamik und Dialektik,
sondern sich spezialisiert zur Kritik der historischen Vernunft,
vermag auch der Unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen
Vernunft und ihrer Dynamik auf der einen Seite und der geistes-
wissenschaftlichen Dynamik auf der anderen mit aller Evidenz
herausgearbeitet zu werden. Indem wir jedoch unsere Aufgabe auf
die Entwicklung einer solchen historischen Dialektik abstellen, ist
nun sowohl die Frage, wie sich diese geforderte Logik der Dialektik
zu den klassischen und traditionellen Formen der Dialektik verhalte,
aufgeworfen als zugleich die Grundlage und das Richtmaß für die
Antwort gegeben.
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik zu der einseitigen, humanistisch-
ausgleichenden Dialektik Platos, Hegels, Schleiermachers, Schellings1).
Nun würde ein Hinweis darauf, daß die historische Dialektik
ihrer Grundintention und ihrem Grundprinzip nach mit der traditio-
nellen Form der Dialektik in dem Gedanken der Spannung, der
polaren und korrelativen Gegensätzlichkeit übereinstimmt, uns in der
Beantwortung unserer Frage nicht fördern, ja, an dem besonderen
Sinn der Frage vorüberführen. Tatsächlich nämlich liegt eine große
Verschiedenheit vor. Denn jene klassischen Typen haben noch
nicht das ganze Wesen und die ganze spannungsreiche und tragische
Verschlingung und Tiefe des Begriffs der Dialektik erfaßt und dar-
gelegt. Aber gerade auf diese unauflösbare Verschlingung muß die
*) Vgl. als Ergänzung auch die Ausführungen in dem Kapitel „Die ewige
Dialektik und Problematik der Metaphysik“ S. 373ff-
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik
307
neue Logik der Dialektik ihr Augenmerk richten. Darin wird ihre
Abweichung von der alten Logik, soweit diese sich mit dem Problem
der Dialektik beschäftigte, zum Ausdruck gelangen. Nicht aus-
geschlossen ist es dabei, daß diese zu schaffende Logik der Dialektik
auch zu der Nachprüfung veranlaßt, ob die traditionellen logischen
Formen noch ausreichende und haltbare Kriterien für die Aner-
kennung auch jener Kategorien der historischen Dialektik dar-
stellen, eine Frage, die Nikolai Hartmann gleichfalls berührt, oder
ob jene Logik der Dialektik im gewissen Sinne zu einer Dialektik
der Logik führt. Diese Überlegungen werden im Grunde sicherlich
darauf hinauslaufen, die Idee der dialektischen Problematik selber
als konstituierenden Gesichtspunkt für jene Logik und im Zusammen-
hang damit auch als Kategorie oder als heuristische Maxime für
die Geisteswissenschaften zu würdigen.
Es ist ein naheliegender und unbezweäfelbarer Gedanke, die Ver-
nunft selber als Erzeugerin und Trägerin der Dialektik anzusehen.
Aber diese logische Konstruktion hält die Antinomien fest auf der
Bahn und innerhalb des Rahmens der logischen Einheit und eines
einheitlichen, in sich ruhenden, sich selbst genügenden Prozesses, in
dessen Verlauf alle Abweichungen, alle gedanklichen Zerklüftungen,
alle Reibungen und Brüche kraft der einheitlichen Erzeugerin und
Trägerin wieder ausgeglichen und eingeebnet werden. Damit ist nicht
nur die eigentümliche Selbstbeschränkung, sondern auch die Gefahr
der Selbstaufhebung der Dialektik gegeben. Es gehört zu den größten
Paradoxien der Geschichte des Geistes und der Philosophie, daß der
umsichtigste und durchgreifendste Anwalt und Befürworter der
Dialektik zugleich ihr eigentlicher Bedroher ist. Denn Hegel, der
das Problem der Dialektik und das einer dialektischen Metalogik
gestellt hat, verfährt, worauf neuerdings angesichts der Erwägung,
ob wir einer Hegel-Renaissance entgegengehen oder nicht und ob
diese Renaissance berechtigt ist, häufiger hingewiesen worden ist,
Hegel verfährt bei der Behandlung viel zu monistisch, harmonistisch,
rationalistisch (z. B. Troeltsch, ,,Der Historismus und seine Pro-
bleme4', S. 565, Anm.). Denn was frommt alle noch so betonte
Hervorhebung der Dialektik, wenn von Anfang an im Hintergründe
die allbezwingende Macht des Begriffs und der Vernunft bereitsteht?
Alsdann kann es sich nur um die logische Entgegensetzung von Be-
griffen handeln, da die Vernunft einander nichts anderes entgegen-
zusetzen vermag. Alsdann aber ist die „Aufhebung“ dieser Ent-
gegensetzung auch nicht weiter verwunderlich: die Vernunft hat
20*
308
V. Hauptformen der Dialektik
nichts anderes zu tun. Und von allem Beginn an wird ihr diese Auf-
gabe zugewiesen, wird sie auf die Erfüllung dieser Aufgabe hin-
dirigiert. In dieser Auffassung spricht sich ein seltsamer Dogmatis-
mus aus, in gewissem Sinne vergleichbar jenem mittelalterlichen
Diktat gegenüber der Ratio, wonach diese ihre Hauptleistung in
den ihr anbefohlenen „Beweisen“ der Glaubenssatzungen besitzt.
Dadurch ist die Vernunft grundsätzlich gefesselt und um ihr Bestes
gebracht, um ihre schöpferische Freiheit, um ihre Vorbehaltlosig-
keit. Wohl ist in gewissem Betracht die Behauptung verständlich,
daß die Vernunft jedes ihrer Probleme, da sie es geschaffen und auf-
gestellt hat, da sie es mit ihrem Herzblut nährt, auch bewältigt.
Aber diese Behauptung hat einen Sinn doch nur auf dem Boden
des Panlogismus; und dieser ist eine Sache weltanschaulicher Über-
zeugung, nicht kritischer Erkenntnis, er ist ein Dogma. Von seinem
Boden aus lassen sich die Antinomien allerdings begreifen, und
dadurch ist ihre begriffliche Versöhnung angebahnt. Nicht jedoch
ist damit bereits die Tatsache der Antinomien erklärt, ihr meta-
logisches Entstehen nicht begründet; all ihre Umbiegung in das
Begrifflich-Vernünftige löst nicht die Schwere ihres Ursprunges,
mindert nicht die überlogische Komplikation der ganzen Sachlage.
Indem Hegel auf Grund seines humanisierenden Panlogismus die
Antinomien in den Zusammenhang und in die Form des Begriffs
bringt, raubt er ihnen von Anfang an ihre sachliche Herbheit, sozu-
sagen ihr geschichtliches und menschliches Schwergewicht. Sie
können bei ihm nur in begrifflicher Verdünnung zur Geltung ge-
langen. Und auf die Aufhebung dieser etwas kraftlosen Gebilde
braucht die Vernunft dann keine große Mühe zu verwenden. Erst
da hingegen gelangt der eigentliche Sinn des Antinomiengedankens
zum Durchbruch und zu eindrucksvoller Entfaltung, wo die Ver-
nunft in ihrer logischen Einheit ständig umlauert und in Frage ge-
stellt, wo die Kraft ihrer harmonisierenden Organisation ständig
abgelenkt oder mit einem bestimmten Erfolg bekämpft wird, wo
nicht die Vernunft die Antinomie, sondern die Antinomie die Ver-
nunft bedroht bzw. zum mindesten in ihrem behaupteten Siegeszug
gefährdet, wo die Herrschaft und der Sieg der Vernunft, die von
dem dogmatischen Panlogismus von vornherein als gewiß hingestellt
werden, wenigstens als Problem anerkannt und festgehalten werden.
Der panlogistische Rationalismus und Idealismus macht es sich
mit der Bewältigung des Antinomiengedankens zu leicht. Gerade
diejenigen Antinomien, auf die hier unser Blick hinzielt, steigen
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik 309
aus dem über- bzw. außertheoretischen Boden des geschichtlichen
Lebens, aus den grellen Mißklängen und Irrationalitäten der histori-
schen Wirklichkeit, aus ihren Leidenschaften und Partikularitäten
auf. Hegels bekannte Lehre, daß die ,,List der Vernunft“ in der
Verwendung der Leidenschaften für die vernünftigen Zwecke der
Geschichte besteht, ist eine gewiß geistvolle, aber reichlich gewalt-
same spekulative Teleologie, eine künstliche Geschichtsrationali-
sierung. Ihr pflegt die pessimistische Behauptung gegenübergestellt
zu werden, daß der Weg der Geschichte nichts weniger als die ein-
heitliche, trotz aller Widerstände sich erfolgreich durchsetzende Ent-
faltung der Vernunft sei. Man erspäht hier überall „Sinnlosig-
keiten“ des geschichtlichen Lebens und verweilt mit Behagen bei
ihrer Ausmalung. Ein solches Verfahren trägt alle Züge der Bana-
lität und des Dilettantismus. Es hat seine Voraussetzung lediglich
in dem Subjektivismus der pessimistischen Weltanschauung, einem
Gemütsgebilde von der psychologisch gleichen Grundlage und Be-
schaffenheit wie der Optimismus. Seine Schwäche liegt in dem
Ressentiment, das die Grundlage dieser Auffassung bildet, und das
durch die Einmischung gefühlsmäßiger Züge in die geschichts-
philosophische Untersuchung bereits den Ansatz zu einer sachlichen
und ruhigen Erkenntnis zerstört. Wenn Hegel aber in einer be-
rühmten Formel den Inhalt der Weltgeschichte als den Fortschritt
im Bewußtsein der Freiheit kennzeichnet, so ist der positive Wert
der Antinomik und Dialektik trotz aller ihnen erwiesenen Aner-
kennung doch außerordentlich herabgemindert zugunsten ihrer
Überwindung durch die Vernunft des Geistes. Dann ist die Dia-
lektik nur noch ein Werkzeug im Dienst des Weltlogos, und die Idee
der Harmonie und der Versöhnung hat den Primat erfochten über
die großartige Idee der unendlichen Freiheit in der Dialektik und
der unendlichen Dialektik der Freiheit. Es ist doch nicht im eigent-
lichen Sinne historisch, sondern vielmehr wertend vom Standpunkt
einer bestimmten weltanschaulichen (christologisch gefärbten) Theo-
dizee aus gedacht, wenn Hegel sich beeilt, jede Entzweiung nur als
Vorstufe, nur als Durchgang für die sieghafte Entwicklung des ver-
nünftigen Geistes aufzufassen. Es ist die Paradoxie seiner Dialektik,
daß sein Denken im Grunde die Entzweiung nicht erträgt oder sie
ihrer Positivität nach höchstens als Vorstufe für ihre Beseitigung
anzuerkennen vermag.
Deshalb verläuft bei ihm die mystische, uns von ihm nicht ver-
ständlich gemachte dialektische Selbstbewegung der Begriffe voll-
310
V. Hauptformen der Dialektik
ständig in den Klammern der Vernunft. Ihre Einheit und zusammen-
haltende Kraft überwindet alle Probleme und alle Problematik; sie
ist als die alles tragende und alles durchschauende Geistesmacht
aufgerichtet im Sinne einer Schirmwehr gegen den als eine unter-
geordnete Weltansicht aufgefaßten Dualismus. Keinen heftigeren
Tadel trifft Kant als der Vorwurf, er habe an dem Dualismus von
Sein und Sollen festgehalten. Hegels monistischer Ontologismus
widerspricht mit aller Entschiedenheit jener für die kritische Philo-
sophie charakteristischen und grundlegenden Unterscheidung.
Ohne Zweifel waltet auch innerhalb des Zusammenhanges der
Begriffe und der Vernunft eine Dialektik. Und es ist Hegels Ver-
dienst, sie gegenüber dem bequemen monistischen Rationalismus der
Aufklärung, zu dem Kant nicht gezählt werden kann, erkannt
und wieder herausgearbeitet und zu Ehren gebracht zu haben. Es
ist ferner eine Ruhmestat, daß er dann das Prinzip der Dialektik zum
Aufbau eines der großartigsten Systeme der Philosophie verwendet
hat. Dennoch bleibt die ernste Frage bestehen, ob die Hegel-
sche Dialektik wirklich die Dialektik der Geschichte ist,
ob mittels der von jenem großen spekulativen Kopf entwickel-
ten dialektischen Prinzipien der eigen- und einzigartige Gehalt und
Gang der geschichtlichen Welt adäquat begreifbar und konstruier-
bar ist.
Damit aber stehen wir vor der Frage, ob die Eigenart des spe-
kulativen Idealismus nicht überhaupt gegenüber der tragischen
Ungeschlossenheit und Unabschließbarkeit der geschichtlichen Welt
versage. Unser Auge sieht heute doch anders hinein in das Wesen
dieser Welt, quantitativ und qualitativ, als Hegels Auge, so scharf
und offen sein Blick auch für die Erfassung der geschichtlichen
Erscheinungen war. Ferner dünkt mich, daß außerdem unser see-
lisches Verhältnis zu ihr, abgesehen von demjenigen intellektueller
und erkenntnismäßiger Natur, sich sehr tief gewandelt hat. Es ist
viel verwickelter, ungeklärter, schicksalshafter, schwerer, unformu-
lierbarer, tragischer geworden. Nicht nur unsere Erkenntnis, son-
dern auch unser Erleben der Geschichte ringt mit ganz anderen
Schwierigkeiten, trägt die Züge des Leides und des Leidens und die
Merkmale der Krisis in einer viel schärfer ausgeprägten Akzentuie-
rung in sich, als das bei den Geschlechtern der Fall war, die ihre
Bildung von dem milden und harmonischen Geiste des Neuhumanis-
mus empfingen. Zu unseren Erziehern gehörten neben den großen
Ausgeglichenen, neben den Klassikern, denen die Gabe zuteil ge-
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik 311
worden war, ihrem Leben eine bindende Gestalt zu geben, doch
auch die dämonisch Aufgewühlten, die Suchenden, die ihres Weges
nicht immer Sicheren, die großen, aufregenden Problematiker.
So hat unter dem Zeichen und Einfluß jener erzieherisch-ver-
söhnenden Gesinnung des Neuhumanismus nicht nur Hegel seine
Dialektik entwickelt, sondern auch Schleiermacher eine „Dia-
lektik“ geschrieben. Wie dieser große Religionsphilosoph das Leben
der Religion aus einem ästhetisch durchgeistigten und verklärten,
in inniger Liebesstimmung zart gebundenen, also allem Sturm- und
Drang-Rausch fernstehenden Gefühl ableitete, so zeigt auch seine
„Dialektik“ alle Züge harmonisierender Überbrückung und Ver-
einheitlichung des Widerstreites des realen und des idealen Faktors
der Wirklichkeit. Hier heißt es geradezu: „Dialektik ist die Kunst,
von einer Differenz im Denken zur Übereinstimmung zu kommen.“
Gemäß dieser charakteristischen und programmatischen Erklärung
wird der Philosophie die Aufgabe zugewiesen, den „inneren Zu-
sammenhang“ alles Wissens und Seins und die „Kongruenz“ von
Sein und Wissen darzustellen. Nur wenn diese Kongruenz auf-
gedeckt, die Identität des realen Inhaltes und des spekulativen
Geistes mittels der Dialektik ans Licht gehoben ist, kann von
„Wahrheit“ gesprochen werden. Ja, das Wissen überhaupt hat
seinen tiefsten Grund in dieser metaphysischen Identität und Ein-
heit, die jeder Untersuchung über die besonderen Funktionen des
Wissens, z. B. der Unterscheidung in den organischen und in den
intellektuellen Faktor, und über die verschiedenen Seiten des Seins
zugrunde liegt. Und es ist nun einleuchtend, daß aus dieser spino-
zistischen Identitätsüberzeugtheit eine ganz andere Form der
Dialektik entspringt als die, die wir hier im Auge haben.
Die irrationale Wurzel jener Schleiermacherschen Einheitsüber-
zeugung, jener Einheitsgläubigkeit ist das religiöse Erlösungs- und
Versöhnungsgefühl, ist die sehnsuchtsvolle Stimmung des Aus-
gleiches zwischen dem Individuum und dem Universum. Denn der
einzelne steht im Umkreis dieser Weltauffassung dem Absoluten,
dem Göttlichen niemals in jener trotzigen Selbständigkeit gegen-
über, die bereits die Möglichkeit seiner Eingliederung in die Har-
monie des Alls verbieten würde. Zwar heißt es schon in den „Reden
über die Religion“ (1. Rede: Apologie), „daß die Gottheit durch
ein unabänderliches Gesetz sich selbst genötigt hat, ihr großes Werk
bis ins Unendliche hin zu entzweien, jedes bestimmte Dasein nur
aus zwei entgegengesetzten Kräften zusammenzuschmelzen und
312
V. Hauptformen der Dialektik
jeden ihrer ewigen Gedanken in zwei einander feindseligen und doch
nur durch einander bestehenden und unzertrennlichen Zwillings-
gestalten zur Wirklichkeit zu bringen“. Zwar erscheint nicht nur
die ganze körperliche Welt den Unterrichtetsten und Denkendsten
als ein ewig fortgesetztes Spiel entgegengesetzter Kräfte, sondern
alles Leben überhaupt und jede menschliche Seele „ist nur das
Resultat eines beständigen Aneignens und Abstoßens ... ist nur
ein Produkt zweier entgegengesetzter Triebe“, jedes Ding gewinnt
„nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte
der Natur, das durstige Ansichziehen und das rege und lebendige
Selbstverbreiten, auf eine eigentümliche Art vereinigt und fest-
hält“. Aber diese „Dialektik“ ist dennoch nur eine solche, die im
Rahmen der Harmonie verläuft, die die Vollkommenheit im Sinne
einer übergreifenden Einheit nicht ausschließt. Denn alle Ent-
zweiungen und Gegnerschaften werden durch „ein allgemeines Band
des Bewußtseins“ umschlungen. Auch die Pole der Menschheit
finden sich in einem „gewissen Punkt, wo ein fast vollkommenes
Gleichgewicht beide vereiniget“; Mittler treten auf als Gesandte
Gottes, als Priester, Geweihte, Führer zur Erlösung, zur Einheit,
zur Religion, der die hohe Aufgabe der Verbindung „zwischen dem
eingeschränkten Menschen und der unendlichen Menschheit“ so
recht Vorbehalten ist. Sie sind ausgeschickt, „das gemeine Leben
in ein höheres zu verwandeln, die Söhne der Erde auszusöhnen mit
dem Himmel, der ihnen gehört, und das Gegengewicht zu halten
gegen die schwerfällige Anhänglichkeit des Zeitalters an den gröberen
Stoff“.-------
Ebenso bewegt sich Schellings Denken ganz und gar auf
den Bahnen dieses konstruktiven Monismus, für den alle Gegen-
sätze nur darum da zu sein scheinen, um von der „Einheit“ des
Geistes überwunden zu werden, um den Triumph dieser Einheit um
so heller erstrahlen zu lassen. Nach dem von Franz Rosenzweig
aufgefundenen sogenannten Ältesten Systemprogramm des deut-
schen Idealismus ist Schelling sogar offenbar der erste eigentliche
Vertreter und Schöpfer jener Gedankenrichtung, für die die Bezeich-
nung des „spekulativen Harmonismus“ vielleicht nicht unange-
messen ist1). Überhaupt wird es schwer sein, außer dem Neu-
platonismus und außer vorwiegend spekulativ-theologisch gerich-
teten Systemen — einschließlich des gerade in diese Gruppe ent-
*) Vgl. Arthur Liebert, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealis-
mus; Kant-Studien, Bd. XXII, 1918, S. 460ff.
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik
313
schieden gehörenden Spinoza —, noch ein Zeitalter oder eine Geistes-
strömung zu finden, deren ganze Vorstellungsweise und Wertungs-
art so stark unter dem Einfluß harmonisierender Konstruktion
stand, wie das bei dem spekulativen Idealismus der deutschen
Philosophie der Fall war. In ungebrochener Allmacht herrschte hier
des Cusaners Idee von der „coincidentia oppositorum“, die mit
aller Hingabe des Denkens und mit unverkennbar großartigen
Erfolgen aus der Fülle der realen Gegensätze herausgearbeitet
wurde.
Allerdings war bei der Gewinnung dieses Ergebnisses keineswegs
nur die logische Kraft des diskursiven Verstandes am Werke. Son-
dern nicht allein bei Schelling und Schleiermacher, sondern
auch bei Fichte und Hegel ist ein recht beträchtlicher Einschlag
intuitiven Verhaltens wirksam. Auch Hegel ist von der „intellek-
tuellen Anschauung“ gar nicht so frei, wie das seinen Worten und
seiner heftigen Ablehnung jener Form der Systembildung nach
scheinen könnte. Wissen wir doch, daß gerade der Umstand der
Gegnerschaft oft auf eine verborgene, aber deshalb mitnichten ge-
mäßigte Sympathie schließen läßt. Die Mitbeteiligung der intellek-
tuellen Anschauung bei der Errichtung der spekulativen Systeme
bedeutet im Grunde nichts anderes als die umfassende Heran-
ziehung der künstlerischen Phantasie. Diese künstlerische Phan-
tasie jedoch ist im Sinne des klassischen und des klassizistischen
Schönheitsideals tätig, also im Sinne einer besonderen Form und
Ausprägung der Schönheitsfunktion überhaupt. Das ist das Ent-
scheidende und Beachtenswerte! Trotz aller „Romantik“ kommt es
in dieser romantisch-spekulativen Philosophie und auch in der mit
ihr verbundenen Weltanschauung keineswegs zu einer auch nur
annähernden, geschweige denn restlosen Zerweichung und Spren-
gung der „Form“. Das verhütet nächst der allgemein herrschenden
Idee des Systems — und „Systematiker“, also „Vereinheitlicher“
im vollen Verstände dieses Wortes sind alle spekulativen Philo-
sophen — die intellektuelle Anschauung, die die Schau der Einheit,
der alle Einzelheiten und Differenzen bezwingenden Zusammen-
stimmung der Teile zur Universalität des Ganzen ist. Es ist eine
von dem Geiste harmonisierender Kunststimmung und Kunst-
auffassung erfüllte philosophische Einstellung, die sich, ihres Er-
folges von Anfang an sicher, an die vereinheitlichende Konstruktion
der Welt macht. Es ist aber keine Einstellung von ganz tragischem
Gepräge. Für jedes Problem liegt vielmehr der Weg zur Lösung
314
V. Hauptformen der Dialektik
bereit, so daß seine „Problematik“ sich nicht in ihrer ganzen Wucht
entladen kann. Es ist der Geist der Milde, der Toleranz; eine humane
Weltauffassung, deren Heroismus durch die Neigung zur Theodizee
und zum Optimismus erheblich gedämpft ist.---------
Mit der aus den verschiedensten Beweggründen sich vollziehen-
den Preisgabe jenes weltanschaulichen Humanismus verabschiedet
sich überhaupt ein Zeitalter des Geistes. Denn im ausgesprochensten
Gegensatz zu jener humanistischen, dem Begriff des Problems und
der Antinomie seine Schärfe nehmenden und darum nicht mit der
ganzen Schwere der Tragik belasteten Weltauffassung Schellings,
Hegels, Schleiermachers, ja schließlich im ausgesprochensten
Gegensatz zu der ganzen spekulativ-versöhnenden, idealistisch-
harmonisierenden Lebens- und Wirklichkeitsdeutung hat für das
Weltgefühl der Gegenwart der Kosmos der Geschichte die ab-
schließenden Umrisse einer eindeutigen, durch Vernunft beherrsch-
baren bzw. beherrschten Einheit eingebüßt. Tragen wir doch sogar
Bedenken, der reibungsvollen und wirbelnden Fülle der Geschichte
noch den Namen des Kosmos zuzusprechen. Sowohl gefühls- als
auch erkenntnismäßig stehen wir heute dem Bilde des geschichtlichen
Lebens ganz anders gegenüber, als das die Zeit der spekulativen und
romantisch-konstruktiven Philosophie tat. Seine herbe und harte
Realität will sich nicht mehr dem Schema einer Synthese und
Ideologie fügen, das in seiner Struktur die überaus seltsame Ver-
koppelung von mystischen, romantischen, rationalistischen und
naiven Zügen aufweist. Hegels Dialektik ist trotz ihrer Kompli-
kation von dem Geiste des aufklärerischen Rationalismus insofern
noch gar nicht so überaus weit entfernt, als auch sie es unternimmt,
die geschichtliche Wirklichkeit durch einheitliche, objektive Ver-
nunftformen einheitlich zu bestimmen bzw. als von diesen einheit-
lich bestimmt erscheinen zu lassen. Unterschieden ist diese spekula-
tive Konstruktion von der aufklärerischen Einfachheit der Weltauf-
fassung allerdings durch die Heranziehung des romantisch-religiösen
Faktors, der noch mehr als die mathematische Logik des Rationa-
lismus zur Entwicklung eines Weltbildes verklärend-verklärten Ge-
präges führte und verführte. Die bezwingende Kraft, die den Kon-
struktionen der Vernunft zugebilligt ward, ist ohne den Glauben,
daß in jener Kraft ein göttlicher Geist mitenthalten sei, gar nicht
zu verstehen. Wir hingegen haben unter dem überwältigenden
Eindruck neuer Erkenntnisse und erschütternder Erfahrungen ge-
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik 315
lernt, auch wieder die ganze und volle Subjektivität des Menschen
in aller ihrer irdisch-elementaren Menschlichkeit und allzu mensch-
lichen Menschenhaftigkeit in unsere Weltrechnung und Weltbewer-
tung einzusetzen. Es wäre ein Rückfall in eine überlebte Form des
Rationalismus, wollten wir eine Welterkenntnis und besonders eine
Erfassung der geschichtlichen Welt lediglich mit den alten Mitteln
allgemeingültiger Vernunftschemata, d. h. ohne Berücksichtigung
der dialektischen Dynamik des Lebens und der von Paradoxien
durchtränkten Subjektivität der menschlichen Interessen ins Werk
setzen. Unrichtig ist die Behauptung, auch einseitig, daß die mo-
derne Wissenschaftsentwicklung des 19. Jahrhunderts durch die zu-
nehmende Aufstellung eindeutig objektiver Erkenntniskriterien
und Wertmaßstäbe gekennzeichnet sei, daß ihre Tendenz dahin
gehe, die Welterkenntnis von dem Vielerlei persönlichen Selbst-
bewußtseins und von der Bewegtheit des menschlichen Ichs abzu-
lösen und an einem begrifflich in sich ruhenden, von den Schwan-
kungen des Ichs nicht berührten System objektiver Kategorien zu
orientieren.
Diese Ansicht mag für die Grundlegung und für den Aufbau
einer vorherrschend naturwissenschaftlichen, mathematisch-physi-
kalischen oder auch biologischen Weltanschauung zutreffen, obwohl
auch in bezug auf diese die Frage des behaupteten Fortfalls aller
subjektivistischen Momente noch keineswegs als entschieden be-
trachtet werden kann. Aber über ihre fundamentale Unzulänglich-
keit gegenüber den eigentümlichen Forderungen der Erkenntnis
geistesgeschichtlicher Erscheinungen braucht heutzutage kein Wort
mehr verloren zu werden. Sie wird dem in allen diesen Erschei-
nungen unaustilgbar wirksamen subjektiven und dialektischen
Faktor nicht im entferntesten gerecht, denn sie versteht ihn weder in
seiner Tatsächlichkeit noch in seiner Sinnhaftigkeit. Eine geistes-
wissenschaftliche Erkenntnis und Weltanschauung hingegen muß
ihn als Kategorie unbedingt in sich aufnehmen, in sich eingliedern.
Wie sie mit dieser prinzipiellen Schwierigkeit fertig wird, und zwar
im begrifflichen Sinne, ist eine Frage für sich. Die Behandlung
dieser Aufgabe ist gar nicht zu umgehen, will eine solche Erkenntnis
und Weltanschauung zur Einsicht in ihre Voraussetzungen und ihre
Struktur gelangen; sie gehört formal und inhaltlich zur „Dialektik“
des Geisteslebens und zur Theorie desselben.
Die Fortschritte der modernen Wissenschaften von der Religion,
der Kunst, der Sittlichkeit, des Staates, des Rechtes usw. haben
316
V. Hauptformen der Dialektik
immer mehr den ungeheueren Anteil offenbart, den an jenen ob-
jektiven Gebilden das Menschlich-Allzumenschliche hat. Wie nun
die aus dieser Erkenntnis abgeleiteten Wertungen und Deutungen
der Wirklichkeit sein mögen, eins ist gewiß: Die fast naive Sicher-
heit früherer Zeiten und Generationen hinsichtlich der Entschei-
dung über Gehalt, Sinn, Verlauf und Gesetz der Kultur ist uns
abhanden gekommen. Wir betrachten und beherrschen die Realität
der Geschichte weder theoretisch noch praktisch mit jener unbe-
schränkten und selbstverständlichen Souveränität wie Hegel und
seine Zeit. Zu ehrfurchtgebietend und drohend, zu bedrückend und
autoritativ steht die Geschichte vor uns; wir haben ihre Überlegen-
heit in zu nachdrücklichen Belehrungen kennengelernt, um noch
des Glaubens sein zu können, wir könnten ihrer Mannigfaltigkeit
mit den geschlossenen Formeln abstrakter Systematik erschöpfend
beikommen. Jedenfalls sind wir erst am Werke, einen neuen, für
jenen Zweck tauglichen Begriffsapparat und einen Kreis von neuen,
der erweiterten und verwickelteren historischen Erkenntnis ange-
messenen philosophischen Vorstellungsformen aufzubauen, ein Be-
ginnen, dessen Durchführung begreiflicherweise mit zahlreichen und
sehr erheblichen Hindernissen verbunden ist. Das Bedürfnis nach
solchen geschichtsphilosophischen Deutungen aber ist groß; der
Wunsch nach seiner Befriedigung wächst naturgemäß in dem Grade,
in dem die Ausbeute der positiven Forschung anschwillt. Und dieses
intensive, nicht nur theoretischen Motiven entspringende Verlangen
macht das Interesse verständlich, das von der Gegenwart fast allen
geschichtsmetaphysischen Durchleuchtungen entgegengebracht wird,
wobei die Frage nach dem strengen wissenschaftlichen Wert solcher
Versuche nicht im Vordergründe der Anteilnahme steht, auch das
Interesse nicht von der Entscheidung dieser Frage abhängt.
Die nachdrückliche Energie, mit der die Realität der empirischen
Geschichte sich in unserem Erleben, Werten und Erkennen geltend
macht, scheint mir nun auch der Grund für die notwendige Ab-
weichung der neuen Dialektik von derjenigen Platos zu sein.
Zwar ist man gewohnt, in ihm den ersten klassischen Vertreter
des dialektischen Dualismus zu erblicken. Bei seinen eleatischen
Vorgängern verliert die empirische Welt so sehr den Charakter des
Seins, wird sie so stark zu einer Welt des Scheins und der subjek-
tiven Einbildung verflüchtigt, daß bei ihnen der philosophische
Monismus durch die behauptete Identität des wahren Seins und des
wahren Denkens gerettet wird bzw. aufrechterhalten bleibt. Aber
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik
317
auch der athenische Denker leugnet der empirischen und historisch
gegebenen Wirklichkeit den Charakter eigentlicher Realität. Indem
er sie nämlich gleichfalls zu einer Sphäre des Scheins, der bloßen
Meinung und Einbildung herabsetzt und die wahre Erkenntnis
eindeutig und einheitlich dem allein wahrhaften Sein der Ideen
zuordnet, nimmt er seinem Dualismus im Grunde die antinomische
Wucht und Strenge. Auch bei ihm ist jene harmonisierende Tendenz
wirksam, auf die Nikolai Hartmann als charakteristisch für die
Mehrzahl der philosophischen Systeme nicht ohne Tadel aufmerk-
sam gemacht hat, und von der auf den vorliegenden Seiten wieder-
holt die Rede war. Wie bei Hegel und Schleiermacher, so büßt auch
bei Plato die Reibung zwischen dem, was ist, und dem, was sein
soll, ihren tragischen und heroischen Ernst ein. Auf der einen Seite
wird dem empirischen Sein der Wert wahren Seins abgesprochen;
damit verliert die Antinomie zwischen Realität und Idealität den
einen Pol, d. h. sie fällt in sich zusammen. Auf der anderen Seite
wird im Begriff der Idee das wahrhafte Sein so innig mit dem wahr-
haften Sollen verkoppelt und schließlich ineinsgesetzt, daß auch
innerhalb der ideellen Sphäre eine eigentliche Spannung keinen
Platz hat. Wahrhaftes Sein, wahrhaftes Sollen, wahrhafte Erkennt-
nis bilden einen einheitlichen, in sich ruhenden und geschlossenen
Kosmos, der gegen alle Stürme aus dem Lager der Empirie schon
darum gefeit ist, weil weder diese Empirie noch ihre Stürme reale
und sinnhafte Geltung besitzen. Und dem Menschen öffnet sich
auf dem Wege der Dialektik die Möglichkeit, in die Realität und
Sicherheit dieser verklärten Welt einzutreten; der Weg dieser
platonischen Dialektik, das ist bezeichnend und bemerkenswert, ist
der Weg der Verklärung, der Heiligung, der Erlösung; er ist ein
Heilsweg!
Aus diesem Grunde ist auch das platonische Weltbild bei allem
seinen Pessimismus, auf den unlängst noch Hermann Diels in lehr-
reichen Bemerkungen hingewiesen hat, dennoch nicht von jener
tiefen Bitternis und Bitterkeit erfüllt, die jede Erlösungsaussicht
und Erlösungshoffnung verneint oder verhöhnt. Plato ist doch ein
seliger Geist, wie Goethe gesagt hat. Und diese weltüberwindende
Kraft, die er selber seiner Ideenlehre zuschreibt, ist der religiöse
Zug in seiner Dialektik. Von der intellektuellen, sittlichen und
ästhetischen Höhe aus, zu der die Ideenlehre führt, verblassen die
Antinomien; die Angst des Irdischen ist abgeworfen, die Seligkeit
einer höchsten, reinsten, geistigen Persönlichkeit spiegelt sich in
318
V. Hauptformen der Dialektik
tiefer Beglücktheit und Erdenfreiheit in dieser harmonischen Meta-
physik und in der Seligkeit dieser Dialektik bzw. in der Beseligung
durch sie. Ohne Zweifel beruht auch Platos unvergleichliche Stel-
lung und unversiegbar weiterwirkende Kraft im abendländischen
Geistesleben auf diesem religiösen Zug, auf dieser Führung zur
Erlösung. Hierin ist ihm Spinoza ähnlich und wesensverwandt.
Nicht auf dem theoretischen Gehalt, sondern auf jenem meta-
physisch-religiösen Faktor und Sinn gründet sich das weltanschau-
liche Ansehen ihrer Lehren.
Zugleich bedeutet jenes, fast allen großen metaphysischen Sy-
stemen innewohnende Welterlösungsmotiv denjenigen Punkt, an
dem die Philosophie ihre Autonomie verliert und in das Gebiet der
Religion Übertritt. Möglich wird ihr dieser Übergang nur um den
Preis der paradoxalen Nichtigkeitserklärung der empirischen Welt
Paradoxal jedoch ist dieser Vollzug, weil die Philosophie durch die
Aufhebung der Antinomie zwischen empirischer und ideeller Realität
eine der Grundvoraussetzungen und Rechtsbedingungen ihrer Exi-
stenz verneint. Sinkt jene Antinomie dahin, was bleibt der Philo-
sophie dann noch zu tun übrig? Erstens wird ihre theoretische
Aufgabe, nämlich vom Standpunkt der Idee aus die empirische
Welt zu erkennen, gegenstandslos. Denn die Erkenntnis einer so
wesenlosen, einer so nichtigen Welt verbietet bzw. verneint sich
selbst; höchstens daß von ihr eine wissenschaftlich und philo-
sophisch gänzlich belanglose und haltlose „Meinung“ zu gewinnen
ist. Zweitens wird auch ihre praktische Aufgabe durchaus gegen-
standslos. Diese praktische Aufgabe könnte darin bestehen, die
Dialektik zwischen Sein und Sollen zu bejahen und aus ethisch-
pädagogischen und metaphysischen Entscheidungen und Maßnahmen
eine Überwindung dieser Dialektik als Ziel zu postulieren und An-
weisungen zur Erreichung dieses Zieles zu erteilen. Aber auf der
Höhe dialektischer Einsicht und überhaupt dialektischer Geistes-
haltung ist die Dissonanz zwischen Sein und Sollen von Grund
aus beseitigt; auf jener Höhe ist der Philosoph ein „Weiser“, ein
Heiliger.
Dieser platonischen Welterlösungslehre gegenüber muß jedoch
betont werden, daß die genannte Antinomie und Dialektik als
Antinomie und Dialektik anerkannt werden muß, daß ihre Geltung
als Grundlage der philosophischen Arbeit nicht zugunsten eines
religiös gefärbten oder orientierten Monismus unterschätzt oder
unterdrückt werden darf. Der stärkste Monismus, den die Geistes-
3. Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik
319
geschichte kennt, ist der Monismus der Religion. Trotzdem gründet
auch er sich auf der Dualität von Gott und Welt, heilig und sündig,
ewig und weltlich oder wie immer dieser Dualismus bezeichnet
werden mag. Der Überwindung dieser Dualität und Reibung durch
die Religion steht ihre Anerkennung und Beibehaltung durch die
Philosophie gegenüber. Verzichtet die letztere auf die Anerkennung
und auf die systematische Aufrechterhaltung der antinomisch ge-
richteten und antinomisch verlaufenden Dialektik, d. h. wendet sie
sich zu einer endgültigen Lösung aller Problematik und erteilt sie
in dogmatischem Ton eine endgültige Antwort, dann gibt sie
ihre Arbeit und ihre Herrschaft ab an die Religion. Die Wege kri-
tischer Erkenntnis, die stets die Wege innerhalb der Kreise der
Probleme sind und auf der Bejahung der Problematik beruhen,
wandeln sich in die Wege des Glaubens, die unruhige Forschung
verändert sich und wird zur festen Gestalt der im Dogma geborgenen
Ruhe.
Seinen philosophischen und theoretischen Ausdruck erhält dieser
harmonistische Dogmatismus durch die eindeutige, durch die ein-
sinnige Teleologie der Ideenlehre. Ohne die Großartigkeit dieser
Konstruktion auch nur einen Augenblick zu verkennen oder zu
unterschätzen, darf doch gesagt werden, daß auch sie unter dem
Vorzug einer allzu einseitigen und einfachen Welterklärung und Welt-
deutung leidet. Die Leugnung der Realität der empirischen Wirk-
lichkeit zeitigt ohne Mühe eine Theodizee, die alle Kennzeichen
einer Weltverklärung trägt. Ihre Sicherheit jedoch besitzt die
platonische Teleologie und Theodizee einzig und allein in dem Dog-
matismus jener Leugnung. Ist das Recht jenes Dogmatismus einmal
zugestanden, dann allerdings ergibt sich die Konstruktion der
intelligiblen Welt durch die Ideen des Wahren, des Guten und des
Schönen und die Aufteilung jener Welt in diese Ideen beinahe von
selbst. Die von vornherein immanent behauptete, der Gesinnung
Platos zugrunde liegende Harmonie des xoa^og vorjTos findet ihren
gedanklichen Niederschlag und ihre theoretische Besiegelung in der
Herrschaft jener drei Grundideen, die alles ihnen Entgegengesetzte
bemeistern, die alles Widrige überwinden — theoretisch und prak-
tisch —, die alles Dumpfe und Dunkle verklären. Die Anerkennung
des bekannten aristotelischen Einwandes gegen Plato, daß die
Ideenlehre zu der Konsequenz führen müsse, auch Ideen des Häß-
lichen, des Niedrigen, des Schmutzigen aufzustellen, hätte die plato-
nische Dialektik nicht sowohl gesprengt, da sie der Urannahme der
320
V. Hauptformen der Dialektik
Harmonie zuwider gewesen wäre, als vielmehr jeder sachlichen Be-
rechtigung entbehrt. Die klare Nichtigkeitserklärung der unter-
ideellen Welt überhob Plato der Verpflichtung zur Setzung der-
artiger Ideen. Denn nicht auf Wesenloses, sondern nur auf Wesen-
haftes können die Ideen sich beziehen. Daß aber das Problem der
Teleologie und Theodizee dadurch ungeheuer vereinfacht ist, ver-
einfacht so weit, daß seine Lösung kaum noch eine eigentliche
Schwierigkeit und Aufgabe weder für die Erkenntnis noch für die
Wertung auch nicht für die Deutung der Welt umfaßt, springt
ohne weiteres in die Augen.
4. Die Dialektik aus Formwert und Gehaltwert.
Es ist jedoch erst die Frage, ob überhaupt die Abwendung des
philosophischen Interesses von der Welt der Erscheinungen und
die ausschließliche Einstellung auf die harmonische Welt des wahr-
haft Seienden und die Gliederung des Seienden in die drei Grund-
ideen des Wahren, Guten und Schönen berechtigt ist, ob sie
nicht von Anfang an eine dogmatische Vereinfachung der gesamten
Problemlage bedeutet. Quillt der Dialektikeineinhaltliche Fruchtbar-
keit nicht erst zu aus den bewegten, ungeklärten, der Ordnung,
des Logos, der Rechtfertigung entbehrenden, aber bedürftigen Ge-
filden der sinnlichen Erscheinungen und der auf diese Weise be-
dingten Spannung zwischen Erscheinung und Idee? Ihren voll-
gültigen Sinn bekommt bzw. bewahrt die Idee der Dialektik doch
nur, wenn der Gedanke der Harmonie nicht zu einer Realität hypo-
stasiert wird, was bei Plato ohne Zweifel der Fall ist. Dabei ist es nur
nötig, an den ,,Phaidros“ und „Phaidon“ und an die Sokrates-Gestalt
als die Verwirklichung aller Weisheit zu denken. Sie gewinnt und
bewahrt ihren Sinn nur, wenn die Idee der Harmonie allerhöchstens
als — Aufgabe gedacht wird. Dann jedoch erhält sie eben dadurch
zugleich ihre Tragik.
Ferner vermögen wir angesichts der außerordentlichen Erweite-
rung, Vertiefung, Verschlingung unserer geisteswissenschaftlichen und
geistesgeschichtlichen, unserer psychologischen und literarischen Ein-
sichten und Erkenntnisse die restlose Durchsetzung der drei Grund-
ideen nicht mehr in der gleichen Weise, fast möchte ich sagen: nicht
mehr in der gleichen Naivität wie Plato zu behaupten. Auch in
diesem Falle genügt es nicht, die unendliche Bereicherung des In-
haltes der Geisteswissenschaften einfach zu registrieren; es gilt
4. Die Dialektik aus Formwert und Gehaltwert 321
vielmehr, zu erwägen, welche seelische, ja sogar welche speziell
sittliche Rückwirkung eine derartige Bereicherung auf uns aus-
üben muß bzw. ausgeübt hat, damit das „Mißlingen aller philoso-
phischen Versuche in der Theodizee“, um mit Kant zu sprechen,
verständlich erscheint. Wir stehen einem stetig anschwellenden
Ozean neuer und sich immer verwickelter gestaltenden Erkenntnisse
gegenüber; seine Wellen haben nicht nur theoretisch unser Weltbild
verändert, sie zwingen uns überhaupt eine andere Einstellung zur
Problematik der geschichtlichen Welt auf, als Plato und seine Zeit
vertraten. Sobald dieser Umstand mit der gebotenen Nachdrück-
lichkeit gewürdigt wird, dann wird sofort klar, daß auch eine heute
unternommene Metaphysik der Geschichte durchaus andere Züge
aufweisen muß als eine solche aus dem vierten Jahrhundert vor
der christlichen Zeitrechnung, wie nicht minder eine solche aus
der Zeit und aus der Stimmung unserer spekulativen und extrem-
idealistischen Philosophie. Es ist für uns ein Ding der Unmöglich-
keit geworden, die uns nach und nach bekanntgewordene riesen-
mäßige Mannigfaltigkeit der Erscheinungen als begriffliche oder als
seelische Einheit in dem traditionellen Sinne zusammenzufassen,
um von hier aus eine metaphysische Konstruktion und Deutung
der Geschichte zu unternehmen.
Natürlich bleiben wir unabweisbar gezwungen, um der Er-
kenntnis, um der Wissenschaft willen zusammenfassende und ver-
einfachende rationale Linien durch das Gewirre der Geschichte zu
legen. Das fordert der Begriff der Wissenschaft. Denn in diesem
Begriff ist der Gedanke der Synthese enthalten, und ohne Synthese
ist kein Begreifen möglich. Aber bei aller vereinfachenden und
synthetisierenden Tätigkeit muß das Bewußtsein lebendig bleiben,
daß damit eben nichts als eine logisch und theoretisch notwendige
Zusammendrängung vollzogen wird, während der Sachverhalt als
solcher die Züge der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität aufweist
und beibehält. Wir müssen uns also bei und trotz aller Synthese
immer gegenwärtig halten, daß dieselbe eine ganz bestimmten be-
grifflichen Funktionen unterworfene Umformung der Wirklichkeit be-
deutet, ohne dabei die versponnene Vielfalt und Vielgestalt des Lebens
mindern zu können. Das heißt, wir müssen uns das Auge dafür offen
halten, daß jene konstruktive Umgestaltung in ihrer Einfachheit
sinnhaft auf eine ununterdrückbare und unermeßliche Problematik
bezogen ist. Zwischen der durchaus unvermeidlichen und von der
Wissenschaft immer mehr verlangten und geförderten Einheitlich-
Uebert, Dialektik. 21
322
V. Hauptformen der Dialektik
keit und Einheit der begrifflichen Konstruktion und der heterogenen
Bewegtheit der Geschichte waltet eine nie aufhebbare Dialektik.
Und je weiter wir in der Entwicklung geschichtsmetaphysischer
Kategorien Vordringen, um so notwendiger ist es, keinen Augenblick
weder der oben angedeuteten Bezogenheit dieser Kategorien auf
eine überkategoriale Problematik, die aus dem geheimnisvollen
Schöpfertum des geschichtlichen Lebens stammt, noch der soeben
erwähnten Dialektik zu vergessen.
Die Spannung innerhalb der Welt der Begriffe und der Ideen
ist, so stark diese auch sein mag, grundsätzlich immer lösbar. Denn
sie ist eine Spannung nur innerhalb der Vernunft, durch die Vernunft
gesetzt, durch die Vernunft entwickelt und damit durch die Vernunft
zu überwinden. Eigentlich ist sie keine Antinomie in dem von uns
hier ins Auge gefaßten Sinne. Bei ihr handelt es sich um eine reine
Vernunftantinomie, und für sie gilt Hegels Wort, daß jedes Pro-
blem, da es von der Vernunft gesetzt sei, auch durch die Vernunft
aufgelöst werden kann. Diese Behauptung ist ebenso treffend als
im Grunde nichtssagend, und die panlogistische Idee ist für die
Entstehung und für die Entfaltung echter Antinomik und echter
Dialektik kein gedeihlicher Boden. Der Gegensatz z. B. zwischen
Einheit und Vielheit oder der zwischen Notwendigkeit und Freiheit
büßt seine Schärfe und seinen Sinn dann sofort ein, wenn er ledig-
lich als ein solcher innerhalb der Vernunftsystematik aufgefaßt wird.
Wie aber diese Vernunftsystematik ihren funktionalen Geltungs-
sinn nur dadurch erhält, daß sie auf ein erst zu systematisierendes X
bezogen ist und ohne diese dialektische Beziehung ihren Sinn als
System verliert, so weist auch jedes in ihr auftretende Problem nicht
nur dialektisch hin auf die nächst höhere Stufe innerhalb des Sy-
stems, in der es „aufgehoben“, also gelöst erscheint, sondern es weist
zugleich mit einer zweiten dialektischen Ausbiegung hin auf eine
außersystematische Divergenz innerhalb des Lebens selber.
Ich „weiß“ im strikten theoretischen Sinne dieses Ausdruckes nur
durch die begriffliche Fassung; diese begriffliche Fassung ist eine theo-
retische Leistung der Systematik und insofern ganz und gar dem Er-
kenntniszusammenhang eingewoben und von ihm abhängig. Diese
marktgängige Lehre des Rationalismus und Panlogismus ist unwider-
leglich. Sie trifft aber nicht das von uns gemeinte Problem.
Sie sieht nicht, daß die grundlegenden und entscheidenden theore-
tischen Probleme intentional auf übertheoretische Sachverhalte be-
zogen sind, daß etwa das Problem, das im Begriff der Reue steckt,
4. Die Dialektik aus Formwert und Gehaltwert
323
seine Kraft, Problem zu sein, nicht aus dem Begriff, sondern aus
dem Erlebnis der Reue zieht. Selbstverständlich: Ich „weiß“ von
der Reue nur durch den Begriff. Ich „meine“ aber in und mit jenem
Begriff keineswegs einen Begriff, sondern einen vom Begriff inten-
dierten Sachverhalt. Die formale Geltung des Begriffes stammt aus
der Systematik des Erkenntniszusammenhanges, seine sinnhaft-
intentionale dagegen aus dem diesseits oder jenseits des Erkenntnis-
zusammenhanges wirksamen Lebenszusammenhang. Von dort her
strömt ihm die Form seines Problems zu, von diesem jedoch der
Gehalt und Sinn des Problems.
Damit ist gesagt, daß jeder Begriff sich auf der Dialektik
seines Formwertes und seines Gehaltswertes aufbaut.
Niemals kann aber die Synthese aus Formwert und Gehaltwert den
Charakter der Einstimmigkeit und Identität erreichen. Das wird
verhindert nicht nur durch die Ursprungsverschiedenheit von Form
und Gehalt, sondern auch durch ihre Sinnverschiedenheit. Zugleich
prägt sich in dieser Doppelverschiedenheit eine viel tiefere, viel
strengere, viel gespanntere Dialektik aus als in den ausschließlich
aus dem Erkenntniszusammenhang sich ergebenden Gegensätzlich-
keiten, die als solche von vornherein schon auf Grund ihrer Formu-
lierung und von Anbeginn ihrer Setzung an prinzipiell der Bemei-
sterung durch die Macht ihrer Schöpferin, der Vernunft, ausgeliefert
sind. Diese Abhängigkeit und Einengung unterbindet natürlicher-
und begreiflicherweise ihre freie und breite Entfaltung, unterwirft
sie unmittelbar dem Zwang der Harmonie und damit der „Auf-
hebung“.
Diese Gedanken lassen sich in einer anderen Wendung auch
folgendermaßen ausdrücken: Unter den Gesichtspunkten und unter
der Leitung rein rationalistischer Einstellung und der Anerkennung
der formalen Vernunftherrschaft kann es in der Philosophie nur zur
Aufstellung und Entwicklung einer formalen Dialektik, einer
Dialektik der Begriffe kommen. Eine solche Dialektik vertrat
die ganze vergangene Philosophie, soweit sie überhaupt an dem
Problem der Dialektik interessiert war. Beinahe in allen Fällen
handelt es sich um rein logische Konstruktionen, sei es um die
Entwicklung der formalen Gegensätzlichkeiten der Begriffe unter-
einander, sei es um die Entwicklung der metaphysischen Gegen-
sätzlichkeit von Idealem und Realem. Es wäre nun abwegig, wenn
die von uns in unserem Zusammenhang gemeinte Dialektik etwa
als Lebensdialektik bezeichnet würde. Denn die Spannungen im
21*
324
V. Hauptformen der Dialektik
Reiche des Lebens bieten sich unmittelbar nur dem Erleben und
dem Gefühl dar. Wie können sie zum Gegenstand einer begrifflichen
Erfassung von dem methodisch unklaren, reichlich schwankenden
Wege der sogenannten Lebensphilosophie, einer Abart romantisch-
irrationalistischer Spekulation, gemacht werden? Wir hingegen haben
das Augenmerk gerichtet auf eine Dialektik, dieihren Grund und Sinn-
gehalt in der konstitutiven Antinomik von Erkenntnis und Leben
besitzt. Sie meinen wir, wenn wir hier von einer historischen
Dialektik sprechen und die Forderung nach einer Logik der
historischen Dialektik aufstellen (S. 302ff. u. ö.). Wir wollen
die rationalistisch-begriffliche Seite der Dialektik in keiner Weise
zurücktreten lassen, da uns die Dialektik als Kategorie gilt und
wir den Standpunkt unbedingt aufrecht halten, daß ohne Kategorie
eine Erkenntnis der antinomischen Lebensverhältnisse unmöglich
ist. Es ist eine Binsenwahrheit, daß keine ,,Lebensphilosophie“
ohne die genaue Berücksichtigung, Einbeziehung und Verwendung
apriorisch gültiger Kategorien auskommt oder auch nur einen Schritt
tun kann. Das, was sie als Leben bezeichnet, ist immanent auf den
Begriff des Lebens bezogen, ist ohne ihn gar nicht zu definieren.
Damit ist nun nicht gesagt, daß dieser Begriff autonom für sich
selber steht oder in sich selber ruht. Auch er ist, wie jeder andere
Begriff, ein „Beziehungs“begriff. Aber diese Beziehung bedeutet
nicht nur seine Stellung im System der Begriffe, sondern zugleich
einen ebenso notwendigen und unvermeidlichen Hinweis auf ein
Anderes, das er begreift, das er gedanklich formt, in unserem Falle:
einen Hinweis auf das Leben als sein Problem. Deshalb wollen wir
auch mit unserem Begriff der historischen Dialektik das Leben, das
geschichtliche Leben in seiner Problematik und als Problem für den
Begriff der Dialektik nicht auflösen in die Begriffsform der Dia-
lektik. Ohne die Anerkennung des geschichtlichen Lebens als des
Problems für die Dialektik würde der letzteren jeglicher Realgehalt,
jeder Realsinn entschwinden. Nicht die logische Entgegensetzung
und Verknotung der Begriffe durch den Rationalismus erschöpft
oder umspannt den Sinn der Dialektik. Er gewinnt seinen Eigen-
sinn erst aus dem antinomischen Umstand, daß die Dialektik als
Kategorie nicht ablösbar ist von dem irrationalen Gehalt des Lebens,
auf den sie als Kategorie bezogen ist, und für den sie gilt und um-
gekehrt.
Mit anderen Worten: Wir wollen die Dialektik befreien aus ihrem
einseitig formal-logischen Dasein und aus ihrem nicht weniger ein-
4. Die Dialektik aus Formwert und Gehaltwert 325
seitig metaphysisch-romantischen und unaufhellbar ontologistischen
Dasein. Sie ist uns weder eine bloße Form und Methode des Denkens
noch eine metempirische Existenz; sie ist uns weder ein bloßer Be-
griff noch die Hypostase eines solchen in der Gestalt einer doch
keiner wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglichen transzendenten
Realität. Sie ist uns ein Begriff und ein Sein zugleich, die beide
unabtrennbar wechselseitig und damit eben dialektisch zueinander
gehören, ohne jemals zusammenfallen zu können. Es gibt keinen
größeren Gegensatz zu der von uns hier ins Auge gefaßten Eigenart
der Dialektik als die berühmte Identitätshypothese. Indem Schleier-
macher seiner „Dialektik“ diese Hypothese aber zugrunde legt, und
zwar nicht nur als Hypothese, sondern als Wahrheit und Wirklich-
keit, ist seine Philosophie von keinem Standpunkt und von keiner
Methode weiter entfernt als eben von dem der Dialektik.
Das Sein jedoch, von dem wir hier sprechen, und das wir als
zugehörigen Teil zur Dialektik betrachten, ist nicht ein mystisches,
transzendentes oder metaphysisch hypostasiertes Sein. Es ist viel-
mehr das lebendige Sein der lebendigen Geschichte; es ist das empi-
rische, sich uns in zahllosen Eindrücken, Beobachtungen, Emp-
findungen, Vorstellungen, Begegnungen und Begebnissen auf-
drängende Leben in seinen tausend subjektiven, persönlichen, in-
timen und in seinen tausend objektiven, allgemeinen, sozialen Aus-
prägungen und Bekundungen. Aus der großartigen Unendlichkeit
dieses Bereiches strömt der Dialektik unaufhörlich neuer Stoff,
neuer Reichtum zu. Niemals läßt sich seine Unendlichkeit unter
den Bann einer Formel bringen oder aber: diese müßte so weit, so
allgemein gehalten sein, daß sie sachlich und wissenschaftlich nichts
besagt. Würde aber gerade jener Zustrom versiegen, würde die
Dialektik zu einem bloß formalen Begriffszusammenhang oder zu
einer bloßen Technik der Gliederung des Begriffskosmos, so würde
sie einfach verdorren; sie würde einfach ihren Sinngehalt verlieren.
Jedes wirklich fruchtbare, d. h. sachlich berechtigte und sachlich
ergiebige Problem, für dessen Behandlung der Einsatz der Dialektik
sich lohnt, stammt aus der Dissonanz zwischen Erkenntnisform und
Kategorie auf der einen Seite und Lebensfülle auf der anderen.
Erkenntnis- und gefühlsmäßig sind wir aber auf Grund der
außerordentlichen Entwicklung der historischen Wissenschaften zum
mindesten seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts der Welt
des geschichtlichen Lebens viel zu innig verbunden, als daß wir die
Realität dieser Welt ideologisch vernachlässigen oder verflüchtigen
326
V. Hauptformen der Dialektik
oder panlogisch zu einer Stätte absoluter Ordnung und vernünftig ge-
gliederter Einheit umdenken, d. h. in diesem Falle umdichten
dürften. Vielleicht hängen mit dieser theoretisch und praktisch ver-
tieften Einsenkung unseres Bewußtseins in die Realität der Ge-
schichte der unbestreitbare Rückgang der Religion und die ebenso
unbestreitbar gewachsene Sehnsucht nach ihr zusammen. Jeden-
falls ist das eine sicher, daß alle Gestaltungen des geschichtlichen
Lebens, so hoch wir ihren Formwert auch einschätzen mögen,
himmelweit verschieden sind von jener klaren Form und Gestalt,
die wir aus logischen Gründen dem Wesen und der Funktionsweise
der Vernunft beilegen. Die „Formen“ der historischen Einrichtun-
gen, wie Staat, Recht, Wirtschaft, Technik usw., haben mit den
„Formen“ der Vernunft, mit den Kategorien und Ideen, kaum mehr
als den Namen gemein. Gewiß können wir von solchen historischen
Formen nur unter Zugrundelegung von begrifflichen Formen spre-
chen; doch damit ist nicht gesagt, daß jene mit diesen identisch
sind. Einer solchen Behauptung steht schon die empirische
Relativität der erstgenannten und die apriorische, nicht zeitliche
Absolutheit der zweitgenannten im Wege. Nicht minder steht ihr
die vollständige Verschiedenheit ihres Ursprunges und ihres Geltungs-
wertes im Wege. Vorüber sind die Tage jenes einfachen Rationalis-
mus, der da glaubte, die Formen des Verstandes ohne Veränderung
auf das geschichtliche Leben anwenden zu können oder der eine
Übereinstimmung der Formen des letzteren mit den logischen For-
men behauptete. Der entscheidende Grund für diese Auffassung
besteht in einer prinzipiell zu einfachen, zu wenig differenzierten
Ansicht vom Wesen der Wirklichkeit, in einer zu mechanistischen
Konstruktion derselben. Überwunden wurde jene Ansicht erst
durch die unwiderstehliche Ausbildung des historischen Bewußtseins
und des geschichtlichen Blickes — ein Vorgang, dessen gewaltige
Bedeutung sich erst dann ganz offenbart, wenn klar wird, daß
auch die Welt der reinen Verstandesformen nicht unberührt bleibt
von der Bewegung, von der Problematik der geschichtlichen Welt,
daß die Formen dieser Welt eingreifen und übergreifen in die Sy-
stematik des Verstandes.
5. Der tragische Begriff der Dialektik.
Denn trotz aller ihrer Verschiedenheit sind jene beiden Ge-
biete, jene beiden Wertreiche nicht vollständig voneinander getrennt
5. Der tragische Begriff der Dialektik
327
oder zu trennen. Im Gegenteil. Diese Verschiedenheit ist geradezu
die Voraussetzung und Quelle für ihre tiefe wechselseitige Bezogen-
heit auf- und zueinander, für das zwischen ihnen wirksame dialek-
tische Verhältnis. Weder handelt es sich um eine Identität noch um
eine Dualität, sondern um eine dialektische Korrelativität. Unab-
lässig strömt neues Material mannigfachster Herkunft und Natur
ein in die Welt scheinbar reiner, scheinbar erdenferner und leben-
enthobener Begriffe; es gehört zu den Kennzeichen und zu dem
Schicksal der reinen Systematik, daß sie ununterbrochen in Gefahr
ist, ihre Autonomie zu verlieren, sie einschränken oder verteidigen
zu müssen. Damit soll keineswegs behauptet werden, daß das
Reich der Systematik seine Autonomie und seine Eigentümlichkeit
nun auch tatsächlich preisgibt oder preiszugeben gezwungen wäre.
Aber es befindet sich in Kampfes- und Abwehrstellung; es besitzt
heute nicht mehr jene selbstverständliche Überlegenheit und Selbst-
genügsamkeit wie ehedem. Wie immer das Ringen zwischen Syste-
matik und geschichtlicher Weltauffassung ausgehen mag, wie immer
auch der einzelne zu diesem Ringen sich verhält: Daß es überhaupt
vorliegt und in unserem Geistesleben eine Rolle spielt, darin eben
prägt sich ein beachtenswerter Zug aus. Entscheidend für unsere ganze
Weltanschauung und für unsere Gesinnung, entscheidend für die
Gestaltung unserer Theorien und für unser Handeln, entscheidend
für unser Wollen und für unsere Lebensstimmung, entscheidend für
unseren Glauben und für unsere Werturteile.
Die Vertiefung und die tragische Komplizierung des geschicht-
lichen Blickes und Gewissens zwingen uns, darauf zu verzichten, das
Welt-Wertproblem mit der billigen und abgegriffenen Formel der Opti-
mismus - Pessimismus-Einstellung auch nur charakterisieren zu
wollen. Die in ihr enthaltene Fragestellung ist ebenso rationali-
stisch naiv, es ist eine Fragestellung versunkener Zeiten und ver-
staubter Denkgewohnheiten, wie jede Entscheidung, sei es nach der
Seite des Entweder-Oder oder nach der des Sowohl-Als auch, sub-
jektiv und gegenstandslos ist. Der Fortschritt der geschichtlichen
Einsicht nötigt uns, er nötigt jedenfalls denjenigen, der sich ernst-
lich um die Schärfung, Verfeinerung und inhaltliche Bereicherung
dieser Einsicht kümmert und die zunehmende Versponnenheit in
unserem geschichtlichen Bewußtsein gewahr wird, ungleich stärker
mit dialektisch ausgeschliffeneren, an der Problematik des geschicht-
lichen Lebens geschulten und ausgebildeten Begriffen zu arbeiten,
um eine Metaphysik der Geschichte bieten zu können, die mehr
328
V. Hauptformen der Dialektik
ist als eine Wiederholung früherer Gedankenformen, bei ihrer Ent-
stehung also nicht bereits abständig und überlebt ist. Was in bezug
auf die Naturphilosophie gilt, daß diese nämlich die Entwicklungen
und Wandlungen im Reiche der positiven naturwissenschaftlichen
Forschung mit aller Sorgfalt zu beachten und für sich nutzbar zu
machen hat, das muß auch mit den notwendigen sinngemäßen Ab-
änderungen Anwendung finden auf die Geschichtsphilosophie. Die
Grundbestimmungen und Aprioritäten, auf denen auch sie beruht
— und beruhen muß, wenn sie den Charakter der Philosophie be-
wahren will —, werden nicht in ihrer formal-logischen Geltung,
sondern in ihrem lebendigen Sinngehalt anderen Geistes sein müssen
als die Kategorien der früheren geschichtsphilosophischen Systeme.
Vor allem gilt dies in bezug auf die Idee der Dialektik. Diese Idee
ist eines der wichtigsten und fruchtbarsten methodischen Kon-
struktionsprinzipien und erfolgreichsten Deutungsverfahren. Sie
erst hat eine gehaltvolle Geschichtsmetaphysik überhaupt möglich
gemacht. Und diese fundamentale und kategoriale, zugleich konsti-
tuive und regulative Bedeutung wird ihr auch für jede zukünftige
Geschichtsphilosophie verbleiben müssen. Aber angesichts der Ent-
wicklung des historischen Bewußtseins hat sich der Sinn jener
Grundidee gewandelt. Auch fernerhin werden wir mit ihr arbeiten
müssen. Aber die Gesinnung, mit der wir diese Arbeit verrichten,
ist eine andere geworden.
In welcher Beziehung? Diejenige Form der Dialektik, die sich
in der Gegenwart aus den verschiedenartigsten Ansätzen und An-
lässen, aus theoretischen Erkenntnissen und weltanschaulichen
Stimmungen und Überzeugungen, aus wissenschaftlichen Einsichten
und allgemeinen Lebenserfahrungen, aus der Bitterkeit der Not und
der Führerlosigkeit herausgestaltet, trägt alle Züge der Tragik
und des Heroismus. Nicht sowohl hinsichtlich ihrer logischen
Struktur und Geltung als viel mehr in ihrem Ethos weicht sie von
den früheren Formen der Dialektik deutlich und bestimmt ab. So
fehlt diesem Ethos eins: Der rationalistische Glaube an eine end-
gültige, in absehbarer Zeit erreichbare Harmonie der Gegensätze.
Zur Gewinnung einer Harmonie bedarf es der kraftvollen Auf-
stellung des Primates einer der großen Kulturideen und der ein-
leuchtenden Unterordnung der übrigen unter jene Idee. Dazu zeigt
sich jedoch nicht die Spur einer Aussicht. Vielmehr herrscht auch
im Reiche der Ideen ein Kampf, der an Heftigkeit nicht zurücksteht
hinter dem im Reiche der rein materiellen Güter und Werte. Unser
5. Der tragische Begriff der Dialektik
329
Geistesleben offenbart eine so außerordentliche Mannigfaltigkeit von
Interessen, Tendenzen, Wertsetzungen, daß sich aus dieser Buntheit
keine einzelne Idee in einwandfrei anerkanntem Ansehen und in un-
bedingter Autorität heraushebt.
Es fehlt unserer Existenz die eindeutige Beziehung zu einem
absolut-sinnhaft-autonomen Koordinatensystem. Und nichts erhellt
schärfer die aus der Überfülle der gegenwärtigen Lebensrichtungen
hervorgehende Unsicherheit unserer Generation als die zahllosen, aus
eifernder Unruhe und aus der Erkenntnis der Notwendigkeit durch-
greifender Erziehungs- und Bildungsreform geborenen Unter-
suchungen über ,,Sinn und Ziel“ des Daseins. Wir vermögen nicht
mit eindeutiger Bestimmtheit zu sagen, worin der ,,Sinn“ des Lebens
sich ausspricht, und wie wir ihn darstellen und verwirklichen
können, d. h. wir sind außerstande, eine allgemeingültige Definition
vom Begriff dieses Sinnes zu geben. Viel mehr ist dieser Begriff
überhaupt zum Problem und zur Idee geworden. Er ist uns keine Re-
alität, er liegt auch nicht auf dem Wege bevorstehender Realisierung;
was wir von ihm aufrechterhalten wollen und aufrechterhalten
können, ist der Gedanke, daß sein Wesen und Wert in der Unend-
lichkeit einer zu erfüllenden Aufgabe ruht.
Diese sich notwendig aufdrängende Überzeugung ist die Frucht
der wachsenden historischen Erkenntnis, der unermeßlich erweiterten
Vertrautheit mit der schweren Tragik des geschichtlichen Lebens.
Zu genau demselben Ergebnis gelangt aber die erkenntnistheoretische
Untersuchung des Begriffs der Geschichte und die kritische Grund-
legung der Geschichtswissenschaften. Auch sie erweisen die Not-
wendigkeit, die Idee der Dialektik als konstitutive und als regulative
Bedingung für das Verständnis der Geschichte anzuerkennen. Aber
sie erweisen eben den Ideencharakter der Dialektik. Und für
die Richtigkeit dieser Auffassung gibt es keine bessere Begründung
als den Hinweis darauf, daß der tiefste Orientierungspunkt für
alles geschichtliche Verständnis, nämlich der Begriff des „Sinnes“
der Geschichte, keine absolute, keine augenscheinliche und offenbare
oder offenbar werdende Realität bedeutet. Wo die Kraft des reli-
giösen Glaubens noch ungebrochen herrscht, da allerdings wird der
„Sinn“ der Geschichte in dem „Erscheinen“ einer bestimmten
göttlichen Persönlichkeit und der von ihr vollzogenen erlösenden
Heilstat erblickt; da nimmt jener Begriff Fleisch und Blut und
eine geschichtlich-übergeschichtliche Gestalt an. Jene Herrschaft
schließt jedoch zugleich die Geltung historischer Erkenntnis und die
330
V. Hauptformen der Dialektik
erkenntniskritische Klarstellung des Wesens und Wertes jenes Be-
griffs aus, sie schließt ebenfalls eine tiefere seelische Beeinflussung
durch eine solche Erkenntnis und eine solche Erkenntniskritik aus.
Für das moderne Bewußtsein bleibt es dabei, daß wir von dem
„Sinn“ der Geschichte weder in logischer Eindeutigkeit noch mit
dem Glauben an seine historische Wirklichkeit sprechen können,
falls wir uns nicht der Naivität des religiösen Glaubens oder der
Romantik der Begriffshypostasierung hingeben. Für das moderne
Bewußtsein ist der „Sinn“ der Geschichte eine dialektische Idee,
die wir nicht mit eindeutig konkretem Inhalt zu erfüllen ver-
mögen.
Hat sich uns so die Idee eines oder des Zieles der Geschichte als
ein Problem erwiesen, dann ist damit in dem modernen Begriff der
Dialektik eine wurzelhafte Änderung eingetreten. Die Dialektik
kann uns fürder nicht mehr als der Weg der Erlösung, d.h. logisch
gesprochen, als der der „Aufhebung“ der Gegensätze gelten. Diese
Bedeutung besaß sie einstmals. Ihre gewaltigste und ergreifendste
praktische Auswirkung nahm sie in dem Geiste Platos an. Denn er
lehrte, daß die Menschen durch die Dialektik sich zu „Philosophen“
im Sinne welterlösender Weisen und weisheitsvoller Lebensführer
läutern. Uns hingegen gilt die Dialektik als das fruchtbarste und
leistungsfähigste Gedankenmittel, um immer mehr in die grenzen-
losen Verschlungenheiten des Lebens hineinzuleuchten, seine Disso-
nanzen immer deutlicher zu erfassen, seine unaustilgbaren Antino-
mien immer klarer ans Licht zu heben. Und nicht zuletzt sind der
Wert und das Ansehen der Dialektik gerade in dieser Leistungs-
fähigkeit begründet, in dieser außerordentlichen Gabe, die darin
besteht, daß wir die jenseits aller idealisierenden Einheitsauffassung
und jenseits aller hypostasierten Einheit vorhandenen Widersprüche
im Gewühl der Wirklichkeit unerbittlich erkennen. Wird aber
jenes Denkinstrument in dieser Weise benutzt, dann ist es eben
ganz unvermeidlich, daß wir auch seelisch in jene „Dialektik“
geraten und an ihr teilnehmen. Denn durch alle unsere Aus-
führungen zog sich der sogleich anfangs betonte Gedanke, daß
die wissenschaftlichen Methoden, wenn sie ihrem Gesamtgehalt
nach gewürdigt werden, viel mehr als nur begrifflich-technische
Untersuchungswege und rein theoretische Gedankenverfahren be-
deuten; sie sind uns stets ein Niederschlag und ein charakteristischer
Ausdruck allgemeiner geistiger Einstellungen und seelisch-sittlicher
Verhaltungstypen. Wir formulieren sie in abstrahierender Dar-
5. Der tragische Begriff der Dialektik
331
Stellung als „Methoden“ und gebrauchen sie in einseitiger rationaler
Technik als Mittel der Heranschaffung und der ineinssetzenden Ver-
arbeitung unserer Erkenntnisse. Der eigentlichen und entscheiden-
den Schicht ihres ganzen Geltungssinnes nach jedoch ins Auge ge-
faßt, sind alle wissenschaftlichen Methoden nur begriffliche For-
mungen tiefster menschiich-seeliseher Lebensregungen und Lebens-
richtungen, von den äußerlichsten und einfachsten an bis zu den
innerlichsten und kompliziertesten, von unserer empirischen Schale
an bis zu unserem metaphysischen Kern.
Die moderne historische und philosophische Kritik der geschicht-
lichen Welt hat uns die Antinomik alles Seins und Werdens mit so
überwältigender Eindringlichkeit und Wucht nahegebracht, daß es
hieße, dem Verfahren des Vogels Strauß zu folgen, wollten wir
dieser Einsicht nicht bei dem Begriff des wichtigsten Erkenntnis-
Prinzips für jene Welt, bei dem Begriff der Dialektik, uneinge-
schränkt Rechnung tragen. Er ist uns nicht mehr ein Hilfsmittel
des Ausgleichs, sondern der Ausdruck einer durchaus tragischen
Einstellung, die uns fortgesetzt zur Anerkennung der kantischen
Urantinomie von Sein und Sollen zwingt. Keine der beiden Welten
können wir preisgeben oder in ihrer Wichtigkeit auch nur um einen
Strich vermindern. Die Unterschätzung der ideellen Welt des
Sollens war und ist der Grundfehler des Naturalismus, Biologismus,
Historismus; die Unterschätzung der empirisch-realen Welt der Ge-
schichte war und ist der Fehler alles Harmonismus und alles platoni-
sierenden Überidealismus. Wenn wir die Gegensätzlichkeit und die
unauflösbare Aufeinanderbezogenheit beider Welten unentwegt ge-
danklich berücksichtigen und aufrecht halten, dann vertreten wir
den spezifisch modernen, den tragischen Begriff der Dialek-
tik. —
Und mit der Betonung des tragischen Sinnes im Begriff der
Dialektik glauben wir eine Erneuerung und Wiederrechtfertigung
der kantischen Weltanschauung zu vertreten. Von vielen Türmen
erschallt die Behauptung, daß die Philosophie Kants zu den über-
wundenen, zu den historisch gewordenen Größen gehört. Wie
sehr diese Behauptung übertrieben ist, läßt sich nicht zuletzt
daraus ersehen, daß das Bewußtsein, daß das Gewissen unserer
Zeit in seiner Breite und Tiefe jenen herben und tragischen
Spannungsgegensatz in sich trägt, den Kant mit der Antino-
mie von Sein und Sollen, von empirischer Determiniertheit und
ideeller Norm, von Natur und Freiheit, von homo phaenomenon und
332
V. Hauptformen der Dialektik
homo noumenon usw. ausgesprochen hat. Diese Antinomie ver-
zweigt sich über alle Gebiete der Kultur, und wir begegnen ihr in
den verschiedenartigsten Ausprägungen und Formulierungen in
allen Kapiteln der kritischen Philosophie. Sie besitzt für dieselbe
geradezu die Geltung einer konstruktiven Methode. Aber auch in
dieser Hinsicht bestätigt sich die Richtigkeit unserer Ansicht, daß
jede Methode eine überformale, eine sozusagen übermethodische Be-
deutung besitzt, daß sie, mit anderen Worten, eine Sache der Ge-
sinnung, des Ethos, der Weltanschauung ist. In uns ist also der
Geist Kants lebendig, wenn wir die unaufhebbare Gegensätzlich-
keit von Sein und Sollen, wenn wir überhaupt die Methode dialek-
tischen Denkens bejahen, und wenn wir mittels dieses Denkens
uns bemühen, ein Weltbild aufzubauen.
Wie außerordentlich sticht dieses Weltbild doch ab von allem
Harmonismus und Humanismus, von allem extremmonistischen
Idealismus. Bezeugt sich nicht darin die Abweichung der spekula-
tiven von der kritischen Philosophie, daß jene die Realität der
empirischen Welt nur zu einer Gedankensetzung, also zu einem
ideellen Akt, abschwächte, daß sie die Herbheit jener Realität sich
in der erlösenden Gewalt der „Idee“, des „Geistes“, der „Vernunft“
verklären und verlieren läßt, während Kant mit aller Beharrlichkeit
für die empirische Realität eintrat und die Ableugnung derselben
als verstiegenen „Berkeleyanismus“ geißelte? Sicherlich gehört zu
den Gründen der Gegnerschaft Hegels und Schleiermachers
gegen Kant auch die religiöse Abwehr der Lehre von der ewigen
Dissonanz zwischen Sein und Sollen. Wurde er jedoch dadurch
der Tragik und Problematik des Lebens nicht um vieles gerechter
als alle dialektische Aufhebung von Sein und Sollen und als alle
romantische Identitätshypothese? Die Anerkennung und Befür-
wortung jener schweren Antinomie ist vielleicht der tiefste Beweis
der Beziehung Kants zu dem Denken unserer Zeit. Es ist nicht nötig,
diesen kantischen Einschlag in der Gedankenbildung der Gegen-
wart zu überschätzen; doch ebenso abwegig ist es, ihn zu unter-
schätzen. Das antinomisch-dialektische Denken durchströmt uns in
starken Wellen. Seelisch formt es sich in der tragischen Stimmung
des Heroismus. Und eine ganze Reihe charakteristischer Denker der
Gegenwart hat ihre Einheit in der gemeinsamen Betonung jener
Form des Gesetzes der Dialektik. Unsere historischen Ausführungen
dienen dem Versuch, einige Hauptvertreter jener Reihe zu kenn-
zeichnen. Doch auch in vielen Fällen, in denen keine ausdrückliche Be-
5. Der tragische Begriff der Dialektik
333
rufung auf Kant erfolgt oder kein unmittelbarer Anschluß an seine
Gedanken gesucht wird, ist kantischer Einfluß wirksam. Viel zu
tief ist der Geist des dialektischen Kritizismus in die Substanz des
modernen Geisteslebens eingedrungen, als daß er nicht in hundert
Zügen sich ausprägte. Diese Dialektik bekundet sich darin, daß
der Kritizismus auf der einen Seite den Wert der empirischen Rea-
lität uneingeschränkt bejaht und den Sinn für diesen Wert wachhält,
auf der anderen Seite aber zugleich die Notwendigkeit einer über
aller Empirie erhabenen unbedingten Norm anerkennt. Der Begriff
der empirischen Realität verwirklicht sich für unser Bewußtsein
im Begriff der Realität der geschichtlichen Welt, den dann die
historischen Wissenschaften mit Fleisch und Blut gefüllt haben. Die
Bejahung beider Reiche, der Empirie der Geschichte und der Tran-
szendenz der Norm, setzt außer ihrer logischen Begründung eine
Seelenstimmung, eine Geisteshaltung von durchaus heroischem Ge-
präge voraus, und zwar um so mehr, je weniger auch nur der ge-
ringste Abstrich von der Geltung des Seins und von der des Sollens
zugelassen wird.------
So erscheinen mir zwei Bedingungen des Geisteslebens unserer
Zeit und zwei Beeinflussungsrichtungen auf dasselbe, wenn diese zu-
sammenfassende Wiederholung gestattet ist, als maßgebend zu sein
für die Entstehung der auf diesen Blättern immer wieder hervor-
gehobenen dialektisch-tragisch-heroischen Lebensstimmung: die
kantische Note in dem Bewußtsein der Gegenwart und die in ihrer
Bedeutung gar nicht hoch genug zu veranschlagende Einwirkung
der Erkenntnisse der historischen Wissenschaften. Beide Momente
arbeiten in derselben seelischen Richtung. Sie fördern wechselseitig
jene Stimmung, weil sie sich in eigenartiger Weise ergänzen. Kants
ethisch-metaphysische Beweisführung geht in der genannten Be-
ziehung Hand in Hand mit der historisch-kritischen Forschung.
Diese ist ein Korrelat zu jener. Und schon aus diesem — keines-
wegs nebensächlichen — Grunde ist der Philosoph des Kritizismus
in ganz ausnehmendem Sinne der Philosoph der modernen Kultur.
Er steht in innigster Beziehung zu der Gestaltung unseres Seelen-
lebens und seiner Dialektik, seiner Antinomik, seiner Gespaltenheit,
weil er — natürlich völlig unbewußt und unabsichtlich — in ent-
scheidendem Umfange an dieser Gestaltung mitgeschaffen hat. Es
ist das ein Einfluß, der weit über das theoretische und über das spe-
ziell philosophische Gebiet hinausreicht; er bestimmt und durch-
fließt unser ganzes Sein als Mensch.
334
V. Hauptformen der Dialektik
Aber ganz ebenso ist es mit dem allgemeinen Kulturwert des
historischen Wissens bestellt. Auch seine Geltung beschränkt sich
nicht auf das intellektuelle Reich der Erkenntnis; es hat sich not-
wendig auch in unsere Gesinnung, in unser Weltgefühl eingeschlichen,
es hat auch von unserer Seele Besitz genommen. Ich habe in meinem
Buche „Die geistige Krisis der Gegenwart“ (S. 66ff.) den Versuch
gemacht, diesen seelischen Einfluß der historischen Wissenschaften,
der sich in einer ungeheueren Historisierung und Relativierung
unseres Innenlebens ausprägt, zu schildern und in seinen Folgen
darzustellen. In dem vorliegenden Zusammenhang kommt es mir
vor allem darauf an, die Wertsteigerung des Eindruckes, den die Re-
alität der Geschichte mittels der historischen Wissenschaften auf
uns ausübt, zu betonen und im Anschluß daran sowohl die
gemütsmäßige Einwirkung dieses gesteigerten Ansehens als auch
die tragische Erkenntnis zwischen dem, was in der realen ge-
schichtlichen Welt vorgeht und durch keinen schönen Schein
gemildert werden kann, und dem, was wir als sittliche Wesen
fordern, deutlich auszusprechen. Wir können weder die ungeheure
Macht der Realität der historischen Wirklichkeit, noch das Wissen
von dieser Macht, noch das Ethos dieses Wissens übersehen. Was
wir sind, sind wir mit unter dem bestimmenden Einfluß dieser drei
Momente geworden. Wir vermögen uns ihrem Eindruck nicht mehr
zu entziehen, wie das von dem Standpunkt einer transzendierenden
Religiosität oder von dem eines die Welt der Geschichte mathema-
tisch konstruierenden Rationalismus aus einstmals der Fall war.
Die Welt des geschichtlichen Seins erhebt sich vor uns mit solcher
Nachdrücklichkeit, daß die schwere Problematik ihres Seins es streng
verbietet, dieses Sein als eine etwa nur nebensächliche Größe irgend-
wie zu vernachlässigen.
Damit ist der Dialektik und Antinomik zwischen Sein und Sollen
erst ihre volle Strenge gewonnen. Der Begriff des Seins verliert
seine abstrakte Blässe; er verdichtet und verwirklicht sich für
unser Bewußtsein zu der Schwere der geschichtlichen Welt, mit
deren Realität wir unaufhörlich zu rechnen haben, in deren Rea-
lität wir unlösbar verflochten sind. Zugleich erhält dadurch die
Idee des Sollens vertiefte und gleichsam verlebendigte Kraft. Denn je
mehr wir uns in die empirische Welt der Geschichte verstrickt wissen,
um so heftiger regt sich das Bedürfnis nach einem allen geschicht-
lichen Vorläufigkeiten und Relativitäten enthobenen, absoluten,
seiner absoluten Sinngeltung nach in sich ruhenden Punkt.
3. Der tragische Begriff der Dialektik
335
Es ist nicht von ausschlaggebender Wichtigkeit, wie wir diesen
Zug zur Transzendenz erklären und deuten: wichtig ist nur vor
allen Dingen, daß wir seine Bedeutung als solche gewahren und ver-
stehen. Nennen wir ihn mit einem allgemeinen Ausdruck den Zug
zur absoluten Norm. Erst die Aufstellung und Anerkennung einer
solchen Norm, wobei es zunächst gleichgültig ist, aus welchen Mo-
tiven wir diese Aufstellung ableiten und welche Begründung wir
dieser Norm geben, verleiht unserem geschichtlichen Dasein seinen
Halt und seine Rechtfertigung. Die geschichtliche Welt ist ohne
die Idee der Transzendenz schon dem Begriff nach nicht zu denken;
ihrem Wesen und Gehalt nach ist sie ohne diese Idee ein sinnloses,
also ein nichthistorisches Gebilde. Das ist die urwüchsige dialektische
Paradoxie alles Historischen, daß sein Sinn zu seiner Erscheinung
in dem Verhältnis der Transzendenz steht. Der Sinn des Historischen
erfüllt sich in keiner seiner Schöpfungen. Aber eben die Relativität
dieser Schöpfungen ist es, die der normativen Absolutheit des Sinnes
bedürfen, damit sie in ihrer empirisch-geschichtlichen Existenz ver-
standen und beglaubigt werden, ja, damit sie auch nur da sind und
eine Stelle im historischen Gefüge einnehmen und behaupten können.
VI. Die Dialektik der Metaphysik.
1. Die Beanstandungen der Metaphysik.
a.
Bereits in dem ersten Teil unseres Systems der Dialektik wurde
in dem Kapitel „Typische Einwände gegen die Metaphysik und
Kritik dieser Einwände“ eine umfassende Übersicht über die haupt-
sächlichen Bedenken und Ausstellungen, die gegen die Möglichkeit
und das Recht der Metaphysik gerichtet worden sind, geboten. Zu-
gleich wurde der Versuch gemacht, die Unzulänglichkeit und Un-
zulässigkeit jener Einwände darzutun. Wenn wir nun an der vor-
liegenden Stelle jener Ablehnungen noch einmal gedenken, so ge-
schieht das aus mehreren Gründen. Erstens wollen wir sie uns darum
wieder ins Gedächtnis rufen, um die Einheit und den Zusammen-
hang der ganzen Darstellung recht deutlich zu machen; ferner des-
halb, um uns für die nun in Angriff zu nehmende positive Grund-
legung der Metaphysik freie Bahn zu schaffen und nicht durch ein
erneutes Aufwerfen dieses oder jenes Einwandes abgelenkt zu
werden. Für diesen Zweck ist die zusammenfassende Wiederholung
jener Ausstellungen und Ablehnungen zweckmäßig. Dazu kommt,
daß wir diese Bedenken, nachdem wir sie in dem obenerwähnten
Kapitel mehr in ihrer geschichtlichen Gestalt kennengelernt haben,
nunmehr in ihrem systematischen Gehalt verstehen und mit dem
systematischen Gehalt und Sinn der Metaphysik selber konfrontieren
können. In dieser Beziehung wird die Wiederholung auch manchen
sachlich neuen Zug, besonders zum Verständnis der Metaphysik,
enthalten.------
So wandlungsreich und väelgestuft, so stark gesichert und über-
dauernd die Entwicklung der Metaphysik auch ist, so wird doch
diese ganze große und lebensvolle Entwicklung Schritt für Schritt
von einem nicht minder andauernden, nicht minder eindrucksstarken
und die Aufmerksamkeit herbeizwingenden Zusammenhang kriti-
scher Einwände und grundsätzlicher Ablehnungen begleitet. Zwar
1. Die Beanstandungen der Metaphysik
337
zeigte und zeigt die Metaphysik sich immer wieder darum bemüht,
den Zugriff dieser Einwände abzuwehren und sich ihm zu entziehen.
Aber mit demselben siegesgläubigen Selbstbewußtsein und mit der-
selben hartnäckigen Entschiedenheit, mit denen sie sich jenen Ab-
weisungen und den Bemühungen um die Fortdauer ihrer eigenen
Existenz und um ihre Selbstrechtfertigung hingab, erstanden ihr,
ganz gleich von welchen Voraussetzungen aus und unter welchen
methodischen Leitideen diese Angriffe vorgenommen werden moch-
ten, immer wieder neue, nicht weniger selbstbewußte und von dem
Gelingen ihrer Absichten überzeugte Feinde.
Im Reich des Denkens und der konkreten, positiven Forschung
gibt es keine Möglichkeit, keine Gedankenform, keine Gedanken-
richtung, keine Erkenntnismaxime, überhaupt keine Einstellung und
keine weltanschauliche oder wissenschaftliche Folgerung, die nicht
für die Versuche einer Widerlegung der Metaphysik benutzt worden
sind. Nicht selten sind die Fälle, in denen ein geistreichelndes
Spiel von Spott und Hohn mit ihr fertig werden zu können glaubte.
Ist dieses Verhalten fast regelmäßig nur der Niederschlag eines bla-
sierten und mondän tuenden Skeptizismus, so entfaltet sich in einer
anderen Einwandgruppe der Ausbruch einer ernsten Entrüstung. Als
bedrohe die Metaphysik mit ihrer — angeblichen — Mystik den ge-
sunden Menschenverstand, als verführe sie zu nichtssagenden Re-
densarten und zu dem gefährlichen Glauben an die Existenz will-
kürlich konstruierter Wesenheiten, deren Dasein und Geltung auf
nichts anderem als auf der haltlosen Verdinglichung leerer Worte
und Begriffshülsen beruhe. Die Einwände, die unter der Führung
dieser Motivierung vorgebracht werden, sind sehr alt; sie sind aller-
dings auch sehr oft widerlegt worden. Aber sie scheinen doch ein
sehr zähes Leben zu haben, und es ist ganz angebracht, sich mit
ihnen allen Ernstes auseinanderzusetzen. Für sie spricht nicht nur
die wissenschaftliche Einkleidung, in der sie sich geben, sondern
auch eine sehr beachtenswerte kritische Gesinnung. Für sie spricht
die — scheinbare — Sachlichkeit und Kälte einsichtig begründeter
und begrifflich entwickelter Widerlegungsbeweise.
Andere Gruppen von Ablehnungen der Metaphysik hingegen
sind nur Zeugnisse leicht durchschaubarer Mißverständnisse. Diese
Mißverständnisse kommen aus den verschiedensten Quellen. Eine
nicht selten anzutreffende Quelle ist eine gewisse gedankliche Leicht-
fertigkeit, die es bewußt oder unbewußt verabsäumt, sich in die Be-
deutung der Metaphysik mit der erforderlichen Strenge hinein-
Liebert, Dialektik. 22
338
VI. Die Dialektik der Metaphysik
zuversetzen. Es ist, als wolle man sich mit dem Ballast meta-
physischen Denkens nicht belasten. Abgesehen von dem Doktrina-
rismus einer vorgefaßten Meinung, die unter Umständen auf Grund
einer Irreführung gefaßt ist, ergibt sich eine weitere Quelle für die
Abweisung der Metaphysik aus der oft zu beobachtenden Abhän-
gigkeit von jeweiligen Geschmacks- und Modeströmungen. Nicht
selten stammt eine solche Ablehnung auch aus dem Eindruck, den
die zeitweilige Vorherrschaft bestimmter wissenschaftlicher Rich-
tungen auf die Ansichten, auf die Urteilsbildung und auf die Welt-
anschauung der Menschen auszuüben pflegt.
Kurz: Alle möglichen und denkbaren Gesinnungsmotive und
Stimmungslagen, alle Tendenzen, die sich in der positiven wissen-
schaftlichen Erkenntnis geltend machen, alle Postulate, die das
Leben der Sittlichkeit leiten, alle Gefühlsformen und Gefühls-
objektivationen, die das künstlerische, das religiöse, das konfes-
sionelle Leben begründen und bestimmen, sind in dem Kampf gegen
die Metaphysik aufgeboten worden. Häufig verdichteten sich die
Ablehnungen und die Beseitigungsversuche der Metaphysik sogar
zu einer Frage der Kultur und des geschichtlichen Schicksals. Das
ist vollauf begreiflich. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen,
daß einer der Hauptunterschiede zwischen den Menschen, zwischen
den Generationen, zwischen den geschichtlichen Lebensaltern und
den verschiedenen Entwicklungsstufen des persönlichen und des
allgemeinen geschichtlichen Daseins sich in der Stellungnahme
diesem Kampf gegenüber und überhaupt in dem Verhältnis zur Meta-
physik ausspricht. Die Beziehung zur Metaphysik und die Schät-
zung, die dieser entgegengebracht wird, sind keine nebensächliche An-
gelegenheit. Der Sinn, der von den Menschen in diese Beziehung
gelegt wird, kann zum Richtmaß für den Wert menschlichen Lebens
und menschlichen Strebens verwendet werden. Die ganze Art und
Weise, in der Metaphysik getrieben, der Geist, in dem sie aufgefaßt,
die Geltung, die ihr zugebilligt wird, gewähren die Möglichkeit, über
den Wert eines Menschen zu entscheiden; sie gewähren auch eine der
Voraussetzungen dafür, um über den Charakter des eigenen Inneren
ins reine zu kommen.
Diese Bedeutung der Metaphysik, eine sowohl subjektive als auch
eine objektive Bedeutung, ist es, die die Dauer und Heftigkeit des
Streites um sie und gegen sie begreiflich erscheinen lassen. Der
Gegenstand dieses Streites ist eben eine der ausschlaggebenden
seelischen und geschichtlichen Mächte. Davon überzeugt jede Cha-
I. Die Beanstandungen der Metaphysik
339
rakterologie der Metaphysik. Eine solche Charakterologie um-
schließt, gewollt oder ungewollt, auch die Charakterologie wesent-
licher Züge der menschlichen Seele und der objektiven geschicht-
lichen Kultur. Denn kein Bezug der Seele und keine Objektivations-
form der Geschichte ist frei von metaphysischen Gehalten und meta-
physischen Voraussetzungen. Deshalb ist auch keine seelische
Lebensäußerung und keine geschichtliche Lebensform ohne Berück-
sichtigung dieser metaphysischen Grundbedingungen zu verstehen
und zu deuten.
Wird die Metaphysik in dieser Weise aufgefaßt, dann werden Wesen
und Form des Kampfes gegen sie begreiflich. Aber noch mehr: Der
Streit um sie kann auch als in gewissem Sinne notwendig bezeichnet
werden. Diese Behauptung mag innerhalb eines Gedankenzusammen-
hanges verwunderlich klingen, der, wie es bei dem vorliegenden der
Fall ist, sich für das Recht der Metaphysik einsetzt und ihren Begriff
zu klären und zu begründen unternimmt.
Läßt sich aber die Ablehnung der Metaphysik nicht unter Um-
ständen verstehen und würdigen als ein Zeichen einsichtsvoller Ge-
wissenhaftigkeit gegenüber dem Bewußtsein der Begrenztheit unserer
intellektuellen Fähigkeiten? Ist sie nicht vielleicht ein Zeichen
verantwortungsbereiten Ernstes, der uns die Schranken unseres Er-
kenntnisvermögens vor Augen stellt, und der uns davor warnt, die
Ungemessenheit des metaphysischen Verlangens nicht zu über-
schrauben, damit wir die Kühnheit der Spekulationen nicht immer
wieder mit dem unausbleiblichen Zusammenbruch der Metaphysik
bezahlen? Läßt sie sich nicht vielleicht rechtfertigen als eine Form
der Mahnung zum Mißtrauen gegenüber der Unsicherheit und Leer-
heit der metaphysischen Begriffe und der aus ihnen gezogenen
Schlußfolgerungen und als eine Aufforderung, den Pseudowert soge-
nannter metaphysischer Einsichten nicht zu übersehen? Ist dieser
Kampf nicht vielleicht geboten, damit wir innerlich veraltete Ent-
wicklungsstufen des Geistes überwinden und in wissenschaftlicher
und theoretischer Hinsicht endlich jene Selbständigkeit und Reife
erwerben, die dem Fortschritt der allgemeinen Kultur und dem der
positiven Wissenschaften, d. h. dem Geiste vernunftgegründeter Auf-
klärung angemessen ist? Läßt sich jener Kampf vielleicht als die Be-
kundung kritischer Zurückhaltung betrachten, die darauf gerichtet
ist, doch ewig unerfüllbare Erkenntnisansprüche und Erkenntnis-
hoffnungen bereits in der Wurzel auszuroden ? Ist es nicht in gewissem
Sinne angängig, ihn in seinem Wert darum anzuerkennen, weil er aus
22*
340
VI. Die Dialektik der Metaphysik
jener kritischen Überlegung heraus erfolgt, die die Grenzen zwischen
philosophisch-wissenschaftlichen und objektiv-gültigen Einsichten
auf der einen und dem religiösen Glauben und seinen Phantasie-
schöpfungen auf der anderen Seite nicht verwischt sehen möchte?
In der Tat: Jener ganze Kampf ist nichts weniger als die Folge
einer beliebigen Stimmung. Sein Gewicht kommt in seinem Alter
und in dem Verantwortlichkeitsgefühl, mit dem er doch nicht selten
geführt wird, zu nachhaltigem Ausdruck. Er ist notwendig und be-
rechtigt, weil der Mensch zur Kritik berechtigt ist, und weil diese
Kritik zu jenen unerläßlichen Aufgaben gehört, die sich für ihn
ebenso aus theoretischen und wissenschaftlichen, wie aus morali-
schen und weltanschaulichen Beweggründen ergeben.
Und schließlich ist auch in ihm jene „List der Vernunft“ wirk-
sam, die nach Hegel eine der großen schöpferischen Kräfte der
geschichtlichen Entwicklung darstellt. Dieser Kampf trägt nämlich
in sich eine gegen ihn selber sich wendende Teleologie, die dahin
führt, daß die Idee der Metaphysik und die Autonomie und die
Apriorität dieser Idee gerade durch ihn, d. h. durch die Auseinander-
setzung mit den Einwänden, tiefer begründet und schärfer klar-
gestellt werden können. Um diesen sowohl an sich als auch für
unsere besondere Absicht entscheidend wichtigen Zweck zu er-
reichen, war es zunächst geboten, die Haupttypen der Einwände
kennenzulernen und sie einer charakterologischen Schilderung zu
unterwerfen.
b.
Diese Einwände lassen sich in bestimmte Formen gliedern und
zusammenfassen.
Die wesentlichste Gruppe der Einwände ist die, die grundsätz-
lich die Möglichkeit und die Voraussetzungen aller und jeder Meta-
physik bestreitet. Sie richtet sich gegen das Recht der Metaphysik
überhaupt und beantwortet die Frage „Wie ist Metaphysik über-
haupt möglich?“ in prinzipiell ablehnendem Sinne.
Dieser Gruppe stehen diejenigen Abweisungen der Metaphysik
nahe, die in ihr in der Hauptsache nichts anderes als das subjek-
tive Spiel künstlerischer und nur subjektiv-gültiger Einbildungen
und Überzeugungen erblicken, ihr jedoch jede objektiv-wissenschaft-
liche und wissenschaftlich-objektive Geltung absprechen. Diese
zweite Gruppe von Einwänden ist darum nicht weniger radikal als
die erstgenannte, weil sie die Gültigkeit der Metaphysik in einen
1. Die Beanstandungen der Metaphysik
341
Rahmen einspannen will, in dem die Metaphysik von Anfang an
ihres eigentlichen Sinnes beraubt wird, und in dem sie auf die Dauer
nicht leben und nicht gedeihen kann. Zwar sollen ihr durch diese
Einschränkung angeblich gerade ein gewisser Daseinsraum und
ein gewisses Daseinsrecht zugebilligt werden. Es ist die Absicht, sie
durch die Hervorhebung und durch die Anerkennung ihres sub-
jektiven Spielcharakters in die Gemeinschaft der Kunst zu bringen
und ihr dadurch einen vollwertigen künstlerischen Geltungswert
nachzuweisen. Aber diese oft versuchte Zuweisung der Meta-
physik in das Reich der Kunst beruht, wie wir schon oben ge-
sehen haben, auf der denkbar gröbsten Verkennung des Wesens
der Metaphysik, auf einer Verkennung, die auf das Schuld-
konto des psychologistischen Mißverständnisses des ganzen Be-
griffs und Sinnes der Metaphysik zu buchen ist. Sie macht aus der
Kategorie des „Metaphysischen“ im Grunde nichts anderes als ein
Erlebnis und würde, wenn sie zu Recht bestünde, was allerdings in
keiner Weise der Fall ist, dadurch geradezu einen Todesstreich gegen
die Metaphysik bedeuten. Keine gefährlichere „Rettung“ und
„Rechtfertigung“ könnte ihr zuteil werden als durch diese — fälsch-
liche — Anerkennung und Zulassung als eine Form der Kunst und
als ein Niederschlag der künstlerischen Einbildungskraft, so ein-
flußreich diese Auffassung und Würdigung der Metaphysik auch
durch den Vorgang Friedrich Albert Langes und Nietzsches
geworden und lange Zeit geblieben ist. Merkwürdige künstlerische
Gebilde, diese „Metaphysik“ des Aristoteles, diese Ontologie des
heiligen Thomas, diese „Ethik“ Spinozas, diese „Monadologie“
von Leibniz, diese „Kritik der reinen Vernunft“ Kants, diese
„Phänomenologie des Geistes“ von Hegel, diese „Metaphysik“
Lotzes. Entweder verschiebt und zerstört man den Begriff der
Kunst oder den Begriff der Metaphysik, wenn die letztere dem
ersteren Gebiet zugeordnet wird. Halbwegs begreiflich und entschuld-
bar war eine derartige Auffassung, solange der Subjektivismus der
Psychologie als Haupttrumpf bei allen wissenschaftlichen Erklä-
rungsversuchen ausgespielt wurde und von hier aus alles „psycho-
logisch“ begründet und verstanden wurde. Ein anderes Muster-
beispiel dieser psychologistisch-subjektivistischen Auffassung ist die
in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts allgemein geübte Untersuchungsweise künstlerischer
Schöpfungen, seien es solche der Plastik und Architektur, seien es
Werke der Malerei und der Dichtkunst. Auch hier war das Vor-
342
VI. Die Dialektik der Metaphysik
gehen so, daß die Subjektivität des künstlerischen Erlebens und der
künstlerischen Persönlichkeit zum Ausgangspunkt des Verständ-
nisses der betreffenden Leistungen gemacht wurde. Wie sehr auf diese
Weise die ganze Leistung versubjektiviert, ihre Objektivität als Ge-
stalt, als Dasein innerhalb der geschichtlichen und soziologischen
Zusammenhänge der Kultur verkannt und der Weg zur Erfassung
derjenigen Prinzipien, die die objektive Geltung des Werkes be-
dingen und festhalten, verbaut wurde, das alles wurde nicht gesehen.
Und genau ebenso liegen die Umstände nun bei jener subjektivisti-
schen und psychologischen und psychologistischen Einschätzung der
Metaphysik, deren eigentümliche Objektivität und Apriorität zu
einem subjektiven Ausfluß der ,,dichtenden Einbildungskraft“, wie
Lange sagte, verdünnt wurde.
Ein dritter Typ von Einwänden ist weniger grundsätzlicher Art.
Er richtet sich nur gegen die Möglichkeit und gegen das Recht eines
bestimmten Systems und einer bestimmten Form der Metaphysik.
So bekämpft z. B.die kritische Metaphysik Kants den alten dogma-
tischen Rationalismus. So bekämpft die rationalistische Meta-
physik die intuitivistische und irrationalistische und umgekehrt.
Aber alle diese Reibungen und Auseinandersetzungen bewegen sich
doch bereits auf metaphysischem Boden und innerhalb des Rahmens
der Metaphysik. Sie bestreiten derselben nicht das Dasein und das
Recht. Nur ist an ihnen beachtenswert und beinahe amüsant, daß
jeder Standpunkt, der in diesen Auseinandersetzungen zu Worte
kommt, sich als den in metaphysischem Betracht allein berechtigten,
der Tendenz und Aufgabe der Metaphysik allein genugtuenden an-
erkannt sehen will. In diesen Streit spricht sich ein für die Meta-
physik immer wieder bezeichnender Fanatismus aus. Die oft bis
zum äußersten Doktrinarismus gesteigerte Leidenschaftlichkeit in
der Verfechtung eines metaphysischen Standpunktes ist nur be-
greiflich, wenn die sehr starken emotionalen Triebkräfte nach
Gebühr berücksichtigt werden, die in jeder metaphysischen System-
bildung wirksam sind und auch bei dem scheinbar dürrsten Ratio-
nalismus mitschwingen. Schon die Beteiligung dieser Triebkräfte
zeigt mit hinlänglicher Deutlichkeit an, daß der Kampf zwischen
den sich befehdenden Standpunkten auf metaphysischem Boden
stattfindet. Der metaphysische Rationalist ist überzeugt, daß der
Würde des Absoluten und der dieser Würde entsprechenden Er-
kenntnisart durch eine andere als durch die rationale und demon-
strative Erkenntnis ein unleidlicher Eintrag zugefügt würde, und
1. Die Beanstandungen der Metaphysik
343
er vertritt seinen Standpunkt nicht ausschließlich mit der üblichen
Kälte des strengen rationalen Verhaltens, sondern mit einem über-
rationalen Selbstbewußtsein und Stolz. Er wirft dem Irrationa-
lismus und Intuitivismus vor, er verflache das ,,Wesen“ der Dinge
und ihre einzigartige Realität und absolute Objektivität zu einem
bloß subjektiven Erlebnis und verdunkele die nur in der logischen
Allgemeinheit von Gesetzesbegriffen ausdrückbare Erkenntnis dieses
Wesens zu einem unkontrollierbaren, in allen möglichen Farben
schillernden Einfühlungsvorgang, der von dem Zufall rein indivi-
dueller Begabung und Stellungnahme abhängig und der Unstetig-
keit persönlicher Deutung unterworfen sei. In diesem Vorwurf
klingt etwas von einer Anklage gegen die Verletzung der Würde
der Metaphysik mit. Der Irrationalismus und Intuitivismus hin-
gegen verurteilt den Rationalismus ebenfalls als eine unziemliche
Verflachung und Veräußerlichung der wesenhaften Innerlichkeit
aller Erscheinungen, wie er eben diese Wesenhaftigkeit und Inner-
lichkeit versteht. Alles wahrhaft Wesenhafte sei individueller Natur.
Zu dieser wesenhaften Individualität und individuellen Wesenhaftig-
keit stehe aber nur der Intuition das Tor offen, nicht jedoch die-
jenige Erkenntnis, die in allgemeinen und formal-logischen Be-
griffen aussprechbar ist. Eine solche Erkenntnis entkleide die
„Individualität“ des Absoluten gerade ihres metaphysischen Eigen-
wertes und der Autonomie ihres Sinnes. Und die Begriffe, die der
Rationalist für die Erkenntnis des Absoluten gebraucht, seien nur
leere Worthülsen, nur oberflächliche Allgemeinbezeichnungen, nur
äußerliche Verstandesschemata. Ihnen fehle die Kraft, wirklich in
das „Innere“ der Dinge einzudringen. Da das Gefühl und die
Intuition aber der starren Verstandesarbeit und ihren Erzeugnissen,
nämlich den harten und trocknen Begriffsformen, überlegen sind, so
wird von hier aus dem Rationalismus der bekannte Vorwurf der
Seichtigkeit gemacht. Unverkennbar spielt bei der Ablehnung des
Rationalismus durch den Intuitivismus wiederum ein gewisser
Fanatismus eine wichtige Rolle, der gleichfalls einem doktrinären
Bewußtsein entstammt, aber einem Bewußtsein, das bereits an sich
metaphysisch eingestellt ist. Und was nun den ebenso bekannten
wie berühmten Streit zwischen Dogmatismus und Kritizismus an-
langt, so bedarf es nicht vieler Worte, um die metaphysischen Vor-
aussetzungen, die in diesem Kampf als Gesichtspunkte von grund-
legender Wirksamkeit sind, noch besonders zu verdeutlichen. Es
stehen sich hier zwei metaphysisch gesinnte und mit metaphysischen
344
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Waffen ausgerüstete Gegner gegenüber, deren Kampf sich innerhalb
der Bannmeile der Metaphysik vollzieht. Wir werden uns in einem
späteren Teil der Arbeit mit diesem Kampf ausführlich zu beschäf-
tigen haben. Sein Ausgang ist von ganz erheblicher Wichtigkeit
für die Gewinnung des von uns hier erstrebten metaphysischen
Standpunktes. Dieser Standpunkt gründet sich, was schon jetzt
unter Vorwegnahme der Ergebnisse der weiter unten folgenden Aus-
führungen gesagt sein mag, in wesentlicher Beziehung auf der Idee der
dialektischen Wechselbeziehung von Kritizismus und Dogmatismus.
Doch bei der im Augenblick behandelten Erörterung interessiert uns
nur der Umstand, daß sowohl der Dogmatismus als auch der Kriti-
zismus den Charakter metaphysischer Standpunkte an sich tragen,
daß also der Streit zwischen ihnen nicht die Bedeutung einer Auf-
lehnung gegen die Metaphysik überhaupt besitzt, ebensowenig wie
das in dem Streit zwischen Rationalismus und Irrationalismus der
Fall ist. Aus diesem Grunde haben wir auch diesen Streit, der
eine sozusagen interne Angelegenheit der bereits zugestandenen
Metaphysik bildet, in unserer allgemeinen Darstellung der Haupt-
formen der Kritik und der Einwände gegen die Metaphysik nicht
berücksichtigt.
Eine vierte Gruppe von Ablehnungen endlich wendet sich nur
gegen — angebliche — Einzelfehler und Unhaltbarkeiten, die inner-
halb eines metaphysischen Systems auftreten. In der Mehrzahl der
Fälle sind diese Einwände so beschaffen, daß sie die Bündigkeit
gewisser Folgerungen aus gewissen metaphysischen Stellungnahmen
und Entscheidungen leugnen. Dieser vierten Gruppe kommt er-
sichtlich nur das geringste prinzipielle Gewicht zu. Deshalb haben
wir ihr überhaupt keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Uns handelte es sich darum, nur die wirklich grundsätzlichen Be-
denken zu berücksichtigen. Das haben wir aber nicht sowohl aus
Interesse für diese Bedenken getan, als darum, um an ihnen und
durch sie die Autonomie und die Apriorität der Idee des Meta-
physischen herauszuarbeiten und das Recht dieser Idee gegen jene
Einwände zu verteidigen. Gemeinsam ist ihnen insgesamt der
bereits oben (S. 92ff.) angedeutete Umstand, daß sie die Eigenart
dieser Idee nicht begreifen und sie deshalb von einem von vornherein
metaphysikfremden Standpunkt aus zu widerlegen suchen. Und das
kann ihnen natürlich nicht gelingen.
2. Die Krisis der Metaphysik
345
2. Die Krisis der Metaphysik.
Um eine umfassende und vorurteilslose Würdigung der Meta-
physik zu erreichen, gilt es, zu beachten, daß für ihre Entstehung,
für ihre Ausbreitung und für das Maß ihrer Geltung ohne Zweifel
stets neben theoretischen und spekulativen Momenten auch „prak-
tische“ Antriebe wirksam sind. In der Tiefe unseres Wesens waltet
eine heimliche, bisweilen verschwiegene und halb unterdrückte,
bisweilen in einer geheimnisvollen Unruhe sich entladende Lebens-
angst, die zu den merkwürdigsten Grunderscheinungen des mensch-
lichen Daseins gehört. Im Verlauf unseres ganzen Buches sind wir
diesem Phänomen der Lebensangst wiederholt begegnet. Eine Unter-
suchung ihres Wesens stellt eines der ergiebigsten und reizvollsten Kapi-
tel der Phänomenologie des menschlichen Geistes dar. Und gerade eine
Phänomenologie der Metaphysik darf diese Aufgabe nicht unbeachtet
lassen (vgl. das Kapitel über die Metaphysik der Lebensangst, S. 265).
Um nun von dieser metaphysischen Lebensangst frei zu werden,
holt die listenreiche Vernunft des Menschen, oft unbewußt, die ver-
schiedenartigsten Hilfsmittel herbei. Zu diesen Mitteln ist auch
die Metaphysik zu zählen. Es ist nicht abwegig, auch sie wenigstens
in einer Hinsicht als eine Waffe im Kampf des Lebens und im Kampf
uni das Leben aufzufassen. Und die Metaphysik gewährt die er-
hoffte Hilfe dadurch, daß sie die Wirklichkeit als eine vernünftige
Einheit zu beweisen sucht, die in ihrem Grunde und in ihrem ganzen
Aufbau die Züge vernünftigen Geschehens zeigt. Eine solche meta-
physisch-idealistische Verklärung der Wirklichkeit pflegt an der
Befriedigung des allgemeinen menschlichen Bedürfnisses nach be-
ruhigender Ordnung mitzuhelfen. Die metaphysische Erkenntnis, die
die Herrschaft eines allmächtigen Vernunftprinzips betont, dient
nicht bloß der Beantwortung theoretischer Fragen, sie hilft auch in
einem nicht gering zu veranschlagenden Grade der Beschwichtigung
moralischer Sorgen und Konflikte und weltanschaulicher Nöte. In-
dem die Metaphysik der Befriedigung des menschlichen Harmonie-
bedürfnisses dient, das oft in sehr energischer Weise durchbricht,
erweist sie der menschlichen Sehnsucht und der geschichtlichen
Kultur eine nicht geringe Hilfe. Sie übt in dieser Beziehung so
etwas wie eine religiöse Funktion aus. Das geschieht besonders in
denjenigen Zeitaltern oder bei denjenigen Geschlechtern, die sich
der Naivität und Unmittelbarkeit des religiösen Glaubens ent-
fremdet und mit spiritualistischen Neigungen erfüllt haben.
346
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Dennoch darf uns die Erkenntnis dieser Funktion der Metaphysik
den Blick dafür niemals trüben, daß die Metaphysik in ihren Vor-
aussetzungen und in jedem Schritt ihres Aufbaues antinomischen
und dialektischen Charakters ist und bleibt. Diese Dialektik und
Antinomik ergibt sich aus den durchschlagendsten systematischen
Gründen und steigert sich notwendigerweise nicht selten bis zur
Höhe äußerster Paradoxie. Es hieße, der Metaphysik einen wesent-
lichen Teil und einen sie bestimmenden Sinn ihrer Eigenart rauben,
sollte ihr das Recht zur prinzipiellen Verwendung des Gesichts-
punktes der Paradoxie, der Polarität und der Antinomie bestritten
werden. Die Idee der Dialektik darf und kann für die Metaphysik
und in ihr keine Beeinträchtigung zugunsten eines schnell durchge-
führten harmonisierenden Monismus erfahren. Die eigentliche Größe
Platos besteht gerade in der Schöpfung und in dem konstruktiven
Gebrauch der Idee der Dialektik1). Und ist es nicht ein unleugbares Ver-
dienst des Aristoteles, die Unentbehrlichkeit des Gedankensder
,,Aporie“ hervorgehoben zu haben, ein Verdienst, dem jetzt wieder
Nicolai Hartmann die gebührende Anerkennung zollt? Ferner:
Welche Bedeutung maß Kant der Entdeckung des Antinomien-
J) So stimme ich bis aufs Wort der Überzeugung Romano Guardinis zu,
der in seinem Buche „DerGegensatz“ (1925) sagt: „Der Gedanke der Gegensätz-
lichkeit oder Polarität scheint zum Grundbestand des .platonisch* gerichteten
Denkens zu gehören“ (S. 16). Inwiefern Guardinis Buch selber in seinen Ausfüh-
rungen das Prinzip und die Methode der Dialektik vertritt und inwiefern mein
Buch sich von dem Guardinis unterscheidet, geht direkt aus meinen Ausfüh-
rungen hervor. Seine Dialektik ruht auf dem Unterbau eines theologischen Theis-
mus, der mir von den für sein Denken maßgebenden Voraussetzungen aus durch-
aus verständlich ist, dem ich mich aber nicht anzuschließen vermag. Guardini
bleibt dem Gesichtspunkt der Dialektik zugunsten eines allerdings sehr innigen
Harmonismus nicht treu. Und damit gelangt auch er zu einem Monismus, der
natürlich mit dem üblichen Wald- und Wiesenmonismus, einem ahnungslosen
laienhaften Naturalismus, keine Spur einer Gemeinschaft besitzt. Guardinis
theistisch-personalistischer Monismus hat seine wissenschaftlichen und geschicht-
lichen Grundlagen in der Tradition der katholischen Philosophie und Glaubens-
richtung. Ihm lösen und erlösen sich doch alle Reibungen und Zwiespalte in der
seinsmäßigen Einheit Gottes. „Der eigentliche Sinn des Lebens ist Gott; der
Dienst Gottes und der Besitz Gottes“ (S. 72 Anm.). „Nun ist aber Gott eins;
ja einfach, ohne jegliche Zusammensetzung.......aber seinsmäßig ist Gott eins;
...Gott ist eins nach Sein, Wesen, Wirken und Eigenschaften.“ (S. 94 Anm.)
... Inwiefern mir aber auch die platonische Dialektik noch nicht der ganzen
Schwere und Tiefe der Dialektik gerecht zu werden, vielmehr ihre Schärfe
durch die Tendenz zum Harmonismus zu mildern und abzustumpfen scheint,
ist weiter oben ausführlich behandelt worden (vgl. S. 306 ff.).
2. Die Krisis der Metaphysik
347
problems bei! Seine Stellung zu diesem Problem ist keineswegs aus-
schließlich vonder AbsichtnachTilgungdieses Problems und nachBe-
seitigung des Antinomiengedankens geleitet. Ebenso ist seine Stellung
zur Dialektik, wie jetzt immer deutlicher erkannt wird, keineswegs
eine nur negative und ablehnende. Der wesentliche Teil der kri-
tischen Systematik beruht auf einer Dialektik, die, wie sie den Auf-
bau des Kritizismus zur Systematik bedingt, zugleich auch an der
weitertreibenden Entwicklung der kantischen Fragestellungen und
Entscheidungen hin zum spekulativen und konstruktiven Idealismus
mit durchschlagender Beteiligung mitgewirkt hat. Dieser Idealismus
ist von Kant schon darum abhängig, weil er das dialektische Mo-
ment im Kritizismus erkannte und in seine eigene Systematik als
methodischen Antrieb mit aufnahm. Die Bedeutung des spekulativen
Idealismus, besonders die Stellung und die Genialität Hegels, be-
sitzen ihre logische und ihre allgemeinphilosophische Begründung
in der Energie und Meisterschaft, mit der die dialektische Methode
von ihnen in einem allseitig ausgebauten System der Weltanschau-
ungvertreten und gehandhabt wurde1). Außerdem wird die vorliegende
Arbeit in einem historisch gerichteten Kapitel zu zeigen suchen,
daß und weshalb auch die Philosophie der Gegenwart eine ent-
schiedene Wendung zur Erneuerung und zur systematischen Durch-
führung der Dialektik zeigt (vgl, S. 392ff.). Sehr viele der bekannte-
sten Vertreter der zeitgenössischen Philosophie sind Dialektiker oder
neigen der Dialektik zu* 2). Viele von ihnen mit ausdrücklicher An-
erkennung und in der Form eingehender Begründungen3).
Es ist unmöglich, in der Philosophie nur so nebenher und
gleichsam nur mit einer gewährenden Geste Dialektiker und in der
Hauptsache der Anhänger des Standpunktes des Positivismus oder
x) Auch hier darf trotz der im Text ausgesprochenen Anerkennung für
die Leistung Hegels auf die Einschränkung jener Anerkennung in einem vor-
angehenden Kapitel dieses Buches hingewiesen werden (vgl. S. 306 ff.).
2) Vgl. auch R. Guardini a. a. O. S. 17.
3) Vgl. Siegfried Marek, Dialektisches Denken in der Philosophie der
Gegenwart, Logos, Bd. XV, H. 1, 1926, S.21ff. Ohne den Anspruch auf Voll-
ständigkeit oder auf eine Verfolgung des Problems bis in seine letzten sachlichen
Tiefen zu erheben, behandelt M. in eindringender Weise einige charakteristische
Ausprägungen der Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, und zwar die
„Theorie der Dialektik“ von Jonas Cohn, die „Grundlagen der Denkpsycho-
logie“ von Richard Hönigswald, die Abhandlung „Anschauen und Denken“
von Richard Kroner und „Geschichte und Klassenbewußtsein“ von Georg
Lukacs.
348
VI. Die Dialektik der Metaphysik
des Historismus zu sein. Nichtdialektisch gerichtete Zeitalter sind ge-
wöhnlich leere Blätter in der Geschichte des Geistes und der Philo-
sophie. Die Höhepunkte dialektischen Denkens waren stets zugleich
Blütezeiten der Philosophie. Die heute wieder geforderte bzw. an-
gestrebte Vertiefung der Philosophie läßt sich so lange nicht er-
reichen, als nicht eine entschiedene Wiederbelebung der Dialektik
und eine entschiedene Erneuerung des Verständnisses für ihre
Größe erfolgt ist. Wir vernehmen seit einigen Jahrzehnten die Rufe
nach dem systematischen Wiederaufbau der Philosophie, und wir
sehen eine Anzahl von Bemühungen am Werke, diesen Rufen eine
solche Erfüllung zu sichern, die dem Ernst einer wissenschaftlich
gesinnten Philosophie entspricht. Ich huldige der Überzeugung,
daß eine restlose und eine für die Eigenart der philosophischen An-
sprüche charakteristische Verwirklichung jener Forderungen zum
größten Teil von dem Bekenntnis zur Dialektik und von den aus
diesem Bekenntnis gezogenen Folgerungen abhängig ist. Abgesehen
von den zwingenden Notwendigkeiten, die sich aus dem Begriff der
Philosophie selber zugunsten der Wendung zur Dialektik ergeben,
sprechen hier auch maßgebende Zeitverhältnisse und geschichtliche
Entwicklungslagen mit. Es ist leicht, zu sehen, wie sehr dialektisch
der Geist unserer Zeit geworden ist, und es ist leicht, die Gründe für
diese Entwicklung zu zeigen. So steht eine dialektisch begründete
und eine dialektisch sich aufbauende Philosophie in voller Über-
einstimmung mit der für die Gegenwart charakteristischen Ge-
sinnungsart1). Es heißt also, sowohl aus dem Geist und dem Be-
griff der Philosophie als auch aus dem Ethos unserer Zeit heraus
philosophieren, wenn die Methoden der Polarität und Dialektik
als Grundlegungs- und Konstruktionsprinzipien einer philoso-
phischen Arbeit anerkannt und verwendet werden. Jedenfalls strebt
der hier dargebotene Versuch dahin, einen Beitrag zu liefern für die
Erkenntnis der Notwendigkeit und des Rechts der Dialektik, für
die Erkenntnis der Wichtigkeit der Ideen der Antinomie und Para-
doxie, für die Einsicht in die konstitutive Bedeutung des Prinzips
der Problematik. Hoffentlich begegnet den Darlegungen aber nicht
die Gefahr, als Relativismus oder Skeptizismus beurteilt, verdächtigt
und abgelehnt zu werden. Der Wert, den unter philosophischem
Gesichtspunkt der Skeptizismus für sich in Anspruch nehmen kann,
*) Vgl. R. Guardini a. a. 0. S. 17: „Im Denken der letzten zwanzig Jahre
tritt er — nämlich der Gegensatzgedanke — wieder stärker hervor; steht er doch
in besonderer Beziehung zur geistigen Situation unserer Zeit.“
2. Die Krisis der Metaphysik
349
ist höchstens derjenige einer methodischen Vorbereitung für die
Grundlegung eines Systems. Dagegen fehlt ihm, wenn er in der
ganzen Strenge und Reinheit seines Begriffs genommen wird, jede
konstruktive aufbauende Bedeutung.--------
Wie jedoch ist die anerkannte und dauernde Geltung einge-
bürgerter autoritativer Lehrmeinungen, die in der Philosophie
allenthalben mit bestimmender Kraft hervortreten und der philo-
sophischen Entwicklung eine so undialektische Ruhe und Sicherheit
zu verleihen streben bzw. tatsächlich verleihen, mit der soeben
betonten, ebenso zweifellos vorhandenen und grundsätzlich wich-
tigen Dialektik und Krisis in eben dieser Entwicklung zu vereinigen?
Machen wir uns den Sachverhalt, vor dem wir stehen, recht deutlich.
Wir stehen vor nichts anderem als vor der Tatsache einer ausge-
sprochenen und unbestreitbaren Antinomie und Paradoxie in der
Geschichte und in der Systematik der Metaphysik oder vielmehr
vor dem ständigen und stetigen Prozeß der Antinomie. Und dieser
Prozeß bedingt es, daß auch der Kampf um die Metaphysik, der
mit dem Aufgebot des größten intellektuellen Heroismus in allen
Jahrhunderten geführt wird, mit allen Zügen der Antinomie, der
Dialektik, der Paradoxie ausgestattet ist.
Indem wir diese folgereiche Feststellung machen, ergibt sich die
Möglichkeit, den Sinn und die Tragkraft derjenigen Krisis, die nach
unseren Ausführungen der Metaphysik eigentümlich ist, besser und
schärfer zu verstehen und in ihrer Unvermeidlichkeit zu begründen
und zu beglaubigen. Bei dieser Krisis handelt es sich um nichts
mehr und um nichts weniger als darum, daß die Metaphysik da ist
und nicht da ist, besteht und nicht besteht, ja nicht nur bloß da ist
und nicht da ist, sondern berechtigt und notwendig und dabei zu-
gleich problematisch und hypothetisch ist.
Diese Behauptung klingt äußerst gekünstelt; sie erscheint bei-
nahe sinnlos; sie erscheint wie ein Ergebnis gewaltsamer Konstruk-
tion, als gefielen wir uns in der Erzeugung eines unnatürlichen
dialektischen Knäuels und in dem geistreichelnden Spiel mit solchen
intellektuellen Gewaltsamkeiten. Aber entspricht der Hinweis auf
die ewige Antinomie in jener Krisis und in jenem Kampf nicht
dennoch den tatsächlichen Verhältnissen? Findet er seine Begrün-
dung nicht in der Struktur der metaphysischen Einstellung und in
dem eigentümlichen Verhalten des Menschengeistes zu den Pro-
blemen und zu den Lösungen, die von der Metaphysik ergrübelt
und dargeboten werden? Herrscht in diesem Verhalten nicht ein
350
VI. Die Dialektik der Metaphysik
dauernder Wechsel von Ruhe und Unruhe, von Frage und Lösung,
von dialektischem Problemaufspüren und von Verzicht, von dog-
matischem Glauben an die Möglichkeit gesicherter und endgültiger
Erkenntnis und von leiser Angst hinsichtlich unaufklärbarer
Schwierigkeiten und Tiefen? Ist die Formulierung zu gewagt und
zu sehr zugespitzt, die da lautet: ,Die Metaphysik besteht und be-
steht nicht'? Indem sie wird, sind schon die Bedingungen für ihre
Auflösung mitgesetzt, und indem sie sich auflöst, ist bereits der
Strom neuer Bildung eingeleitet. In doppelter Gestalt besteht die
Metaphysik: Sowohl als Aufgabe als auch als Leistung, sowohl als
Idee als auch als System. Aber jedes schärfere Eingehen, sei es auf
ihre rein ideelle, sei es auf ihre systematisch durchgeführte Gestalt,
zeigt sofort, daß sie in beiderlei Betracht in die Krisis einer uner-
hörten Problematik* und Dialektik verflochten ist. Es ist das eine
Krisis, die das ,,Dasein“ der Metaphysik innerlichst und sofort
jener Geltung entkleidet, die wir sonst allem Seienden zubilligen,
und um derentwillen es die Anerkennung, ein Seiendes zu sein,
überhaupt erst genießt. Nirgendwo entschleiert sich die ewige
Krisennatur alles Seienden deutlicher und zwingender als in der
Metaphysik. Und es gibt für die Erkenntnis dieser ewigen Proble-
matik und Krisennatur alles Bestehenden keinen klareren Spiegel
als eben die Metaphysik. Am Abglanz der Metaphysik offenbart
sich die unaufhebbare Krisis alles Lebens. Aber sie offenbart sich
hier eben in jener außerordentlichen Eigentümlichkeit, die dem
theoretischen Eigenwert der Kategorie des ,,Metaphysischen“ zu-
kommt und von dem nun ausführlich die Rede sein wird.
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis.
Daß die Erkenntnis der Immanenz der Krisis der Metaphysik
und die Hervorhebung der Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit
dieser Krisis in keiner Weise im Sinne eines Einwandes oder eines
Tadels gemeint sind, versteht sich im Anschluß an unsere Aus-
führungen von selbst. Der Gegner der Metaphysik glaubt, seine
Geringschätzung oder seine Ablehnung aller metaphysischen Speku-
lationen durch den Hinweis auf die Beharrlichkeit jener Krisis er-
härten zu können. Wir dagegen wollen ihm diese Waffe dadurch
aus der Hand winden, daß wir diese Krisis geradezu als die
eigentümliche Stärke und Größe der Metaphysik aus-
zeichnen und würdigen. Das Recht und der Sinn dieser Be-
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
351
hauptung, die auf den ersten Blick vielleicht merkwürdig und un-
haltbar anmutet, werden sich jedoch aufhellen und festigen, wenn
wir im folgenden das Wesen dieser Krisis näher beleuchtet und der
Aufgabe, sie zu verstehen, entsprochen haben werden. Abhängig
ist dieses Verständnis natürlich von der Analyse der Kategorie des
„Metaphysischen“, die uns nunmehr bereits wiederholt entgegen-
getreten ist.
In unserem Zusammenhang bedarf es zunächst einer Vorbemer-
kung von grundsätzlicher Wichtigkeit. Diese Bemerkung bezieht
sich auf die Notwendigkeit, die Idee der Antinomie und Problematik,
den Gedanken der dialektischen Unruhe und Bewegtheit, den Be-
griff der dialektischen Krisis und der kritischen Dialektik nicht in
negativem und relativem, nicht in destruktivem und demgemäß
relativierendem Sinne aufzufassen, sondern ganz und gar in dem
positiven Sinne aufbauender, formal und sachlich konstruktiver
Prinzipien, ln allen unseren Darlegungen gebrauchen wir die Idee
derAntinomie und der Krisis als diejenige einer positiven
Bedingung für die dialektische Methode. Wir verwenden
jene Idee geradezu als Methode, so daß es auch berechtigt wäre, von
der Methode der Antinomie und Krisis zu sprechen. Ein Haupt-
anliegen unserer Arbeit besteht darin, die Berechtigung der Idee
und des Gebrauchs der methodisch gemeinten Antinomie und Krisis
zu vertreten, und sie so zu vertreten, daß auch nicht der geringste
Anlaß geboten wird, unsere Ausführungen irgendeiner Spielart des
Relativismus und Skeptizismus zuzuordnen. Wir hoben schon
weiter oben die maßgebende Bedeutung hervor, die der dialektische
und antinomische Gesichtspunkt für die Grundlegung und für den
Aufbau der Metaphysik und für die ganze philosophische Systematik
besitzt. Wir hoben damit etwas hervor, was allgemein bekannt ist.
Nur scheinen mir aus der Anwendung der Kategorien der Dialektik
und der Antinomie nicht alle hierher gehörigen Folgerungen gezogen
zu werden. Mildernd, ausgleichend spielt in die Dynamik des Dia-
lektik- und Antinomiegedankens ein Harmoniebedürfnis mit ver-
führerischem Reiz hinein. Die Aufrechterhaltung und die unent-
wegte Durchführung des soeben genannten Gedankens scheint dem
weitverbreiteten Verlangen nach Ruhe und Einheit zu widersprechen,
einem Verlangen, das auf dem Gebiete der Philosophie und der
Weltanschauung sich in der Entwicklung und Anerkennung des
Monismus begrifflich und gesinnungsmäßig ausdrückt. Aber in der
Mehrzahl der Fälle erweist sich der Monismus als ein allzu leicht
352
VI. Die Dialektik der Metaphysik
erworbenes, auf tönernen Füßen ruhendes Gut. in dem monistischen
Schlagwort steckt eine nicht kleine Gefahr, wie mit berechtigtem
Nachdruck von Heinrich Maier hervorgehoben wird, der mit
nicht geringerem Recht zugleich davor warnt, die Scheu oder Furcht
vor dem Dualismus nicht zu übertreiben1).
Doch die Natur der meisten Menschen ist auf Behagen angelegt,
und sie genießt die Lust dieses Behagens durch die Fernhaltung
und Ausschaltung aufwühlender Zwiespältigkeiten, mögen diese sich
dem Auge auch noch so stark aufdrängen. ,,Des Menschen Tätigkeit
kann allzu leicht erschlaffen, er liebt sich bald die unbedingte Ruh’.“
Zur Rechtfertigung jenes Behagens und zur Begründung für die
gemütsmäßige Abweichung der von der Dialektik emporgetriebenen
und nachgewiesenen Krisen pflegt man die Befürworter der Anti-
nomienidee als „Skeptiker“ zu bezeichnen, um sie durch diese
Bezeichnung zugleich in einen, in philosophischer und weltanschau-
licher Beziehung schlechten Ruf zu bringen.
Die „Antinomiker“ sind keine Skeptiker, die Dialektiker sind
keine Relativisten, die Problematologen sind keine Problematiker,
wie ein an das übliche Prinzip der Einheit mit Vorliebe sich anklam-
merndes Denken urteilen möchte. Es gibt eine schlechte und un-
philosophische Dialektik; es ist das die Dialektik der Sophisten aller
Zeiten, die nicht nur die Möglichkeit endgültiger Lösungen bestreitet,
sondern sogar die Probleme zerredet, sie um ihren Sinn bringt und
ihre Autonomie verschandelt. Wie immer es mit den Lösungen
stehen mag — in dem Begriff des Problems steckt ein positiver,
ein grundlegender und konstruktiver Wert, der durch keine So-
phistik, durch keinen Skeptizismus erschüttert werden kann. Der
Relativismus der Sophisten ruht nach seinen Voraussetzungen wie
nach seinen Ergebnissen auf einer Talmidialektik, die nur so tut, als
ob sie eine philosophische Bedeutung hätte, die jedoch im Grunde
sich selber nicht versteht. Sie lebt nur in dem Flimmerglanz von
Geistreicheleien und in dem bequemen Spiel des Dilettantismus.
Mit tiefem Recht hat besonders Hegel gegen eine Philosophie sich
gewendet, die geistreich sein will. Jene unlautere, sophistische und
relativistische Dialektik und die echte und ernste philosophische
Dialektik, die wie jene eine Schöpfung des griechischen Geistes dar-
stellt, haben miteinander nichts gemein. Alle Rechtfertigungs-
versuche der erstgenannten Form der Dialektik sind und bleiben
l) Heinrich Maier, Philosophie der Wirklichkeit: I. Bd.: Wahrheit und
Wirklichkeit (1926) S. 28, 33, 86, 87 u. ö.
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
353
nichts als ein Schlag ins Wasser, selbst wenn sie von Männern wie
Ernst Laas und Friedrich Nietzsche unternommen werden.
Gegen jene schlechte Dialektik richtet sich aber auch ein tiefes
sowohl intellektuelles als moralisches Bedürfnis des menschlichen
Geistes, das, falls es nicht durch irgendwelche zerstörenden Ein-
flüsse entartet ist, allem sophistisch-dialektischen Nihilismus und
aller sophistischen und nihilistischen Dialektik von Grund seines
Wesens aus durchaus feind ist. Es ist ihm feind, weil es ein richtiges
Gefühl für den hohen Ernst und für die hohe Würde der Philosophie
und der Erkenntnis besitzt, und weil es diese Werte nicht in den
Strudel der relativistischen und relativierenden Sophismen der
Sophistik hineingezogen sehen will.
Die Vertretung und Befürwortung des Rechtes der Dialektik
schließt keineswegs die Preisgabe der Idee der Einheit des Denkens
und des Seins ein. Denn diese Idee ist sowohl mit dem Begriff
der Philosophie als auch mit dem der Wahrheit und der Wirk-
lichkeit unzertrennlich verbunden. Damit ist aber nicht gesagt,
daß dann die Idee der Dialektik nicht aufrechtzuerhalten ist. Das
Prinzip der Einheit und das Prinzip der Dialektik vertragen sich
aufs beste miteinander. Allerdings nur dann, wenn der Begriff der
Einheit nicht in einem starren und formalen Sinne und der Begriff
der Dialektik nicht in einem alles zerfasernden und irrlichterierenden
Sinne genommen wird. Es gilt vielmehr, die Einheit dialektisch und
die Dialektik unter dem Gesichtspunkt der Einheit zu verstehen und
zu verwenden.
Ebenso wie der menschliche Geist den ganzen Reichtum seiner
theoretischen und praktischen Betätigungen auf der einen Seite nur
dann zeigen und entfalten und seine Aufgaben nur dann durch-
führen kann, wenn und wofern er dem Prozeß seiner Selbstverwirk-
lichung die richtunggebende Idee der Einheit zugrunde legt, so
vermag er auch umgekehrt nur in der Unruhe und in der Unermüd-
lichkeit des von ihm geschaffenen Stromes dialektischer Spannungen
seiner Idee gerecht zu werden und sein Wesen zu erfüllen. Der Meta-
physik ist wohl überhaupt keine größere, aber auch keine schwieri-
gere Forderung gesetzt als die Aufweisung der sinnhaften Wechsel-
verbindung des Prinzips der Einheit und des der Dialektik.
Der alte formalistische Rationalismus, der besonders zur Zeit
der Aufklärung zur Herrschaft gekommen war, verkannte die Be-
deutung dieser Forderung, indem er einseitig für eine Idee der Ein-
heit sich einsetzte, die er den für ihn grundlegenden mathematisch-
Liebert, Dialektik. 23
354
VI. Die Dialektik der Metaphysik
mechanistischen Naturwissenschaften entnahm. Deshalb trug auch
diese Idee allzusehr den Charakter formaler Starrheit und formaler
Verstandesmäßigkeit. Und der auf ihr beruhende Rationalismus
mußte folgerecht da versagen, wo es sich um die Erkenntnis der
bewegungs- und spannungsreichen Wandlungen des geschichtlichen
Lebens und der sprühenden Fülle seiner in immer neuen Individua-
litäten sich entladenden Dialektik handelt. Die romantische
Philosophie hingegen gab sich zu ausschließlich einer Dialektik hin,
die in der Wildheit ihrer Bewegung alle Einheit und alle Gliederung
und allen aus selbständigen Sinneszentren gespeisten und stufen-
mäßig sich entfaltenden Aufbau vermissen ließ. Ihr floß alles Sein
und Geschehen in ein unterschiedsloses Gewühl sich einander durch-
schlingender Momente zusammen. Diese Momente, zu sekunden-
haftem Dasein aufblitzend und in ihrer eigenen Unruhe ertrinkend,
ließen schließlich überhaupt keine erfaßbare Einheit erkennen, und
deshalb war an sie durch keine Form des an dem Prinzip der Einheit
orientierten begrifflichen Denkens heranzukommen.
Das Streben nach klarer Systematik und nach einheitlicher Er-
kenntnis verbot es den strengen Wissenschaften geradezu, die Idee
derjenigen Dialektik, die von der romantischen Philosophie in so
ausgiebigem Umfange zur Anwendung gebracht worden war, auch
für sich zu verwenden. Sie mußte im Falle der Benutzung dieser
Idee geradezu eine Gefährdung ihrer Exaktheit und ihrer ganzen Be-
griffstechnik befürchten und den unerträglichen Verlust ihrer Ratio-
nalität gewärtigen. Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts
haben sich mit betonter Geflissentlichkeit von der spekulativ-ro-
mantischen Philosophie abgewendet; sie beargwöhnten in ihr
geradezu einen Verderber der positiven Forschung. Diese Gegner-
schaft floß in der Hauptsache zunächst aus der Ablehnung einer,
alle objektive Einheit, alle Sachlichkeit und allen Zusammenhang
der Erkenntnis scheinbar zermürbenden „Dialektik“, die in dem
positivistischen Geiste der Naturwissenschaftler ein Mißbehagen
erweckte, und in der diese nichts als eine Gedankenspielerei er-
blickten. Jene Gegnerschaft ergab sich alsdann auch aus der
Abweisung und Mißachtung der in angeblich blutleere Abstrak-
tionen sich verlierende Verallgemeinerungen und konstruktive Syn-
thesen jener philosophischen Richtung. Was die spekulativ-roman-
tische Philosophie als „Einheit“ des Seins und der Erkenntnis aus-
gab, das erschien der Naturwissenschaft nicht bloß als ein er-
künstelter Begriff, sondern auch als ein ungegliedertes Gemisch
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
355
durcheinanderwirbelnder Behauptungen und Setzungen, das keine
Spur der erforderlichen begrifflichen Bestimmtheit und der ebenso
notwendigen analytischen Differenziertheit aufwies. Die roman-
tische Dialektik hatte sich der Rationalität und, nach der Auffassung
der positiven Naturwissenschaft, der Pflicht zu sachlicher Arbeit
und zur Achtung vor dem Objekt zu sehr entäußert. Indem
sie als Erkenntnismittel die Intuition nachhaltig heranzog, die
Intuition aber immer geneigt ist, Gliederungen und Unterschiede
zu überspringen und alle formalen wie auch alle wesenhaften Prin-
zipien in einheitlicher ,,Schau“ auszugleichen, mündete sie in einem
Einheitsgedanken, der vom Standpunkt der mathematisch-mechani-
stischen Naturwissenschaft ohne feste Umrisse war und wie ein halt-
loses Nebelgebilde jede beliebige Deutung, Teilung, Zusammen-
stellung, Erweiterung, Pressung, Verschiebung usw. zuließ.
Zwar ging die positive Forschung in ihrer Abweisung und
Verdächtigung der dialektischen und synthetischen Behandlungs-
weise ohne Zweifel zu weit. Die unaufgebbare Berechtigung und
Notwendigkeit der Dialektik und der Synthese wurde vor ihr
nicht verstanden. Dennoch zwingt die Gerechtigkeit dazu, zu
betonen, daß die romantische Fassung und Verwendung der Idee
der Dialektik ihre Gefahren mit sich brachte und mit sich
bringt. Allerdings eignet sie sich für die Erkenntnis gerade des
geschichtlichen Lebens ungleich besser als der alte formal-ratio-
nalistische Einheitsbegriff, der in seiner Unbiegsamkeit keine
Beziehung zur Dynamik des geschichtlichen Lebens besitzt. An-
dererseits muß sich auch für die Zwecke der historischen Erkennt-
nis eine Dialektik als unzulänglich erweisen, die in der Über-
treibung der Idee der Bewegung die Spannungen zwischen den indi-
viduellen Gestalten in formlose Übergänge zerfließen läßt und da-
durch die Idee der Einheit auflöst. Denn mit der Idee der Einheit
ist der Begriff der Form und der Gliederung untilgbar verbunden.
Es ist nicht nötig, daß deshalb der Begriff der Einheit einen starren,
einen statischen Charakter annehmen muß. Dennoch kann und darf
von diesem Begriff aber auch nicht jegliche Statik ferngehalten
werden. Es ist das eben die Aufgabe und die Kunst des Meta-
physikers, einen solchen Einheitsbegriff aufzustellen und zu ver-
wenden, der mit der relativen Statik eine relative Dynamik ver-
bindet, wobei die Bezeichnung „relativ“ nicht etwa die — gedank-
lich absurde — Relativierung von Statik und Dynamik ausdrücken
will, sondern auf die Notwendigkeit ihrer wechselweisen Beziehung
23*
356
VI. Die Dialektik der Metaphysik
hinweisen soll. Die romantische Sonderauffassung und Sonder-
verwendung des Begriffs der Dialektik zerdehnte und zerweichte
diesen Begriff fast bis zur chaotischen Formlosigkeit. Sie über-
spannte die Idee der Bewegung, die in dem Begriff der Dialektik
enthalten und wirksam ist, zur Idee einer schließlich gestaltlos
werdenden Geschwindigkeit. Für die Zwecke der wissenschaftlichen
Erkenntnis gebrauchen wir jedoch unabweisbar die Idee einer solchen
Einheit, die, um der begrifflichen Erfassung zugänglich zu sein, in
sich relativ feste Abschnitte und gegliederte Stufen trägt und um-
greift.
Seit jeher ist der Metaphysik als eine ihrer vornehmsten und
wichtigsten Obliegenheiten die Aufgabe der Herstellung von Syn-
thesen zugewiesen worden. Und die synthetische Geisteshaltung wurde
geradezu als die dem Metaphysiker eigentümliche Form des Welt-
begreifens angesehen. Mit Recht ist oft von einer Übereinstimmung
zwischen metaphysischer und synthetischer Erkenntnis die Rede.
Aber auch die Wendung zur Synthese und der Gebrauch der
Synthese können berechtigte Bedenken zeitigen. Auf diese Gefahren
aufmerksam zu machen, ist angesichts wichtiger Vorgänge im Geistes-
leben und in der Philosophie der Gegenwart vielleicht nicht unan-
gebracht. Der Ruf nach Synthese ist zu einer „Forderung des Tages“
geworden, und er ist als Gegenwurf gegen eine zu weit gehende,
d. h. die Pflicht zur Zusammenfassung außer acht lassende Mikro-
logie nicht unbegründet. Es gibt eine analytische Behandlungsart
der Dinge, die allen Zusammenhang zwischen den Erscheinungen
auflöst, dadurch die Erscheinungen vereinzelt und „Einheiten“ zu
gewinnen oder gewonnen zu haben glaubt, die in ihrer eigenen
Winzigkeit und Bestandlosigkeit versinken. Hier ist die Einheit
sozusagen auf den Nullpunkt zusammengeschrumpft. Die Analysis
hat bei übertriebener Anwendung den Halt, der zwischen den Erschei-
nungen bestehen und aufrechterhalten werden muß, zerstückelt und
dadurch die Erscheinungen selber so sehr verschrumpfen lassen und
zusammengedrückt, daß diese überhaupt keine phänomenologisch
erfaßbare und begrifflich bestimmbare Größe und Einheit behalten.
Die Erscheinungen der Wirklichkeit müssen aber auf alle Fälle die
Einheit einer bestimmbaren Größe und die Größe einer bestimm-
baren Einheit aufweisen, gleichgültig ob diese Größe und Einheit
als quantitative oder als qualitative Werte aufgefaßt werden.
Wie die Analysis, so kann, mit anderen Worten, auch die Syn-
thesis zu einer Gefährdung bzw. Vernichtung der Einheit führen.
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
357
Dieser Fall ist nicht selten eingetreten. Nämlich dann, wenn die
Synthesis auf dem Wege konstruktiver Verallgemeinerungen sich
nicht selber ein Maß setzte, wenn sie bei uferlosem Weiterschreiten
Gedankengebilde erzeugte, die schließlich selber zu Uferlosigkeiten
entarteten und in ihrer Grenzenlosigkeit zerflossen. Es ist das ein
Abweg, den die synthetische „Schau“ und die intuitiv vorgehende
Mystik nicht selten eingeschlagen hat. Ein Abweg ist es, weil er
eine Bedrohung der begrifflichen Bestimmtheit der wissenschaft-
lichen Erkenntnis mit sich bringt, er neigt dazu, diese Erkennt-
nis in die Dämmrigkeit eines Verhaltens zu verleiten, das den
menschlichen Geist schließlich mit einem Nebelgewoge umhüllt,
ihn jeder festen Struktur beraubt und nur formlose Unbegrifflich-
keiten entstehen läßt.
Und damit ist auch hier, genau wie bei der Analysis, mit der
Idee der Einheit die Idee der Harmonie zerstört. Es bedarf nicht
längerer Ausführungen, um darzustellen, daß auch zu der Idee der
Harmonie und gerade zu ihr die Idee der Form, der Gestalt, der
Fügung, der gedanklich irgendwie umgreifbaren und begreifbaren
Einheit gehört. Daß das Zeitalter des Humanismus und des Harmo-
nismus für alle Gebiete die Bedeutung der Form so überaus stark
betonte, ist kein Zufall. Vielleicht tritt hier sogar eine gewisse
Schwäche und Einseitigkeit dieses Zeitalters zutage, eine Einseitig-
keit, die sich bei fast allen seinen Schöpfungen, besonders bei seinen
Erziehungs- und Bildungsbestrebungen deutlich bemerkbar macht.
Die Überwertung der Form geschah doch etwas auf Kosten der
Fülle und der Ursprünglichkeit des Inhalts; sie gereichte der Frische
und der Freiheit der Lebensdynamik zu einer gewissen Behinderung.
Hinwiederum ist nicht zu verkennen, daß diese Hochschätzung der
Form dem Leben eine reizvolle Klarheit und Festigkeit und den
Lebensvorgängen die Sicherheit einer zielbewußten und planvoll
erscheinenden Entwicklung verlieh. Es ist unzweifelhaft, daß das
Leben auf diese Weise das Gepräge wirklicher „Bildung“ empfing,
daß es durch die Beachtung der Form und durch die Achtung vor
der Harmonie wirklich „gebildet“ wurde. Zugleich erhielt es auf
diese Weise die Klarheit der Ruhe und die Ruhe der Klarheit. Auch
hier zeigt sich, daß jeder Vorzug und Vorteil mit einem Opfer und
Nachteil erkauft wird.
Im allgemeinen sind es der Gründe mehrere, die es bedingen,
daß unser Denken und Forschen so überaus stark von der Idee der
klaren und gegliederten Einheit gefesselt, so überaus stark von dem
358
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Gedanken der Harmonie angezogen, mit solcher eigentümlichen
Dringlichkeit auf einen harmonisch gearteten Ablauf und Abschluß
sowohl der Erkenntnis als auch des Lebens eingestellt ist. Die Macht
dieser harmonisierenden Tendenz und die Gewöhnung an diese
harmonistische Einstellung sind in unserem Denken und unserem
Leben außerordentlich weit verbreitet; von ihrer Herrschaft hängt
in unserem Planen und unserem Tun sehr vieles ab. Es läßt sich
geradezu von einer Methode des Harmonismus sprechen, und
es wäre nicht schwer, zu zeigen, von welcher bestimmenden Wirk-
samkeit diese Methode auf den allerverschiedensten Daseinsgebieten
ist. Es wäre möglich, mittels dieser Methode ein ganzes Weltanschau-
ungssystem zu entwickeln, und ich glaube auch, daß tatsächlich sehr
viele der bekanntesten und anerkanntesten Weltanschauungssysteme
aus dem Bedürfnis nach Harmonie erwachsen und nach der Methode
der Harmonie aufgebaut sind. Daraus wird auch die auffallende
Künstlichkeit und Gewaltsamkeit vieler dieser Systeme erklärlich —
die Gedanken wohnen nicht leicht und nicht ohne Spannung bei-
einander, die Erscheinungen reiben sich: Trotzdem triumphiert die
Zwangsgewalt der Idee der Harmonie, deren Durchführung dem
Menschen offenbar eine Herzensangelegenheit ist.
Von diesen mehr gefühlsmäßigen und weltanschaulichen Motiven
abgesehen ist aber für die harmonisierende Tendenz von erheblichem
Einfluß u. a. das eingreifende Vorbild und die ausgebreitete Herr-
schaft der mathematisch-mechanischen Naturwissenschaften ge-
worden. Denn die kategorialen Voraussetzungen dieser Wissen-
schaften sind von einer der Dialektik der Metaphysik gegenüber
einfachen und verhältnismäßig eindeutig bestimmbaren Struktur.
In dieser Hinsicht braucht nur an den Gedanken der mathematischen
Reihenbildung und an die wichtige Methode der mathematischen
Zuordnung der Erscheinungen zueinander, nicht zuletzt an das
mechanistisch-arithmetisch definierte Prinzip der physikalischen
Kausalität erinnert zu werden. Ferner braucht man nur die ver-
hältnismäßig große Eindeutigkeit und Einheitlichkeit des üblichen
naturwissenschaftlichen Weltbildes ins Auge zu fassen, z. B. in der
Gestalt, in der es als physikalisch-chemische oder auch als biologische
Naturerkenntnis vorliegt und von weiten Kreisen als die angeblich
endgültige Lösung aller Welträtsel angesehen wird.
Allerdings soll hier keineswegs bestritten werden, daß auch in
den Voraussetzungen dieser ganzen naturwissenschaftlichen Er-
kenntnisart an sich schwere Probleme stecken, daß auch sie von
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
359
einer Krisis umdroht sind. Gerade die Gegenwart zeigt den Aus-
bruch einer solchen Krisis, die gegen den Geltungswert und den
logischen Sinn der Fundamente der naturwissenschaftlichen Er-
kenntnis sich richtet. Wenn aber die Anerkennung dieser Voraus-
setzungen einmal geschehen ist, wenn wir uns einmal auf ihren Boden
gestellt haben, dann vollzieht sich die Durchführung der mathema-
tisch-naturwissenschaftlichen oder der biologisch-naturwissenschaft-
lichen Systematik relativ einfach und unproblematisch. Die Krisis
bedroht nicht mehr den Aufbau, sie gilt nicht mehr dem System;
sie ist zur Ruhe gebracht und wie mit einer dogmatischen Ent-
scheidung niedergeschlagen. Die naturwissenschaftliche Geistes-
haltung und Einstellung ist, nachdem sie einmal zum methodischen
Besitz geworden ist, frei von der Gefahr der Problematik. Das be-
deutet natürlich nicht eine Befreiung von der Sorgfalt und Exakt-
heit im methodischen Vorgehen; das bedeutet natürlich nicht, auch
nur ein Tüpfelchen von der Strenge der Kritik oder des Experimentes
preiszugeben. Es handelt sich vielmehr darum, einzusehen, daß die
einmal gewonnene Methode nun als unbedingt zuverlässig und gegen
die Möglichkeit eines Zweifels gesichert erscheint. Ein methodisch
eindeutig geregeltes Gleichmaß ist hier am Werke; keine innere
Angst oder Krisis beeinträchtigt die Unbekümmertheit seiner An-
wendung. Es hat seine innere Gewißheit und seine formale Ein-
deutigkeit durch seine außerordentlichen Leistungen und durch sein
dadurch bedingtes einflußreiches Ansehendem Gewissen der Menschen
augenfällig und allseitig eingeprägt. Seine triumphreiche Über-
legenheit hat unendlich viel dazu beigetragen, daß wir uns ganz
allgemein die Grundbedingungen und den Aufbau der gesamten Wirk-
lichkeit nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Welterkennt-
nis zu vergegenwärtigen pflegen oder zu vergegenwärtigen suchen.
Wir sind unter der Führung dieser Betrachtungsweise dazu ange-
leitet worden, der Verfassung der Wirklichkeit eine Einheit und eine
Harmonie beizumessen, der alle Krisen im Grunde fernbleiben oder
für die eine Krisis doch keine letzte Erschütterung bedeutet. Wir
sind sicher, daß die im Begriff der Zahl ausgedrückte Methode ihre
Geltung aufrechterhalten, ihre erkenntnisbegründende Leistungs-
fähigkeit und erkenntnismäßige Tragweite ungeschmälert bewahren
wird und bewahren kann, auch wenn an der Definition des Zahl-
begriffs gewisse Veränderungen vorgenommen werden sollten. Eine
solche Veränderung würde z. B. eintreten, wenn das für den Begriff
der Zahl maßgebende Prinzip der Kontinuität durch ein anderes
360
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Prinzip, etwa das der Diskontinuität, ersetzt werden sollte. Hiermit
wäre wohl eine gewisse Variation der Methode gegeben. Aber wir
hätten doch keine prinzipielle Einbuße in bezug auf die Methode
erlitten. Das Prinzip der Methode als solches wäre gerettet, und
die Methode, ein festes und bestimmtes Prinzip anwenden zu können,
wäre ebenfalls nicht beseitigt.
Und schließlich darf nicht außer acht bleiben, daß diejenigen
Krisen, die sich auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete abspielen,
doch nicht jene seelische Bedeutung, jene moralische Tragweite
besitzen wie diejenigen der Metaphysik. Gewiß können Veränderun-
gen des naturwissenschaftlichen Weltbildes auch außerordentlich
tiefe Einflüsse auf die Gesinnungsweise und auf die sittliche und
weltanschauliche Einstellung der Menschen ausüben. Ein Beispiel
für diesen eingreifenden Einfluß ist die Entstehung jenes Weltbildes,
das sich an das Emporkommen der mathematischen Naturwissen-
schaften zurZeit der Renaissance knüpft. War aber die Entschieden-
heit, mit der sich in dem Bewußtsein der damaligen Menschheit
jene seelische Veränderung vollzog, nicht mitbedingt oder in der
Hauptsache sogar ganz bedingt durch einen Wandel innerhalb des
metaphysischen Verhaltens und bedingt durch die Krisis, der
die mittelalterliche Metaphysik verfiel? Die neue naturwissen-
schaftliche Methode war nur die Form, war nur das allerdings hoch-
bedeutsame Werkzeug für die Anbahnung einer neuen Art der
metaphysischen Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirk-
lichkeit. Die Ablösung vom kirchlichen Dogma und die Verankerung
sowohl der Erkenntnis als auch der Sittlichkeit, des Rechtes und
des Staates in der Freiheit der Vernunft, die Aufstellung eines
autonomen rationalen Regulativs unter Verdrängung des alten kirch-
lichen Offenbarungsgedankens, die ganze Gestaltung und Einrich-
tung des politischen, wirtschaftlichen, sozialen, pädagogischen und
künstlerischen Lebens durch die „Raison“ — das alles waren Krisen
nicht sowohl naturwissenschaftlicher als metaphysischer Art. Wohl
gelangt jene Einstellung und Methode, die wir als Rationalismus zu be-
zeichnen pflegen, gerade in der mathematischen Naturwissenschaft zu
entscheidendem und höchst folgereichem Ausdruck. Wohl erhebt sie
sich in erster Linie durch diese Wissenschaften zu einem bestimmenden
Beherrschungsmittel und Formungsprinzip der geistigen Welt, das
seine Kraft in um so höherem Grade geltend zu machen vermag, als
jene rationalistische Einstellung und Methode auch die Grundlage für
eine Anzahl weltumspannender metaphysischer Systeme abgibt.
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
361
Aber die inneren Voraussetzungen und die treibenden Schöpfungs-
bedingungen dieses metaphysischen Rationalismus sind in ihrer
Rationalität mit einem Geflecht überrationaler Motive versponnen.
Das ist so sicher, als das Prinzip der Autonomie der Vernunft,
das von diesem Rationalismus mit jeder denkbaren Betonung und
nach allen Richtungen hin verkündet wird, in sich außerordentlich
starke emotionale und willentliche, sittliche und weltanschauliche
Motive trägt. Die neue Weltstellung, die sich der Mensch auf Grund
jenes Rationalismus erobert, ist in ihrer tiefsten Schicht keineswegs
eine ausschließliche Tat des Verstandes; sie ist mindestens ebenso-
sehr aus einem Entschluß und aus einer Leistung der sittlichen
Willensspannung hervorgegangen.
Und diese Willensspannung ist es, die die eigentliche Verantwor-
tung für die weltanschauliche Geltung alles naturwissenschaftlichen
Rationalismus trägt. Die methodische Grundlagedieses Rationalismus
ist bekanntlich die Mathematik. Aber daß der Mathematik diese,
bis in die Höhe einer Weltanschauung emporsteigende Geltung
zugesprochen wird, beruht auf einer Gesinnungsentscheidung, ist
die Äußerung einer Freiheitstat, die ihrerseits durch rein intellek-
tuelle und theoretische Begründungen nicht mehr ausreichend unter-
baut werden kann. Die Krisen der Naturwissenschaft berühren nur
die Sphäre unserer intellektuellen und theoretischen Verantwort-
lichkeit. Falls sie diese Sphäre überschreiten, so geschieht das nur
darum, weil und wofern hinter diesen Krisen ein Wandel in der
metaphysischen Bewußtseinshaltung des Menschen eingetreten ist,
d. h. weil und wofern der Mensch seine Beziehung zum Absoluten
einer erneuten Prüfung zu unterziehen gewagt hat.
Denn es kommt alles auf den Geist dieser Beziehung an! Viel-
leicht gibt es überhaupt kein schicksalshafteres Problem als das-
jenige, das in dieser Beziehung steckt. Vielleicht offenbart und
bekundet sich der Wert eines Menschen oder eines Zeitalters in nichts
deutlicher und tiefer als in dem Sinn, in dem dieses Problem auf-
geworfen, und in der Antwort, die auf dieses Problem gegeben wird.
Schicksalshaft aber sind hier Frage und Antwort bis weit hinaus
über den bloß theoretischen Geltungskreis, bis weit hinaus über
den Bezirk des Wissens und aller seiner Wege. Schon das Aufwerfen
dieses Problems umgreift und beansprucht, fordert und erschüttert
den ganzen Menschen. Es steigt aus einer übertheoretischen Ver-
antwortungsschicht unseres Wesens herauf, aus einer Schicht, die
noch tiefer als unser moralisches Bewußtsein und als alle moralischen
362
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Forderungen liegt. Mit Worten und Begriffen lassen sich das Wesen
und die Kraft dieser Schicht nicht mehr kennzeichnen; sie liegt
jenseits aller rationalen Bestimmbarkeit. Unser Erkenntniswillen
ist auf sie eingestellt, aber wir erreichen sie mit dem bewußten
Wissen und Willen so wenig, wie der Pfeil ein Ziel erreicht, dessen
Existenz wir uns in der Unendlichkeit vorstellen. Alle großen Kata-
strophen, mögen es solche von allgemeiner und geschichtlicher oder
von innerpersönlicher Art sein, sind dadurch gekennzeichnet, daß
in ihnen eine neue Bewußtseinshaltung emporkommt und sich durch-
setzt. Wenn es sich aber um eine Umlagerung und Veränderung
in der metaphysischen Schicht unseres Bewußtseins handelt, dann
betrifft dieser Wandel nicht mehr eine Außen- oder Sonderseite
unseres Daseins, er berührt vielmehr unser Dasein überhaupt, er
betrifft unser Schicksal, er wird unser Schicksal. Wie weit sind wir
davon entfernt, die Tiefe dieses Wandels restlos aufhellen und den
ganzen Gehalt einer neuen metaphysischen Bewußtseinsstellung in
Begriffsformen und in eindeutig bestimmte Erkenntnisse kleiden
zu können. Dennoch „wissen“ wir von ihr auf Grund der Krisis,
in die sie uns stürzt, auf Grund des unentrinnbaren Zwanges zum
Kampf, in den sie uns verstrickt. Wir „wissen“ von ihr auf Grund
einer mit eindrucksvoller Macht anklingenden sittlichen Zumutung,
die darin besteht, daß der Eintritt in diese Krisis nicht als eine rein
persönliche und private Lebensfrage, sondern als eine unabweisbare
und schicksalshafte Lebenswendung und Pflichterfüllung aufgefaßt
und erlebt wird.
Diese Beziehung zum Absoluten darf also nicht bloß als ein formaler
Akt, nicht nur als ein Problem der Theorie und der Kritik angesehen
und bewertet werden. Daß in ihr auch ein theoretisches Problem,
ein Problem der Erkenntnis und der Methode vorliegt, daß wir ihr
gegenüber die Frage aufwerfen können und aufwerfen müssen, wie
diese Beziehung in theoretischer Hinsicht als Form und Ausdruck
des Gedankens, des Begriffs überhaupt möglich ist, ist unbestreit-
bar. Und die dieser speziellen Beziehung zum Absoluten ent-
sprechende Dialektik trägt demgemäß gleichfalls nur die Züge der
Theorie und hat nur das Gewicht einer Theorie. Wir erfassen und
erschöpfen ihr Wesen in der Form „kritischer“ Einstellung, indem
wir diejenigen begrifflichen Kategorien ans Licht stellen, die die forma-
len Bedingungen für jene Beziehung und für jene Dialektik darstellen.
Doch damit äst das ganze Wesen der von der Metaphysik an-
gestrebten bzw. vorausgesetzten Beziehung zum Absoluten nicht
3. Notwendigkeit und Bedeutung dieser Krisis
363
erschöpft und der Sinn der in ihr spielenden Dialektik nicht berührt.
Es ist eine Verkennung der schweren Gewalt der hier vorliegenden
Probleme, wenn diese einer vorherrschend rationalen Behandlung
unterworfen werden. Jene Beziehung und jene Dialektik, wie wir
sie hier meinen, und wie sie als bedingende Größen in einer Meta-
physik auftreten, die nicht formalistisch abgeschwächt ist, sind
sogar noch mehr als Lebensformen — es sind Lebensgestalten, es
sind Schicksalsgestalten. Sie steigen aus der Allmacht des Lebens,
aus seiner Bewegtheit und Schwunghaftigkeit, aus seiner unendlichen
Schöpferkraft und aus dem Wirbel seiner Bestrebungen, seiner Para-
doxien, seiner Antinomien, seiner Leidenschaftlichkeit, seiner Angst,
seiner Gier empor. Und wie sie in seinen Rationalitäten und in
seinen Irrationalitäten, in seinem Logos und in seinem Eros, in seiner
Numinosität und in seiner Klarheit ihre Quelle haben, so wirken
sie auch belebend und fördernd auf die Objektivationen des Daseins
zurück: ein ungeheures Wechselspiel voll überall aufblitzendem Sinn,
voll unübersehbarem Reichtum und berückendem Gehalt, in dessen
Fülle unser Erkenntnistrieb Entwicklungs- und Zweckzusammen-
hänge, sinnhaftes Gedeihen und sinnhaftes Welken, vernünftig be-
gründete Blüte und einleuchtenden Verfall aufzudecken unternimmt,
um so dem Verlangen nach einer Metaphysik der Geschichte genug
zu tun.
Die Voraussetzung für die von uns hier ins Auge gefaßte Beziehung
zum Absoluten und für die ihr entsprechende Dialektik wird von
einer ebenso komplizierten wie allmächtigen metaphysischen Bewußt-
seinshaltung gebildet, die wir also nicht nur als eine bloß subjektiv-
psychologische Größe verstehen müssen. Die Art ihrer Objektivität
und ihrer objektiven Wirksamkeit wird uns im folgenden wieder-
holt beschäftigen. Daß sie weit mehr als ein nur subjektiv-psycho-
logisches Gebilde bedeutet, spricht sich mit aller Schärfe in ihrer
geschichtlichen, in ihrer geschichtsschöpferischen Kraft aus.
ln der überrationalen und geschichtsobjektiven Bedeutung dieser
metaphysischen Bewußtseinsstellung ist nun die eigentümliche Macht
derjenigen Krisen, von denen die Entwicklung der Metaphysik erfüllt
ist, und in denen wir Menschen uns der Metaphysik gegenüber be-
finden, wenn wir nicht dogmatisch erstarrt oder religiös erlöst sind,
sinnhaft verankert. Die metaphysischen Krisen gehören zu
den Urerlebnissen und Urleistungen des menschlichen
Geistes; sie bilden einen Teil seines Wesens und bestimmen seinen
Wert und sein Geschick. Sie sind ebensowohl die schöpferischen
364
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Bedingungen als auch die weitertreibenden Ergebnisse seiner Arbeit
und aller geschichtlichen Kultur. Sie sind Zeugnisse seiner unerhör-
ten Kraft zur Dialektik, und sie geben Kunde von einem Heroismus,
der die unsagbare Kühnheit besitzt, die ganze gegenständliche Welt
der Erscheinungen „nur“ als einen Zusammenhang von Relativitäten
darzustellen und einen Durchbruch zu einem ganz „anderen“ Reich
zu wagen. Es läßt sich wohl kaum übereinstimmend ausmachen,
bei welcher Gelegenheit sich die Notwendigkeit einstellt, jenen
Heroismus aufzubieten. Vielleicht ist der Ansicht derjenigen zuzu-
stimmen, die da meinen, daß die Erschütterung, die durch die
Erscheinung des Todes hervorgerufen wird, das auslösende Moment
für die Wendung zur Metaphysik und zu dem für sie erforderlichen
Heroismus darstellt. Vielleicht wirkt aber auch die nicht minder
unfaßbare Erscheinung der Geburt und des Eintritts des Geistes
und der Seele in den irdischen Bereich gleichfalls in diesem Sinne.
Denn die Geburt und die Entwicklung des Geistes sind, meta-
physisch angesehen, keine geringeren „Wunder“ als der Tod und
das Erlöschen des Geistes, und die Metaphysik des Todes birgt
keine größeren Rätsel als die Metaphysik der Geburt und des
Lebens.
Überhaupt gewinnt das menschliche Dasein eine eigentliche Tiefe
erst in dem ungeheuren metaphysischen Erlebnis seiner Zugehörig-
keit sowohl zu dieser als auch zu der „anderen“ Welt. Ohne dieses
Erlebnis keine Metaphysik! Ohne dieses Erlebnis auch keine Reli-
gion! Dabei ist es ganz und gar nicht erforderlich, mit diesem
Erlebnis sofort und unmittelbar eine Theorie zu verbinden und es
sich in der Form begrifflicher Erkenntnis zu vergegenwärtigen und
zu vergegenständlichen. Wer jene „Antinomie“ nicht in irgendeiner
Weise und bei irgendeiner Gelegenheit erfahren hat, ist zum mensch-
lichen Dasein schon darum nicht erwacht, weil er nicht zur Tragik
des Lebens erwacht ist, sondern noch im Frieden des Kindes und
des Naiven schlummert. Er braucht noch keinen Aktivismus und
noch keinen Heroismus zu betätigen, die von dem eigentlichen
menschlichen Leben unzertrennlich sind. Und deshalb ist ihm die
Paradoxie seiner Stellung in der Welt und zur Welt verschleiert.
Aber diese Paradoxie und Dialektik liegt in den Hintergründen
der menschlichen Seele, und sie gehört zu den Aprioritäten unseres
Geistes, die ihre Geltungskraft und ihre seelische und sachliche
Tragweite nicht beschränken auf den Umkreis der Metaphysik.
Nur erhält auf metaphysischem Gebiet jene Apriorität ihre offen-
4. Die Autonomie des „Metaphysischen“
365
kundigste gedankliche und systematische Ausprägung. Und insofern
spiegelt sich diese apriorische Dialektik und Antinomie nirgendwo
deutlicher als in der Metaphysik, die geradezu die Definition nicht
nur erlaubt, sondern fordert, die Lehre von der Dialektik des Geistes
zu sein. Was die Metaphysik uns von den Urgründen und Wesens-
prinzipien der Wirklichkeit erkennen läßt, das ist schließlich doch
nur das Bild, das Ideogramm der dialektischen Selbsterkenntnis
des Geistes und der Erkenntnis der Dialektik des Geistes. Wo findet
diese Dialektik, wo findet das Grunderlebnis der Antinomie seine
Grenze? Es ist nicht zuviel behauptet, wenn ihm eine sozusagen
kosmische Geltungsweite nachgesagt wird. Wie umfassend und tief-
greifend sein Dasein und seine Kraft sind, das zeigt der Umstand
seiner Bedeutung und seiner Wirksamkeit auch in der Religion,
auf das Rudolf Otto in seinem Buche „Das Heilige“ mit so hohem
Recht und so überzeugendem Nachdruck aufmerksam gemacht hat.
Im Paradoxon und in der Antinomie erreicht das Irrationale und
Numinose, das aller Religion innerlichst eingewoben ist, seine größte
Steigerung1). Und wenn, wovon alsbald die Rede sein soll, gerade
die Religion alle ihre Macht aufbietet, um diese Spannungen, Wider-
sprüche, Unruhen, Rätselhaftigkeiten zu überwinden, so gehören
gerade sie, was Rudolf Otto bestimmt zuzugeben ist, zu den Wesens-
grundlagen, auf denen die Religion sich erhebt. Und damit ist schließ-
lich ebenfalls eingeräumt, daß auch der Religion das Urphänomen
der Krisis nicht fremd ist.
4. Die Autonomie des „Metaphysischen“.
Entsprechend den Haupttypen der Metaphysik, dem metaphysi-
schen Rationalismus, dem metaphysischen Moralismus und dem
metaphysischen Irrationalismus und Intuitivismus, pflegt auch die
Ansicht vertreten zu werden, daß das Entstehen und das Bestehen,
daß die Geltung und das Schicksal der Metaphysik eine Angelegen-
heit entweder des Verstandes und seiner logisch-rationalen Methode
oder des sittlichen Bewußtseins und dessen moralischen Postulaten
oder des Gefühls und dessen intuitiv durchgeführten irrationalen Ent-
ladungen, Wünschen, Sehnsüchten usw. sei. Vom Standpunkt des
Verstandes oder von dem des sittlichen Willens oder von dem des
Gefühls aus lassen sich zweifellos eindrucksvolle Systeme der Meta-
*) Rudolf Otto, Das Heilige; 14. Aufl., 1926, S. 38f., 80, 132, 144.
366
VI. Die Dialektik der Metaphysik
physik aufbauen, wie die Geschichte der Metaphysik lehrt. Ebenso
zweifellos aber sind die Einseitigkeiten aller solcher Systeme. Denn
indem sie nur in einer Bewußtseinshaltung ihre Verwurzelung
haben, so können sie den rechtmäßigen Ansprüchen der anderen Be-
wußtseinshaltungen nicht genugtun und die Leistungsfähigkeiten
dieser anderen Bewußtseinshaltungen für die Gestaltung der Meta-
physik nicht gebührend ausnutzen. Die Hauptschwäche aller dieser
einseitigen metaphysischen Systeme gelangt jedoch darin zum Aus-
druck, daß sie die ganze Tiefe und Weite, die für den Begriff der
Metaphysik und für die ungeheure Problematik dieses Begriffs von
einer nicht zu übersehenden Bedeutung sind, nicht restlos erfassen
und nicht erschöpfend berücksichtigen. Der Sinn der Metaphysik
greift nach Form wie nach Inhalt, nach Methode wie nach Gegen-
stand unendlich weit über jede einzelne Bewußtseinshaltung hinaus.
Es ist eben eine der konstitutiven Paradoxien, die für den Begriff
der Metaphysik kennzeichnend sind, daß in diesem Begriff nach
allen Richtungen notwendigerweise überbegriffliche Gehalte und
Tendenzen eine maßgebende Wirksamkeit ausüben, und daß er
dennoch sein Wesen als Begriff nicht einbüßt. Wie wir weiter oben
mehrfach andeuteten, stellt der Begriff, stellt die Kategorie des Meta-
physischen ein geistiges Gebilde von ganz eigener Prägung dar, und
zwar sowohl in subjektiver als auch in objektiver Hinsicht.
Diese Besonderheit tritt uns in dem Umstand entgegen, daß die
Metaphysik ihre wurzelhafte und schöpferische Grundlage in keiner
besonderen, in keiner einzelnen Bewußtseinstendenz und in keinen,
diesen besonderen Bewußtseinstendenzen entsprechenden Einzel-
gegenständlichkeiten besitzt. Sie ist also weder bloß im Verstand
und dementsprechend bloß in der Wissenschaft, noch bloß im morali-
schen Bewußtsein und dementsprechend bloß in der objektiven
Sittlichkeit, noch bloß im Gefühl und dementsprechend entweder
bloß in der Kunst oder in der Religion, verankert. Wie z. B. für
Rudolf Otto das „Heilige“1), so ist auch für uns das „Metaphysische“
eine zusammengesetzte, und zwar eine außerordentlich komplizierte
Kategorie, deren innere Fülle, deren Kontrastharmonie allzu leicht
und allzu schnell durch die einseitigen Ausprägungen ihres Gehaltes
in dem metaphysischen Rationalismus bzw. in dem metaphysischen
Mystizismus verengt und überdeckt wird. Das „Metaphysische“ baut
sich, wie wir unter anderem in dem Kapitel über die verschiedenen
*) Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige, 14. Aufl., 1926, S. 147.
4. Die Autonomie des ,,Metaphysischen“
367
Motive zur Metaphysik nachzuweisen suchten (vgl. S. 101 ff.), aus einer
Mannigfaltigkeit verschiedenartigster seelischer, intellektueller, my-
stischer, gesinnungsmäßiger und weltanschaulicher Elemente zu-
sammen, ohne dabei seine Autonomie und seine Apriorität in irgend-
einer Weise preiszugeben.
Deshalb ist es auch unzulänglich, die Metaphysik z. B. nur im
Anschluß an die Wissenschaften, und zwar als deren notwendige und
sinnhafte Krönung, entwickeln zu wollen. Jeder Blick auf das Wesen
und auf die Geschichte eines solchen, etwa in Verbindung mit den
mathematischen Naturwissenschaften oder mit der Biologie, auf-
gebauten metaphysischen Rationalismus verrät neben den Vorzügen
und Stärken auch die Gebrechen, die dieser Form der metaphysischen
Systematik anhaften. Der metaphysische Rationalismus behauptet
mehr, als er beweisen kann. Woher vermag er einen unzweideutigen
Beleg dafür zu entnehmen, daß das Grundprinzip alles Seins nur
der Verstand sei, und daß dieses Grundprinzip nur auf dem Wege
wissenschaftlicher Beweisführung zu adäquater Erkenntnis gebracht
werden könnte? Nicht minder unzulänglich aber ist der Versuch,
die Grundlegung der Metaphysik durch die allgemeingültigen Postu-
late des sittlichen Bewußtseins und durch die moralische Anerken-
nung dieser Postulate vorzunehmen. Wer sagt uns, daß das ,,Wesen“
der Wirklichkeit den Forderungen unserer moralischen Vernunft
entspreche und von der Grundlage dieser Forderungen aus zu ver-
stehen sei? Da diese Forderungen den Charakter des unbedingten
Sollens tragen, so kann sich die unabweisbare Möglichkeit einer
unüberbrückbaren Dualität und Verschiedenheit zwischen! diesem
Sollen und dem „Sein“ der Wirklichkeit ergeben. Ist — trotz
Kant und Fichte — der Gedanke ganz und gar von der Hand
zu weisen, daß der metaphysische Ethizismus oder, mit anderen
Worten, der „praktische“ Idealismus bei aller Großartigkeit der
in ihm waltenden Gesinnung dennoch über den Geltungskreis einer
bloß subjektiven Weltanschauung nicht hinausreicht? Zwar will er
mehr sein, da er beansprucht, auch in objektiver Beziehung die
tiefste metaphysische Weltdeutung darzustellen. Vermager diesen An-
spruch durch eine objektive und objektivistische Begründung
zu rechtfertigen? Und ist es endlich um die Aussichten einer
irrationalistischen Metaphysik besser bestellt? Scheitert diese Form
der Metaphysik nicht in dem Augenblick, in dem es sich darum
handelt, die Objektivität und Notwendigkeit der allgemeinen und
allgemeingültigen Gesetze der Wirklichkeit zu erfassen, zu begrün-
368
VI. Die Dialektik der Metaphysik
den, zu verstehen? Ihr ist nur das gefühlsmäßige Eindringen in
Subjektives, Unrationales und in Subjektiv-Individuelles zugäng-
lich. Die objektiven Allgemeinheitsformen der Wirklichkeit muß
sie aber unbegriffen und unverstanden stehenlassen. Vermag sie doch
sogar deren Tatsächlichkeit nicht einmal festzustellen, da sie ganz
von dem Interesse für das Individuelle und Irrationale erfüllt und
in diesem Interesse befangen ist. Macht sie nun eine Anleihe bei
dem metaphysischen Rationalismus, dessen einseitiger Vorzug in
der ausschließlichen Erkenntnis der Allgemeinheitsformen und Ge-
setze der Wirklichkeit besteht, so durchbricht sie ihre eigene Struk-
tur, verfälscht ihre Voraussetzungen, verwischt ihre Eigenart, ver-
leugnet ihre Stärke und gefährdet ihr Ziel.
Wenn wir oben (S. 365 f.) den bekanntesten Haupttypen der Meta-
physik eine Einseitigkeit nachsagten, so wollen wir nun nicht be-
haupten, daß diese relativen Einseitigkeiten durch die Verbindung
der verschiedenen Typen zu einer neuen und überlegenen Einheit
überwunden werden könnten. Ein solcher metaphysischer Synkre-
tismus würde nur die Schwächen und Unzulänglichkeiten der ein-
zelnen, ihm eingelagerten Standpunkte in sich tragen, die Stärken
dieser Standpunkte aber nicht zu rechter Entfaltung gelangen
lassen. Er würde überdem ein undefinierbares und unübersichtliches
Gemisch bedeuten, das keines Menschen Geist ordentlich durch-
schauen und handhaben könnte.
Dem vollen Sinngehalt, den wir mit dem merkwürdigen Begriff
der Metaphysik verbinden, und der in der Jahrtausende alten Arbeit
der Metaphysik allmählich hervorgetreten ist, vermag nur diejenige
Auffassung gerecht zu werden, die für die Metaphysik die Gel-
tung einer eigenen und autonomen Kategorie anerkennt
und die Geltung dieser Kategorie in der Geltung einer
eigenen, autonomen, formal und inhaltlich einzigartigen
Bewußtseinshaltung und Geistesstruktur verwurzelt. Viel-
leicht ist es am angemessensten, neben den Formen der theoreti-
schen, der praktischen, der ästhetischen Vernunft von der über-
greifend-umfassenden Allform der „metaphysischen Vernunft“ zu
sprechen.
Damit soll jedoch keine tatsächliche Sonderform der Vernunft
in ontologisierender Manier hypostasiert werden. Wir wollen hier
auch keine neue Vernunft existentiell hervorzaubern. Das käme im
Grunde nur auf leere Behauptungen hinaus, die jeglicher Beanstan-
dung leicht preisgegeben wären. Jene metaphysische Vernunft be-
4. Die Autonomie des „Metaphysischen“
369
deutet keine reale Existenz, sie bedeutet die immanente Dialektik
und Problematik in jeder Einstellung auf das Absolute, das den
Gegenstand der Metaphysik bildet. Sie bedeutet einen Konstruk-
tions- und Sinnprozeß, der entsteht, wenn wir die Wirklichkeit sub
specie aeterni betrachten, aber unter einem Ewigkeitsgesichtspunkt,
der ganz und gar von der Methode der Dialektik beherrscht ist,
der also niemals zu jenen Endgültigkeiten, der niemals zu jenen
endgültigen Lösungen und Erlösungen führt, zu denen die Religion
uns verhilft.
Wenn wir von dem Begriff der metaphysischen Vernunft aber
auch jegliche Hypostasierung fernhalten, so wollen wir von diesem
Begriff nicht den Wert der Absolutheit fernhalten. Und zwar
sprechen wir diesem Begriff eine Absolutheit sowohl in subjektiver
als auch in objektiver, ferner in formaler und in inhaltlicher Be-
ziehung zu. Was damit gemeint ist, das wird in einem späteren Teil
dieser Ausführungen (S. 378ff.) den Gegenstand eingehender Erörte-
rungen bilden. Jetzt mag es genügen, die Absolutheit dieses Begriffs
der metaphysischen Vernunft hervorzuheben. Denn in dem vor-
liegenden Zusammenhang handelt es sich zunächst um die Klar-
legung und um die Betonung der eigentümlichen Bedeutung, die,
wie oben behauptet, gerade den Krisen der Metaphysik innewohnt.
Diese Krisen berühren unser ganzes Sein, da sie nicht sowohl eine
Sonderform der Vernunftbetätigung, als vielmehr die Problematik
der Vernunft in ihrer Totalität betreffen. Über alle einzelnen Er-
schütterungen, etwa solche wirtschaftlicher oder staatlicher, wissen-
schaftlicher oder rechtlicher, künstlerischer oder religiöser Natur,
greifen die metaphysischen Krisen weit hinaus. Ihre einzigartige
Gewalt gelangt darin zum Ausdruck, nicht nur die Wirklichkeit als
solche, nicht nur das Leben in seiner universalen Tatsächlichkeit
in Frage zu stellen — und schon das bedeutet eine ungeheure in-
tellektuelle und moralische Erschütterung —, sondern uns außer-
dem noch mit der fast übermenschlichen Verantwortung zu belasten,
die entsteht, wenn wir die Frage nach dem Sinn und Zweck des
ganzen Lebens aufwerfen. Die fast zur Alltäglichkeit vervielfältigte
Häufigkeit in der Stellung dieser Frage täuscht über den ihr zu-
grunde liegenden Heroismus, und zwar einen Heroismus von mehr
als begrifflicher und theoretischer Art. Diese Frage ist sozusagen
schon zu einer allgemein verbreiteten Gewohnheit ausgeweitet,
und viele Menschen werfen sie auf, ohne sich des intellektuel-
len Wagemutes und der moralischen Verantwortlichkeit bewußt
Liebert, Dialektik. 24
370 VI. Die Dialektik der Metaphysik
zu werden, die mit der Stellung dieser Schicksalsfrage sinnhaft ver-
bunden sind.
Und doch ist es im Grunde ein wahrhaft titanenhaftes Beginnen!
Bäumt sich in ihm nicht eine beinahe ehrfurchtslose Kühnheit auf?
Es ist verständlich, daß manche Glaubensrichtungen eine solche
Frage nicht zulassen, da sie in ihr nicht ohne Recht das gefährliche
Zeugnis eines intellektuellen Übermutes und einen Mangel an from-
mer Hingabe erblicken. Ferner ist es vielleicht ganz zweckmäßig,
daß die Mehrzahl der Menschen sich über die Kühnheit, um nicht
zu sagen über den himmelstürmenden Übermut, auf dem jene Frage
beruht, nicht ordentlich klar wird. Auch hier ist nicht die Antwort,
sondern die Frage als solche das entscheidende Moment. Denn die
Antwort bedeutet bereits eine gewisse Beruhigung, wie ja überhaupt,
was wir schon oben andeuteten, die Lösungen, die die Metaphysik
darzubieten scheint und darzubieten sucht, bereits auf dem Wege
der Beschwichtigung der metaphysischen Fragen und der ihnen ein-
gewobenen geheimen Sorgen und Ängste liegen.
Gewiß bekundet sich in dem Gedanken an das Absolute auch
das Streben nach Gewinnung einer inneren Ruhe. Dieses Streben
erfährt seine volle Erfüllung bei einer religiös gearteten Akzentu-
ierung, da hier das Absolute nicht mehr bloß Problem und der Ge-
danke an das Absolute mehr als bloß Aufgabe und Kampf ist. Es
ist das ungeheure Vorrecht der Religion, alle Fragen und Sorgen, die
sich auf das Absolute beziehen, durch ihre Verheißungen, durch ihre
Gnadenspendungen von Grund aus aufzuheben. Sie allein ist es,
die innerhalb der Kultur die Problematik des Absoluten über-
windet. Und deshalb führt sie unweigerlich und endgültig über allen
irdischen Bestand und Kampf hinaus. Sie allein ist es, deren
Lösungen von aller Dialektik erlösen. Sie allein ist es, deren Frei-
heit endgültig von aller Antinomik befreit. Wohl können auch reli-
giöse Krisen die Bedeutung ungeheurer Erschütterungen in sich
tragen. Und sie haben eine solche Bedeutung sehr oft aufgewiesen.
Wie alle tieferen religionsphilosophischen, religionspsychologischen
und religionssoziologischen Untersuchungen dartun — es sei noch-
mals auf das Buch von Rudolf Otto, „Das Heilige“, ferner auf
das Buch von Nathan Söderblom, „Das Werden des Gottes-
glaubens“ hingewiesen —, lebt und arbeitet auch in den see-
lischen und sachlichen Hintergründen der Religion eine tiefe, aus
Furcht und aus Ehrfurcht, aus Scheu und aus Schauer, aus Ge-
mütsdruck und aus Bangen vielfältig gemischte irrationalistische
4. Die Autonomie des „Metaphysischen“
371
Dynamik1). DasEriösungswerk, das die Religion vollbringt und in ein-
zigartiger Kraftvollbringt, setzt eine dialektische Unruhe und Krisis
voraus. Doch darf hierbei niemals vergessen werden, daß diese religiöse
Krisis, wenn sie wirklich religiöser Natur ist und aus echtem Verlangen
nach Ergreifung des Absoluten hervorbricht, bereits in sich die sichere
Gewähr der Stillung dieses Verlangens und der Lösung ihrer Problema-
tik besitzt. Sie weiß von Anfang an nicht nur um ihr Ziel, sondern sie
hat dieses Ziel bereits als Voraussetzung und Leitgedanken in sich.
Dieses Ziel: Ergreifung des Absoluten, ist ihr viel mehr als eine bloße
Aufgabe; es ist ihr viel mehr als ein ferner Punkt, zu dem ihre Sehn-
sucht hinsteuert. Sie hat keine endlose Tiefe und keine endlose Unruhe
— ihr Schritt geht in der Richtung der Erfüllung. In ihr schwingt
bei und in allem Suchen und Verlangen dennoch die Gewißheit des
Findens und der Erreichung der Seligkeit. Das wäre keine echte
und keine tiefe, keine das Leben lösende und von der Lebensunrast
erlösende Religion, der es nicht gelänge, die Zwiespältigkeiten des
äußeren und des inneren Daseins schließlich doch in eine endgültige
Harmonie überzuführen, mag der Kampf um diese Harmonie und
Erlösung auch ein noch so langer und noch so bitterer sein. Vieles
von diesen Zwiespältigkeiten und von dem „heiligen Schreckens-
Hintergründe“, wie Rudolf Otto treffend sagt2), klingt noch in
der Auflösung der Kontraste und in der Erlösung nach. Aber vor
der Macht der endlich gewonnenen Harmonie und Seligkeit schweigt
die Dämonie der Kontraste, hat das „Numinose“ seinen unheim-
lichen, schreckeinflößenden Charakter verloren: Die Dialektik hat,
mit anderen Worten, ihre Autonomie eingebüßt. Das ist die Linie,
durch die die metaphysischen Krisen von den religiösen geschieden
sind. Das ist überhaupt die Grenzlinie zwischen der Metaphysik
*) Bei dieser Gelegenheit dürfte die Bemerkung am Platze sein, daß die
Betonung der irrationalistischen Momente in der Religion und die Hervorhebung
der Bedeutung dieser Momente nicht unbeeinflußt ist von dem allgemeinen,
selber irrationalistisch und romantizistisch gefärbten Geist unserer Zeit. Der
Irrationalismus der heutigen Stimmungslage ist natürlich nicht der einzige Wesens-
faktor der Gegenwart. Jedenfalls unterstützt er aber die Erkenntnis der irrationali-
stischen Züge der verschiedenen Kulturgebiete (auch im Recht und in der Kunst)
und befürwortet die Neigung zur Anerkennung dieser Züge. Ebenso wirkt diese
Erkenntnis auch umgekehrt fördernd auf die Herrschaft des allgemeinen Gesin-
nungsirrationalismus und auf die Anerkennung seines Rechtes. Speziell auf dem
Felde der Philosophie ist sein unmittelbarer Ausdruck die Entstehung der sog.
„Lebensphilosophie“.
*) Rudolf Otto, Das Heilige, S. Ulf.
24*
372 VI. Die Dialektik der Metaphysik
und ihrer Dialektik auf der einen Seite und der Religion auf der
anderen.
Wo gibt es in der Metaphysik jene beseligende Gewißheit? Kann
sie auch nur eine einzige Lösung darbieten, die es hinsichtlich dieser
Unbedingtheit mit den Antworten der Religion aufzunehmen ver-
mag? Die einzelnen Metaphysiker allerdings leben und weben in
der Überzeugung der Endgültigkeit ihrer Antworten. Diese Über-
zeugung ist aber eine Selbsttäuschung, deren gutes Recht in ihrer
Notwendigkeit besteht. Denn wie der Geist des Metaphysikers auf
das Absolute eingestellt ist, so zeigt auch die Struktur seines Geistes
einen absoluten Charakter. Relativisten sind keine Metaphysiker.
Sie sind es schon nicht aus subjektiven und psychologischen Gründen.
Wer sich an das Unternehmen einer Metaphysik begibt, muß den
apriorischen Glauben in sich tragen, eine Erkenntnis des Absoluten
auf irgendeinem Wege erreichen zu können. Dieser Glaube ist mehr
als ein „Wahn“, er ist eine unvermeidliche objektive Bedingung
für jeden Metaphysiker.
Ganz anders aber ist es um die Metaphysik bestellt. Ihr Begriff
setzt nicht sowohl die Endgültigkeit der Lösungen als die Ewigkeit
derjenigen Fragen voraus, die der Problematik des Absoluten gelten.
Sie ist ja nichts anderes als die zur Absolutheit erhobene und auf
das Absolute gerichtete Methode der Dialektik. Der einzelne Meta-
physiker gelangt zu einem Abschluß, wie jeder endliche Geist und
jedes endliche Streben zu einem Abschluß gelangen. Die Metaphysik
selber, d. h. die Metaphysik verstanden aus ihrer Idee heraus, weiß
nichts von einem solchen Abschluß. Unvermeidlich und unwider-
leglich schiebt sich in den von ihr aufgestellten Begriff des Ab-
soluten eine Dialektik, ein Prozeß des Niefertigwerdens ein. Dieser
Umstand ist durch viele Gründe bedingt. Er ist bedingt durch die me-
taphysische Lebensangst, die in jedem Menschen waltet; er ist bedingt
durch die im Verhältnis zur Religion doch nur dünne und abstrakte,
formale und intellektuelle, auf den zerbrechlichen Stützen von „Be-
weisen“ ruhende Antwort, die wir von der Metaphysik erhalten; er ist
bedingt durch den relativen Rationalismus, der in jeder Metaphysik
selbst bei Heranziehung irgendeines Gefühlsstandpunktes und Irratio-
nalismus enthalten ist; er ist nicht zuletzt durch die vielseitigeVerfloch-
tenheit der Metaphysik in empirische Kulturlagen und Kulturrichtun-
gen bedingt,z. B.durchihreVerflochtenheitin bestimmte wissenschaft-
liche Tendenzen und Interessen und durch die Abhängigkeit der Meta-
physik von dieser Fülle der empirischen Kultur und ihrem Wandel.
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 373
Das alles heißt, daß die Metaphysik weder in ihrer Einstellung
auf das Absolute noch in ihrer Aufstellung dieser Idee des Absoluten
so rein, so unverfälscht, so unbedingt geartet ist wie die Religion.
Das alles heißt, daß die metaphysische Idee des Absoluten von der
Unheimlichkeit der Problematik und Dialektik umwittert ist und
umwittert bleibt. Die metaphysischen Krisen beziehen sich demnach
nicht entweder bloß auf die rationale oder bloß auf die sittliche
oder bloß auf die ästhetische oder auf irgendeine andere Son-
derausprägung des Absoluten, sondern sie betreffen die Fülle
und Totalität in der Problematik des Absoluten. Wir wiesen schon
mehrfach darauf hin, daß jeder Form der Metaphysik ein mehr oder
minder umfassender und eingreifender Zusatz von Rationalismus
unvermeidlich beigemischt ist. Andererseits ist jede Form der Meta-
physik, mag es sich auch um einen ausgesprochenen Rationalismus
handeln, dennoch in den Schleier einer gewissen Mystik eingehüllt.
Diese Verbindung von Rationalismus und Mystik gehört zum Wesen
der Metaphysik, und derjenige verkennt ihre Eigenart, der in ihr
entweder nur die Ausgeburt eines nüchtern und systematisch durch-
geführten Rationalismus oder nur den Sprößling einer wildschwär-
menden Einbildungskraft und Sehergabe erblickt. Jenes mystische
Element macht sich in erster Linie in demjenigen Begriffswert des
Absoluten geltend, wie die Metaphysik ihn in einzigartiger Dialektik
versteht und gebraucht. Deshalb tauchen wir in einer metaphysi-
schen Krisis auch nach allen Richtungen und in jeder möglichen
Sinnesweise in den „Abgrund“ des Absoluten ein. Sie ist es, die
uns in die ganze unermeßliche Idee seiner „Unermeßlichkeit“ ver-
setzt. Sie ist es, die uns von der grandiosen Problematik, die in
dieser Idee steckt, überzeugt oder zum mindesten bis an die Schwelle
der Einsicht in diese Problematik und in die ihr entsprechende
Dialektik geleitet.
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik.
Wie kann nun angesichts dieses Sachverhaltes der Kampf, den
der Menschengeist auf dem Felde der Metaphysik führt, und in den
die Metaphysik uns zwangsläufig verstrickt, anders als ein im
höchsten Sinne paradoxaler und problematischer, dialektischer und
heroischer sein? Wenn wir die Gesamtheit unseres Verhältnisses
zur Metaphysik und die Gesamtheit der menschlichen Bemühungen
auf diesem Gebiet überblicken, so gewahren wir eine höchst fesselnde,
374 VI. Die Dialektik der Metaphysik
aber auch höchst merkwürdige Lage. Diese Lage wird von den
mannigfachsten Voraussetzungen getragen, sie wird durch die ver-
schiedenartigsten und verwickeltsten Antriebe bewegt, sie wird durch
die mannigfachsten Aussichten und Erwartungen belebt und zu-
gleich durch die verschiedenartigsten Behinderungen eingeengt.
Eigenartige und einzigartige heroische Bemühungen intellektueller
Art und damit eng verbundene, bis zur Gewißheit auf endgültige
Bezwingung aller metaphysischen Probleme gesteigerte Hoffnungen
wechseln mit einem nicht minder heroischen Verzicht. Seltsam und
doch begreiflich: Sowohl die Bestrebungen, die auf die Erkenntnis
des Absoluten und des einheitlichen Weltgrundes gerichtet sind, als
auch die Abkehr von jenen Bestrebungen, ja ihre absichtliche Außer-
achtlassung, Geringschätzung und Ablehnung — beide Verhaltungs-
weisen werden als die Forderung und als das Zeichen der „Weisheit“
angesehen. Ist es weise, ein Anhänger und Förderer der Metaphysik
zu sein oder ihr Gegner? Ist es weise, an ihrer Wiederbelebung mit-
zuwirken und ihre Unentbehrlichkeit zu verteidigen oder den kriti-
schen Einwänden gegen sie Gehör zu geben und besonders die Mei-
nung zu vertreten, daß die Entwicklung des modernen Lebens, hier
in erster Linie der außerordentliche Fortgang der exakten Wissen-
schaften und die damit verbundene allgemeine Intellektualisierung,
die Überwindung und Beseitigung der Metaphysik zur unausbleib-
lichen Folge haben werde? Ist es weise, sich dem Eindruck der
Aussichtslosigkeit aller philosophischen Bemühungen hinzugeben
und unter diesem Eindruck von der Metaphysik endgültig Abstand
zu nehmen? Oder dürfen wir das Verlangen nach ihr nicht preis-
geben und die Versuche nicht aufstecken, die dahin gehen, alles
theoretische Forschen und alle gedankliche Grübelei der Menschen
in einer metaphysisch verankerten Erkenntnis und Weltanschauung
gipfeln zu lassen? Dürfen wir von der Überzeugung nicht abgehen,
daß die Metaphysik ebensowohl die Grundlage als auch die Krönung
der Erkenntnis darstellt? Oder trägt diese Überzeugung den Makel
der Überlebtheit? Steigen nicht die Beanstandungen, die der Me-
taphysik widerfahren, selber aus einem metaphysischen Grunde
auf?
Was machen wir ferner mit jenen Nachweisen, die darin bestehen,
daß es der tiefer erfaßte Sinn der wissenschaftlichen Arbeit selber
sei, aus dem die Motive für einen metaphysischen Abschluß unseres
Erkenntnisstrebens stammen? Es ist unmöglich, sich der Stich-
haltigkeit jener Darlegungen zu verschließen, nach denen das
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 375
System der positiven Wissenschaft selber in bestimmten meta-
physischen Bedingungen verankert und durch sie gesichert ist, und
daß es nun eine echte philosophische Aufgabe bedeutet, diese meta-
physischen Grundlagen ans Licht zu stellen. Die Erfüllung dieser
Aufgabe ist aber eine Arbeit im Dienste der Metaphysik. Und wie
die Grundlagen der Wissenschaft, so sind auch ihre letzten Aus-
mündungen metaphysische Konstruktionsgebilde; es sind meta-
physische Synthesen. Sobald sich das Studium auf die Natur dieser
Synthesen richtet, liegt eine Beschäftigung mit der Metaphysik vor,
wie bereits in dem Gebrauch dieser Synthesen durch den Einzel-
forscher eine — ihm nur oft unbewußte — starke positive Beziehung
zur Metaphysik vorliegt. Wenn aber jede Form wissenschaftlicher
Arbeit von metaphysischen Voraussetzungen und Tendenzen durch-
waltet ist, wie könnte es dann angängig sein, in die Metaphysik
dieser wissenschaftlichen Grundrichtungen nicht eindringen zu
wollen, und zwar gerade mittels der Metaphysik, wenn anders eine
den Verhältnissen entsprechende Erfassung der ganzen Sachlage
erreicht werden soll? Doch gehen die Nachweise zugunsten der
Metaphysik bekanntlich noch weiter. Wir erfahren, daß nicht bloß
die wissenschaftliche Arbeit, sondern daß alle Lebensbetätigungen
und schließlich das Leben überhaupt von metaphysischen Bedin-
gungen getragen und eingerahmt und durch metaphysische Ten-
denzen beherrscht wird. Wir erfahren, daß das ,,Leben“ selber eine
metaphysische Kategorie ist, und daß diese Kategorie den Ausdruck
eines metaphysischen Gehaltes bedeutet. Können und dürfen wir
vor diesen Nachweisen die Augen verschließen? Können und dürfen
wir, wenn die Tatsächlichkeit des „Metaphysischen“ eingesehen und
zugegeben wird, auf die Metaphysik verzichten? Treiben wir denn
nicht schon Metaphysik in dem Augenblicke, in dem wir jene Tat-
sächlichkeit des „Metaphysischen“ einsehen und zugeben? Ist der
Agnostizismus ein Standpunkt, der auf die Dauer aufrechtzuer-
halten ist? Oder weist er nicht alle Züge logischer Halbheit und
denkerischer Unzulänglichkeit auf?
Nun aber die Kehrseite. Verlangen jene Stimmen, die den Ver-
zicht auf die Metaphysik fordern und die Enthaltsamkeit ihr gegen-
über als ein Zeugnis der Weisheit rühmen, weniger Berücksichtigung?
Ist unter ihnen nicht so manche Mahnung von beachtenswertem,
weil einsichtig begründetem Gewicht? Die Ablehnungen der Meta-
physik kommen doch nicht alle aus einer nur subjektiven Vorein-
genommenheit oder persönlichen Stimmung. Die Anwälte des
376
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Standpunktes der Zurückhaltung weisen z. B. auf die einschneidenden
Ergebnisse der Erkenntniskritik hin, die uns die Unmöglichkeit der
Metaphysik durch die Aufdeckung der unüberschreitbaren Grenzen
aller menschlichen Erkenntnis dargetan habe. Als die wichtigste
Leistung dieser Erkenntniskritik wird der ,,Satz der Phänomenalität"
hingestellt, d. h. die Lehre, daß unsere Erkenntniskraft nur zur Ge-
winnung von wissenschaftlichen Einsichten innerhalb des Reiches
der Erscheinungen ausreicht und also in den Umkreis der Erfassung
der erfahrbaren Tatsachen gebannt bleibt. Die theoretische Ergrei-
fung des Metaphysisch-Übererfahrbaren sei ihr aber verschlossen.
Zu dieser schwerwiegenden erkenntnistheoretischen Kritik gesellt
sich die psychologisch-subjektivistische Kritik, wie sie u. a. von
Friedrich Albert Lange und von Nietzsche mit Schwung vor-
genommen worden ist. Nach dieser Kritik könnte der Metaphysik
lediglich der Wert einer ganz subjektivistischen Konstruktion bei-
gemessen werden, die uns eine bloße Phantasie- und Scheinwelt
vorspielt und vorspiegelt. Zwar versucht sie diese Scheinwelt
— ungehörigerweise — mit den Kennzeichen der Wirklichkeit aus-
zustatten und den Eindruck zu erzeugen, als handle es sich bei
den metaphysischen Gebilden um Realitäten, für die auch eine
objektivistische Begründung möglich sei oder tatsächlich zur
Verfügung stünde. Dem durchdringenden Auge des psychologisch
Gebildeten vermöge jedoch jene Welt ihren Charakter als ein zu
Unrecht verdinglichtes Erzeugnis der bloßen künstlerischen Ein-
bildungskraft nicht zu verbergen. Damit ist die Entfernung der
Metaphysik aus dem Gebiet wahrer und strenger Wissenschaft
unvermeidlich; die Beschäftigung mit ihr ist dem Bezirk der künstleri-
schen Tätigkeit zuzuweisen. Es wird ihr also nicht jegliche Daseins-
berechtigung abgesprochen. Nur wird ihr Dasein beschränkt auf
den Geltungskreis der Kunst. Eine dritte Form der Ablehnung der
Metaphysik endlich besteht in dem historisch und soziologisch ge-
haltenen Nachweis, daß die unaufhaltsame Verwissenschaftlichung
und Intellektualisierung des ganzen europäischen Geisteslebens zur
Zurückdrängung der Metaphysik führen mußte und geführt habe.
Nunmehr sei die Metaphysik eine überlebte Größe, sie gehöre in ein
ehrwürdige Altertümlichkeiten beherbergendes Museum. Was von
ihr noch vorhanden ist, entstamme lediglich atavistischen Pietäts-
gefühlen, die von der wissenschaftlichen Aufklärung und ihrer Feind-
schaft gegen alles Irrationale und Mystische im Laufe weiterer Ent-
wicklung bestimmt zum Absterben gebracht werden würde.
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 377
So im großen und ganzen die abmahnenden bzw. widersprechen-
den Stimmen. Wir haben die Haupttypen dieser Einwände, ihre
Voraussetzungen, ihren Sinn und demgemäß auch das Maß ihrer
Berechtigung bereits eingehend erörtert (S. 57ff.). Denn jedes Ein-
treten für die Metaphysik, wie es von der vorliegenden Arbeit ver-
sucht wird, erfordert eine sorgfältige Auseinandersetzung mit diesen
Einwänden; es erfordert in erster Linie die deutliche Herausstellung
des Gewichtes ihrer Gegengründe gegen die Metaphysik. Es hat
sich ergeben, daß diesen Gegengründen eine durchschlagende Stich-
haltigkeit nicht zukommt. Der ihnen allen gemeinsame Grundfehler
bekundet sich darin, daß sie der Metaphysik gegenüber nicht die
gebotene immanente Kritik treiben, sondern auf einen außermeta-
physischen Standpunkt sich stellen. Damit werden sie von vorn-
herein dem Begriff der Metaphysik nicht gerecht und haben es
natürlich leicht, die — angebliche — Unhaltbarkeit der Metaphysik
zu beweisen. Im Prinzip reden sie also an dem Wesen und Sinn
der Metaphysik vorbei. Doch das Eingehen auf diese Einwände hat,
abgesehen von der notwendigen Kritik an ihnen, auch noch den
wichtigen Vorteil einer Klärung und Begründung des Begriffs der
Metaphysik. Der ureigene Sinn, der mit diesem Begriff verbunden
ist, muß bei der Widerlegung und Abweisung der Einwände schon
darum genau erfaßt und vertreten werden, weil er die logische Vor-
aussetzung für die Kritik an jenen Einwänden bildet. Ebenso wie
es nötig ist, die Metaphysik doch in erster Reihe aus ihr selber
heraus zu begründen und zu verstehen, so darf sie in ihrem Wesen
und in ihren Geltungsansprüchen auch nur von ihrem Begriff und
von dem Verständnis für die Eigenart und für die Autonomie dieses
Begriffes aus beurteilt werden. Andernfalls gelangen wir zu schiefen
Auffassungen und im Anschluß daran zu „Widerlegungen“, die sich
selber widerlegen. Auf alle Fälle kommt die Kritik an jenen Ein-
wänden der Sicherung des Begriffs der Metaphysik selber in mehr
als einer Beziehung zugute (vgl. S.92ff.).
Ein nicht geringer Vorteil, den die Beschäftigung mit jenen an-
geblichen Widerlegungen bietet, besteht endlich darin, daß die
Kritik an jenen Einwänden uns ein noch deutlicheres Bild des ewigen
menschlichen Kampfes um die Metaphysik liefert. Wir lernen an ihnen
jenen Kampf unter einer neuen Beleuchtung kennen. Wir sehen in
die Eigentümlichkeit seiner Voraussetzungen und seines Ganges
hinein, wir gewahren sozusagen seinen Pulsschlag und die maß-
gebenden Antriebe dafür. Hier in dem gegenwärtig vorliegenden Zu-
378
VI. Die Dialektik der Metaphysik
sammenhang handelt es sich in der Hauptsache aber besonders darum,
das außerordentliche Gewicht dieses außerordentlichen Kampfes mit
Nachdruck hervorzuheben und die Paradoxien, auf denen er beruht,
und die in ihm zum Vorschein kommen, ans Licht zu stellen. Für uns
soll es im Augenblick genügen, die widerspruchsvolle Natur dieses
Kampfes als solche zu betonen. Schon rein äußerlich betrachtet ist er
widerspruchsvoll, weil er aus Erfolgen und Fehlschlägen bunt und un-
endlich gemischt ist, ferner darum, weil er trotz aller gegen die Meta-
physik erhobenen Einwände und trotz aller ihr zuteil gewordenen
„Widerlegungen“ niemals zum Stillstand gelangen wird. In ihm
bedeutet weder ein Sieg noch eine Niederlage eine Endgültigkeit.
Oft haben sich die sogenannten Irrtümer der Metaphysiker als die
Wurzeln für neue Wahrheiten und geradezu als Förderungen der
Metaphysik erwiesen. Widerspruchsvoll endlich ist jener Kampf
wegen der unerschöpflichen Schwierigkeiten, die sowohl in formaler
und methodischer, als in inhaltlicher und nicht zuletzt auch in ge-
sinnungsmäßiger und moralischer Beziehung in der Idee des Abso-
luten wirksam sind. Wir können und dürfen bei der Analyse dieser
Idee natürlich auf die Anwendung logischer Kategorien nicht ver-
zichten. Zugleich aber können wir uns auch der Einsicht nicht ver-
schließen, daß die Idee des Absoluten, sobald sie in der ganzen Tiefe
ihres Gehaltes aufgenommen wird, sobald wir uns nicht auf ihre
Sonderausprägung in einem einzelnen metaphysischen System be-
schränken und nicht selber eine derartige Sonderausprägung unter
Schädigung des ganzen Gehaltes jener Idee vertreten, sich den formalen
logischen Kriterien nicht beugt und von ihnen nicht bezwungen wird.
Ganz besonders wichtig aber ist es, nicht zu vergessen, daß die
Beschäftigung mit der Metaphysik die Schwere einer
ganz großen Verantwortung in sich trägt und von einem
einzigartigen Ethos erfüllt ist bzw. erfüllt sein muß.
Jede Arbeit an der Metaphysik, mag es sich um eine Kritik an der
Metaphysik, etwa zur Erreichung des Verständnisses für ihr Wesen
und ihre Geltung, oder um die konstruktive Entwicklung eines
metaphysischen Systems handeln, ist eine Gewissensangelegen-
heit. Und dem Ethos dieser Gewissensangelegenheit läßt sich nur
durch einen Heroismus gerecht werden, der den Charakter einer
unendlichen Anspannung sowohl in intellektueller als auch in mora-
lischer und in weltanschaulicher Hinsicht besitzt.
Indem wir davon sprechen, daß der Geist des Menschen sich auf
jenen nicht weniger fesselnden als gefährlichen Begriff des Absoluten
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 379
einstellt, erheben sich bereits in subjektiver Beziehung für die
Untersuchung außerordentliche Schwierigkeiten und Verwick-
lungen. Denn was will jene Behauptung, daß der Mensch sich auf
das Absolute einstellt, besagen? Wie ist diese Einstellung zu ver-
stehen? Welcher Sinn waltet in ihr? Kann die Meinung preis-
gegeben werden, daß es sich bei ihr um nichts anderes als um eine
bloß psychologisch-empirische Lebensäußerung handle? Was könnte
sie etwa anders sein? Ist es nicht der „Mensch“, also ein naturhaftes,
ein biologisches bzw. ein geschichtlich und soziologisch bestimmtes,
auf alle Fälle ein empirisches Wesen, das jene Einstellung erzeugt
und hervorruft? Trifft diese Ansicht aber zu, dann bleibt jede meta-
physische Einstellung nach ihren Voraussetzungen wie nach ihrem
Gehalt, nach ihrer Form wie nach ihrer Qualität gebannt in das
Reich des Endlichen und von den Einschränkungen und Einge-
schränktheiten des Endlichen abhängig. Sie besitzt, mit anderen
Worten, alsdann eben nicht denjenigen Wert, der ihr als einer ge-
rade „metaphysischen“ Bewußtseinshaltung eignen soll; sie würde
sich von den übrigen Bewußtseinshaltungen im Prinzip nicht unter-
scheiden, und sie würde darum auch den Untersuchungsgesichts-
punkten der empirischen Psychologie zu unterstellen sein.
Die Sonderart jener Einstellung auf das Metaphysisch-Absolute
pflegt nun nicht selten als „metaphysisches Bedürfnis“ bezeichnet
zu werden, das in des Menschen Brust unter bestimmten Umständen
wach und wirksam werde Und der Versuch ist gemacht worden, die
Metaphysik auf ein solches Bedürfnis, d. h. auf das Verlangen nach
Erkenntnis der absoluten Wefteinheit und nach Erkenntnis des ab-
soluten Wertes, zu gründen. Ein noch weniger als tönerner Unter-
bau. Können diese Bedürfnisse eine ausreichende Gewähr dafür
leisten, daß ihre Tendenzen über die eingeschränkte und schwan-
kende Zone der bloßen Subjektivität hinaus noch außerdem gerade
jenen Geltungswert in sich tragen, der mit dem Begriff der eben
metaphysischen und ontologischen Geltung verbunden ist? Haften
ihnen allen die Zufälligkeiten und Relativitäten, die für psychische
Vorgänge so bezeichnend sind, nicht unabstreifbar an? Die meta-
physischen Bedürfnisse sichern, so kräftig sie auch zum Ausbruch
und Durchbruch gelangen mögen, der Idee des Absoluten noch in
keiner Weise die metaphysische Absolutheit. Denn in Frage steht
die Begründung und Bestimmung einer solchen Geltung, die sich
weder mit der objektiv-phänomenalen der äußeren Erfahrungswelt
noch mit der subjektiv-phänomenalen der inneren, der seelischen
380
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Welt, der Welt des Erlebens, deckt. Die „metaphysische“ Geltungs-
wirklichkeit soll doch die einzigartige Größe der absoluten Objek-
tivität und der objektiven Absolutheit aufweisen!
Wird ihr aber dieser besondere Wert zugesprochen und wird
dementsprechend der metaphysischen Bewußtseinshaltung die Kraft
zur Erzeugung einer neuen, einer selbständigen, einer objektiv-
gültigen und zwar absolut-objektiven Wirklichkeit zuge-
billigt, so entsteht die Frage, wie diese Zuerkennung methodisch zu
begründen und zu rechtfertigen sei. Gibt es eine Methode, die aus-
reichend ist, um das objektive Recht solcher Gedanken zu ver-
bürgen? Ebenso wie die eigenartige Geltung, die der Metaphysik
als einem Inbegriff von objektiven Erkenntnissen und Urteilen
innewohnt, klarzustellen ist, so ist auch die eigenartige Geltung zu
erhellen, die dem Kernbegriff der Metaphysik, nämlich dem Begriff
des Absoluten, innewohnt. Denn die Eigenart dieses Begriffs ist
von bestimmendem Einfluß auf die Eigenart der Metaphysik.
Welche methodische Möglichkeit ist denkbar, um den Verdacht
abzuwehren und den Einspruch zu beseitigen, daß es sich bei aller
Tätigkeit für und um die Metaphysik trotz aller Gegenversicherungen
um nichts anderes als um ein rein subjektives und nur subjektiv
gültiges, von der Persönlichkeit des einzelnen Metaphysikers und
von seinem individuellen Ringen durchtränktes Verhalten handle?
Ist es so, daß, wie viele Kritiker der Metaphysik behaupten, die
Persönlichkeit die ausschlaggebende Rolle sowohl für die Grund-
legung als für den Aufbau eines metaphysischen Systems spielt?
Bleiben nach dieser Meinung alle Aussagen über das Absolute im
Grunde doch weiter nichts als ein unter Druck und Not in begriffliche
und allgemeingültige Form gepreßter Abglanz persönlicher Lebens-
stimmung und Lebensbewertung?
Wir vertreten und befürworten, wie aus zahlreichen Ausführungen
der vorliegenden Schrift mit aller Deutlichkeit hervorgeht, keines-
wegs diese subjektivistisch-personalistische Interpretation der meta-
physischen Einstellung auf das Objektiv-Absolute. Wir suchen uns
hier nur in den Geist und in die Entscheidung dieser Interpretation
zu versetzen. Aber über diese viel zu enge subjektivistische Auf-
fassung hinaus fragen wir noch weiter:
Welcher Sinn kann überhaupt mit der schweren Behauptung
des objektiven Geltungswertes des Absoluten, mit der Behaup-
tung seines ontologischen Geltungswertes verbunden werden?
Denn von dieser Form und Qualität eines Geltungswertes soll
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 3g 1
doch nicht nur jede Spielart der Subjektivität, sondern überdies
auch noch diejenige Form der Objektivität ferngehalten werden,
die wir der ,,Erscheinungswelt“ zuerkennen. Diese Aufgabe be-
steht, anders ausgedrückt, darin, den Sinn derjenigen Idee, die
Hegel mit dem Begriff des ,»absoluten Geistes“ bezeichnet, zu
klären und zu rechtfertigen. Mit der Behauptung, daß es einen
solchen absoluten Geist gibt und mit der Forderung, seine Existenz
anzuerkennen, ist es nicht getan. Es gilt, von Grund aus den Arg-
wohn auszumerzen, daß die Aufstellung jener Idee nichts anderes
als ein psychologischer Vorgang ist, und daß die Realität dieser
Idee auf nichts anderem als auf einer haltlosen Hypostasierung be-
ruht. In der Gegenwart ist gerade das Problem der Ontologie wieder
stark in den Vordergrund getreten. Und wenn wir davon sprechen,
daß für die Philosophie unserer Zeit die entschiedene Wendung zur
Metaphysik charakteristisch sei, so können wir mit demselben Rechte
auch von einer Wendung zur Ontologie als einem wesentlichen Kenn-
zeichen der philosophischen Gedankenrichtung unserer Tage spre-
chen. Aber welche Rechtsgründe sind für die Ontologie maßgebend?
Die Wendung zu ihr könnte unter Umständen sehr leicht historisch,
genetisch erklärt werden. Daß aber für die Ontologie als solche
eine derartige Erklärung nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Wenn
wir auch nachweisen, daß und warum die philosophische Entwick-
lung wieder den Weg zu einer ontologischen Metaphysik einge-
schlagen hat, so ist durch eine solche Darstellung doch höchstens
das tatsächliche Wiederemporkommen der Ontologie gekennzeichnet.
Es sind die Bedingungen dafür namhaft gemacht, daß die Onto-
logie nun wieder einmal da ist. Aber wie ihre übergeschichtlichen
und überrelativen Rechtsgründe beschaffen sind, darüber wäre noch
mit keinem Worte etwas ausgesagt.
So türmen sich Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, Probleme
über Probleme auf. Wir berühren sie in diesen Betrachtungen
sozusagen nur im Vorübergehen, um die Tatsache und um die
Merkwürdigkeit und Schwere des Kampfes um die Metaphysik und
in der Metaphysik hervorzuheben und begreiflich zu machen. Wenn
wir aber in den vorliegenden Andeutungen jene Schwierigkeiten
und Verwicklungen im allgemeinen vorerst nur in ihrer Tatsächlich-
keit als Probleme gestreift haben, so ist es doch an dieser Stelle bei
Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen bereits möglich, den
eigentlichen und entscheidenden Grund für jenen Kampf anzugeben.
Dieser Grund ist kein anderer als die Problematik der Meta-
382
VI. Die Dialektik der Metaphysik
physik selber. Wir verstehen und würdigen diesen Kampf um
die Metaphysik als ein beredtes Zeugnis und als eine unvermeidliche
Folge des Umstandes, daß die Metaphysik sich selber das
größte und das für sie grundlegende und maßgebende
Problem ist. Im Umkreis der Metaphysik gibt es kein tieferes
Problem als sie selber. Sie ist sich ihr Problem. Sie selber ist Pro-
blem. Sie selber ist auch für den Menschen das Problem!
Sie besitzt aber diesen Charakter und diese Bedeutung in erster
Linie darum, weil sie und gerade sie das denkbar deutlichste und
eindrucksvollste Spiegelbild der Dialektik des Geistes darstellt.
Ja, sie ist sogar viel mehr als bloß sein Spiegelbild. Sie ist der un-
mittelbare Weg seiner Selbstverwirklichung. Durch sie und in ihr
vollzieht der Geist seine Selbsterkenntnis und damit seine Objek-
tivation. Aber eine Selbsterkenntnis und Objektivation, die nicht
auf die Sonderform lediglich rationaler Erkenntnisart und rationalen
Erkenntnisvollzuges beschränkt sind. Wohl prägt sich in dieser
Objektivation des Geistes durch die Metaphysik auch ein theo-
retischer, ein rationaler, auf die Erreichung von Erkenntnis ab-
zielender und Erkenntnis gewinnender Vollzug aus. Wohl ruht
ferner dieser Vollzug auf theoretischen Kategorien. Aber doch nur
nach einer Seite und in einer Hinsicht. Wir betonten schon oben
mehrfach die außerordentliche Komplikation im Begriff des „Meta-
physischen“, und wir wiesen diesem Begriff gerade in und wegen
seiner Komplikation eine eigentümliche Autonomie und Apriorität
zu. Dieser Autonomie entspricht auf das genauste die autonome
metaphysische Erkenntnisart, die nicht identisch ist mit irgendeiner
naturwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Erkenntnis.
Noch mehr: Sie entspricht ihr nicht nur, sondern sie deckt sich
geradezu mit ihr. Zwar bedeutet auch jede andere Kulturtätigkeit
und Kulturobjektivation, z. B. Wissenschaft, Kunst, Recht, gleich-
falls eine Selbsterkenntnis und Selbstoffenbarung des Geistes. Doch
muß von allen diesen Ausprägungen der Geistesoffenbarung gesagt
werden, daß sie einseitiger und besonderer Natur sind. Sie er-
schließen nicht die ganze Beweglichkeit und die ganze Fülle jener
Dialektik, sie bieten sozusagen nicht die volle Dialektik in der
Dialektik des Geistes.
Indem wir das Problem der Metaphysik in die denkbar engste
Beziehung zum Problem des „Geistes“ überhaupt bringen, dürfte
auch ein naheliegender Einwand oder Vorwurf entkräftet werden.
Denn nunmehr wird es nicht mehr möglich sein, zu behaupten,
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 383
daß wir den Begriff der Metaphysik dadurch viel zu sehr vereinheit-
lichen und verengen, daß wir ihn ausschließlich mit dem Begriff der
Dialektik verbinden. Oder widerspricht unsere Auffassung vom
Wesen der Metaphysik allzusehr dem geschichtlichen Tatbestand,
der vor uns eine Riesenfülle der verschiedensten Definitionen und
Systeme der Metaphysik ausbreitet? Nun diese Fülle ist gerade die
beste Bestätigung für uns. Sie offenbart eben die „Dialektik“ in
den metaphysischen Aufgabestellungen und Lösungsversuchen, die
die Unermüdlichkeit des Geistes in seinen metaphysischen Unter-
suchungen sowohl bedingt als auch beleuchtet.
Diese Fülle gelangt allein in der Metaphysik zu offensichtlich-
stem Ausdruck. Insofern als das Wesen des Geistes dialektisch ist,
insofern ist auch die Metaphysik dialektisch. Dieser Begriff der
Dialektik muß jedoch in der Totalität seiner Idee verstanden und
durchgeführt werden. Also darf er nicht abgeschwächt werden nach
der Seite einer abstrakten Theorie, einer bloß formal-begrifflichen
Erkenntnis. Aber ebensowenig ist es zulässig, ihn abzuschwächen
nach der Seite eines außer- oder überbegrifflichen Irrationalismus
und Intuitionismus, der so gern und mit einer gewissen Geflissent-
lichkeit gegen den Rationalismus ausgespielt wird. Schließlich ist
aber auch die sogenannte Lebensphilosophie, die seit den Tagen
Friedrich Nietzsches zu immer stärkerer Herrschaft gelangt ist,
auch nur eine Einengung der Dialektik, da sie zu einer einseitigen
Betonung des Irrationalen neigt. Wie das „Wesen“ des Geistes alle
möglichen und ersinnlichen Standpunkte und Richtungen in sich
faßt und sie alle trotz ihrer Spannungen untereinanderzu kontrast-
reicher und vielgegliederter Einheit zusammenspinnt, so umfaßt
und trägt die Metaphysik diesen ganzen Reichtum von Wesens-
formen und Wesensgehalten in sich. Sie hat den Vorzug, im Reiche
der Gedanken den hervorstechendsten Ausdruck der Einheit dieser
Fülle und der Fülle dieser Einheit darzustellen. Deshalb darf sie
nie zu trockener Einheit im Sinne der Aufstellung eines abstrakten
Einheitsprinzips und im Sinne endgültig abschließbaren Wissens
erstarren, will sie ihre schöpferische Grundbedingung, die Dialektik
des Geistes, nicht verleugnen.
Ist das erkannt, dann stellt sich uns endlich ganz ungezwungen
die Einsicht ein, daß für den geistig ringenden Menschen die Meta-
physik eben darum das Problem ist, weil es für ihn im Grunde
kein anderes, kein tieferes, kein aufwühlenderes, kein geheimnis-
volleres und dennoch lockenderes Problem gibt als das Wesen des
384
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Geistes. Dieses Problem ist es, dem unsere schwersten Sorgen und
Kämpfe gelten. Mit seiner Entstehung ist die Entstehung des
geistigen Lebens untrennbar verknüpft. Zugleich ist mit ihm auch
die Entstehung der Metaphysik gegeben. Und aus dem Problem
des Geistes und aus seiner, niemals zu endgültiger Ruhe zu bringen-
den, in einer abstrakten systematischen Einheit sich nie erschöpfenden
Dialektik quellen auch alle Sorgen und Kämpfe hervor, die der
Metaphysik in der Entwicklung des Menschengeistes galten, gelten
und gelten werden.--------
So steht also im Mittelpunkt unserer Erörterungen schließlich
kein anderes Problem als das Problem des Geistes selber, das ja
immer das Grund- und Hauptproblem der Philosophie des Idealis-
mus gewesen und geblieben ist. Indem wir hier die Idee des Geistes
aber nicht im subjektiven und psychologischen Sinne, sondern ganz
objektiv und objektivistisch verstehen und dieses Problem nicht
psychologisch, natürlich auch nicht historisch-genetisch, sondern
metaphysisch zu behandeln suchen, will die vorliegende Arbeit,
deren Gegenstand und Untersuchungsgebiet die Metaphysik ist,
zugleich selber eine Metaphysik des Geistes sein und ent-
wickeln. Sie will sich dadurch der Systemreihe des objektiven
Idealismus eingliedern; sie will in Plato und in Aristoteles, in
Descartes und in Leibniz, in Kant und in Hegel und in den
anderen Hauptvertretern des sogenannten spekulativen und ob-
jektiven Idealismus, um hier nur die wesentlichsten Führer zu
nennen, die dieser Richtung der Metaphysik vorstehen, ihre Ahnen
erblicken.
Dennoch unterscheidet sie sich in einer ganz bestimmten Weise
wiederum von diesem Idealismus, so weit er bis jetzt vorliegt.
Ihr Grundproblem ist, wie gesagt, die Idee des Geistes. Und wie
sie die Dialektik in dieser Idee hervorhebt und betont, so will sie,
wie ebenfalls bereits gesagt, die Dialektik dieser Idee auch dialektisch
behandeln. Aber sie ist bestrebt, mit dieser dialektischen Behand-
lung völlig ernst zu machen und die sogenannte „Aufhebung“ der
Dialektik in und mittels einer Synthese lediglich alseinen vorläufigen
Zustand und daneben noch als den subjektiven Ausdruck des mensch-
lichen Bedürfnisses nach Ruhe und Ausgleich gelten zu lassen. Alle
„Lösungen“ umschließen stets die Gefahr der Beeinträchtigung der
Dialektik; sie bedrohen ihre Problemhaltigkeit und die Dynamik
in der Idee des Problems. In die klassischen Systeme des objektiven
Idealismus hat sich zu schnell jenes menschliche, auch in den Ver-
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 385
tretern dieses metaphysischen Standpunktes wahrscheinlich wirk-
same Verlangen nach Minderung und Beseitigung der dialektischen
Unruhe eingeschlichen. Der Gedanke des synthetischen Ausgleichs
hat sich verdichtet und objektiviert zu einer Art von Kategorie,
und zwar zur Kategorie der Einheit, der Einheitlichkeit, der Harmonie,
und er ist so, mitversponnen in einen subjektiven Wunsch, auf dem
Wege der Hypostasierung zu einer objektiven Konstruktionsform
für jene Systeme geworden. Nicht selten spielen sogar ausgesprochen
religiöse Bedürfnisse eine maßgebende Rolle für die Aufstellung und
Durchführung dieses Harmoniegedankens.
Kein Mensch wird die Bedeutsamkeit aller jener Wünsche und
Bedürfnisse unterschätzen. Aber ebensowenig ist die ihnen zuzu-
schreibende Bedrohung der Dialektik und der Erkenntnis der tra-
gischen Antinomik der Wirklichkeit zu verkennen. Jener objek-
tivistische und harmonistische Idealismus hat besonders einen Faktor
nicht nach Gebühr berücksichtigt, der die Gewinnung und Be-
wahrung der absoluten Einheit als eine blanke Utopie und
als das Geschöpf einer etwas weltfremden oder weitabgewendeten
Ideologie erscheinen läßt. Das ist jener Faktor, den wir vorläufig
einmal ganz kurz als das „geschichtliche Leben“ bezeichnen wollen.
Sogar Hegel, der doch wirklich ein Geschichtsphilosoph von
schöpferischer Genialität war und tiefste Blicke in die Dialektik,
in die Dynamik, in die Tragik der Geschichte getan hat, mildert
und beseitigt die ungeheuren Spannungen und Reibungen der Ge-
schichte und ihre der Idee der Harmonie spottenden Antithesen
viel zu schnell. Wohl hat er ein außerordentliches Verständnis für
die Vielspältigkeit des Lebens, für die Mannigfaltigkeit und den
Kampf der Lebensströmungen, und er schildert diese Bewegtheit so-
wohl in eindrucksvollen Bildern als auch mit begrifflicher Schärfe.
Trotzdem erscheint ihm dieser Kampf doch nur wie ein Spiel an
der Oberfläche, das heißt: dieser Kampf berührt nicht die Substanz
der Einheit. Hegel macht nicht rückhaltlosen Ernst mit dem Ge-
danken der Dialektik und Paradoxie des Lebens. Er hebt die
Selbständigkeiten von Thesis und Antithesis im Grunde doch durch
die Übermacht und in der Übermacht der Synthesis auf. Er
versöhnt die Pole, so sehr er ihre spezifische Verschiedenheit auch
hervorhebt. Es waltet in ihm mit zu einseitiger Entschiedenheit
das Bedürfnis nach der Gewinnung eines alles überbrückenden
Monismus. Ich möchte nicht so weit gehen wie Guardini, der in
seinem schon wiederholt herangezogenen Buche „Der Gegensatz“
Liebert, Dialektik. 25
386
VI. Die Dialektik der Metaphysik
sagt: „Alle Monismen haben im letzten etwas Charakterloses an
sich“1). Dennoch steckt in diesem Tadel ein berechtigter Kern.
Auch in Hegel äußert sich eine Übertreibung des monistischen
Verlangens; auch er hat an der romantischen Neigung teil, die
sich davon gar nicht abhalten läßt und immer bestrebt ist, die
Grenzen innerhalb der Gegensatzverhältnisse abzuplatten* 2), so
heftig er sich im übrigen über die Romantiker geäußert haben mag.
Auch er läßt, mit anderen Worten, die Idee der Einheit, und zwar
der vernünftigen Einheit, zu schnell und zu völlig über die dialek-
tischen Aufgerissenheiten der Erkenntnis und der Wirklichkeit
triumphieren. Seinen metaphysischen Konstruktionen soll syste-
matische Großartigkeit gewiß nicht abgesprochen werden. Jeder
Metaphysiker trägt in sich die Pflicht zur Systematik. Und Hegel
hat dieser Pflicht mit bezwingender Stärke entsprochen. Aber
diese Systematik ist zu harmonisch geraten. Sie schwebt zu sehr
über und jenseits der Antithetik der Geschichte. Er kennt wie
kaum ein zweiter den Zwiespalt und den Zwieklang zwischen Meta-
physik und Geschichte. Doch beherrscht von der Idee des Aus-
gleichs und der „Aufhebung“, die doch immer nur eine Form und
eine Ausprägung des Synthesisgedankens darstellt, hat er der
Dämonie der geschichtlichen Dissonanzen nicht genug Wort haben
wollen. In ihm atmet jener, für unsere ganze klassische Zeit bezeich-
nende Drang nach Harmonie, jenes typisch humanistische Verlangen,
über das wir im Zusammenhang dieser Ausführungen schon wieder-
holt gesprochen haben, wie wir auch wiederholt unser Verhältnis zu
diesem Harmonismus berührten.
Wenn nämlich ein Umstand für diejenige Entwicklung maßgebend
ist, die sich seit Hegel auf wissenschaftlichem und geistig-seelischem
Gebiet vollzogen hat, so ist es derjenige einer gewaltigen Zunahme
des Erlebnisses unserer Verstricktheit in die Paradoxie und Dämonie
der geschichtlichen Lebenszusammenhänge und im Verein damit die
Zunahme der Erkenntnis dieser Verstricktheit3). Unser Dasein ist
dadurch in gewissem Sinne bewegter und schwerer geworden. Aber
auch die Möglichkeit des Aufbaues einer idealistischen Metaphysik,
die sich ganz im Reiche rein logisch-formaler Konstruktionen bewegt,
J) Romano Guardini a. a. O., S. 95; vgl. auch S. 48.
2) Guardini S. 41 f.
3) Vgl. zu den Ausführungen über den Harmonismus auch das Kapitel
„Das Verhältnis der prinzipiellen Dialektik zu der einseitigen, humanistisch-
ausgleichenden Dialektik Platos, Hegels, Schleiermachers, Schellings“(S.306ff.).
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 387
ist schwerer, ist aussichtsloser geworden. Wir fühlen uns unabweis-
bar verpflichtet, in und bei aller Systematik dennoch auch das
Geschichtlich-Konkrete und das Geschichtlich-Irdische zu be-
rücksichtigen und die Unbedingtheit, die einer systematisch ge-
schlossenen Metaphysik innewohnen muß, nicht völlig abzulösen
von den Spannungen, Unausgeglichenheiten, Relativitäten im
Reiche des Endlichen. Die empirische Forschung hat eine zu große
Selbständigkeit und einen zu großen Reichtum gewonnen, als daß
sie nicht bei allen „metaphysischen“ Entwürfen und bei allen
„metaphysischen“ Erkenntnissen ein entscheidendes Wort zu
sprechen hätte. Unser Denken, unsere Begriffsbildung, unsere
Urteile und unsere Beurteilungen sind nun einmal in beträcht-
lichem Ausmaße historisiert. Man kann von bestimmten Voraus-
setzungen aus diesen Prozeß beklagen und diese Historisierung zu
überwinden trachten. Und sicherlich ist gerade die metaphysische
Einstellung und Systematik eines der wirkungsvollsten Mittel, um
diese Überwindung durchzuführen bzw. wenigstens in die Wege zu
leiten.
Aber auch bei dieser Bemühung bleibt das Geschichtliche gerade
in seiner Relativität ein nachhaltig einflußreicher Gesichtspunkt
und Faktor für die Entwicklung einer Geschichtsmetaphysik.
Treiben wir heute Metaphysik, dann müssen wir die Welt der Ge-
schichte und alles das, was die moderne Geschichtswissenschaft in
dem Reichtum ihrer Zweige uns über diese Welt gelehrt hat, in ganz
anderem Umfange und mit ganz anderer Anspannung in Betracht
ziehen, als der alte Idealismus es tat oder zu tun brauchte. Nicht
nur die Metaphysik als solche, auch nicht nur die Geschichte als
solche, sondern eben das Verhältnis zwischen Metaphysik und Ge-
schichte ist für uns zu einem ungleich ernsteren und komplizierteren
Problem geworden. Deshalb sieht sich auch eine Metaphysik des
Geistes, die stets zugleich eine Metaphysik der Geschichte als Teil
in sich umfaßt, vor schwierigere Aufgaben gestellt als jener klassische,
synthetisch-harmonistische Idealismus.
Die Idee der Harmonie und des Humanismus, die für diesen
Idealismus die Bedeutung einer Grundvoraussetzung besaß, ruhte
schließlich auf dem Glauben an einen der Verwirklichung innerhalb
der Geschichte fähigen Endzustand. Das heißt: Er schrieb dieser
Idee eine welterlösende Kraft zu; er glaubte, sie könne die Ge-
schichte und ihre Unausgeglichenheiten ebenen und überwinden. Er
traute dem Logos dieser Idee die Macht zu, alles Alogische, alles
25*
388
VI. Die Dialektik der Metaphysik
Unter- und Außervernünftige zur Reinheit und Seligkeit des Logos
zu veredeln. Der in allem Endlichen waltende Logos verewige das
Endliche, indem er es gerade seiner Eigenart als Endliches entreißt,
indem er es auf den Grund des Unendlichen aufträgt und zum
Unendlichen emporträgt.
Vernichtet er dadurch aber nicht die Eigenart und die Geltung
des Endlichen und seine Geschichte? Vielmehr: Vernichtet nicht
weniger der Logos, als sein metaphysischer Anwalt Hegel die Auto-
nomie des Endlichen? Trägt nicht das Endliche und seine Geschichte
ein eigenes und tiefes Ethos in sich? Die einzigartige Tragik, die
dem Leben eingebettet und von ihm nicht wegzudenken ist, wird
doch verkannt und verwischt, wenn der Selbstwert der Geschichte
zugunsten der Autonomie des Absoluten unterdrückt wird, wenn
die Autonomien beider Wirklichkeitsfaktoren in ihrer Wechsel-
beziehung und in der Herbheit dieser Wechselbeziehung nicht rein
und streng aufrechterhalten werden. Hermann Cohen hat mit
Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Hegel eine eigentliche
systematische Ethik nicht geschaffen habe. Gehindert daran haben
diesen großen Dialektiker, der sehr oft und gerade in prinzipiellem
Betracht so undialektisch dachte und vorging, die monistisch-huma-
nistischen und pantheistischen Voraussetzungen und Tendenzen
seiner Philosophie. Für die Ethik ist und bleibt das Problem des
Konfliktes von konstitutiver Bedeutung. Und dieser Begriff des
Konfliktes muß in seinem vollen Sinne und mit der Bereitschaft
zu allen Folgerungen aufgenommen und vertreten werden. Es
heißt, der Idee der Sittlichkeit, des sittlichen Strebens und der
Wissenschaft der Ethik eine ihnen ganz wesentliche Bedingung
nehmen, wenn die Erscheinung und die Kategorie des Konfliktes
von Anfang an unter das Licht der Lösung und Aufhebung gerückt
werden. Der Begriff des Konfliktes ist für das sittliche Leben eine
„praktische“, für die Ethik eine „theoretische“ Apriorität. Begreif-
bar wird aber diese Apriorität aus der Erkenntnis des Zusammen-
pralls und der Reibung der beiden Autonomien des Endlichen der
Geschichte und des Unendlichen des Logos und aus der Erkenntnis
der Antinomie zwischen diesen Autonomien.
Es ist gewiß keine Frage, daß der Metaphysiker die Pflicht hat,
das Endliche auf das Unendliche zu beziehen und es vom Absoluten
her zu erfassen und zu deuten. Die volle Berücksichtigung dieser
Pflicht in der Form der Systematik gehört zu den wesentlichen
Obliegenheiten der metaphysischen Betrachtungsweise, und die
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 389
Erfüllung dieser Pflicht läßt die ungeheure Problematik offenbar
werden, die mit dem Begriff des Absoluten verbunden ist, und auf
die wir im obigen schon wiederholt hingewiesen haben. Aber jenes
Beziehen des Endlichen auf das Unendliche schließt nicht die Forde-
rung der vollständigen Hineinhebung des Endlichen in das Un-
endliche in sich. Denn eine solche Hineinhebung wäre eine vernunft-
widrige Beseitigung des Endlichen. Bekanntlich ist es der Fehler
aller Empiriker und Relativisten, keinen Blick für die Eigenart der
Idee des Absoluten zu haben und um des Endlichen und Relativen
willen dem Absoluten die Eigenheit und Objektivität seines Sinnes
rauben zu wollen. Umgekehrt ist es das grundsätzliche Versehen
aller einseitigen Absolutisten und absolutistischen Metaphysiker,
den Eigenwert des Endlichen und die unauslöschliche Spannung
zwischen dieser Autonomie und derjenigen des Absoluten zu ver-
kennen und zu unterdrücken. Wenn wir hier überall natürlich
für die Autonomie des Absoluten und des Metaphysischen eintreten,
so schließt diese Stellungnahme die Anerkennung des Selbstwertes
der Geschichte und ihrer Relativitäten nicht nur nicht aus, sondern
sie fordert diese Anerkennung geradezu. Die Leugnung einer dieser
beiden Autonomien oder auch nur der Versuch zur leisesten Minde-
rung der Geltung dieser beiden Eigenwerte ist eine bare Gewalt-
tätigkeit und Ungerechtigkeit.
Zumal für eine Metaphysik der Dialektik, die zugleich die Dia-
lektik der Metaphysik behandelt und darstellt, ist die nachdrückliche
Anerkennung sowohl der Apriorität und Autonomie des Metaphy-
sischen als auch diejenige der Apriorität und Autonomie des Ge-
schichtlichen eine schlechthin unaufgebbare Notwendigkeit. Mögen
frühere Zeiten und frühere Systeme sich auf Grund irgendeines
metaphysischen oder religiösen Dogmatismus der Autonomie der
Geschichte zu entwinden imstande gewesen sein, mag eine solche
Entwindung auch nur die Bedeutung einer Beruhigung gehabt haben
— uns jedenfalls ist der Gedanke an eine solche restlose Befreiung
von allem Endlichen und der Glaube an einen vollständigen Sieg
über die Geschichte nicht möglich. Nachdem wir einmal den mehr-
fach angedeuteten Prozeß der Historisierung durchgemacht haben,
müssen wir mit denjenigen Erlebnissen, Erkenntnissen, Wertungen,
Überzeugungen rechnen, die er als Ergebnisse in unserem Geiste und
in unserem intellektuellen, moralischen, seelischen, weltanschaulichen
Verhalten zurückgelassen hat. Hinfort darf keine Metaphysik die
Beziehungen zur Problematik der Geschichte mißachten oder ver-
390
VI. Die Dialektik der Metaphysik
engen. Es gehört zum geistigen Bilde unseres Wesens, daß die unauf-
hebbare Korrelation und die damit gegebene Spannung zwischen
dem Absoluten und dem Relativen uns mit aller Schärfe bewußt
geworden ist, und daß wir weder den einen noch den anderen Faktor
unseres und alles Seins überhaupt in seiner Bedeutung preisgeben
oder auch nur schmälern können. Gegenüber dieser Erkenntnis
und den aus ihr fließenden Folgen hat es der Vertreter des em-
piristisch-relativistischen Standpunktes oder derjenige des ab-
solutistisch-metaphysischen verhältnismäßig leicht und bequem.
Er hat es ebenso leicht wie beispielshalber der einseitige Rationalist
oder der einseitige Irrationalist. Die unerträglichen Engheiten aller
dieser Standpunkte und Betrachtungsweisen werden so schnell
übersehen oder mit in Kauf genommen, weil sich von ihnen aus so
einfach-einheitliche Welt- und Lebensanschauungen entwickeln lassen.
Oft handelt es sich nur um Pseudo-Einheiten und um Pseudo-Einheit-
lichkeiten. Aber schon der Eindruck der Einheit und Einheitlichkeit
erweckt den Eindruck der Wahrheit und verführt zu der Ansicht, nun
endlich das endgültige System der Metaphysik gefunden zu haben.
Gerade auf unserem Gebiet kann das Mißtrauen gegen alle zu schnell
aufgestellten Einheiten und gegen die Vertretung aller zu „einheit-
lichen“ Standpunkte und Methoden nicht stark genug sein. Und wir
müßten eigentlich gegen die Hingabe an solche „Einheitlichkeiten“
durch den Kursus des Denkens und Wertens, den wir unter der Führung
der historischen Geisteswissenschaften durchgemacht haben, hin-
länglich gewappnet sein. Das Suchen nach einer Einheitsformel zum
Zweck der metaphysischen Deutung der Geschichte und das mensch-
lich begreifliche Verlangen nach dem Besitz und der Anwendung
einer solchen Formel dürfen mit der Problematik dieses Besitzes
nicht verwechselt werden.
Das Leben im Endlichen bedeutet Kampf, bedeutet das Er-
fülltsein von Spannungen und Antinomien — ein Kampf, der nicht
minder groß ist als derjenige, den wir Menschen dadurch in uns
und für uns zu führen haben, daß wir sowohl am Unendlichen als
auch am Endlichen teilhaben. Jenem erstgenannten Kampf ent-
weichen, heißt aus dem Leben fliehen, heißt die Größe und die
Schönheit des Lebens mißachten, heißt die Aszese ungebührlich
höher achten als den Heroismus. Wer die traditionellen Einheits-
formeln und Einheitsvorstellungen über das Wesen und den Wert des
Seins und besonders des menschlichen Daseins mit gläubigem Ent-
gegenkommen für sich annimmt, beweist und betätigt damit einen
5. Die ewige Dialektik und Problematik der Metaphysik 39 J
theoretischen und unter Umständen auch praktischen Humanismus,
der von dem unverwelklichen Adel klassischer Schönheit und
klassischer Gesittung umstrahlt ist. Geben wir uns aber eine ehr-
liche Antwort auf die Frage, ob jener klassische und klassizistisch-
humanistische Geist noch ganz in uns lebendig und wirksam ist
und lebendig und wirksam sein kann. Seit der Blütezeit jenes
Geistes ist in uns und um uns, ist in Theorie und Praxis, im Erkennen
und im Leben zu Vieles und zu Schweres geschehen, als daß die
Aufrechterhaltung jener Stimmung oder die Rückkehr in ihre Milde
uns in vollem Umfange möglich wären. Ja, es darf billigerweise doch
noch als eine Frage betrachtet werden, ob diese Aufrechterhaltung
oder Rückkehr so ohne weiteres als ein einwandfrei gültiges Ideal
angesehen werden kann. Auch in der Antinomie zwischen dem Leben
in metaphysischer Absolutheit und dem Leben innerhalb der Un-
rast und des Dranges empirischer Unausgesöhntheit steckt ein
hohes Ethos und eine gewaltige sittliche Tiefe. Und es ist gar nicht
ausgemacht, daß der Preis der Tugend nur einem harmonisch aus-
geglichenen Dasein und nur der ruhigen Existenz, die bereits in der
Hut des Absoluten geborgen ist, gebührt.
Also noch einmal: Für uns herrscht auf dem Felde der Meta-
physik zwar nichts weniger als eine Anarchie der Überzeugungen
und Wertungen, nichts weniger als ein Anrennen aller gegen alle,
nichts weniger als das Schauspiel wechselseitiger Zersetzung, nichts
weniger als eine endlose Bemühung, die in ihrem Gehalt immer
mehr verarmt und zu aussichtslosem Beginnen entartet. Wohl aber
herrscht für uns auf diesem Gebiet ein Kampf von höchster Problem-
trächtigkeit und von höchster Unerschöpflichkeit an Dialektik und
Problematik. Dieser Kampf trägt alle Merkmale objektiver Größe.
Wollen wir ihn verstehen, so müssen wir ihn ohne Voreingenommen-
heit in allseitiger Freiheit auffassen und würdigen. Eine solche
Einstellung darf und muß seine objektive Größe von uns fordern.
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart.1)
1. Einleitung.
Jede Geistes- und Wissenschaftslage ist in gewissem Sinne durch
die Eigenart derjenigen Methode gekennzeichnet und bestimmt,
die von ihr zur Bewältigung nicht nur der ähr gestellten Erkenntnis-
aufgaben, sondern nicht minder der ihr gestellten allgemeinen Lebens-
aufgaben geformt und angewendet wird. Das ist besonders dann der
Fall, wenn die wissenschaftliche Entwicklung zu einer Krisis hin-
drängt, wenn es sich um die Überwindung des traditionellen und
um die Gewinnung eines irgendwie neuen Wissenschaftsbegriffes
handelt. Das Ringen um eine Methode begleitet die ganze Geschichte
der Wissenschaft und ist auf langen Strecken identisch mit dieser
Geschichte.
Aber diese Behauptung beruht auf einer Voraussetzung. Es
scheint mir nämlich nicht ausreichend zu sein, unter dem Begriff
der Methode ausschließlich einen bestimmten formalen und rationalen
Prozeß zur Heranschaffung und zur systematischen Verarbeitung
und Gestaltung von Erkenntnismaterialien zu verstehen. Ihr Begriff
umfaßt vielmehr außerdem und zugleich damit eine allgemeine
Geisteshaltung, eine Gesinnungsart, eine von übertheoretischen Wer-
tungen und Deutungen nicht freie, also nicht bloß logische und
rationale Einstellung zu den Erscheinungen der Wirklichkeit. Es
wäre eine reizvolle und lohnende Untersuchung, die Einwirkungen
solcher typischer zeitgeschichtlicher Geistesformen auf die betreffen-
den Wissenschaftsmethoden und die Art ihrer Spiegelung in ihnen
im einzelnen aufzudecken und darzustellen.
So gelangt auch der Kampf um einen neuen, sei es nur erweiter-
ten, sei es überhaupt wurzelhaft veränderten Wissenschaftsbegriff
*) Vgl. als Ergänzung zu diesem Kapitel den eindringenden und trefflich
orientierenden Vortrag von Heinrich Levy ,,Die Hegel-Renaissance der Gegen-
wart“ (Vortrag Nr. 30 der Kant-Gesellschaft); mit diesem Vortrag berühren
sich die Darlegungen des obigen Kapitels in mehrfacher Beziehung.
1. Einleitung
393
in der Gegenwart zu greifbarem Ausdruck in den mancherlei Be-
mühungen um die Schaffung einer neuen, der gewandelten Zeit-
stimmung angemessenen Methode. Diese Tendenz beschränkt sich
nicht auf ein einzelnes Wissenschaftsgebiet; sie gilt vielmehr dem
Begriff der Erkenntnis überhaupt. Sie äußert sich in den Umgestal-
tungsversuchen, denen die zeitgenössische Psychologie unterworfen
wird. Denn die Bestrebungen zur Schaffung einer Struktur- oder
Gestaltpsychologie, ferner die phänomenologische Psychologie, dann
die differenzierende, individualisierende, personalistische Psycho-
logie usw. sind zu einem guten Teil aus methodischen Erwägungen
hervorgegangen und methodisch gerichtet. Ebenso liegt es auf dem
Felde der phänomenologischen Logik, deren Gegnerschaft gegen die
traditionelle formale oder gegen die kritische, erkenntnistheoretische
Logik wesentlich methodischer Natur ist. Auch der Kampf zwischen
Kritizismus und Psychologismus oder derjenige zwischen Historis-
mus und rein konstruktiver Systematik ist ein mit Weltanschauungs-
momenten verbundener methodischer Kampf.
Unter diesen mannigfachen Versuchen, die auf die Entwicklung
einer dem gegenwärtigen Zeitgeist angepaßten und entsprechenden
Methode hinzielcn, erregen unsere Aufmerksamkeit nun besonders
die der Erneuerunggerade der Dialektik dienenden Bestrebun-
gen. Denn eine ganze, der Zahl und der sachlichen Bedeutung nach
wichtige und beachtenswerte Bewegung in der Philosophie der Gegen-
wart strömt auf diesen Punkt zusammen. Und indem sie jene Er-
neuerung bezweckt, sind gerade diese Bemühungen nach unserer
Auffassung charakteristisch für unsere Zeit.
Es sei gestattet, als erste Frage unserer Betrachtungen zu
erwägen, aus welchen allgemeinen Voraussetzungen und Mo-
tiven ein wesentliches und bezeichnendes Stück der Arbeit der
jetzigen Philosophie zu diesem Punkt konvergiert, und wer von
den Philosophen der jüngsten Vergangenheit und der
Gegenwart an dem Problem der Dialektik interessiert ist. Dabei
möchte ich hier von der Behandlung der naheliegenden, mehr kultur-
geschichtlichen Frage absehen, ob und inwiefern jenes spezifisch
wissenschaftliche Interesse an der Dialektik als ein Niederschlag
der allgemeinen Dialektik zu deuten wäre, von der unser gesamter
Zeitgeist so tief ergriffen ist.
Jene, aus rein wissenschaftlichen Gründen hervorgehende Be-
wegung zur Dialektik weist wesentlich zwei Hauptrichtungen auf.
Entweder gestaltet sie sich ausgesprochenermaßen methodologisch,
394
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
d. h. sie widmet sich unmittelbar und ausdrücklich der Untersuchung
des methodischen Wertes und der philosophisch-systematischen Trag-
kraft der Dialektik, wie z. B. bei Nikolai Hartmann und Jonas
Cohn, oder aber die philosophische Forschung ruht sozusagen
unmittelbar auf dialektischer Grundlage, arbeitet mit ihr als Richt-
schnur und baut sich auf ihr auf, ohne diese Voraussetzung einer
besonderen methodologisch-analytischen Klärung zu unterziehen,
wie z. B. bei dem späteren Georg Simmel, bei Ernst Troeltsch,
bei Theodor Litt oder schon vorher bei Wilhelm Dilthey. Daß
gerade die dynamistische Lebensphilosophie Veranlassung hat und
nimmt, der dialektischen Methode sich zu bedienen, ist begreiflich
genug.
2. Die Wendung zur Dialektik:
Ihre Voraussetzungen und Motive und einige ihrer Hauptvertreter.
Für die Wendung des Interesses zur Dialektik scheinen mir nun
drei Ansatzpunkte maßgebend zu sein. Ihre Eigenart bedingt dann
natürlich auch die besondere Form und Gestalt der von ihnen
stammenden dialektischen Denkweise und die weitere Pflege der-
selben.
a) Von den Geisteswissenschaften und derTheorie
derselben aus.
Der erste, vergleichsweise wichtigste, weil einschneidendste und
folgenreichste Antrieb kam von der Seite der Geisteswissen-
schaften und von der methodologischen Beschäftigung
mit der Grundlegung derselben. Die gewaltige Ausbildung
der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert ließ naturgemäß auch
die Frage nach den methodischen Voraussetzungen dieser Wissen-
schaften, nach dem Wesen ihrer Grundbegriffe und nach der ihnen
eigentümlichen Erkenntnisart und Erkenntnisgeltung entstehen. Eine
darauf eingestellte Erkenntnistheorie mußte zu der Einsicht führen,
daß die traditionellen, in der Hauptsache durch das mathematische
und mathematisch-naturwissenschaftliche Verfahren bestimmten
Kategorien und Methoden, wie sie seit der Aufklärung und im An-
schluß daran besonders durch den naturwissenschaftlichen Positivis-
mus mit seiner Tendenz auf das Experiment und auf eine jeder
Dialektik entzogenen Exaktheit zur Ausbildung gelangt waren, für
die geisteswissenschaftliche Erkenntnis nicht dieselbe konstitutive
2. Die Wendung zur Dialektik]
395
Bedeutung besaßen. Weder waren sie in dieser in tatsächlicher An-
wendung, noch ließ sich eine Annäherung der Geisteswissenschaften
an die Naturwissenschaften als Aufgabe und Ziel ins Auge fassen,
ohne den Sinn und die Eigenart der Geisteswissenschaften zu zer-
stören. Die Begründungen von so bedeutenden Denkern wie Wilhelm
Dilthey und Christoph Sigwart, die für das Recht und die Selbständig-
keit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften
und damit zugleich gegen die Übertragung naturwissenschaftlicher
Methoden auf die Geisteswissenschaften ihre Stimme erhoben, dürf-
ten als hinlängliche Mahnungen dienen.
1. Abgesehen von einigen speziell in erkenntnistheoretischer Hin-
sicht verhältnismäßig untergeordneten Untersuchungen, wie es die von
Droysen in seinem „Grundriß der Historik“ (1868) und v. Sybel
„Über die Gesetze des historischen Wissens“ (1864) etwa sind, darf
Wilhelm Dilthey das Verdienst zugesprochen werden, die Einsicht
in die grundsätzliche Selbständigkeit der Geisteswissenschaften ver-
bunden zu haben mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer auto-
nomen Grundlegung dieser Wissenschaftsgruppe. Ganz gleich wie
immer die Art seiner mehr beabsichtigten und programmatisch ver-
kündeten als systematisch durchgeführten Theorie der historischen
Erkenntnis, die er bekanntlich als Kritik der historischen Ver-
nunft bezeichnete, beurteilt werden mag — seine ungemeine Ein-
fühlungsfähigkeit in die Problematik und dialektische Relativität
des geschichtlichen Lebens ließ in ihm eine, ihn auch oft persönlich
beunruhigende Ahnung der Aporetik der Erkenntnis erwachen. Er
rang zeitlebens um die Überwindung derjenigen Antinomik, die aus
der tiefen Gegensätzlichkeit zwischen der abstrakten Formalität
und formalen Abstraktheit des Begriffs auf der einen Seite und der
individuellen Unmittelbarkeit und bewegten Konkretheit des ge-
schichtlichen Lebens auf der anderen sich ergibt. Er glaubte, daß alle
als absolut sich gebärdende Systematik von dem Strom des Lebens
immer wieder in Frage gestellt und verrelativiert wird, und daß
dadurch der ganze Prozeß des historischen Erkennens in eine unauf-
haltsame Dialektik sich verstrickt.
Weder hat Dilthey die logisch-konstitutive Geltung des Begriffs
der Dialektik erkannt, da er ihn immer in einem etwas psychologi-
stisch-relativistischen Sinne auslegte, noch liegen bei ihm Ansätze
zu einer Theorie der Dialektik als Methode vor. Aber indem er die
dialektische Relativität der historischen — und nächst ihr auch der
philosophischen — Erkenntnis so stark hervorhob, gehört er zu den
396
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Vorbereitern für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Problem der
Dialektik. Das ist der Gewinn, den die Wendung zur Dialektik aus
Diltheys Bemühen um eine Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaf-
ten ziehen muß. Er hat sozusagen die Stimmung für jene Wendung
mitgeschaffen, indem er die Problematik der historischen Erkenntnis
aufdeckte. In der Philosophie der Gegenwart werden Mittel und
Wege zur Überwindung des historischen Standpunktes gesucht. Aber
ebenso wie dieser aus der geschichtlichen Entwicklung folgerichtig
hervorgegangen ist, so dient er der Systematik auch als negative
Instanz und als Antrieb zur Beseitigung des in ihr enthaltenen
Relativismus, von dem ja jede lebendige philosophische Arbeit aus
inneren Motiven wegstrebt. Auf unseren Fall angewendet, läßt sich
diese Entwicklung folgendermaßen kurz kennzeichnen: Es handelt
sich um die Wandlung von einer im historistisch-relativistischen Sinne
verstandenen Dialektik und Antinomik zu einer Auffassung und
zu einem Gebrauch derselben in einem logischen und logisch-konsti-
tutiven, d. h. kategorialen Sinne. Die Erkenntnis der von Dilthey
immer wieder formulierten und oft in ergreifender Nachdrücklichkeit
ausgesprochenen Divergenz zwischen der grundsätzlich aufrecht-
zuerhaltenden rationalen Form der Wissenschaft und der mit allen
Zügen der Individualität behafteten Irrationalität des Lebens bildet
eine entscheidende Voraussetzung für die Erneuerung der Dialektik
in der Gegenwart. Und wir haben weiter oben bereits versucht, zu
zeigen, inwiefern diese Art der Dialektik sich unterscheidet von den
früheren, sozusagen klassischen Formen.
2. Das Interesse am dialektischen Denken und die mehr oder
minder deutlich ausgeprägte Hinwendung zu ihm sind begreiflicher-
weise überhaupt jenen Forschern und Denkern eigen, die von den
Geisteswissenschaften herkommen, und deren Gedankenbildungdurch
diese Wissenschaften beeinflußt ist. Ich möchte in diesem Zusammen-
hang zunächst nun auf Ernst Troeltsch das Augenmerk lenken.
Bezeichnenderweise ist sein im Jahre 1922 erschienenes umfang-
reiches Werk ,,Der Historismus und seine Probleme“ außer Wilhelm
Windelband auch Wilhelm Dilthey gewidmet. Von diesem hat er
die historische Methode gelernt und übernommen, von der er im
Verlauf seiner geistigen Entwicklung und im Anschluß an den all-
gemeinen Wandel zur strengeren Systematik allerdings wegstrebte,
ohne diese Absicht planmäßig verwirklichen zu können. Dafür ist
sein nachgelassenes, von ihm aber noch wortwörtlich ausgearbeitetes
Werk ,,Der Historismus und seine Überwindung“ (1924) ein hin-
2. Die Wendung zur Dialektik
397
reichender Beleg. Von Dilthey abhängig ist er ferner in seiner außer-
ordentlichen, jedoch zum Relativismus führenden historistischen Ge-
rechtigkeit und Unvoreingenommenheit, die ihn davon abhielt, einem
einzelnen philosophischen Standpunkt oder System den vollständigen
Vorrang vor einem anderen zuzusprechen. Er hat es zwar als seine Auf-
gabe betrachtet, der „Anarchie der Systeme“ ein Ende zu bereiten,
wie er unter wörtlicher Bezugnahme auf Dilthey in seiner bekannten
Universitätsfestrede „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer
Dinge“ (1916) gesagt hat. Doch auch sein Schicksal war es und
mußte es sein, die angestrebte strenge und vereinheitlichend-kon-
struktive Systematik nicht zu erreichen. Die Wendung zum Absolu-
ten, auch die zur Anerkennung der Absolutheit des Begriffs floß
für ihn aus einer persönlichen Entscheidung, aus einer Tat des
Gewissens, dem die Verantwortung für diese Wendung übertragen
wurde, nicht jedoch aus einer rein logischen und konstruktiv-syste-
matischen Geisteshaltung. Wie jeden anderen Grundbegriff, so hat
er auch die Idee der Dialektik nicht abgelöst von den historischen und
psychologischen Umgrenzungen und Einschränkungen ihres Ent-
stehens. Er selber hat sich der Dialektik noch nicht im eigentlichen
Sinne als eines schöpferischen Denkinstrumentes bedient, auch keine
genauere Theorie derselben in Angriff genommen. Aber er liebte sie
und war, wo er sie bei anderen fand, ihr eifriger Freund und An-
erkenner. Daß er nicht entschlossenen Mutes den Schritt zur kate-
gorialen Verwendung der Dialektik tat, ist vielleicht der eigentliche
Grund dafür, daß ihm die Ausbildung einer eigenen Geschichts-
methodologie und Geschichtsphilosophie versagt blieb.
Immerhin hat er die Materialien angegeben, aus denen er seine
eigene Theorie glaubte dereinst aufbauen zu können (Der Historismus
und seine Probleme, S. 240 u. ö.). Und unter diesen Materialien
steht fast an erster, jedenfalls an sehr bevorzugter Stelle der durch-
aus dialektisch zu verstehende und zu gebrauchende Entwicklungs-
begriff, für den er eine entschiedene Vorliebe hegte. So stellt sein
letztes großes Werk in seinen Hauptzügen eine tiefschürfende kritische
Geschichte des historischen Entwicklungsbegriffs dar in Verbindung
mit der Frage, wie von diesem Begriff aus „das logische Problem der
Geschichtsphilosophie“ überhaupt zu formulieren und zu lösen sei.
Er hat geradezu erklärt, der historische, also dialektische „Entwick-
lungsbegriff hat eine universale und philosophische Bedeutung, die
immer wieder aus ihm hervorbrechen muß“. Wenn dieser Begriff
auch noch nichts über den Inhalt der historischen Ziel- und Sinnidee
398
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
besagt, so enthält er dennoch seinem Wesen nach im Prinzip „den
Ziel-, Sinn- und Maßstabsgedanken“. „Es ist daher möglich und
nötig, den Entwicklungsbegriff vereinzelt und für sich einer rein
logischen Untersuchung zu unterziehen, wo sich zeigen wird, daß
schon in den ersten und einfachsten logischen Voraussetzungen und
Anwendungen die Richtung auf den Gedanken einer universal-
historischen Entwicklung steckt“ (S. 656).
Und wie er diese Entwicklung im dialektischen Sinne auffaßte und
ihren Begriff für die Eigentümlichkeiten und Zwecke der Historik
dann als passend anerkannte, wenn er dialektisch verstanden wurde,
also in strenger Gegensätzlichkeit zu jeder eindeutig mechanistischen,
statischen, kausal-rationalistischen Auffassung des historischen
Geschehens, so war er auch darauf eingestellt und bedacht, diese
Dialektik bei den von ihm behandelten Denkern und Geschichts-
forschern zu unterstreichen und herauszuarbeiten. Er rühmt Hegels
Philosophie darum, weil sie auf Grund ihrer Dialektik „die erste
große Theorie der historischen Dynamik“ darstelle (S. 241). Denn
auf diese Weise gelinge es Hegel, die Pflicht jedes großen Historikers
und Geschichtsphilosophen zu erfüllen, nämlich den „Pulsschlag des
Lebens“ zu erlauschen. In ihr zittert dieser Pulsschlag, zittert seine
Rhythmik wieder. Er erblickt in dieser Dialektik „das Abstraktum
der historischen Bewegung an sich mit dem Versuch, daraus einen
festen logischen Begriff zu schaffen. Alles andere ist in Abwandlung
ihrer oder im Gegensatz zu ihr erwachsen, ohne daß sie dabei jemals
vollständig beseitigt worden wäre. Ihre Form ist zerbrochen, aber
ihre Motive leben fort.“ Sie äst also die philosophische Methode und
Formulierung für„das schon in derempirischen Forschungverborgene
logisch-dynamische Element“, dessen universale Bedeutung durch
sie und in ihr erfaßt und nutzbar gemacht wird. „An den Begriff
der historischen Dialektik ist daher alle Untersuchung über historische
Dynamik anzuknüpfen“ (S. 241—242). Nichts Geringeres leistet sie,
als daß sie den Gedanken der lebendigen Einheit des Geschehens ver-
bindet mit dem nicht minder wichtigen Gedanken der individuellen
Besonderheit realer und gegensätzlicher Gestaltungen. So ist erst
durch sie der Begriff des historischen Werdens in seiner Eigentüm-
lichkeit zu logischer Fassung gelangt (S. 246—247). „Denn das
Wesentliche in der Geschichte ist für ihr Verständnis das Gesetz
der Bewegung selbst, in dem Individuelles und Allgemeines an
jedem Punkt ursprünglich und konkret vereinigt ist und doch alles
einzelne aus der Bewegung hervorgeht und in die Bewegung zurück-
2. Die Wendung zur Dialektik 399
drängt, weil diese selbst das eigentliche Ganze und jeder Punkt nur
eine Wandlungsform des Ganzen ist“ (S. 248).
Immer wieder macht sich die außerordentlich hohe Wertschätzung
bemerkbar, die Troeltsch der Dialektik als der wichtigsten, ange-
messensten und fruchtbarsten Forschungsmethode und alshermeneu-
tisches Verfahren für die historische und geschichtsphilosophische
Forschung entgegenbringt. Er weist darauf hin, daß auch Hegels
Gegner, wie der katholische Theologe Kiefl, oft unbewußt nach dem
dialektischen Schema konstruieren und polemisieren. Die Natur
wissenschaftlichen Denkens zwinge sie dazu. Nach Troeltsch ist auch
Comtes Lehre von den drei Stadien nicht ohne dialektischen Einfluß
zustande gekommen. Dasselbe gelte in bezug auf ,,Spencers Evo-
lutionstheorie von der beständig gesteigerten Desintegration und
Integration innerhalb der agnostischen Substanzeinheit; nicht einmal
der historisierende Darwinismus mit seinen Gegensätzen von An-
passung und Ausmerzung kann sie ganz entbehren ... Auch die an
Schopenhauer anknüpfende Lebensphilosophie fällt schon bei ihrem
Urheber immer wieder auf dialektische Vortragsweise zurück. Bei
Nietzsche spielt sie eine entscheidende Rolle“ (S. 241 Anm.). Und
so ließen sich noch zahlreiche Fälle des Hinweises auf den Wert
der Dialektik und der Empfehlung dieses Wertes anführen.
Aus dieser Einstellung heraus wird es nun ganz verständlich,
daß Troeltsch die dialektische Denkweise gegen Mißverständnisse
und Vorwürfe verteidigte und in Schutz nahm. Er lehnt den Ein-
wand als unzutreffend ab, sie sei nichts als eine vorschnell verall-
gemeinernde und den Sachverhalt vergewaltigende künstliche, aber
leere Systematisiererei. Gewiß sei sie konstruktiv und verwende
„zum Zweck ihrer Konstruktion das Apriori der Dialektik“. Ihre
Apriorität bedeute ihre grundsätzliche Notwendigkeit als Ordnungs-
und Durchdringungsmittel für das empirische Material. Es handle
sich nicht um eine die Erfahrung vernachlässigende überspekulative
Deduktion aus irgendwelchen autonom aufgestellten Vorausset-
zungen, sondern sie sei nur der mit dem wagenden ,,Mut des Denkens“
erfaßte tatsächliche Hintergrund und Gehalt alles erfahrungsmäßigen
Denkens (S. 253). ,,Das dialektische Geschichtsbild ist Rekonstruk-
tion gegebener, anschaulicher und konkreter Materialien zu einem
Ganzen, nicht apriorische Deduktion des inhaltlichen Geschehens
und seiner Folgereihen aus der Idee ... Es kommt für Hegel nur
auf das gesunde und richtige Verhältnis der empirischen und kri-
tischen Forschung zur konstruierenden Darstellung an. Das aber
400
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
ist heute noch immer ebenso das Problem. Daß die erstere heute
unendlich erweitert ist und vielmehr aus dem lebendigen Andrang
politischer, sozialer und wirtschaftlicher Lebensfragen erwächst, als
für jene Generationen des deutschen Ancien-Regime möglich war,
das ist dabei eine Frage für sich“ (S. 254).
Ganz von der Seite der Hegelschen Dialektik aus versteht und
würdigt er auch die sogenannte materialistische Geschichtsphilo-
sophie von Karl Marx. Ihren materialistisch-ökonomischen Ein-
schlag beurteilt er geradezu als unerheblich; nur Marx’ „realistische
Dialektik“ verdiene Berücksichtigung (S. 321, 327 u. ö.). Ihr hoher
Wert bekunde sich in ihrer Tauglichkeit zur Erfassung der vollen
Unmittelbarkeit und sinnlichen Kraft des Lebens, wie auch ihre
Verwendung durch Ludwig Feuerbach beweise, der in der Dialektik
das trefflichste Gegenmittel gegen alle verschwimmende Romantik,
spekulative Übergeistigkeit, politischen Quietismus und gegen die
Hypostasierung von Begriffen erblicke (S. 322). Friedrich Engels
vollends wolle in seinem Anti-Dühring an die Stelle der verhaßten
mystisch-romantischen Spekulation, mit anderen Worten über-
haupt an die Stelle der überlebten und entbehrlich und nutzlos
gewordenen Philosophie die „realistisch verstandene Dialektik“
gesetzt sehen. Das „Kommunistische Manifest“ sei ganz und gar
auf dem Prinzip der Dialektik aufgebaut, dem Troeltsch in diesem Falle
sogar eine hinreißende Leistungsfähigkeit nachsagt (S. 328—329).
In Engels Schrift „Lage der arbeitenden Klassen“ erscheine der
Kommunismus als dialektische Lösung der Spannung von Bürger-
tum und Proletariat. Und wenn Troeltsch schließlich, um von
anderen Beispielen abzusehen, behauptet, auch das „Kapital“ von
Karl Marx sei sowohl seinem, dem modernen Menschen so be-
fremdlichen Einsatzpunkt als auch seinem ganzen Aufbau nach
nur von der Dialektik aus zu verstehen (S. 332, Anm.), so darf von
dieser betonten Hervorhebung der dialektischen Betrachtungs-
weise bei anderen Denkern auf die eigene starke Neigung zu diesem
Verfahren und auf sein Vertrauen zu dessen wissenschaftlicher
Geltung geschlossen werden. Nur der Umstand dieser Hervor-
hebung und seine Kennzeichnung interessieren uns hier, nicht jedoch
die auch von Troeltsch natürlich berücksichtigten Abweichungen der
Marxistischen von der Hegelschen Dialektik.
Wir stehen aber jetzt vor der Frage nach den Gründen für
Troeltschs hervorstechende Vorliebe für das dialektische Verfahren.
Zwei Gründe sind in der Hauptsache dafür maßgebend. Erstens
2. Die Wendung zur Dialektik
401
schien die Dialektik ihm die Möglichkeit für ein angemessenes be-
griffliches Erfassen des Momentes des Werdens zu bieten, d. h.
des eigentümlichen geschichtlichen Werdens, an das, wie Troeltsch
mit geflissentlicher Wiederholung immer aufs neue hervorhob,
mit keinem Kausalitätsbegriff heranzukommen ist (z. B. S. 247
u. ö.). Zweitens glaubte er, in der Dialektik das unaufgebbare
Recht des Individualitätsbegriffs ganz und gar gewahrt und den
historischen Eigengehalt dieses Begriffes, seine Autonomie gegenüber
allem nivellierenden, rein quantitativ gerichteten und verallge-
meinernden naturwissenschaftlichen Mechanismus gesichert zu sehen.
Die Dialektik kennt, so drückt er sich aus, „das Allgemeine über-
haupt nur in individuellen Besonderungen“; durch sie ist es möglich,
„jeden Umkreis solcher Besonderungen auf sein individuelles
Prinzip und Strukturgesetz, auf seine Gesamtphysiognomie und
seine besondere Bewegungsart zu analysieren“ (S. 331; vgl. auch
S. 246, 247).
3. Die Betonung des Individualitätsbegriffes sowie diejenige der
Fähigkeit gerade der Dialektik zur Wahrung dieses Begriffes und
seiner Einbeziehung in den Erkenntnis- bzw. Verstehenszusammen-
hang legt die Frage nahe, wie sich die süd-westdeutsche Schule
zur Dialektik verhält. Denn Heinrich Rickerts Werke zur Grund-
legung der historischen Wissenschaften und zur Klarstellung der
kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung dienen der Aufgabe, die
Unentbehrlichkeit und die logische Eigengeltung des Individualitäts-
begriffes für die Erkenntnis und den gedanklichen Aufbau der ge-
schichtlichen Welt darzutun. Da darf nun zunächst darauf hin-
gewiesen werden, daß Jonas Cohn, der jener Schule zuzurechnen
ist, eine eindringende „Theorie der Dialektik“ veröffentlicht hat.
Diese Theorie der Dialektik ist ihm nichts mehr und nichts weniger
als geradezu eine „Formenlehre der Philosophie“ und das dialek-
tische Denken der Weg und das Mittel, um der Philosophie zur
Selbstbesinnung, zur Erfassung ihres Wesens und Begriffes zu ver-
helfen (S. 3). Deshalb liege bereits in dem Gange des dialektischen
Denkens selber eine grundsätzliche und wesentliche Erkenntnis (S. 316
u. ö.). In ihm wird sowohl das Subjekt der Philosophie, d. h. das Ich oder
der denkende Geist, als auch ihr Objekt, d. h. der Begriff des Ganzen,
der einheitlichen Ganzheit als des substantiellen Grundes aller Ob-
jekte, entwickelt. Indem diese philosophischen Grundbestimmungen
und Grundwerte sich nach Jonas Cohn in ihren dialektischen Selbst-
entfaltungen erfassen und ihren Inhalt ausdrücken, besteht für ihn
Liebert, Dialektik. 26
402
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
das Wesen der Philosophie überhaupt in dem Prozeß der dialek-
tischen Bewegung, und der Übergang von den Einzelwissenschaften
zur Philosophie ist der Übergang vom undialektischen zum dialek-
tischen Denken (S. 102 u. ö.). Am unmittelbarsten und zwingend-
sten offenbart sich die dialektische Struktur des denkenden Geistes,
abgesehen von der Entgegensetzung des Selbstbewußtseins und des
Bewußtseins, an den Eigenschaften des logischen Grundgebildes,
nämlich des Urteils. Denn seine eigentliche Aufgabe bestehe in der
auf der antinomischen Voraussetzung beruhenden „Rationierung des
Irrationalen“ (S. 151—152). Die „Wahrheit“ des Urteils aber „haftet
an der Einheit beider, so daß das Denkfremde Wertträger des Wahr-
heitswertes ebenso ist wie die Denkform. Denkfremdes und Denkform
sind nie ohne einen Anteil des Gegengliedes im Denken möglich“
(S. 152). Was dagegen das Objekt betrifft, so liegt der Ursprung
seiner Dialektik zunächst darin, daß das Objekt seinem Begriff und
Sinn nach den unaufhebbaren „Gegenwurf“ zum Ich darstellt, daß
es dasjenige ist, „was sich der Herrschaft der Denkform gegenüber
sträubt“ (S. 168; auch 292 u. ö.). Doch abgesehen von der dialek-
tischen Beziehung des Objektes auf das Subjekt sind auch für die
Konstituierung des Objektes selber Aufstellung und Entwicklung
dialektischer Verhältnispaare unvermeidlich, wie die immer wieder
notwendige Gegenüberstellung von Stetigkeit und Werden bezeuge
(S. 168ff.). Die Dialektik des Objektes bekundet sich am unzwei-
deutigsten aber an dem so wichtigen Begriff des Lebens. Jede
strengere Zergliederung dieses Begriffes läßt es als ausgeschlossen
erscheinen, ihn ausschließlich und einseitig mit dem Gedanken
des Werdens zu verbinden und dieses Werden als absolut zu setzen,
ohne ihn mit dem ihm entgegengesetzten Gedanken des Seins in
innerlichen Zusammenhang zu bringen und umgekehrt (S. 173ff.).
Aus allen diesen Überlegungen ergibt sich als abschließende und
zusammenfassende Erkenntnis die Einsicht, daß auch die Philosophie
selber, d. h. die Philosophie als System, das Gepräge der Dialektik
trägt, wie denn eben in dem Wechselverhältnis zwischen Dialektik
und System eine unvermeidliche, untilgbare, konstruktive und kon-
stitutive Dialektik wirksam ist. „In der Zusammenstellung von
Dialektik und System liegt ein Widerspruch. Das System ordnet
feste Gebilde; die Dialektik läßt das Feste ,zu Geist verrinnen'.
Aber der dialektische Gedankengang ist nicht nur selbst ein System
von Urteilen, sondern er bedarf des Festen, um es zu Geist verrinnen
zu lassen ... Dialektik ist so systematische Auflösung des
2. Die Wendung zur Dialektik
403
Systems; sie ist das einzige Mittel, das Lebendig-Bewegliche als
System zu begreifen. Aber sie ist mehr als Mittel — sie ist Form des
Erkennens, tritt in die Stellung der Kategorie, nicht nur der Methode.
Sie ist Kategorie des gleichstellenden Erkennens, des Erkennens, in dem
der Geist sich selbst und das ihm Gleiche erkennt, des philosophi-
schen. Gerade diese zugleich objektive und subjektive Bedeutung
teilt die Dialektik mit dem System“ (S. 316).
4. In gewissen Beziehungen berührt sich mit Jonas Cohn das
Werk des Benno Erdmann-Schülers Paul Hofmann, „Die anti-
thetische Struktur des Bewußtseins“, das aber bereits 1914 er-
schienen ist. Jede Psychologie und Phänomenologie des Bewußt-
seins, eine Aufgabe, die Hofmann sich stellt, wird immer zu der
Einsicht führen, daß zu den Struktureigentümlichkeiten der allge-
meinen geistigen Organisation des Menschen charakteristische Gegen-
sätzlichkeiten unabtrennbar gehören. Und so stark Hofmanns
Untersuchungen auch darauf gerichtet sind, die Widersprüche inner-
halb des Bewußtseinsinhaltes durch die Gemeinsamkeit ihrer Be-
ziehung auf die Einheit und Identität des Ich, das er im Sinne der
Identität der geistigen Substanz verstanden wissen will (S, 409 u. ö.),
zu versöhnen, so kann er trotz des harmonistisch-monistischen Grund-
zuges doch nicht umhin, den Postulaten der Dauer und der Daseins-
gemeinschaft diejenigen des Wechsels und der Daseinsverschiedenheit
nebenzuordnen. Jede Gegebenheit sei von fremdem Dasein einge-
schlossen, und es muß Mannigfaltigkeit gegeben sein, um Unterschei-
dung und Bewußtsein als möglich denken zu lassen. So kann z. B. von
einer bestimmten zeitlichen Beziehung nur im Gegensatz zu anderen
zeitlichen Beziehungen die Rede sein. „Soll also Zeit irgendwo ge-
geben sein, so muß eine unterscheidbare Mannigfaltigkeit in ihr sein,
und da Bestimmtheit der zeitlichen Beziehung eines Gegebenen zur
Gegenwart dasselbe zu einem Realen macht, so muß alles in der
Zeit Reale von anderem in der Zeit anders bestimmten Realen ver-
schieden sein ... Dasselbe gilt mutatis mutandis von den in der
Gegenwart realen räumlichen Gegebenheiten: auch diese sind ihrem
räumlichen Dasein nach nur dadurch bestimmt, daß anderes von
ihnen Verschiedenes sie umgibt" (S. 236ff.).
5. Wie aber steht, so fragen wir nach diesem Hinweis auf Paul
Hofmann, der Hauptvertreter der süd-westdeutschen Schule, wie
steht Heinrich Rickert zum Problem der Dialektik? Ist es nicht
von Anfang an wahrscheinlich, daß er ihr als Methode freundliches
Interesse und Sympathie entgegenbringen muß? Denn wer die
26*
404
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Dynamik des geschichtlichen Lebens und ihre Spiegelung in den
Werken der Geschichtsforscher verstehen will, ist der nicht ver-
pflichtet, den Wert dieser dynamischen Methode anzuerkennen, die
wie der begriffliche Abdruck der an Verschlingungen reichen Be-
wegtheit der Geschichte anmutet? Sieht es nicht so aus, als ob das
Leben der Geschichte seine Individuen und Organisationen nur
hervorbringt, um sie in dem unendlichen Fluß der Entwicklung
wieder ,,aufzuheben“, sie in ihn wieder zurückzunehmen? Und
entspricht ihm hierin die dialektische Methode nicht auf das ge-
naueste? Jede einzelne Setzung in ihr tritt nur auf Grund und
innerhalb des einheitlichen Gesamtprozesses des Denkens hervor,
von ihm gehalten und bestimmt und in ihn wieder zurücktauchend.
Und doch ist dieser einheitliche Gesamtprozeß nur greifbar, und er
gewinnt und beweist sein konkretes Dasein nur in dem Antagonis-
mus seiner einzelnen Setzungen, so daß auch hier die alte Lehre
ihre Richtigkeit zeigt, daß das Allgemeine des Individuellen bedarf,
um zu sich selbst zu kommen. Aber gleicht jener Prozeß nicht
gerade eben hierin dem allgemeinen Strom des geschichtlichen
Lebens, der ohne seine konkreten Schöpfungen und Taten zu einem
wesenlosen Schemen verblassen würde?
Zwar behauptet Jonas Cohn von Heinrich Rickert, daß dieser
undialektisch denke. Und weil dem so sei, liefere Rickert den in-
direkten Beweis dafür, daß für die Philosophie eine undialektische
Konstruktion nicht ausreiche. Nur seinem Begriff der Heterothesis
eigene ein dialektischer Zug insofern, als in ihm der Gedanke zum
Ausdruck gebracht werden soll, daß „bei jedem Schritt des Denkens
Neues, seinem Ursprünge nach Denkfremdes aufgenommen werden
muß“ (S. 51). Aber Rickerts Denken ist meiner Ansicht nach von
dialektischen Momenten doch tiefer erfüllt als Jonas Cohn zugibt.
Ja, es erscheint mir in seiner prinzipiellen Struktur überhaupt an
dem Gesichtspunkt der Dialektik orientiert zu sein, so daß Rickert
seine ein wenig zu heftige Ablehnung der Dialektik (in dem Buche
„Kant als Philosoph der modernen Kultur“ S. 214) durch seine
eigene Tat — und zwar zu seinem Vorteil — widerlegt. Dafür spricht
zunächst seine immer wiederbetonte Gegnerschaft gegen den absoluten
Logismus und Rationalismus, wie ihn etwa die ältere Richtung des
Marburger Neukantianismus vertrete. Dieser absolute Logismus ver-
sucht, die konkrete Fülle und Vielgestaltigkeit des Erfahrungsstoffes
völlig aufzusaugen, die Verschiedenartigkeit zwischen dem letzteren
und den reinen kategorialen Formen gänzlich zugunsten dieser Formen
2. Die Wendung zur Dialektik
405
zu überwinden und so einen durchaus undialektischen Monismus der
Erkenntnis zu gewinnen. Nach Rickert jedoch ist besonders in allem
geschichtlichen Erkennen durch die notwendige Einbeziehung des
Begriffs des Einmaligen und des individuellen Lebens ein autonomes
Moment enthalten, das sich in die logisch allgemeinen, generali-
sierenden bzw. generalisierten Denkzusammenhänge nicht auflösen
läßt. Gerade weil es bei ihm nicht ganz deutlich wird, wie denn
jenes Singulare durch die allgemeinen Erkenntnisformen gepackt und
begrifflich bewältigt wird, weil auch bei ihm ohne Zweifel eine Kluft
zwischen der kategorialen Allgemeinheit der Begriffsform und der
Besonderheit des von ihr gemeinten und umschlossenen historischen
Inhaltes vorhanden bleibt und bleiben muß, so ist in jener Gegen-
sätzlichkeit eine charakteristische Dialektik gegeben. Unzählige
Male behauptet und betont er die Unmöglichkeit und Sinnwidrig-
keit der Rationalisierung des irrationalen Inhaltes, dessen Irrationa-
lität diejenige des Lebens ist. Und wenn nach Rickerts nachdrück-
lichen Betonungen auch das Leben, um zu wissenschaftlicher Er-
fassung gebracht zu werden, auf das System der Erkenntnis bezogen
werden muß, so kann diese Beziehung dennoch die eigentümliche
Autonomie des Lebens nicht vernichten. Wir könnten und dürften
in der wissenschaftlichen Philosophie die Idee des logisch zu ver-
stehenden Systems als Grundvoraussetzung erkenntnismäßiger
Geisteshaltung nicht preisgeben. Aber ebenso sei es ein Ding der
Unmöglichkeit, das geschichtliche Leben ganz der Logik und Sy-
stematik auszuliefern und somit die dialektische Dualität zwischen
Erkennen und Leben zu übersehen.
Wohl hat Rickert in seinem Buche „Die Philosophie des Lebens“ ver-
sucht,eine scharfeAbrechnung mit derLebensphilosophie vorzunehmen
und die unwissenschaftliche Haltung der letzteren darzutun.
Er ist darum ihr erklärter Feind, weil sie auf Grund ihrer
Neigung zur Intuition jeder klaren Begriffsbildung und Methodik
bar sei und niemals zu der von der Philosophie zu fordernden Sy-
stematik vor- und durchdringen könne. Leben und Erleben seien
keine für den Aufbau einer solchen Systematik brauchbaren und
logisch gültigen Begriffe. Dennoch: Auch Rickert kann nicht um-
hin, bei der gerade für ihn als Geschichtsphilosophen und Ge-
schichtsmethodologen notwendigen und entscheidenden Auseinan-
dersetzung mit dem Problem des Lebens und bei der Erörte-
rung des Lebensbegriffes eine tiefe, alle Kulturgebiete durch-
ziehende Dialektik und Antithetik anzuerkennen und auf diese
406 VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Weise der Lebensphilosophie ein nicht geringes Maß an Berechti-
gung einzuräumen.
Nach zwei Richtungen zeigt er sich als ein Vertreter der Dialektik.
Einmal handelt es sich um eine sozusagen wissenschaftstheoretische
Antinomie, um die Einsicht in die ewige Gegensätzlichkeit zwischen
Denken und Leben. Die Kluft zwischen ihnen werde sich niemals
schließen, wie Rickert oft und nachdrücklich bemerkt (S. 181 u. ö.).
Die Philosophie „muß genau über das Bescheid wissen, was sie
nicht vermag“, nämlich „daß es nicht ihre Aufgabe sein kann, die
lebendigen Ströme selber in ihre Begriffe einzufangen“ (S. 183).
Die konkrete lebendige Fülle des Wirklichen bilde die Grenze für
jede Theorie und für jeden, der wirklich und ernsthaft Wissenschaft
treibt. Zwar wird die Philosophie „niemals auf die Herrschaft des
Logischen und Rationalen über die Welt verzichten“, d. h. sie wird
„stets versuchen, alles unter Begriffe zu bringen, denn ein anderes
Mittel, die Welt zu erkennen, steht ihr nicht zur Verfügung“ (S. 176).
Andererseits ist es ein schwerer Fehler des Rationalismus und In-
tellektualismus, wenn er glaubt, die lebendige Wirklichkeit restlos
unter seine Begriffe bringen zu können. Er ist dann nicht minder
einseitig als der Antirationalismus und Antilogismus der modernen
Lebensphilosophie, die nur das Leben als schöpferische Quelle kennt
und ihr alles Denken und Erkennen unterordnet. Aber die Lebens-
philosophie mahnt uns, auch in der Philosophie das Leben nicht zu
vergessen. Wo „das Streben nach rationaler, wissenschaftlicher Auf-
fassung des Ganzen dazu führt, das All der Welt in eine bloß rationale,
bloß wissenschaftliche Welt zu verwandeln, da hat der Hinweis auf
das lebendige Leben, das stets irrational und, wenn man will, über-
verständig ist, in der Tat unantastbare Bedeutung“ (S. 176). So
kann sich eine Geschichts- und Lebensphilosophie weder auf dem
einseitigen Monismus des Panlogismus und Rationalismus noch auf
dem nicht minder einseitigen Monismus des Vitalismus und Bio-
logismus aufbauen. „Nur wer verstanden hat, daß das Leben des
Lebens und das Erkennen des Lebens auseinanderfallen, kann ein
Philosoph des Lebens werden, der sowohl das Leben liebt als auch
über das Leben nachdenkt“ (S. 194). Diese Ausführungen müssen
als unausbleibliche Folge die Einsicht zeitigen, daß jede wirklich
umfassende Philosophie des Lebens und der Geschichte ihre Auf-
gabe nur bei der Anerkennung der korrelativen Verschiedenartigkeit
von Erkennen und Leben lösen und den an sie zu stellenden systema-
tischen Ansprüchen nur dann gerecht werden kann, wenn sie jenem
2. Die Wendung zur Dialektik
407
dialektischen Korrelationsverhältnis eine konstitutive und kate-
goriale Bedeutung beimißt und es in diesem Sinne auch anwendet.
„Muß es in der Philosophie“, so fragt Rickert, „denn immer auf
ein Entweder-Oder hinauskommen?“ (S. 169.)
Die andere Form der Antinomie und Dialektik, gleichsam ihre
praktische, bei jeder tieferen Mitarbeit an der Geschichte sich immer
wieder zeigende Form, prägt sich aus in dem von Rickert durch
zahlreiche Beispiele belegten „Antagonismus von Leben und Kultur“
(S. 168). Diese Antinomik beruht auf der unüberbrückbaren Un-
zulänglichkeit des bloßen, im biologischen Sinne verstandenen Le-
bens als solchen denjenigen Forderungen gegenüber, die mit dem Be-
griff der Kultur unabtrennbar verbunden sind. Denn der Begriff der
Kultur ist ein Wertbegriff. Deshalb kann keinerlei Biologismus oder
Vitalismus die Begründung oder den systematischen Aufbau der
Kulturphilosophie auch nur in Angriff nehmen. Sein naturalistischer
Monismus macht ihn dazu völlig unzureichend; er erstreckt sich
seiner methodischen Geltung und seiner ganzen begrifflichen In-
tention und Tendenz nach nur auf die empirische Sphäre des Lebens,
während es die Eigentümlichkeit der Idee der Kultur ist, sich auf
eine sinnhafte, normative, ideale Sphäre zu beziehen und diese
autonom abzugrenzen. Außer der bereits erwähnten theoretischen
Antinomie und Dialektik hebt Rickert vor allem eine unüberbrück-
bare ästhetische und eine nicht weniger unüberbrückbare ethische
und religiöse Antinomie hervor. „Alles an einem Kunstwerk, was
daran zur Kunst gehört, bleibt von der Wirklichkeit des vitalen
Lebens so weit getrennt, daß es überhaupt nicht mehr als ,Wirk-
lichkeit* bezeichnet werden kann, falls wir unter diesem Wort die
in der Zeit ablaufende und im Raum ausgedehnte psychophysische
Realität verstehen, zu der die Lebewesen gehören“ (S. 160). Der
spezifisch ästhetische Reiz und Wert entsteht erst in einem deut-
lichen Abstand von dem bloßen Leben der Wirklichkeit und von
der bloßen Wirklichkeit des Lebens. Deshalb ist auch jeder Ver-
such einer biologischen Begründung der Kunst und der Ästhetik ein
aussichtsloses, ein im Prinzip unmögliches und sinnloses Unter-
nehmen. Eine wahrhaft ästhetische Kultur gewinnt erst dann ihre
Möglichkeit und ihr Daseinsrecht, wenn über dem gewöhnlichen Leben
eine neue, eine andere Welt erbaut wird, in der sich ein völlig anderes
Lebensprinzip als das biologische auswirkt (S. 161 f.). Nicht minder
streng sind auch die ethischen Werte von den Lebenswerten zu
unterscheiden. Der biologische Trieb, und mag es sich um den
408 VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
stärksten und für das animalische Leben wesentlichen handeln, ist
und bleibt ethisch völlig indifferent. Das ethische Leben aber bewegt
und betätigt sich in einer Zone ideeller Normativität; das bloi
vitale Leben kann uns für unser Wollen und unser Handeln solche
Normen niemals geben. Auch auf dem entscheidenden Gebiet des Ethi-
schen ist die Spannung zwischen dem, was wir als sinnliche Menschen
wollen und tun, und dem, was wir als sittliche Persönlichkeiten
sollen, nicht durch irgendeine Harmonisierung zu beseitigen (S. 162
bis 166). Wie stark in diesen Gedanken kantische und fichtesche
Einflüsse sich bekunden, braucht kaum besonders erwähnt zu werden.
Und schließlich ist auch der unaufhebbare Antagonismus zwischen
den sogenannten Lebenswerten und den religiösen Werten, zwischen
Leben und Gott keinen Augenblick zu verkennen oder zu über-
sehen. An die restlose Auflösung dieses Dualismus ,,im Sinne eines
religiösen ,Monismus* der Lebendigkeit wird man nur glauben, wo
man sich auf Schwärmen und Fühlen beschränkt oder es mit vollem
Bewußtsein ablehnt, in seinen Glauben begriffliche Klarheit zu
bringen“ (S. 167). In der Religion zerreißt der Mensch seine Ver-
kettung nicht nur mit allem natürlichen Leben, sondern er stößt
auch alles Kulturleben von sich ab. Für sie ist der Gegensatz zwi-
schen allem diesseitigen und dem „ewigen“ Leben schlechthin grund-
legend (S. 167).
So ist das Ganze der Welt von einem höchstgespannten dialekti-
schen Dualismus durchsetzt. Seine Anerkennung ist für Rickerts Welt-
anschauung und Metaphysik charakteristisch und maßgebend. In
unmißverständlicher Weise faßt er seine Überzeugung in einer For-
mulierung zusammen, die, wie wir sogleich sehen werden, sehr stark
an den Standpunkt Georg Simmels erinnert. Er stimmt mit
Simmel sogar überein in der Kennzeichnung und der begrifflichen
Verdeutlichung dieses Standpunktes. Die Möglichkeit des biologi-
schen Lebens hängt nämlich ab von der Möglichkeit eines formal und
sinnhaft höheren Lebens, das dem biologischen übergeordnet ist.
Umgekehrt ist jenes Mehr-als-Leben — so lautet der von Simmel
geprägte und von Rickert übernommene Ausdruck — nur möglich,
„wenn wir daneben das bloße Leben in seiner Selbständigkeit un-
angetastet lassen. Dann müßten wir sagen: das Leben ist der eine
Teil der Welt, das überlebendige Mehr-als-Leben der andere Teil. Erst
beide zusammen machen die ganze Welt aus, und es bedeutet gerade
für den wissenschaftlichen Menschen ein vergebliches und sinnloses
Beginnen, aus den beiden Begriffen, die sich dann allein denken
2. Die Wendung zur Dialektik
409
lassen, wenn es zwei Begriffe sind, einen Begriff zu machen, der
alles umfassen soll, und der, gerade weil er das soll, nichts mehr
umfaßt“ (S. 171). In diesen Schlußworten gelangt mit der folge-
richtigen Aufrechterhaltung der dialektisch-dualistischen Grund-
konzeption auch der Abstand von Hegels harmonisierender Dialektik,
in der sich ein ganz anderes Prinzip der Synthese auswirkt, zu klarem
Ausdruck. Ich möchte beinahe sagen: Die dauernde Anerkennung
und Bewahrung dieses dialektisch-dualistischen Gesichtspunktes als
Methode und als heuristische Maxime ist der spezifisch moderne
und aktuelle Zug in Rickerts Philosophie. Er entspricht einem
Weltgefühl und einer Weltanschauung, für die ein allseitig ver-
zweigter, immer wieder auftretender Dualismus und ein tiefes
Sehnen und Streben nach der Gewißheit einer substantiellen Einheit
ungleich charakteristischer sind als der dogmatische Besitz einer
solchen. Er entspricht auch der schweren Tragik, die der Stimmung
und Gesinnung der Gegenwart ihr unverkennbares Gepräge verleiht.
Das ist die Stimmung der Unerlöstheit; sie hat in jenem dialektischen
Dualismus ihr Spiegelbild, ihren begrifflichen Abdruck und Aus-
druck. Ein entschiedener Schritt nach vorwärts wäre nun die An-
setzung der Dialektik im Sinne einer restlos konstruktiven Systema-
tik. Diese dialektische Dynamik würde sowohl die Instanz des
Lebens als auch die der wissenschaftlichen Erkenntnis zu ihrem
Rechte gelangen lassen.
b) Von der Metaphysik und Theologie aus.
In dem Schlußteil der Rickert gewidmeten Ausführungen ist nun
bereits auf eine aus metaphysischen und spekulativen Erwägungen
erwachsene bzw. erwachsende Dialektik hingewiesen worden. Das
heißt: Wir haben uns einer Überzeugung genähert, nach der der
Weltgrund selber dialektischer und dualistischer Natur ist. Wie die
Dialektik als Methode in einem strikten Gegensatz zu allem ein-
seitigen monistischen Rationalismus steht, indem sie auf das Moment
des Lebens, des Individuellen und des Irrationalen Bedacht zu nehmen
bestrebt ist, so steht diese dialektische Metaphysik gleichfalls in
einem ausgesprochenen Gegensatz zu jeder Art monistischer Meta-
physik. Mag das diejenige Spinozas oder sogar die Hegels sein. Denn
Hegel treibt die Dialektik nicht so weit, nicht so tief vor, daß auch
das Absolute an ihr Teil hätte. Dieses bleibt bei ihm trotz aller
Dialektik in seiner Evolution seinem Wesen nach gegen alle dialektische
410
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Aufreißung gefeit. Die bruchfeste Harmonie seines Wesens ist ja
auch der Grund dafür, daß schließlich die dialektische Ausbreitung
ihre Auflösung in einer, alle Unruhe und Bewegtheit überwindenden
Synthese erreicht.
1. Diese Unruhe und Bewegtheit wird nun in die schöpferische
Lebenssubstanz hineinverlegt von Georg Simmel. Wir stehen
damit vor dem zweiten Motiv für die Wendung zur Dialektik,
die die Kennzeichen einer rein metaphysischen Konstruktion
trägt. Und die Erneuerung der Metaphysik in der Gegenwart knüpft
in der Mehrzahl der Fälle an eine im metaphysischen Sinne verstan-
dene Dialektik an, die die Ursubstanz selber von einem Antagonismus
von Tendenzen, z. B. von der Diskrepanz zwischen Sein und Sollen,
zwischen einem biologisch-naturalistischen und einem ideell-norma-
tiven Zug erfüllt und beherrscht sein läßt.
Simmels geistige Entwicklung ist in ihrer Grundverfassung be-
stimmt durch den Wandel von dem Standpunkt einer vornehmlich
biologistisch und naturalistisch gerichteten Dialektik, der ein Ein-
schlag relativistischer Dialektik nicht fehlte, zu dem einer vornehmlich
realistisch-metaphysischen und systematisch-konstruktiven Dialek-
tik. Diese Bewegung wird mit wünschenswerter Klarheit an der
Abwandlung des Simmelschen Lebensbegriffes kenntlich. Simmel ge-
hörte immer dem Kreise der sogenannten Lebensphilosophen an. Aber
keineswegs beharrte er dauernd bei derselben Auffassung jenes Be-
griffes. Eine seiner ersten philosophischen Arbeiten ist eine nicht
sehr umfangreiche erkenntnistheoretische Untersuchung mit dem
Titel „Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnis-
theorie“ (Archiv f. System. Philosophie 1, 1895). In ihr unternimmt
er den Versuch, die Formen, Gesetze, Ziele des Erkennens, überhaupt
dessen ganzes Wesen und ganzen Wert als abhängig von den biologi-
schen Interessen des Lebens und des Willens zur Macht und zum
Erfolg darzustellen. Sie zeigt einen starken Einfluß einerseits von
Nietzsche, andererseits von dem damals auch in Deutschland bekannt
werdenden englisch-amerikanischen Instrumentalismus und Pragma-
tismus von Dewey und William James. Und nun läßt sich eine
von gelegentlichen Umkippungen, die mit Simmels außerordentlicher
intellektueller Sensibilität und Aufnahmebereitschaft in Zusammen-
hang stehen, nicht freie Entwicklung in der Umformung des Lebens-
begriffes nach der metaphysischen Richtung hin verfolgen. Auch
Simmel entfernt sich mehr und mehr von dem — in philosophischer
Hinsicht ebenso naiven wie unzulänglichen — Biologismus, dessen
2. Die Wendung zur Dialektik
411
Ansehen sich seit der Jahrhundertwende, d. h. seit der Erneuerung
der Philosophie und ihrer Wendung zur Systematik begreiflicherweise
zusehends vermindert. Die ausgesprochen metaphysische Fassung
des Lebensbegriffes ist dann in Simmels letztem Werk ,,Lebens-
anschauung“ gewonnen, das den bezeichnenden Untertitel trägt:
Vier metaphysische Kapitel. Wie das Ganze des Buches, so ist auch
jede seiner Zeilen aufgebaut auf einer nach allen Seiten hin durch-
geführten,alle Kulturgebiete berücksichtigenden dialektischen Grund-
konzeption des Lebensbegriffes, die ich hier nur in ihrer prinzipiellen,
kategorialen Struktur ans Licht heben möchte, ohne auf Einzelheiten
einzugehen.
Der Ansatz- und Wurzelpunkt ist eine dialektisch-dualistische
Deutung des Lebensgrundes und der Weltstellung des Menschen.
Wir befinden uns innerhalb jeder Beschaffenheit und Lage in jedem
Augenblick zwischen zwei Grenzen. Gehalt und Wert unseres Lebens
ermangeln einer einheitlich-eindeutigen Tendenz, so daß wir ihm
auch niemals mit einem einheitlichen Werturteil gerecht zu werden
vermögen. „Wir orientieren uns dauernd, wenn auch nicht mit
abstrakten Begriffen, an einem Über-uns und einem Unter-uns,
einem Rechts und Links, einem Mehr oder Minder, einem Fester
oder Lockerer, einem Besser oder Schlechter... jeder Lebensinhalt
hat an jeder dieser beiden Reihenrichtungen teil“ (S. 1). Jede Fest-
legung unterliegt einer Verschiebung, jede Schranke wird gesprengt,
und dabei werden doch immer neue Festlegungen gewünscht und
gewonnen und neue Grenzen gesteckt. Doch jede von ihnen wird
prinzipiell verändert, überlangt, umgriffen: der in sich einheitliche
Lebensakt erfährt ununterbrochen eine Auseinanderlegung. Ein be-
zeichnender Fall ist der Spannungszustand zwischen dem Wissen
und dem Nichtwissen um die Folgen unserer Handlungen. Deshalb
gilt Platos Definition des Philosophen, dem es eigen sei, zwischen dem
Wissenden und dem Nichtwissenden zu stehen, für den Menschen über-
haupt. Diese Paradoxie unseres Wesens und Wertes und alles
Lebens schlechthin, die, mit anderen Worten, darin sich ausdrückt,
daß wir uns immer in einer bestimmten Lebensstufe und in einem
bestimmten Verhalten befinden und doch über sie immer wieder
hinausschreiten, ferner daß wir diesen Umstand als Einseitigkeit
wissen, ohne daß wir darum aufhörten, an ihr teilzuhaben, nennt
Simmel die Selbsttranszendenz des Lebens (S. 6). Das Leben
steht stets diesseits in sich selbst und jenseits von sich selbst;
es steht stets diesseits von sich selbst und jenseits in sich selbst. Seine
412
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Gegenwart besteht darin, daß es seine Gegenwart transzendiert. Wir
leben dauernd in einem Grenzbezirk, der der Zukunft so angehört
wie die Zukunft, ja, wir sind im Grunde selber diese fluktuierende
Grenze. „Dieses Hinausgreifen des aktuellen Lebens in dasjenige,
was nicht seine Aktualität ist, so aber, daß dieses Hinausgreifen
dennoch seine Aktualität ausmacht, ist nichts, was zum Leben erst
hinzukäme, sondern dieses, wie es in Wachstum und Zeugung und
in den geistigen Prozessen sich vollzieht, ist das Wesen des Lebens
selbst“ (S. 12). Den Grund aber für diese Unruhe und für diese
dialektische Transzendenz des Lebens bildet ein eigentlich antino-
misches Verhältnis, das wir so aussprechen können: Das Leben ist
grenzenloses kontinuierliches Strömen durch die Geschlechterfolgen
hindurch und zugleich ist es grenzbestimmtes Ich. Darin prägt sich
seine letzte metaphysische Problematik aus (S. 12).
Der Ausdruck: Transzendenz des Lebens ist aber ein unvoll-
kommenes, ja in gewissem Sinne irreführendes Symbol, da er zu
der Vorstellung verleiten könnte, daß es sich doch um eine einheit-
liche Funktion handle, die dasjenige als ein Leben aktualisiere,
was dann erst später und hinterherkommend durch Gefühle, Schick-
sale, Begrifflichkeit in den Dualismus von kontinuierlicher Lebens-
strömung und individuell geschlossener Form gespalten wird. Der
absolute Begriff des Lebens bedeutet, daß das Leben zugleich es
selbst und mehr als es selbst ist. In dieser Paradoxie besteht und
bewährt sich gerade das, was gewöhnlich als seine Einheit bezeichnet
und anerkannt wird. Diese Transzendenz seiner selbst als der ein-
heitliche Akt des Aufbauens und Durchbrechens seiner Schranken,
seines Andern: das ist der Charakter seiner Absolutheit. In Schopen-
hauers Begriff des Willens zum Leben ist mehr die grenzenfreie
Kontinuität, in Nietzsches Begriff des Willens zur Macht ist mehr
die Individualität in ihrer Formumschriebenheit als das Entschei-
dende gefühlt und betont. Simmel hingegen hebt die absolute
Einheit von beidem als das das Leben Ausmachende hervor, und
zwar für alle Dimensionen der Lebensbewegung. Damit gelangen
wir zu Simmels eindrucksvoller, geistreicher und bekannt gewor-
dener Definition: Das Leben ist Mehr-Leben und es ist Mehr-als-
Leben (S. 20 u. ö.; vgl. auch S. 27). Sein Positiv ist als solcher
bereits sein Komparativ. In dieser Formulierung stecken logische
Schwierigkeiten, besonders wenn man an den Satz der Identität
denkt. Aber wir haben mit jenen Gedanken, bei vollem Wissen um
die logische Gefahr, möglicherweise diejenige Schicht „erreicht, in
2. Die Wendung zur Dialektik
413
der logische Schwierigkeiten nicht ohne weiteres Schweigen ge-
bieten — weil sie diejenige ist, aus der sich die metaphysische Wurzel
der Logik selbst erst nährt“ (S. 27).
Als Bestätigung für die Richtigkeit seiner metaphysischen Wirk-
lichkeitsdeutung verwendet Simmel eine Fülle von Hinweisen auf
wichtige Ausprägungen jener dialektischen Divergenz im Wesen des
Lebens. In unserem Zusammenhang seien davon nur zwei kurz ge-
kennzeichnet. Schon wenn wir von der empirischen, zeitlich-räum-
lichen, kausalbestimmten Realität eines Objektes sprechen, meinen
wir damit eine angeblich und sozusagen objektive Wirklichkeit, die
allen anderen, aber auf den gleichen Inhalt bezogenen Vorstellungs-
weisen, der phantasiemäßigen oder der rein begrifflichen, der wert-
rangierenden und der künstlerischen als subjektiven Derivaten
seiner Wirklichkeit gegenübersteht. Die bedeutsamste Gegen-
sätzlichkeit in dieser Hinsicht ist die unausgleichbare Dualität zwi-
schen dem empirisch-realen Leben als solchem und seinem Sollen.
Das eine ist so gut ein ganzes Leben wie das andere. Mein Leben
als ein soundso beschaffenes ist in seiner empirischen Tatsächlichkeit
das eine wirkliche Leben, wie das von mir gesollte, mir als Aufgabe
gestellte Leben ein wirkliches Leben ist. ,,Daß wir damit zwei Leben
zu führen scheinen, zerstört keineswegs dasjenige, was wir als Ein-
heit des Lebens empfinden“ (S. 156). Denn auch dem Sollen — das
nicht von vornherein nur als ethisches zu verstehen ist — eignet
eine fundamentale und fundierende Bedeutung; ihm muß die Gel-
tung eines kategorialen Urphänomens zuerkannt werden (S. 159;
155).
Aus dieser — jedem Kantianer geläufigen — Antinomie zwischen
Sein und Sollen ergibt sich eine Problematik, die eine typische
Tragödie der Geisteskultur überhaupt darstellt. Simmel dehnt, und
darin bekundet sich ein gewisser Unterschied von Kant, die Geltungs-
und Spannweite dieser Antinomie weit über das Bereich der sittlichen
Fragen und Forderungen hinaus. Er gewahrt sie eigentlich überall im
geschichtlichen Leben, dem dadurch die Tendenz zu akuten oder
chronischen Revolutionen immanent sei. Es handelt sich um eine
Antinomie höherer Ordnung, insofern als das Leben auf der Stufe,
auf der es Geist, geschichtlicher und geschichtlich wirksamer Geist
ist, „als seine unmittelbare Äußerung objektive Gebilde erzeugt, in
denen es sich ausdrückt und die wiederum, als seine Gefäße und
Formen, seine Weiterströmungen in sich aufnehmen wollen — wäh-
rend ihre ideelle und historische Festgelegtheit, Umgrenzung und
414
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Starrheit früher oder später in Gegensatz und Gegnerschaft zu dem
ewig variablen, grenzverlöschenden, kontinuierlichen Leben treten“
(S. 160f.). Es ist das ewige Schicksal des Lebens, um seiner eigenen
Möglichkeit und Verwirklichung willen Formen, Gefäße — in Gestalt
von Konventionen, historischen Organisationen usw. — als seine
Helfer und dienenden Glieder zu erzeugen, die sich zu seinen Herren
und schließlich zu seinen Tyrannen aufwerfen, die um ihrer selber
willen Anerkennung verlangen bzw. erzwingen. Es ist das ewige
Schicksal dieser Formen, daß ihre geschichtliche Größe, Notwendig-
keit und Hoheit, die keineswegs den Charakter eitler Anmaßung
besitzen, dennoch von dem Leben immer wieder in Frage gestellt,
zersprengt, zerrieben werden. Das Leben existiert nur in dem von
ihm unmittelbar erzeugten Widerspiel, in der Form von Formen.
Darin aber ruht der letzte Grund seiner tiefen Unbefriedigtheit und
Unruhe. Diese Dialektik treibt es zur Auflehnung gegen seine zu
fester Form geballten Erzeugnisse — diese Auflehnung erfüllt es
aber auch umgekehrt mit einer unendlichen Dialektik (S. 162).
Eine anregende Anwendung dieser metaphysischen Idee der
Dialektik hat Simmel durch den Versuch unternommen, mit ihrer
Hilfe ein Verständnis der vielumstrittenen Wesensart des deutschen
Geistes zu erreichen. Der deutsche Mensch erscheint ihm als die
auffallendste Ausprägung und als die interessanteste empirisch-
geschichtliche Bekundung jener Idee (Simmel, Die Dialektik des
deutschen Geistes; erschienen in der Sammlung von Reden und
Aufsätzen: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, 1917). Nach
ihm ist das Ideal des Deutschen sowohl der vollkommene Deutsche als
auch sein Gegenteil, sein Anderes. Gerade ganz echte, kernhaft
deutsche Naturen zeigen diesen dialektischen Zug. Er äußert sich
z. B. in der uralten deutschen Sehnsucht nach Italien, nicht nur
nach dessen Schönheit, Kunst oder Sonne, sondern auch nach dem
italienischen Leben als solchem, das dem unsrigen so entgegengesetzt
wie möglich ist, und das Viele von uns gerade deswegen mit so viel
Liebe umfassen. Es ist, als seien wir Deutsche diejenigen, denen
die Vollendung und Erlösung nur aus dem Gegensatz erwächst. Für
Simmel ist die stärkste Erscheinung dieses Typus vielleicht Hölder-
lin, ,,weil seine Liebe dem Deutschtum und dem, was ihm als dessen
völlige Andersheit erschien, in wunderbarem Gleichmaß galt“ (S. 34).
Weil wir uns immer mit so vielem Antagonistischen in unserer Brust
auseinandersetzen müssen, zeigt unser seelisch-sittliches und unser
geschichtliches Dasein jene merkwürdige Schwere und in seiner Ent-
2. Die Wendung zur Dialektik
415
Wicklung jene Umständlichkeit. Das übereilige Tempo unserer tech-
nischen und wirtschaftlichen Entwicklung vor dem Kriege paßte
nicht zu der inneren Form unseres Daseins und rief eine neue Dis-
krepanz in unserem Verhältnis zur Wirklichkeit hervor. Jene Dia-
lektik bietet aber wohl auch den Grund dafür, daß wir in der Welt
draußen so vielen Mißverständnissen unterworfen sind, ja, daß weder
wir selber noch die anderen uns eigentlich begreifen. Wie dialektisch
wir sind, das zeigt das merkwürdige Zusammenbestehen von zwei
sich gegenseitig scheinbar verneinenden Zügen im deutschen Wesen.
Auf der einen Seite pflegen wir einen extremen Individualismus, der
sich auf religiösem, weltanschaulichem, politischem usw. Gebiet in
einer für uns selbst oft gefährlichen Auswirkung zeigt, und der Bis-
marck Veranlassung zu dem Ausspruch gegeben hat, daß jeder
Deutsche am liebsten einen König für sich allein haben möchte.
Auf der anderen Seite sind wir Freunde und Förderer eines uferlosen
„Weltbürgertums“, das die ganze Welt liebend und unkritisch um-
faßt. Aber es ist das Eigene des deutschen Geistes und in dieser
Form nur des deutschen Geistes, daß er jene so verschiedenartigen
Stimmungen und Lebensmomente, ja, daß er schließlich sich selbst
und seine Gegenteile als sein höheres Selbst zu umfassen vermag
(S. 39ff.).
2. Diese Spekulationen Georg Simmels sind nicht aus einer
unmittelbaren Berücksichtigung speziell zeitgeschichtlicher Um-
stände erwachsen oder abgeleitet. Deshalb führen sie zu einer dialek-
tischen Lebensmetaphysik, die den Charakter der Zeitlosigkeit trägt
und keinen Einfluß seitens einer bestimmten Entwicklungsstufe der
europäischen Geistesgeschichte aufweist. Als Ergänzung dazu
bietet Alfred Vierkandt in seinem Buche „Der Dualismus im
modernen Weltbild“ eine durch die Wissenschaftslage und Geistes-
haltung der Gegenwart und die Eigenart des heute herrschenden
Zeitbewußtseins bedingte Metaphysik und Weltanschauung. Er
fußt auf der Voraussetzung, daß der „Dualismus“, den er, wie wir
sogleich sehen werden, ganz im dialektischen Sinne versteht, zu den
Grundkennzeichen gerade der modernen Lebensansicht gehört, so-
fern diese die Methoden und Errungenschaften unserer Natur- und
Geisteswissenschaften in gewissenhafter Weise berücksichtigt und
in dem gebotenen Umfange für ihren Aufbau verwendet.
Ein umfassender Überblick über die Wissenschaftslage unserer
Zeit zeigt nämlich den charakteristischen Kampf zwischen einer
naturwissenschaftlich-entwicklungsgeschichtlichen, d.h. biologischen,
416
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
und einer mit der Idee autonomer Werte und unbedingter Kultur-
normen arbeitenden Betrachtungsweise. In diesem Gegensatz spiegelt
sich der Widerstreit zwischen dem naturwissenschaftlich orientierten
Biologismus und Voluntarismus der mehr durch die Naturwissen-
schaften beeinflußten Philosophen wie W.Wundt oder Hans Driesch
und dem an der Kantisch-Fichteschen Ethik orientierten Wert-
normativismus der neologischen Methode Euckens und der südwest-
deutschen Schule. Die gewöhnlich als Lebensphilosophie bezeich-
nete Metaphysik der Gegenwart ist entstanden zum Teil in Ab-
hängigkeit von der Biologie, die auch auf verschiedene andere
Disziplinen der Philosophie, wie auf die Erkenntnistheorie und auf
die Ethik, stark eingewirkt hat. Aber bei ihrer allmählichen Aus-
gestaltung erfuhr diese Lebensphilosophie eine beachtenswerte Um-
wandlung durch die Veränderung ihres Fundamentalbegriffes, d. h.
des Begriffes des Lebens, ohne daß sie dadurch ihre biologische
Grundlage gänzlich aufgegeben hätte. Diese Veränderung vollzog
sich in der Richtung einer Vergeistigung und Historisierung des
Lebensbegriffes. Denn alle höheren, im eigentlichen Wortverstande
werthaltigen Erscheinungen der geschichtlichen Kultur sind durch
rein biologische Auffassungen nicht zu verstehen. Eine ausgespro-
chen „biologische“ Weltanschauung ist ebenso einseitig und unzu-
länglich wie eine ausgesprochenermaßen „idealistische“, die leicht
zu einer dogmatischen Ideologie ausartet, also mit den Gegebenheiten
des Lebens nicht rechnet und vor den herben Bekundungen des
naturhaften Daseins, des harten Kampfes ums Dasein versagt.
Deshalb gilt es, beiden Betrachtungsweisen ihr Recht wider-
fahren zu lassen und von ihrer dialektischen und antagonistischen
Beziehung aus einen Rückschluß auf die Konstitution des meta-
physischen Weltgrundes zu machen. Wir müssen annehmen, daß
der Weltgrund selber durchaus zwiespältig ist, daß in ihm z>vei oder
wohl noch mehr Tendenzen selbständig oder geradezu feindlich sich
gegenüberstehen (S. 24, 54, 55, 111, 112, 122). So ist auch Vierkandt
ein Gegner jeder Art von Monismus, von weltanschaulichem Harmo-
nismus. Der von ihm verfochtene Dualismus — man könnte ihn
unter Anwendung eines Wortes von Windelband auch „Antinomis-
mus“ nennen — besteht demnach in der Überzeugung, daß in den
Tiefen der Wirklichkeit ein unüberbrückbarer Gegensatz obwalte
zwischen der animalisch-triebhaften, biologisch-willensmäßigen und
der geistig-sinnvollen, nicht durch wertneutrale, sondern durch
Forderungen bestimmten Seite. Diese beiden Formen sind nicht
2. Die Wendung zur Dialektik
417
nur Attribute der einen, in sich einheitlichen Grundsubstanz, son-
dern sie stellen die Doppelheit in dem Wesen der Welt selber dar.
Keine dieser beiden Wesensarten vermag sich für sich allein restlos
und widerstandslos durchzusetzen. Damit ist gegeben, daß die aus
jenem Urgegensatz aufsteigende Erscheinungswelt eine paradoxe
Mischung aus Chaos und Kosmos ist.
Indem wir uns nun zu dieser unvermeidbaren Auffassung be-
kennen, ist der gewaltige Abstand der gegenwärtigen Weltanschau-
ung von der Lebensansichtder Klassik und des Klassizismus gegeben,
die nach traditionellem Urteil noch immer als vorbildlich gilt. Mögen
jedoch frühere Zeiten unter dem Einfluß humanistischer und neu-
humanistischer Gesinnungen und in Verbindung mit einer vorherr-
schend ästhetisch-rationalistischen Einstellung die Welt als eine
harmonisch gegliederte Ordnung, als eine wohlgestufte Einheit und
klarverlaufende Entwicklung betrachten — wir jedenfalls befinden
uns nicht mehr in der glücklichen Lage, jene Auffassung teilen zu
können. Der Humanismus mit seiner optimistischen Ethik und
seinem rationalistischen Optimismus kann weder als Bildungserleb-
nis noch als Bildungsziel für uns fürderhin unbedingte Geltung bean-
spruchen. Daß wir den Harmonismus der klassischen Weltanschau-
ung aus unserer geistigen Existenz als Faktor verabschieden müssen,
zeige die Schwere der seelisch-sittlichen Krisis, in der wir uns be-
finden.
Jener soeben erwähnte Grundgegensatz, jene Urspannung um-
faßt alle Gebiete; er ist schlechthin konstitutiv für jedes Seiende.
Vierkandt weist besonders auf den Antinomismus in unserem Innen-
leben, ferner auf den der Wissenschaft — hier ist es in erster Linie
die Antithetik zwischen dem Rationalismus und einem überratio-
nalen, das Individuelle intuitiv erfassenden Erkenntnisverfahren —
und auf den der objektiven Sittlichkeit hin. Die reine Sittlichkeit,
das Gebot der Liebe und der Pflicht vermag sich nur auf recht
umgrenzten Gebieten durchzusetzen. Alle jene Betätigungen da-
gegen, die der Darwinismus aufgedeckt hat, Auslese, Zuchtwahl,
Kampf ums Dasein usw., sind außer- bzw. unsittlicher Natur. Und
dennoch sind wir gezwungen, auf das ernsteste mit ihnen zu rechnen.
Die tragische Verwicklung, die unser Leben aus jener ewigen Span-
nung empfängt, zeigt sich in aller Kraßheit darin, daß alles höhere,
feinere, durchgeistigte Leben auf die Dauer nur im Schutze harter
wirtschaftlicher und politischer Macht und Machtorganisationen zu
gedeihen vermag. Diese Welten der Wirtschaft und der Politik
Liebert, Dialektik. 27
418
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
haben nun jedoch nicht nur ihre eigenen Ziele und selbständigen
Zwecke, sondern auch ihre eigene Moral. Und diese wirtschaftliche
oder politische Moral steht, wie wir fast alle fast stündlich und oft
recht schmerzlich erfahren, in einer heftigen Reibung mit der Mora!
des höheren Geisteslebens. Dazu tritt die Spannung zwischen
lebendigem und von sittlichen Antrieben beseeltem Schaffen und
hemmenden, weil starren Formen, die dem Willen des schöpferischen
Menschen oft bereits darum feind sind, weil sie als Selbstzweck auf-
gefaßt sein wollen. Vierkandt macht aufmerksam auf die von Max
Weber in seiner Broschüre „Politik als Beruf“ (1919) mit beredten
Worten geschilderte Erniedrigung, der sich der soziale Idealist
bei jedem Verwirklichungsversuch seiner Pläne aussetzt.
Diese Dissonanzen treiben uns zu dem, für die wahre Sittlich-
keit betrüblichsten und gefährlichsten Verhalten, zu einem bestän-
digen Paktieren, zu fortwährenden Zugeständnissen. Und es ergibt
sich so eine durchaus tragische Lebensstimmung. Ihre Überwindung
bzw. Milderung fließt aus einem, diese Tragik bewußt bejahenden
Aktivismus, aus einer Aufforderung zur energischen Betätigung
unserer Kräfte. Da wir im Grunde unseres Wesens Leben sind, wie
Vierkandt in Übereinstimmung mit der modernen Lebensphilosophie
sagt, so widerspricht ein quietistischer Pessimismus unserer Natur.
Jener Aktivismus hat zu seiner Voraussetzung geradezu die Er-
kenntnis und Anerkenntnis der tragischen und problematischen Ver-
fassung der Wirklichkeit, wie in ihm und durch ihn auch der pri-
mitive Gegensatz von Optimismus und Pessimismus weit über-
wunden ist.
3. Einen eindrucksvollen Rückschluß von dieser, in der gegen-
wärtigen Philosophie sich durchsetzenden geschichtsphilosophisch
und metaphysisch begründeten Dialektik auf das Verständnis des
Wesens der heutigen Pädagogik und unserer Erziehungsideen und
Erziehungsforderungen nimmt Theodor Litt vor. Als wichtig für
unseren Zusammenhang ziehe ich besonders seine Schrift „Die
Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal“
(1925), die Litts philosophische Grundüberzeugungen klar und
unzweideutig hervortreten läßt, heran. Litt will keineswegs be-
haupten, daß die zeitgenössische Philosophie einen unmittel-
baren und etwa praktisch-technischen Einfluß auf die Pädagogik
der Gegenwart ausübe; er will vielmehr den Sinn und die innersten
normativen Tendenzen dieser Pädagogik verstehen auf Grund ihrer
Beziehung auf wesentliche Richtungen in der Philosophie unserer
2. Die Wendung zur Dialektik
419
Zeit. Denn zwischen Philosophie und Pädagogik herrscht unleug-
bar ein Korrespondenz- bzw. Parallelverhältnis. „Beide Regionen
gehören nicht vermöge der gedanklichen Ordnung von Grund und
Folge, sondern wie in der lebendigen Solidarität zweier derselben
Wurzel entwachsenen Schößlinge zusammen“ (S. 12). In jeder
wirklich umfassenden Weltansicht ist nämlich „ein Inbegriff päd-
agogischer Forderungen mitgesetzt, gleichgültig ob er ausgesprochen
oder auch nur mitgedacht wird“, und umgekehrt „ist in jeder echten
pädagogischen Idealbildung eine Weltansicht beschlossen, gleich-
gültig ob sie als solche bekannt oder auch nur im Bewußtsein gehegt
wird“ (S. 13). Jenseits ihrer Differenzierung innerhalb der intellek-
tuellen und geschichtlichen Welt besitzen sie die Form einer vor-
logischen, in der umfassenden Strömung des Lebens gegründeten
Verbundenheit, die es bedingt, daß dieselbe Notwendigkeit inneren
Wachstums philosophische und pädagogische Ideen emportreibt
(S. 29, 60 u. ö.). Diese Gemeinsamkeit macht es möglich, die Bil-
dungsgedanken einer Zeit aus der Weltansicht dieser Zeit abzulesen.
Nun ist nach der Deutung Litts die Philosophie unserer Tage
dadurch gekennzeichnet, daß sie über die einseitigen Systemausbil-
dungen des meistens im Fahrwasser des Psychologismus und Histo-
rismus sich bewegenden seichten Positivismus auf der einen Seite
und des formal-rationalistischen, konstruktiv-idealistischen Logizis-
mus auf der anderen hinwegstrebt und zu einer dialektischen Ver-
bindung als der Überwindung und Auflösung dieser Einseitigkeiten
hinarbeitet (S. 8 u. ö.). Wir ringen heute um die synthetische Ant-
wort auf die Frage: Wie können die autonome Objektivität der
geistigen Gestalt und Form, auf deren Herausstellung und Bewah-
rung der Logizismus und Idealismus bedacht ist, und die Realität
lebendiger Bewegung, die der positivistische Psychologismus aus-
schließlich im Auge hat, „so zusammen bestehen, daß weder die
seelische Wirklichkeit zum Schattenbild in sich gegründeter ideeller
Ordnungen verblaßt noch das Reich der Idee in der quellenden Fülle
der Wirklichkeit untergeht?“ (S. 52). Litt erwähnt mit knappen
Strichen eine Reihe zeitgenössischer philosophischer Bemühungen,
die auf die Erreichung einer solchen dialektischen Synthese hin-
zielen: Simmel, Cassirer, Liebert, Nikolai Hartmann usw. Auch
Husserls Phänomenologie sei hierher zu rechnen. Denn die phäno-
menologische Analyse setze sich gerade die Aufgabe, den Zusammen-
hang und die Wechselbeziehung zwischen der positiven Lebens-
gegebenheit und der ideellen und normativen Sinnaufgegebenheit
27*
420 VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
ans Licht zu heben. Sie ist weder einseitig naturalistisch-biologisch,
noch einseitig konstruktiv-normierend eingestellt, und deshalb ge-
linge es ihrem dialektischen Verfahren, ,,Logos und Psyche, in der
Geschichte des Geistes immer wieder als Widersacher gegenein-
anderstehend“, in einer Form zu versöhnen, ,,die keiner Partei
etwas von ihrem Rechte nimmt“ (S. 54). Will die Philosophie der
Dialektik der Wirklichkeit und des Lebens, d.h.der antagonistischen
Korrelation von Logos und Psyche, von ideeller Gestalt und empiri-
scher Realität, von Idee und Erscheinung gerecht werden, dann
muß sie sich unweigerlich der dialektischen Methode bedienen. So
ist die philosophische Dialektik der gedankliche und theoretische
Abdruck und Niederschlag der Dialektik des Lebens. Und dieser
Umstand ist es, der ihr die logische Berechtigung verleiht.
Für den Zweck, ein Verständnis der Pädagogik der Gegenwart
zu gewinnen und für die Forderung der Aufstellung erzieherischer
Normen ergibt sich daher folgender Grundsatz: „Nur in entschlosse-
nem und beharrlichem Durchgang durch die Spannungen, die die
Bewegung von Leben und Idee kraft wesenhafter Notwendigkeit
mit sich bringt und fühlbar werden läßt, vollendet sich wahrhafte
Bildung des Geistes“ (S. 57). Denn die Erkenntnis der Dialektik
der geistigen Wirklichkeit führt zu der Einsicht, daß die wesenhafte
Struktur des Geistes Einheit in der Entzweiung, Entzweiung
in der Einheit ist (S. 59). Und deshalb ist es die Aufgabe der Er-
ziehung — bei der gebotenen unbedingten Berücksichtigung jener
Einsicht—Harmonie in der Mannigfaltigkeit und Mannigfaltigkeit in
der Harmonie zu erzielen. Also keine monotone und monistische
Fassung des Bildungsideals, und ebensowenig etwa eine derartige
Verkörperung in concreto und in der Praxis der Erziehung. „Für
den Harmonieglauben der Humanitätsidee ist in dieser harten Welt
keine Statt“ (S. 72). Zumal für uns Deutsche ist auf Grund der
Eigenart unserer geschichtlichen Entwicklung und unserer dialek-
tisch differenzierten seelischen Verfassung keine andere Hilfe mög-
lich noch denkbar als die Bejahung dieses Auseinandergehens in
eine Mehrheit nicht nur neben-, sondern sogar widereinander
stehender Gestalten des Geistes. Darin prägt sich nicht nur unsere
Not, sondern auch unser einzigartiger, aber großer Reichtum aus.
Wie es keine Einheitsform des deutschen Menschen gibt, wie alle
darauf gerichteten Theorien haltlose und leere Konstruktionen
sind, so ist es auch ausgeschlossen, in unsere Bildungspläne und
Bildungsorganisationen eine mechanische Einheit hineinzubringen.
2. Die Wendung zur Dialektik
421
Ein solches Verfahren würde, falls es überhaupt durchführbar wäre,
sie um ihren ganzen Kultursinn und um ihre reizvolle Eigenart
bringen (S. 72ff.). Mit der Hervorhebung der Dialektik und der
Unabsehbarkeit nicht gelöster Spannkräfte des deutschen Geistes
berührt Litt sich sehr eng mit entsprechenden Ausführungen Georg
Simmels. So scheint auch ihm allgemein die Wendung zur Dialektik
aus sachlichen Gründen in das Reich der Notwendigkeit zu gehören.
4. Diese sachliche Notwendigkeit der Dialektik ist es, die ihre Aus-
breitung auf das Gebiet der Theologie als durchaus begreiflich er-
scheinen läßt, ln einer unterrichtenden Schrift, die den Titel führt
,,Die Dialektik der Gottesidee in der Theologie der Gegenwart“,
schildert Willy Lüttge diese Ausbreitung, der er selber übrigens
nicht seine Billigung erteilt, besonders durch die Charakteristik
von Karl Barths Kommentar zum Römerbrief. Jene
Dialektik der Gottesidee besteht in der absoluten Verjenseitigung
Gottes und in der dadurch hervorgerufenen absoluten Gegensätzlich-
keit und Antinomie Gottes zu aller Kultur und zu aller Zeitlichkeit.
Nach der Auffassung dieser Richtung der Theologie, der u. a. auch
Kierkegaard und Friedrich Gogarten nahestehen, zerbricht
an Gott alle Zeit, alle Wirklichkeit und alle Möglichkeit der Zeit.
Die Ewigkeit Gottes ist in sich selbst das ewige Nein zu allem Leben
dieser Zeit, das von seiner Wurzel her vernichtet werden muß,
um seine Rettung möglich zu machen. Darum ist im religiösen
Glauben ein tiefster Widerspruch wirksam, in ihm schwingt die
Kraft einer inneren Spannung. Denn mitten in dieser Zeit sind
wir doch von der Ewigkeit umfangen; die Ewigkeit ist Zeit geworden
und hat dabei doch nicht aufgehört, Ewigkeit zu bleiben. Aber
gerade diese Spannung verleiht dem Glauben seine ungeheure
Bewegtheit und Lebendigkeit. Er ist auf der einen Seite geboren
aus dem menschlichen Willen, er ist eine Tat des Menschen — zu-
gleich steht dieses ganze Wollen und Tun unter dem Zeichen Gottes,
es ist, wie Augustin lehrt, ein Akt der Gnade und ein Geschenk
von oben. Diese ungeheure Dialektik und Antinomik spricht
Barth dadurch aus, daß lediglich in der absoluten Negation
des Geschöpfes die Position des Schöpfers und der ewige Sinn
des Geschöpfes erkannt worden ist. Indem Gott durch diese
hypostasierende Antithetik des religiösen Glaubens über alle End-
lichkeit und über alle Geschichte hinausgehoben wird, glaubt und
besitzt man in ihm den ewigen und unendlichen Gegensatz zu
allem Leben der geschichtlichen Wirklichkeit, zu allem Werden,
422 VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
zu aller Schöpfung, die im Fluß der Geschichte lebendig sich er-
neut. Doch gerade auf dieser unbedingten und rücksichtslosen
Transzendierung und Transzendenz Gottes, auf der harten Durch-
schneidung der Beziehung des Endlichen und des Ewigen beruhen die
Voraussetzung und die Gewähr unserer Erlösung aus der kata-
strophalen Krisis der Gegenwart. Mit anderen Worten : Die
sichere Befreiung von der unseligen Relativierung des modernen
Lebens, die Heilung und Heiligung unseres Daseins ist nur dadurch
bestimmt erreichbar, daß wir unsere Schwäche und Haltlosigkeit
und alles geschichtliche Wesen mit aller Leidenschaft abstoßen und
eine beruhigende, alle Fragwürdigkeiten des Lebens restlos ver-
neinende Anknüpfung an jene Allmacht und Absolutheit finden,
die erhaben ist über jeglichen Sturm und über jegliche Enge (Lüttge
S. 5, 6, 11, 19, 22 u. ö.). —Lüttge selber lehnt, wie bereits erwähnt,
die dialektische Theologie ab. Sie erscheint ihm nicht sowohl als
ein Mittel zur Überwindung der gegenwärtigen Krisis als vielmehr
ein deutlicher Ausdruck dieser Krisis; sie ist wie ein Ausbruch
abgrundtiefer Verzweiflung an allem Irdischen. Fremd jedoch
mute die Forderung an, das ganze Ethos der Welt abzutun, um
den Ausblick auf den unendlichen Horizont Gottes frei zu bekommen.
Der oben angedeutete radikale Gegensatz verneine im Grunde die
Gewißheit und die lebendige Schöpfungsarbeit des lebendigen
Gottes, des in seiner Offenbarung und in seiner Schöpfung wahrhaft
sich bewährenden und in ihr ewig lebendigen Gottes. Er hat für
alle geschichtliche Wirklichkeit nur die scharfe Unbedingtheit des
Nein. Wohl ist es „groß (wer darf es leugnen) hinauszublicken
,auf ferne Meere', in denen alles Irdische versinkt“, so beschließt
Lüttge seine Darstellung und Kritik. Diese Zustimmung, die aus
der Gesinnung der Gerechtigkeit und des Gerechtwerdens hervorgeht,
ist ihm aber nicht das letzte Wort in dieser, die tiefsten Fundamente
unseres Daseins berührenden Frage. Er setzt nämlich hinzu, daß
es dennoch größer sei, gerade „im Geheimnis und Wunder des
Lebens das Geheimnis des lebendigen Gottes und das Wunder seiner
ewigen Schöpfung zu erkennen und zu erleben“ (S. 26; vgl. auch
S. 5, 14, 24 u. ö.). — Die Kritik unseres Verfassers an der dialek-
tischen Theologie erfolgt vom Standpunkt des Humanismus aus;
sie fußt, ohne es auszusprechen, auf den milden pantheistischen
Anschauungen Goethes, der die Größe des Schöpfers gerade in der
Schönheit seiner Schöpfung verehrt und genießt; in seiner Kritik
scheinen mir auch Hegelsche und Schleiermachersche Argumente
2. Die Wendung zur Dialektik
423
wirksam. Löst jedoch wirklich diese harmonisierende und huma-
nistische Auffassung das schwere Problem des Verhältnisses zwischen
dem Absoluten und dem Relativen? Kann innerhalb des logischen
Bereiches, also bei Absehung von aller intuitivistischen und uni-
fizierenden Mystik, die Antwort hier anders als die — bittere — Be-
jahung des Zwiespaltes zwischen dem Unendlichen und dem End-
lichen sein? Werden wir nicht gezwungen, den Begriff einer herben
und tragischen Diskrepanz und Dialektik in jenem Verhältnis als
den abschließenden Ausdruck der theologischen Erkenntnis auf-
rechtzuerhalten? Gewiß: In der Inbrunst und Weihe des religiösen
Erlebnisses, in seiner beseligenden und erlösenden Kraft erfahren wir
den erhebenden Ausgleich und die Vereinigung des Irdischen mit
dem Ewigen, hier vollzieht sich die deificatio des Menschen. Das
aber ist ein geheimnisvoller Gnadenvorgang, bis zu dem die Theologie
als Wissenschaft hinführt, den sie selber aber als Wissenschaft,
d. h. als eine Form des diskursiven Denkens, in sich nicht wahr
zu machen und nicht zu verwirklichen vermag (vgl. auch weiter
unten S. 450ff., 456ff., 458ff.). Unter begrifflichem Aspekt bleibt
der Bruch zwischen dem Begriff des absoluten und vollkommenen
Schöpfers und dem des relativen, im Endlichen verstrickten Ge-
schöpfes unüberbrückbar, d. h. es waltet zwischen diesen Begriffen
das Verhältnis einer korrelativen Dialektik und Krisis.
Auf ähnlichen Gedankenbahnen wie die Schrift von Lüttge be-
wegt sich der treffliche, allerdings gleichfalls ablehnend gehaltene
Vortrag von Pfarrer Rudolf Köhler „Kritik der Theologie der
Krisis“ (1926). In eindringender Weise setzt sich Köhler mit den
Hauptvertretern der „dialektischen“ Theologie auseinander, also
außer mit Barth auch mit Gogarten, Emil Brunner und Ed.
Thurneysen. Zwar rühmt er dieser „Theologie der Krisis“ das
dankenswerte Bestreben nach, sich um die Überwindung des auch
in die Theologie hereingebrochenen und so verhängnisvollen Rela-
tivismus und Psychologismus zu bemühen. Diese Theologie ver-
meidet mit Recht das Ausgehen von der Subjektivität des religiösen
Erlebnisses; sie lehrt, daß die Theologie es nicht zu tun hat mit der
Darstellung der Zustände des frommen Bewußtseins, sondern mit
der Offenbarung des absoluten Wortes Gottes. Überhaupt ist es die
Idee des Absoluten, die von Barth und seinen Mitarbeitern zur
Grundlage ihrer neuen Theologie gemacht wird, und zwar die Idee
des Absoluten in ihrer ganzen Strenge und vollen Transzendenz.
Von hier aus gelangen die Vertreter dieser Theologie zu der pessi-
424 VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
mistischen Verurteilung der ganzen weltlichen und irdischen Kultur.
Denn vom Standpunkt des Absoluten aus ist alles Irdische gleich
und gleich wertlos. Köhler lehnt dennoch jene dialektische Theologie
ab, da sie in einen, nach seiner Meinung unhaltbaren Dualismus
einmündet. Sie reiße in undurchführbarer Weise Zeit und Ewigkeit,
Mensch und Gott auseinander. Zu Gott als dem Absoluten und in
jeder Beziehung Überirdisch-Außerweltlichen gäbe es dann keinen
deutlichen und rationalen Weg, sondern eben nur, wie Barth be-
hauptet, den unheimlichen, mit allen Zügen des Risikos und der
Krisis erfüllten Sprung in das Dunkle, in den Abgrund des Absoluten.
Köhler tadelt in jener Lehre von der Krisis die Übersteigerung des
Unterschiedes zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Er weist
auf viele Höhepunkte der Kultur hin, z. B. auf Goethes Faust, auf
Beethovens Neunte usw., die nach ihm überzeugende Widerlegungen
jenes Kulturpessimismus und durchschlagende Gegenbeweise gegen
die Herabsetzung der geschichtlichen Entwicklung und Vernunft
bedeuten. Als Anhänger des spekulativen Idealismus führt er gegen
die Barthianer Hegels Phänomenologie ins Feld, da hier die Über-
brückung zwischen dem Absoluten und dem Relativen logisch ge-
leistet sei.---Doch auch gegen die Einwände, durch die Rudolf
Köhler das Recht der dialektischen Theologie zu entkräften sucht,
dürften jene Argumente am Platze sein, die oben gegen Lüttge kurz
entwickelt worden sind. Doch sei hinzugefügt, was sich allerdings
auch aus allen unseren Ausführungen ohne weiteres ergibt, daß wir
der dialektischen Theologie nicht voll und ganz zustimmen, aber
das relative Wahrheitsmoment in ihr nicht verkennen. Ihr Fehler
besteht offenbar darin, daß sie den Begriff des Absoluten über-
spannt und zu einseitig auffaßt, also das dialektische Moment in
ihm, seine unaufhebbare Bezogenheit auf den Begriff des Endlichen
und Relativen übersieht. Sie ist eben nicht dialektisch im vollen
und ganzen Sinne. Durch die von ihr vollzogene Nichtigkeits-
erklärung des Weltlichen und Endlichen verfällt auch sie in einen
extremen Absolutismus, der, da er nur die Welt des Göttlichen
anerkennt und gelten läßt, doch wieder zu einem Monismus und
Harmonismus führt.
c. Vom Neukantianismus und Neuhegelianismus aus.
1. Nicht minder zwingend als diejenige Wendung zur Dialektik,
die aus geschichtstheoretischen und geschichtsphilosophischen, aus
2. Die Wendung zur Dialektik
425
metaphysischen und theologischen Beweggründen erwachsen ist, ist
die seit einiger Zeit im Neukantianismus und dann im N euhe-
gelianismus, der eine Form folgerichtiger Weiterführung des Neukan-
tianismus ist, sich vollziehende Entwicklung zur Erneuerung des dia-
lektischen Denkens. Zur Rechtfertigung dieses Prozesses darf von vorn-
herein vielleicht darauf hingewiesen werden, daß ja auch die Entwick-
lung von Kantselberzu seinen spekulativen Nachfolgern, also die kon-
struktive Abwandlung des Kritizismus bis in die Höhe des absoluten
Idealismus Hegels, das immer stärkere Hervortreten und eine immer
mehr zunehmende Betonung und Verwendung der Dialektik als Ge-
sichtspunktes und als systematischen Konstruktionsmittels zeigt. Als
nämlich in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die
Renaissance der Philosophie Kants einsetzte, da hat die auf die
Durchforschung und Erhellung des Kritizismus gerichtete, außer-
ordentlich umfangreiche und fruchtbare Arbeit nicht nur die Klar-
stellung des Inhaltes, sondern auch diejenige der geschichtlichen
und der prinzipiellen Voraussetzungen der kritischen Lehre zum
Gegenstand gehabt. In der ersten, der älteren Phase des Neukantia-
nismus war zwar das Augenmerk ausschließlich auf die transzendentale
Ästhetik und auf die transzendentale Analytik gerichtet. Und
selbst noch Alois Riehl hat in seinem klassischen Werk über den
philosophischen Kritizismus von den rund 330 Seiten, die der
Darstellung der eigentlichen kritischen Lehre gewidmet sind, für
die transzendentale Dialektik nur drei Seiten belegt. Dem für
dieses Lehrstück des Kritizismus so wichtigen Antinomiengedanken
wird überhaupt keine Beachtung geschenkt. Es verbleibt bei einem
gelegentlichen und nicht sehr nachdrücklichen Hinweis auf die Be-
schäftigung Kants mit dem Antinomienproblem anläßlich der Be-
handlung der kantischen Schrift: Untersuchung über die Gegenden
im Raume und gelegentlich der Kennzeichnung der sogenannten
Dissertation von 1770 (S. 343f. und 351 ff.). Das aber sind noch
zwei vorkritische Schriften.
Im Verlauf und Ausbau der neukantischen Bewegung fesselte
jedoch die transzendentale Dialektik immer stärker die Auf-
merksamkeit. Dabei ergab sich, daß Kants Stellung sowohl zur
Metaphysik als auch zur Dialektik keineswegs eine nur negative
ist. Wohl bekämpfte er mit aller Entschiedenheit die alte dog-
matische Metaphysik als eine ,,Logik des Scheins“, wohl bewies
er die Unstatthaftigkeit des transzendenten Gebrauches der hypo-
thetischen Schlußform — wie bekanntlich auch der kategorischen
426
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
und der disjunktiven—»indem jener Gebrauch zu den katastrophalen
Antinomien der kosmologischen Idee führt oder besser verführt:
das alles war auch in der älteren Entwicklungsstufe des Neukanti-
anismus erkannt und hervorgehoben worden. — Jetzt aber, im
Fortschritt dieser Bewegung, gewann die Einsicht immer mehr
Boden, daß die Kritik der Antinomie und Antithetik doch auch
eine sehr positive Bedeutung für Kant besitzt. Und zwar nicht nur,
um die Vernunft aus ihren antinomischen Verstrickungen zu befreien,
in die sie durch die Schuld der metaphysischen Spekulationen ver-
wickelt werde, sondern aus einem philosophisch ungleich bedeutungs-
volleren Beweggrund. Man erkannte nämlich, daß das methodische
Konstruktionsprinzip des Transzendentalismus selber, daß das Ver-
fahren für seinen eigenen theoretischen Aufbau durchaus dialektischen
Gepräges ist. Kant gründet und konstruiert, d.h. er „kritisiert“ die ein-
zelnen Wertgebiete, wie Wissenschaft, Sittlichkeit, Kunst, durch die
Aufstellung dialektisch-antinomischer Grundverhältnisse, wie synthe-
tisch— analytisch, a priori —a posteriori, reine Form—empirischer
Inhalt, sittlicherWille—sinnlicherWille, reine Form der Schönheit —
anhängende Form der Schönheit, Mechanismus der Natur — Spon-
taneität der Freiheit, Sein — Sollen, Erscheinung — Idee usw. usw.
Ergeben sich aber daraus nicht die Anerkennung der Rechtmäßig-
keit im Gebrauch des Antinomiengedankens und die Anerkennung
seiner Legitimität durch Kant selber, vorausgesetzt, daß mit ihm
nicht eine unzulässige Hypostasierung vorgenommen, sondern nur
seine Geltung im Sinne eines heuristischen Prinzips, also rein
kritisch, verstanden und verwendet wurde?
2. So erwarb sich die Idee der Dialektik und der Antinomie ihre
Erneuerung und ihre erneute Zulassung, und zwar als eine Idee
von grundlegender Apriorität. Nikolai Hartmann, ursprünglich
ein engerer Schüler Hermann Cohens, wie u. a. sein großes Buch
„Platos Logik des Seins“ (1909) zeigt, gelangte durch seine Ent-
wicklung von Plato zu Aristoteles und von Kant zu Hegel dazu,
in seinem Werke „Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis“
(1921) darzulegen, daß der Gedanke der „Aporetik“ zu den imma-
nenten Grundvoraussetzungen der Philosophie gehört. Nach ihm
ist bei den Erörterungen metaphysischer Probleme das Entschei-
dende nicht die Lösung, nicht das Systemresultat, sondern die
scharfe, rein suchende und orientierende Analyse der ewigen Pro-
blembestände selber. Dieses zetetische Verfahren, das keineswegs
im skeptisch-relativistischen Sinne zu verstehen ist, sondern in
2. Die Wendung zur Dialektik
427
dem konstitutiv-systematischen Sinne der Aristotelischen Apo-
retik, d. h. der Kunst, Probleme zu diskutieren, ohne sie um jeden
Preis lösen zu wollen, ist das neben aller vergänglichen Systematik
Unvergängliche, ewig Notwendige. In dem Prozeß seiner Entfaltung,
in seiner methodischen Auswirkung und Betätigung selber ruht
und entwickelt sich das, was wir allein als wahr zu bezeichnen
berechtigt sind (S. 8 u. ö.).
Diese grundsätzliche Aufnahme der dialektisch-antithetischen
Betrachtungsweise kennzeichnet die neue, die jüngere Stufe in der
Geschichte des Neukantianismus; sie kennzeichnet zugleich die
Annäherung an den Standpunkt Hegels. Wir gewahren in der
Gegenwart eine Wiedererneuerung des Geistes dieses großen Dia-
lektikers, eine Auferstehung, die zum wesentlichen Teil aus ge-
schichtsphilosophischen Überlegungen hervorgegangen ist, und zwar
sowohl aus geschichtsmethodologischen als aus geschichtsmeta-
physischen. Ohne Zweifel ist diese Bewegung unterstützt und ge-
fördert worden durch die immanente Entwicklung innerhalb des
Neukantianismus, dessen Abwandlung durch die Aufnahme hegelisch-
dialektischer Gesichtspunkte mitbestimmt ist. Auch er gelangte zu
der Entscheidung, daß der gedankliche Aufbau der Philosophie und
derjenige der Wirklichkeit ohne die Heranziehung und Zuhilfenahme
der Dialektik unmöglich ist. Wohl hatte Hermann Cohen jede Ge-
legenheit wahrgenommen, um seiner heftigen Geringschätzung
Hegels schärfsten Ausdruck zu verleihen. Tatsächlich sind jedoch
auch bei ihm, wie überhaupt allgemein in der von den Marburgern ver-
tretenen Form des Neukantianismus, unverkennbare Züge hege-
lischer, d. h. dialektischer Gedankenbildung vorhanden und wirk-
sam. Darauf ist wiederholt aufmerksam gemacht worden, z. B. von
Ernst v. Aster. Es wäre eine Untersuchung für sich, des näheren die
Gründe aufzudecken, aus denen nicht nur jener Zweig des Neu-
kantianismus, sondern der Neukantianismus selber zur Bejahung
und Benutzung der dialektischen Denkart veranlaßt worden ist.
Die Hauptbedingung dafür scheint mir darin gegeben, daß der
Kritizismus als philosophische Methode seinem Wesen nach die
Dialektik als Prinzip in sich trägt. Indem er nämlich ein von ihm
ins Auge gefaßtes Kultur- und Wertgebiet „kritisiert“, d. h. auf
seine Kategorien und Grundbestimmungen zurückzuführen unter-
nimmt und aus diesen Kategorien die „Objektivität“ dieses Ge-
bietes ableitet, entkleidet er es seiner empirischen Gegebenheit und
seiner dogmatischen Selbstverständlichkeit; methodisch gesprochen:
428
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
er stellt es in Frage, er unterwirft es der Frage nach seiner Möglich-
keit. Damit zieht er es hinein in die Begründungsfunktion der
Vernunft; da diese Begründungsfunktion jedoch die Form und die
Bedeutung der Dialektik besitzt, so macht der Kritizismus es und
überhaupt das ganze System des Seins von dieser Vernunftdialektik
abhängig. Mit einem Wort: er begründet das Sein auf die Dialektik.
Damit ist nun für den Kritizismus, ganz gleich, um welche
Spielart desselben es sich handeln mag, die erste, aber sogleich
grundlegende Antinomie und Aporie gegeben, diejenige nämlich,
zwischen dem Sein und der Faktizität als solcher auf der einen und
der transzendentalen und kritischen Begründungsfunktion der Ver-
nunft auf der anderen Seite. Innerhalb der Gedankenbildung des
Dogmatismus mit ihrer hypostasierenden Setzung des Seins, ihrer
Behauptung des unbedingten Primats des Seins und seiner vor-
logischen und vortheoretischen Gültigkeit tritt uns diese charakte-
ristische Antinomie natürlich nicht sofort und unmittelbar ent-
gegen. Innerhalb der ganzen Gedankeneigenart des Kritizismus
hingegen wird jene Antithese zwischen Erkenntnisfunktion und
Sein bereits bei dem ersten Schritt akut und augenfällig. Hier
entsteht sofort wieder die uralte Frage nach dem Verhältnis von
Denken und Sein oder, methodisch und in der Form von Disziplinen
ausgedrückt, die nach dem Verhältnis von Erkenntnistheorie und
Ontologie. Und wenn Heinrich Maier treffend die Beziehung von
Erkennen und Sein zueinander hervorhebt, so ruht diese Hervor-
hebung auf der Erkenntnis der Dialektik zwischen diesen beiden
Größen, von denen keine vor der anderen sich restlos beugt, und von
denen keine von der andern lassen kann. Jenes dialektische Verhältnis
zwischen Erkenntnistheorie und Ontologie gelangt nun in Nikolai
Hartmanns großer Abhandlung „Wie ist kritische Ontologie über-
haupt möglich?“ (erschienen im Paul Natorp-Festheft 1924) zu
klarster begrifflicher Fassung und Entwicklung. Kritische Onto-
logie ist als Dialektik, ist als bewußt antinomische Disziplin möglich
und unvermeidlich. Auch Kant hat ja die Ontologie nicht voll-
ständig und nicht von Grund aus zerstört. Er hat zu ihr noch ein
anderes als ein bloß ablehnendes und negatives Verhältnis; er steht ihr
noch anders gegenüber als der ältere Neukantianismus meinte, von
dem Kant zu einer Art von Agnostizisten gemacht wurde, wenn er
sagte, wie es Alois Riehl tat: „Die Kritik der reinen Vernunft bejaht
das Metaphysische, sie verneint die Metaphysik“ (Riehl, Der philo-
sophische Kritizismus, Bd. I, 3. Aufl. S. 575). Denn die transzenden-
2. Die Wendung zur Dialektik
429
tale Grundlegungsfunktion der Anschauungsformen, der Kategorien,
der synthetischen Grundsätze a priori und der Ideen fordert doch ihr
Korrelat in einem vorauszusetzenden Sein als dem Material und
Anwendungsgebiet für ihre objektivierende Funktion. Das er-
kennt auch der logizistische Idealismus der älteren Marburger Schule
insofern an, als z. B. Paul Natorp in seiner Abhandlung „Kant
und die Marburger Schule“ (Kant-Studien Bd. 17, 1912, Heft 3)
betont, daß die erkenntnistheoretische Untersuchung und die tran-
szendentale Methode ontologisch über sich hinausweisen, indem sie
um ihrer eigenen Möglichkeit willen schon „das Faktum der Wissen-
schaft“ als solches anerkennen und anerkennen müssen.
Die spekulativen Nachfolger Kants erblickten ihre, ihnen vom
Kritizismus selber vorgeschriebene Aufgabe in negativer Hinsicht
darin, den ihnen anstößig erscheinenden Ding-an-sich-Realismus
zu eliminieren. Sie glaubten, ihre Absicht durch die Ableitung aller
einzelnen Verstandes- und Vernunftformen aus einem letzten und
höchsten Prinzip zu verwirklichen und durch den Ausbau der Kant-
ischen Prinzipienlehre zu einer allumfassenden Wissenschaft von den
Prinzipien der gesamten Wirklichkeit das kritische Unternehmen zu
seinem systematischen Abschluß zu bringen. Denn nach ihrer Ansicht
hatte der Schöpfer des Kritizismus eine solche Prinzipienwissenschaft
nur von einzelnen Partien und Gebieten des Seins aufgestellt. Diese
Arbeit verstanden sie als den notwendigen Ausbau der „Kritik“
zum „System“, als die Vollendung der „Kritik“ im „System“. Die
gleiche Tendenz ist nun auch im Neukantianismus wirksam, sofern
dieser, über den älteren Standpunkt hinausgehend, sich zum Neu-
hegelianismus entwickelt hat. Einer der interessantesten und be-
achtenswertesten Vertreter dieser Entwicklung ist Nikolai Hart-
mann. Sein Hauptaugenmerk ist auf die Darstellung einer uni-
versalen Prinzipienlehre, einer universalen Kategorienlehre ge-
richtet, die weder bloße Prinzipienlehre des Seins noch bloße Prin-
zipienlehre der Erkenntnis, sondern beides ist, ja, die darüber hinaus
nicht nur die Ideal- und Realkategorien in ihrem Verhältnis zueinander
zu bestimmen hat, vielmehr zugleich den ganzen Komplex aller
dieser theoretischen Kategorien richtig und eindeutig in seinem
Verhalten zu den axiologischen Kategorien untersucht (Wie ist
krit. Ont. überhaupt möglich? S. 133). Dabei wäre es von Anfang
an eine unzulässige Vereinfachung der Aufgabe und Forschungs-
arbeit einer solchen Wissenschaft, das Spannungsverhältnis zwischen
Ideal- und Real-, bzw. zwischen theoretischen und axiologischen
430
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
Kategorien zugunsten irgendeines Identitäts- oder Harmoniepostu-
lates zu übersehen. Die grundsätzliche Universalität dieser Wissen-
schaft verbietet die Ab- oder Einbiegung in irgendeinen erkenntnis-
theoretischen, ethischen oder weltanschaulichen Monismus. Der
Fehler des bis jetzt bei weitem größten und ausgeführtesten Ver-
suches einer derartigen Kategorienlehre, wie sie Hegels Logik bietet,
liege in der Unterordnung der Gegensätze unter das Harmoniepostulat.
Hegel „läßt den Widerspruch im Seienden nur gelten, um ihn um
so vollständiger — nicht zu vernichten, wohl aber zu überwinden.
Seine ganze Dialektik ist eine große Kette von Lösungen aufge-
deckter Widersprüche. Dieser ständige Triumph der Vernunft über
den Widerspruch ist es, was einen mit Recht stutzig macht an der
Methode. Der Ernst der Antinomien kommt auf diesem Wege
jedenfalls nicht zu seinem Rechte“ (S. 172; vgl. auch S. 135). Dem
gegenüber erklärt Hartmann scharf und mit betonter Wiederholung,
daß ein Widerspruch, der sich beheben läßt, in Wahrheit gar nicht
vorhanden ist. Eine echte Antinomie ist noch nie gelöst worden
(S. 172 u. ö.).
Mit aller Strenge und Bewußtheit nimmt Hartmann das Prinzip
der Aporetik und Antinomik in seine Kategorienlehre auf. Er ver-
tritt damit eine Forderung, der in meinen Darlegungen ebenfalls
immer wieder Ausdruck gegeben wurde. Von ihr aus gesehen und
gewürdigt sind alle früheren Versuche der Errichtung einer Prin-
zipienlehre mit den schwersten Fehlern behaftet. Der Haupt-
irrtum besteht nach Hartmann in ihrer viel zu weit gehenden
Vereinfachung des Tatbestandes, in ihrer dogmatischen Verähn-
lichung oder gar Gleichsetzung des doch erst als ähnlich oder als
gleich zu Erweisenden, in ihrer traditionellen Voraussetzung der
Übereinstimmung zwischen Formprinzip und Seinsprinzip und der
dadurch bedingten unhaltbaren Überzeugung der Allbegreiflichkeit
und Vernünftigkeit des Seienden usw. Platos Lehre beruhe auf der
dogmatischen Voraussetzung der qualitativen Homogeneität von
Idee und Ding. Und wenn er diese Homogeneität auch durch die
verschiedensten Zwischenglieder und Zwischenfunktionen der Me-
thexis und, wie in den späteren Schriften, der Symploke vermittelt
und hergestellt sein läßt, so ist der monistische und harmonisierende
Gedanke einer solchen grundsätzlichen Gleichgeartetheit und Über-
einstimmung aus seinen Formulierungen doch nicht wegzudeuten.
Das aber ist der Fehler der Homogeneität. „Daß eine Bedingung
dem Bedingten gar nicht ähnlich zu sein braucht, ist nicht erfaßt,
2. Die Wendung zur Dialektik
431
und daß sie ihm notwendig unähnlich sein muß, wenn überhaupt
sie etwas erklären soll, das ist erst recht nicht erfaßt.“ Die Macht
dieses, durch die Autorität des platonischen Namens gedeckten und
erhöhten Fehlers ist so groß, daß er „von der Ideenlehre aus durch
eine unabsehbare Reihe von Systemen hindurchgegangen ist“, „die
im übrigen so verschiedenartig sind, wie nur möglich, — bis tief in
die Neuzeit hinein. Man darf ihn mit Recht den »Platonischen
Fehler* nennen“ (S. 139). Ebenso steht es um die Lehre vom
Chorismos, die auf dem Dogma einer ontologischen Transzendenz
der Ideen beruht (S. 141), um die Lehre der Formalität und der
Begrifflichkeit, um die Lehre der Subjektivität, um den Normati-
vismus oder Teleologismus, um den Rationalismus, um die Lehre
der totalen Identität oder um die der kategorialen Identität, um
die des systematischen Monismus usw. usw. Überall spekulative
und dogmatische Grenzüberschreitungen zum Zweck der Gewinnung
einer möglichst einfachen und einheitlichen Grundposition. Überall
unkritische Vereinfachung der Problemlage. Der Gedanke der Ein-
heit und die damit eng verbundene Überzeugung von der Begreif-
lichkeit der Welt, der Möglichkeit einheitlicher Deduktion aller
Formen aus einer höchsten Grundform, sie kennen scheinbar keine
Grenzen; immer wieder werden sie absolut gesetzt. Der Kar-
dinalfehler der alten Ontologie bestand in dieser radikalen Ver-
einfachung der Problemlage. Das war ihr unhaltbarer Dogma-
tismus. Sie hat sich die Behandlung und Lösung der metaphysischen
Fragen viel zu leicht gemacht (S. 131). Eine umfassende Prinzipien-
lehre geben, heißt dagegen nichts geringeres als alle die großen
Aporien der Weltanschauung miteinander aufnehmen und behandeln,
heißt die Kategorienanalyse so weit führen, daß die Struktur jeder
einzelnen Frage und die Struktur jeder einzelnen, für ihre begriff-
liche Fassung gebrauchten Kategorie in allen ihren Sinnverschieden-
heiten und Sinnkomplikationen, in der Weite bzw. Enge ihrer Geltung
und in dem Rechte ihrer Geltung ganz eingehend und sorgfältig unter-
sucht werden. Wohl hat z. B. Hegel im großen Stil ein System der
Kategorien entworfen und Gesetze ihres Verhältnisses zueinander
entwickelt. „Aber das Gesetz des Systems ist der Systemidee,
nicht dem Wesen der Kategorien selbst entnommen. Die einheit-
lich deduktive Dialektik tut den Phänomenen Gewalt an.“ Um-
gekehrt verfährt Hermann Cohens Logik nicht minder einseitig und
gewalttätig, da sie ausschließlich an den positiven Wissenschaften
orientiert und szientistisch beschnitten ist. Die Kategorien, die sich^
432 VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
mit anderen Worten, aus der Problematik des Weltanschauungs-
gebietes, aus dem sittlichen Handeln usw. ergeben, hat sie nicht
gebührend berücksichtigt (S. 136).
Die Voreingenommenheit und Usurpierungssucht der spekulativen
Vernunft zeigt und verrät sich in fast allen Weltanschauungen. So
liegt in allem Normativismus oder Teleologismus eine Grenzüber-
schreitung der Zweckkategorie, „eine unbegründete, durch kein
wirklich gegebenes Phänomen zu rechtfertigende Erweiterung
ihrer Kompetenz“ vor. Mit allem Ernst vermögen wir doch nur
vom Menschen zu sagen, er sei zwecktätig und bestimme sich durch
Normen. Noch so schlagende Analogien der Prozeßabläufe in anderen
Wesen oder in der Welt als Ganzheit können nicht das notwendige
innere Zeugnis ersetzen. Und jeder Schluß aus solcher Analogie
auf die Realität eines bestimmenden Zweckes läßt die kritische
Vorsicht, die kritische Grenzsetzung vermissen; er ist und bleibt
eine Subreption und damit eine Quelle unabsehbarer Problem-
verfälschungen. In dem modernen Teleologismus erneuern sich die
Erbsünden der alten Metaphysik. „Das Telos der Welt kann eben-
sogut wie Gottes Existenz philosophisch weder erwiesen noch wider-
legt werden; es darf so wenig wie sie unter die systematischen Grund-
lagen aufgenommen werden“ (S. 152f.). Die Notwendigkeit in der
Aufstellung und Verwendung einer Kategorie erlaubt nicht den
Rückschluß, daß sie eine Norm oder ein realer Zweck und Wert sei.
Ebenso verhält es sich mit jener größten Vereinfachung des Welt-
bildes, die sich denken läßt, mit der Identitätsthese des Parmenides:
Denken und Sein sind ein und dasselbe. Dieser Gewaltstreich kehrt
wieder in der Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus, in
dem Schellingschen System von 1801 und in dem System Hegels
mit ihrer bekannten Gleichsetzung des Subjektiven und Objektiven
bzw. des Vernünftigen und des Wirklichen. Aber diese, für sie grund-
legende Identitätsbehauptung ist gerade ihre unheilbare Schwäche;
denn sie widerspricht den gegebenen Phänomenen in eklatanter
Weise, z. B. bereits dem Erkenntnisphänomen. Der Begriff und
die Arbeit der Erkenntnis haben und behalten nur Sinn, wo es
ein Gegenüber von Subjekt und Objekt gibt. Alle strenge Identi-
tätsphilosophie1) hingegen hebt das Erkenntnisproblem auf, und so
0 Vgl. auch meine Einwände gegen die Identitätsphilosophie, die sich
mit denjenigen Hartmanns in vielen Beziehungen berühren (oben S. 179ff.).
Ebenso teile ich, wie sich aus vielen Stellen meiner Ausführungen ergibt,
die Bedenken, die Hartmann, wie wir sogleich sehen werden, gegen den
2. Die Wendung zur Dialektik
433
ist es kein Zufall, daß Schellings System von 1801 und Hegel mit
der erkenntnistheoretischen Fragestellung eigentlich gar nichts an-
zufangen vermögen oder sie sofort in eine dogmatische Ontologie
verkehren. Aber ebenso wie am Erkenntnisproblem, so ist auch
am Handlungs- und Willensproblem gerade die strenge Gegen-
überstellung Bedingung der Relation. Wenn die Kategorienfor-
schung auf diese ungeheure Vereinfachung eingehen würde, so
würde sie den schwersten Fehler begehen. „Sie muß die Ausein-
andergespanntheit der beiden Reiche: Bewußtsein und reale Außen-
welt in vollem Umfange gelten lassen — auf die Gefahr hin, zwei
grundverschiedene Reihen von Kategorien zu bekommen“ (S. 156f.).
Nicht weniger scheitert die These der kategorialen Identität, d. h.
der absolute Rationalismus und Apriorismus an dem Erkenntnis-
phänomen. Das zeigt das Beispiel Leibnizens. Der Begriff der
absoluten Rationalität und die Behauptung ihrer Grenzenlosigkeit
setzen unweigerlich etwas davon Verschiedenes, also erst zu Ratio-
nalisierendes voraus; sie fordern ein „Anderes“, sie fordern dialek-
tisch die Andersartigkeit einer anderen Welt. Die Grenze des
Rationalismus ist eine Bedingung seiner Möglichkeit. In ihrer Nicht-
beachtung liegt eben das Unrecht des absoluten Apriorismus, der
Leibnizsche Fehler (S. 158f.).
Wie schwach endlich ist es um den systematischen Monismus
bestellt! In ihm prägt sich die verführerische, aber gefährliche
Macht des Einheitspostulates besonders deutlich aus. Mit welchem
Recht können und dürfen wir die Realität einer universalen und
dennoch punktuellen Einheit behaupten? Schon der Umstand,
daß alle Kategorien, daß alle rationalen Formen um ihrer selber
willen notwendig auf Irrationales bezogen sind, also die prinzipiell
zu behauptende partiale Irrationalität der Kategorien macht es
unmöglich, ein oberstes Einheitsprinzip, und sei es auch nur dem
Begriff nach, vorwegzunehmen. Es ist bare Willkür, „aus der Ge-
samtstruktur des partial erkennbaren Ausschnittes das Vorhanden-
sein oder Nichtvorhandensein eines absoluten Einheitsprinzips zu
divinieren. Die Möglichkeit muß offen bleiben, daß das System
keine ,Spitze* hat, daß es nach oben zu wieder divergiert oder doch
in eine Pluralität oberster kategorialer Elemente ausläuft“ (S. 166).
Schon der spätere Plato, der Plato des „Parmenides“ und des
systematischen und spekulativen Monismus richtet. Auch der Monismus
verletzt oder verkennt die Strenge des dialektischen Denkens, auch er über-
treibt oder vereinfacht allzusehr die Idee der Einheit.
Liebert, Dialektik. 28
434
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
„Sophistes“, hat die erstmalige kritische Überwindung des kate-
gorialen „Monismus“ erreicht, und zwar im Gegensatz zu seiner
eigenen früheren Lehre von dem Primat der Idee des Guten (Repu-
blik VI). In jenen Dialogen ist ausgesprochenermaßen kein „Eines“,
sondern eine „Gemeinschaft“ (xoivwvia), ein allseitiges Miteinander
und Durcheinander der Prinzipien — also das System als solches,
der Zusammenhang koordinierter Elemente das Oberste im Ideen-
reich. Wir können nicht umhin, die Forderung einer primären,
in einem Zentralpunkt faßbaren Einheit als ein rein subjektives
Postulat, ja als ein gänzlich veraltetes und überlebtes Vorurteil,
als einen rationalistischen Atavismus des menschlichen Denkens
zu beurteilen.
Allerdings scheinen die Antinomien etwas Unbequemes und Un-
sympathisches für das Denken zu haben, so daß die philosophische
Vernunft immer an ihrer Tilgung arbeitet. Die Tendenz zum Aus-
gleich, zur Harmonie beherrschte die Konstruktion; sie bediente
sich dafür in erster Linie des besonders von Aristoteles gehandhabten
principium contradictionis. Oder man denke an Plotins ro fcV, an den
Glauben der Scholastiker an die unendliche Güte und Weisheit des
höchsten Wesens, an des Cusaners Hypostase von der coincidentia
oppositorum, an Leibnizens Urmonade usw.: überall das Bemühen,
die von der Philosophie bereits so früh erkannte und so oft betonte
Gegensätzlichkeit durch die Idee der Einheitlichkeit zu überwinden
bzw. sich an dem Gedanken der Antinomie vorüberzuschleichen.
Es ist das Große an dem Eleaten Zeno, daß er nicht nur seine be-
kannten Antinomien aufgestellt, sondern sich auch jeglichem
Kompromißversuch verschlossen hat. Auch die von Plato im
„Parmenides“ entwickelten Antinomien haben keine der Schwere
und Verwickeltheit des Gegenstandes entsprechende Bearbeitung
gefunden. Immer wieder zeigen sich vorschnelle Vereinfachungen,
seien es solche rationalistischer oder solche mystisch-religiös-
romantischer Art, bedingt durch den Glauben, dadurch eine Lösungzu
gewinnen. Kants Verdienst ist es, das Antinomienproblem mit
allem Ernst aufgenommen zu haben, da er erkannte und betonte,
daß die Antinomien nicht willkürliche Erzeugnisse der Phantasie,
sondern Selbstverstrickungen der reinen Vernunft sind, bei denen
die Vernunft mit sich selbst im Widerstreit liegt, weil sowohl Thesis
als Antithesis aus ihr selbst heraus notwendig sind (S. 170).
Denn abgesehen von der psychologischen Neigung des Menschen
nach einer Beseitigung aller gedanklichen Unstimmigkeiten, so
2. Die Wendung zur Dialektik
435
kann unter rein logischem Gesichtspunkt gefragt werden, ob es
sachlich notwendig ist, daß alle Antinomien sich lösen. Kann nicht
gerade die Antinomie eine logische und sachliche Objektivität auf-
weisen und damit das eigentliche Wesen der Sache ausmachen?
Das Ergebnis wäre dann, die Antinomien als ontologische Aporien
aufzufassen und als ihr wichtigstes Aufspürungswerkzeug die Dia-
lektik zu verwenden. Die dialektische Methode besitzt den un-
leugbaren Vorzug, die Antinomien als Antinomien zu erfassen, ihre
Unlösbarkeit bereits an der Problemform sichtbar zu machen. Dann
allerdings muß auch die Dialektik in einem weniger harmoni-
sierenden und weniger harmonistischen Sinne gebraucht werden
als bei Hegel. Denn die gewaltigen und offenkundigen Reibungen
und Spannungen im Gefüge der Welt widersprechen der Hegelschen
Dialektik, die doch im Grunde nur ein Instrument zur Auflösung
und zur Verneinung der Antinomien ist. Aber alle echten Anti-
nomien sind notwendig unlösbar; eine lösbare Antinomie ist ein
hölzernes Eisen. Stimmungen und eine rein subjektive Teleologie
verführen zur Verschleierung dieser Erkenntnis, vermindern den
tragischen Ernst in der Tatsache der Antinomien. Sie entspringen
einer dogmatischen Geisteshaltung, während es umgekehrt das
Kennzeichen einer kritischen Einstellung ist, auf Lösung und
Harmonie zu verzichten. Der Ausbau einer solchen kritisch-dialek-
tischen Ontologie, die von Nikolai Hartmann vorläufig erst im Ent-
wurf vorgelegt ist, würde nun nach seiner Ankündigung zunächst
zwei mögliche Grundfälle systematischer Antinomik genauer zu
untersuchen haben. Die eine Möglichkeit besteht darin, daß der
Widerstreit lediglich in der Vernunft, im Denken liegt, und daß die
Vernunftprinzipien nicht zureichen, um alle Seinsbestimmtheiten
zu fassen. Dann wären die Antinomien reine Erkenntnisphänomene,
so wie Kant sie verstand: nicht Antinomien des Seins, sondern der
Vernunft. Die andere Möglichkeit besteht darin, daß der Zwie-
spalt lediglich im Sein liegt, daß er real und das Seiende disharmo-
nisch sind. Dann würde jede gedankliche Konstruktion einer Einheit
oder schon das Suchen nach ihr, so sehr diese durch den Satz des
Widerspruches bedingt sein mögen, einen Verstoß gegen die zwie-
spältige Artung des Seins bedeuten, einen Verstoß, von dem die
Ratio dennoch nicht lassen kann, den sie trotz aller Vergeblichkeit
ihres Tuns, wie von einem unentrinnbaren Schicksal dazu bestimmt,
immer aufs neue begehen muß. Welcher von beiden Antinomien-
typen der berechtigte ist, das muß eine ganz eingehende Kate-
28*
436
VII. Die Erneuerung der Dialektik in der Gegenwart
gorienanalyse entscheiden: Die Entwicklung der Philosophie jeden-
falls drängt dahin, das traditionelle Vorurteil gegen die verschiedenen
Arten des Dualismus fallen zu lassen. Dazu gezwungen wird man
im höchsten Verstände durch das unaufhebbar dialektische Ver-
hältnis zwischen Seinskategorien und Werten oder ontologischen
und axiologischen Prinzipien. Auf diesem Widerstreit beruht das
ganze Phänomen des sittlichen Lebens und damit zugleich die
Möglichkeit seiner Erkenntnis. Der Naturalismus oder Biologismus
zerstört durch die Überordnung der ontischen, der Normativismus
durch die der axiologischen Prinzipien den Sinn und die Problemlage
des ethischen Phänomens, das seine ganze Voraussetzung gerade in
dem Zwiespalt von Sein und Sollen besitzt. Ihre stärkste Spannung
und größte Tiefe erreicht die Idee der Antinomik aber erst durch
die innerhalb des Wertreiches selber vorhandene Diskrepanz, d. h.
nicht bei dem Konflikt zwischen moralischer und antimoralischer
Triebfeder (etwa kantisch: zwischen Pflicht und Neigung), sondern
bei einer Reibung zwischen Pflicht und Pflicht, zwischen Wert und
Wert, z. B. in dem Fall eines Konfliktes zwischen Recht und Liebe.
Hier waltet der Widerstreit in den Wertprinzipien selber; an ihm
wird die Unlösbarkeit aller echten Antinomien in der tiefsten und
entscheidendsten Schicht des Lebens deutlich. Wäre auch diese
Antinomie behebbar, so „gäbe es im Leben nichts, was der Mensch
von Fall zu Fall mit eigener Verantwortung zu entscheiden hätte“
(S. 172—177).
Beachtenswert an diesem Versuch Nikolai Hartmanns, dem
meine eigenen Arbeiten in verschiedenen Beziehungen sehr nahe-
stehen, ist ein Doppeltes. Erstens die Erweiterung der kantischen
Inkongruenz von Sein und Sollen über die spezifisch moralische
Sphäre hinaus zum Weltkonflikt, zu einem Gegensatz in der Ver-
fassung und Schichtung der Wirklichkeit überhaupt; zweitens
die Wendung zur Behauptung realer, ontologischer Antinomien und
damit nicht sowohl eine Erweiterung der kantischen Basis als
vielmehr in gewissem Sinne eine Entfernung von ihr. Dem Ausbau
des Konfliktsgedankens über den Rahmen der Ethik hinaus in der
Richtung auf einen antinomisch-dialektischen Idealismus stimme
ichdurchaus zu. Abergegendas Recht einerontologischen Auffassung
der Antinomien vermag ich meine Bedenken nicht zu unterdrücken,
da hier die Gefahr einer Preisgabe der kritischen Geisteshaltung
zugunsten einer Hypostasierung, Substanzialisierung der Antinomien-
idee vorliegt.
VIII. Dogma und Kritik.
Vorbemerkung1).
In dem Augenblick, in dem ich mich anschicke, die im Thema
angekündigten Gedanken zu entwickeln, fällt mein Erinnern na-
türlicher- und begreiflicherweise auf einen überaus schweren Ver-
lust, von dem unsere Wissenschaft unlängst betroffen worden ist.
Denn sobald wir statt des Namens des heiligen Thomas diejenige
philosophische Richtung einsetzen, die dieser große mittelalterliche
Denker in klassischer Entschiedenheit vertrat, nämlich die Richtung
der Ontologie und des Dogmatismus, so ergibt sich deutlich, daß
ich mit jenem schmerzlichen Hinweis keine andere Einbuße im
Auge habe als diejenige, die die Philosophie durch den Tod Max
Schelers erlitten hat. In ihm ging der Philosophie nicht bloß im
allgemeinen einer ihrer fruchtbarsten Führer dahin, sondern Max
Scheler war im besonderen als einer der wesentlichsten und ein-
drucksvollsten Vorkämpfer und Anwälte für die Wendung zur
Ontologie anzusehen. Daß für die Philosophie der Gegenwart
gerade diese Wendung von charakteristischer und nicht zu unter-
schätzender Bedeutung geworden ist, das verdankt sie in erster
Linie Max Scheler, der dieser Entwicklung die Lebendigkeit und
die Schärfe seines unermüdlichen Geistes lieh. Zwar steht er hier
nicht allein. In dieser Wendung äußert sich sogar ein Vorgang,
der keineswegs bloß geschichtlich bedingten Charakters ist. In ihm
l) Diese „Vorbemerkung“ wurde anläßlich des Hinscheidens Max Schelers
dem Vortrage vorangeschickt, den ich am 13. Juni 1928 in der Berliner Orts-
gruppe der Kant-Gesellschaft über das Thema „Thomas von Aquino und Kant“
hielt. In einzelnen Partien deckt sich dieser Vortrag mit meiner Neapeler Fest-
rede, zu der ich von dem geschäftsführenden Ausschuß des V. Internationalen
Philosophischen Kongresses eingeladen worden war, und die ich im Rahmen der
Veranstaltungen dieses Kongresses und der damit verbundenen Feier zum Jubiläum
der Universität in Neapel am 9. Mai 1924 in der Aula der Universität Neapel
hielt. Diese Neapeler Festrede bezog sich auf die 200. Wiederkehr des Geburts-
tages Immanuel Kants und war diesem Ereignis gewidmet.
438
Vili. Dogma und Kritik
bekundet sich eine ewig aktuelle und mit Notwendigkeit immer
wieder hervorbrechende Tendenz im System der Philosophie. Wir
müssen von der verlockenden Aufgabe jetzt absehen, auf die ge-
schichtlichen Gründe für die Wendung zur Ontologie einen Blick
zu werfen und Max Schelers Stellung in dieser Entwicklung zu
kennzeichnen. Doch indem wir in der Darstellung selber von den
ewig aktuellen Bedingungen und Forderungen handeln werden, die
für die Entstehung einer ontologischen Philosophie maßgebend sind,
werden sich die Ausführungen wie von selber, wenigstens mittel-
bar und zu einem nicht unerheblichen Teil, zu einer Gedächtnis-
rede auf Max Scheler gestalten.
Wir werden sehen, inwiefern seine Vertretung der Ontologie
eine Förderung der Philosophie in sich schließt, und wir werden
ferner sehen, inwiefern in der Vertretung dieses Standpunktes sich
seine Eigenart als Denker ausspricht.
Aber jenseits dieses Einzelstandpunktes, der in der Ontologie
zum Ausdruck gelangt, und ihn weit übergreifend erhebt sich die
dialektische Universalität der Philosophie. Diese vielspältige Uni-
versalität der Philosophie gemahnt daran, daß die Ontologie und
der mit ihr gegebene Dogmatismus doch nur eine Wesensseite
innerhalb der Dialektik der Philosophie ausmachen. Die Erneue-
rung der Ontologie kann der Philosophie selber nur dann zugute
kommen, wenn diese Renaissance als ein Teilvorgang innerhalb
der weit über ihn hinausgehenden Gesamterneuerung der Philo-
sophie begriffen wird. Wie diese Gesamterneuerung zu verstehen
und wie sie durchzuführen ist, das soll sich im folgenden zeigen.
Wir wollen aber dabei nie vergessen, daß sie ohne die Heranzie-
hung der ontologischen Einstellung unmöglich wäre, und zwar
gerade darum, weil die Ontologie nur ein, aber unentbehrliches
Teilmoment in dem umfassenden System der Philosophie bedeutet.
So hat Max Scheler mit erfolgreicher Tatkraft auch an der
Wiedererneuerung der Philosophie mitgewirkt. Das wollen wir ihm
mit hoher Anerkennung und mit dem Versprechen dauernden Ge-
denkens buchen. Doch dürfen wir dabei nicht verschweigen, daß
mit allem Eintreten für die Ontologie, so wohlbegründet dieses
Eintreten auch sein mag, nur halbe Arbeit geleistet wird, wenn
sich ihm der mit dem kantischen Kritizismus gegebene normative
Gesichtspunkt nicht begründend beigesellt.
Wenn ich nun zu der Darstellung selber übergehe, so kann ich
an das soeben Angedeutete unmittelbar anknüpfen.
1. Die Idee der Philosophie als Einheit
439
Ich sprach von der dialektischen Vielspältigkeit und Universali-
tät der Philosophie, in deren Struktur und Systematik der Dogma-
tismus und Ontologismus nur einen Wesenszug neben anderen
bildet.
I. Die Idee der Philosophie als Einheit.
Schon darin prägt sich ein bezeichnender Unterschied der Philo-
sophie von den positiven Einzelwissenschaften aus, daß in ihr und
für sie eine Fülle gegensätzlicher Standpunkte und Richtungen
nicht bloß möglich, sondern geradezu berechtigt und wesensnot-
wendig ist. So sehr der einzelne auch einem bestimmten Stand-
punkt nahestehen mag und ihn als den alleingültigen anerkennt,
so muß doch ein unvoreingenommener Blick auf die geschichtliche
Entwicklung der Philosophie ihm die Frage aufdrängen, wie es denn
kommen konnte und kommen mußte, daß in dieser Entwicklung
jene Vielheit, ja Gegensätzlichkeit hervortrat. Nur eine vorurteils-
volle Enge der Auffassung und der Beurteilung kann zu der Ansicht
verführen, daß der antinomischen Mannigfaltigkeit philosophischer
Einstellungen und Systeme persönliche Willkür oder eine zu weit
greifende individuelle Eigenart als die ausschlaggebenden schöpfe-
rischen Momente zugrunde lägen. Sollte der Gedanke so ganz ab-
wegig sein, daß alle jene inneren Spannungen, an denen die Ge-
schichte und die Systematik der Philosophie gleicherweise so über-
reich sind, zu den eigentümlichen Bedingungen und Grundnot-
wendigkeiten, und zu den Charaktermerkmalen der Philosophie ge-
hören, und sowohl deren Eigenart als auch deren Vorzug bilden?
Wie aber ist dieser Gedanke zu verstehen? Und wie ist er zu
rechtfertigen und zu begründen? Offenbar können ein solches Ver-
ständnis und eine solche Begründung nur dann erfolgen und nur
dann von Erfolg begleitet sein, wenn wir uns über jegliche Ein-
seitigkeit in der Einnahme der philosophischen Betrachtung er-
heben. Diese Wendung aber kann nicht von diesem oder von jenem
philosophischen System aus vorgenommen werden, sondern ihre
Voraussetzung muß die Idee der Philosophie als solche sein.
Gerade die eingangs absichtlich betonte Vielheit der philoso-
phischen Systembildungen, die sich oft bis zu einer ganz unphilo-
sophischen, weil parteilichen Zerrissenheit auf dem Felde der Philo-
sophie gesteigert hat, macht die Erhebung zu der universalen Idee
der Philosophie zur Notwendigkeit. Denn darf gerade auf diesem
440
Vili. Dogma und Kritik
Felde ein Zustand andauern und geduldet werden, der der typisch
und echt philosophischen Forderung nach Synthese so wenig ent-
spricht? Und zu dieser grundsätzlichen, aus dem Geiste der Philo-
sophie selber hervorwachsenden Forderung nach Synthese kommt
ein nicht minder bedeutsames zeitgeschichtliches Verlangen, das
ebenfalls in dem Ruf nach Synthese zum Ausdruck gelangt.
Es wird in der Gegenwart so viel davon gesprochen, daß wir wieder
in ein Zeitalter der Erneuerung der Philosophie eingetreten seien.
Und man bemüht sich, sowohl die Gründe aufzudecken, die jene
Erneuerung veranlassen, als auch diejenige Gestalt der Philosophie
zu kennzeichnen, die aus dieser Erneuerungsabsicht und Erneuerungs-
wendung hervorzugehen im Begriff stehe.
Wie aber wäre eine solche Erneuerung innerlich möglich, durch-
führbar und berechtigt, wenn sie nicht unter der Leitung der Idee
der Philosophie selber unternommen würde, sondern wenn das
ganze Bemühen hauptsächlich darauf sich einstellte, nur der einen
d. h. meistens der eigenen Richtung den Sieg über gegnerische
Strömungen zu erkämpfen? Nach meinem Eindruck kranken alle
Wiederbelebungsversuche der Philosophie, so wohlbegründet sie
sein mögen, an dem Fehler, daß sie nicht a priori an der Idee der
Philosophie selber orientiert sind, sondern von Teileinstellungen
ausgehen und dadurch der partikulären Geltung von Schulrichtungen
verfallen bleiben.
Nun mag jener Forderung, bei den Erneuerungsversuchen der
Philosophie und überhaupt bei jeder echten philosophischen Über-
legung von der synthetischen Idee der Philosophie auszugehen,
kein ernstliches Bedenken im Wege stehen oder entgegenzuhalten
sein. Denn die Orientierung der philosophischen Forschung an
der Idee der Philosophie ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Und deshalb mutet auch das immer wieder zu beobachtende Schau-
spiel so seltsam an, daß an die Stelle jener Idee, den betreffenden
Denkern fast ausnahmslos unbewußt, eine Partialeinstellung ge-
schoben wird. Ein solches Vorgehen jedoch erstickt die erhoffte
oder geforderte Renaissance der Philosophie bereits in ihrem Keime.
Oder sie verurteilt im besten Falle die betreffenden Renaissance-
bemühungen darum zu bald zu überwindenden Vorstufen, weil die
Philosophie nur dann zu wirklichem Leben und zu erneuter Gel-
tung gelangen kann, wenn nicht diese oder jene Schule der Philo-
sophie ein doch immer nur zeitlich gebundenes Ansehen gewinnt,
sondern wenn die Philosophie selber in der Totalität ihres Sinnes
2. Die beiden philosophischen Grundgestalten
441
verstanden wird und sich so durchsetzt. Entweder gelingt diese
Wiedererfassung und Aufrichtung des universalen synthetischen
Sinnes der Philosophie, und dann wird auch die Renaissance der
Philosophie gelingen, oder wir bleiben beschränkt auf die Erneue-
rung von einzelnen Standpunkten, und dann wird auch die Renais-
sance der Philosophie nicht gelingen.
Die vorliegenden Betrachtungen wollen der Renaissance der Philo-
sophie dienen, aber ihr dienen in dem überparteilichen und über-
greifenden Sinne, der der Philosophie eigen ist, wenn sie nicht ihre
Idee und die Systematik ihrer Entwicklung verleugnet.
Damit aber stehen wir vor der überaus schwierigen Aufgabe,
die grundlegende Idee der Philosophie selber wenigstens in ihren
Umrissen zu kennzeichnen, also der Frage Beachtung zu schenken:
„Wie ist Philosophie überhaupt, also ihrer Idee nach, möglich?“ Und
wie können wir dieser gründenden Idee habhaft werden? Wird
dieser Versuch durch den Hinweis auf die schier schwindelerregende
Vielspältigkeit in der historischen und systematischen Ausprägung
der Idee nicht von Anfang an vereitelt? Ich kann diese Besorgnis,
die beinahe eine Bedrohung des Versuches, zu der Idee der Philo-
sophie vorzustoßen, darstellt, in keiner Weise teilen. Der bedrohende
Hinweis auf jene Vielspältigkeit umschließt eine arge Übertreibung,
ja, er ruht auf einer argen Täuschung. Denn wir werden alsbald
sehen, daß sich in der so gern hervorgehobenen Gegensätzlichkeit
der philosophischen Systeme und in ihrem scheinbar polaren Aus-
einandergerissenwerden doch ein einheitliches und gliederndes
Prinzip bemerkbar macht, ein objektives Denkprinzip, das kraft seiner
Dialektik die Dialektik in der Entwicklung der Philosophie bedingt
und dieser Entwicklung neben ihrer Einheit auch die erfreulichste
Fülle und Vielseitigkeit verschafft.
2. Die beiden philosophischen Grundgestalten:
Dogmatismus und Kritizismus.
Welches ist dieses schöpferische und die Fülle der philosophischen
Richtungen ebenso schaffende wie ordnende und zusammenhaltende
Prinzip? Es ist deutlich, daß wir nur dann bis zu der Idee der
Philosophie selber, bis zu ihrem Wesen und Ursinn hindurchge-
drungen sind, wenn wir jenes Prinzipes habhaft wurden.
Wir haben unter uns Platoniker und Aristoteliker, Anhänger
und Verehrer des heiligen Augustinus und des heiligen Thomas; in
442
Vili. Dogma und Kritik
unseren Reihen befinden sich Spinozisten und Leibnizianer, wie wir
in der Gegenwart neben anderen Erneuerungstendenzen auch eine
Art von Renaissance der Philosophie von Leibniz haben. Wir
sehen in unserem Kreise Empiristen, Pragmatisten, Positivisten
ebenso, wie Verehrer des deutschen Idealismus in seinen verschie-
densten Spielarten und Sonderformen, ja es hat sich auch eine
Richtung des idealistischen Positivismus aufgetan, wie die Als-Ob-
Philosophie zeigt; Schopenhauer und Nietzsche, der Rationalismus
und der Irrationalismus, der Logismus und der Voluntarismus
finden Pflege und Vertretung.
Ist es nun so, daß die Idee der Philosophie in dieser fast unüber-
sehbaren Mannigfaltigkeit auseinanderstrebender Standpunkte sich
ausprägt? Wäre das der Fall, würde sie dann nicht in eben dieser
Mannigfaltigkeit sich auflösen und würde damit nicht eigentlich
die Behauptung, daß die Philosophie über eine einheitliche Syste-
matik verfügt, nichts als leerer Schall und Rauch sein? Die Gleich-
berechtigung aller dieser Standpunkte würde allerhöchstens den
Ausdruck einer Universalität des philosophischen Geistes bedeuten,
die so groß wäre, daß ihr die faßliche Struktur und die einheitliche
Gestalt fehlen würden. Es wäre eine etwas sehr unbestimmte Uni-
versalität, die schließlich in dem Nebel der Subjektivität und der
planlosen Willkür in der Erzeugung philosophischer Systeme zer-
fließen würde.
Aber gerade angesichts jener Fülle in der historischen Aus-
prägung der philosophischen Systematik, besonders angesichts des
beunruhigenden Eindruckes, den diese Fülle als Gefährdung der
Einheit des Philosophierens hervorrufen muß, fragen wir, ob in
ihr sich nicht eine gewisse Ordnung und Einheitlichkeit bekundet.
Wir wollen die Tatsächlichkeit dieser Fülle natürlich mit keinem
Worte leugnen, sogar umgekehrt wiederholen, daß diese Mannig-
faltigkeit und Bewegtheit einen beruhigenden Ausdruck des Ge-
deihens der Philosophie darstellt. Aber die Feststellung dieser
Mannigfaltigkeit ist das Zeugnis einer historischen Einstellung zur
Philosophie, die, wie es überall bei einer historischen Betrachtung
der Fall ist, den Reichtum der Gestalten und der individuellen
Lebensformen nicht zugunsten einer gar zu großen Vereinheit-
lichung mindern oder gar vernichten darf. Ganz anders ist es hin-
gegen um jene Fülle bestellt, wenn wir ihr unter dem Gesichtspunkt
einer philosophischen Betrachtung gegenübertreten. Dann wird
die systematisierende Zusammendrängung der Vielheit der Stand-
2. Die beiden philosophischen Grundgestalten
443
punkte geradezu zu einer systematischen Pflicht. Wie die Philo-
sophie selber an der Idee der Einheit und des Systems orientiert ist,
so muß auch eine Betrachtung der Philosophie, die selber philo-
sophischen Charakters zu sein beansprucht, aus prinzipiellen Gründen
die Idee ordnender Zusammenfassung und vereinheitlichender
Orientierung berücksichtigen und bewähren.
Unter dem Gesichtspunkte einer solchen philosophisch gebote-
nen systematischen Zusammenfassung der Vielheit der Standpunkte
wage ich die Behauptung, daß sich jene ganze Mannigfaltigkeit
auf die beiden umfassenden Gedankentypen des Dog-
matismus bzw. Ontologismus und des Kritizismus zu-
rückführen läßt. Wie die Beziehung zwischen diesen beiden
Grundtypen nun weiter beschaffen ist, und wie aus der Dialektik
dieser Beziehung die reiche Entfaltung der Philosophie tatsächlich
sich aufbaut, das wird uns dann etwas später noch beschäftigen.
Zunächst ist der betonte Hinweis darauf geboten, daß wir
jene beiden Grundtypen in dem höchsten Verstände erfassen müssen.
Hiernach wären sie nicht in erster Linie bestimmte und eingeschränkte
Schulstandpunkte, sie wären vielmehr die beiden metaphysischen
Hauptrichtungen, die in der Dialektik der Idee der Philosophie
versponnen sind und aus ihr dialektisch hervorwachsen. Wir ver-
stehen sie in derjenigen Weite, die Kant diesen Begriffen gab, d.h.
in der sie allgemeinste metaphysische Einstellungen und meta-
physisch gerichtete Wertungs- und Deutungsweisen der Wirklich-
keit darstellen, in der sie allgemeinste Erkenntnis- und Glaubens-
formen und systematische Bekenntnisse allgemeingültiger Welt-
anschauungen bedeuten.
Wird der Begriff des Dogmatismus bzw. derjenige des Kritizis-
mus in dieser Weise aufgefaßt, dann ist deutlich, daß jeder Denker,
sei es ausschließlich oder vorherrschend, mehr dem einen oder mehr
dem anderen der soeben genannten Typen angehört. In einer
knappen Ausdrucksform möchte ich sagen: Jeder Philosoph ist
entweder mehr Thomist oder mehr Kantianer, wenn wir für jene
beiden Grundtypen die Namen ihrer klassischen Vertreter einführen
wollen.
Diese Stellungnahme jedoch, diese Zugehörigkeit zu dem einen
oder zu dem anderen metaphysischen Typus und die Wahlentschei-
dung für den einen oder für den anderen Typus, sie entstammen
nicht einem persönlichen Belieben; auch nicht der Abhängig-
keit von bestimmten geistes- oder zeitgeschichtlichen Strömungen
444
Vili. Dogma und Kritik
und den durch diese nahegeiegten Neigungen. Vielmehr erwachsen
diese Zugehörigkeit und diese Entscheidung aus der tiefsten ethisch-
religiösen Schicht unseres Wesens selber, aus demjenigen Element
und Faktor unserer Verfassung, durch dessen Kraft wir von allen
psychischen und empirisch-geschichtlichen Umständen und Bezügen
frei sind. Es ist kein empirisches Anliegen, es ist auch keine Er-
ziehungs- oder Bildungsfrage, sondern es ist eine metaphysische
Gesinnungs- und Schicksalsangelegenheit, ob wir uns mehr dem
ontologistisch-thomistischen oder mehr dem kritisch-kantischen Typ
zurechnen dürfen und verbunden wissen, ob die erste Position
unserer Metaphysik in der in sich ruhenden Annahme eines in sich
gültigen Seins oder in der methodischen und prinzipiellen Unter-
bauung und Begründung des Seins durch die konstruktiven Funk-
tionen der Vernunft besteht. Dieser Gegensatz läßt sich in einer
höchsten und allgemeinsten Formulierungauch so aussprechen: Es
handelt sich um die überempirische Entscheidung zwischen der An-
erkennung des Logos als Substanz oder der kritischen Behauptung,
daß das sogenannte „Wesen“ des Logos nichts anderes als der
unendliche Prozeß der methodischen Konstituierung alles Seienden,
des geringsten wie des höchsten, durch die funktionellen System-
formen der Vernunft ist. Dieser Gegensatz durchzieht die ganze
Geschichte der Philosophie schon vor Kant, wenn wir auch
die genaue und kühne Herausarbeitung und die theoretische Klä-
rung dieses Gegensatzes erst dem unsterblichen Schöpfer der Kritik
der reinen Vernunft verdanken. Zweifellos muß die scharfe Hervor-
hebung dieses Gegensatzes als eine Meistertat des kantischen Genius
anerkannt werden. Denn durch diese Aufstellung schuf er sich eine
der wichtigsten systematischen Voraussetzungen für die Errichtung
des kritischen Systems, zu dessen „Möglichkeiten“ die unumwun-
dene Abhebung und Unterscheidung von dem dogmatischen Typus
gehört. Der Kritizismus baut sich als Ganzes prinzipiell durch seine
durchgängige Ablehnung des Dogmatismus, durch seine unentwegte
Absonderung von diesem auf. Ferner hat Kant durch jene Unter-
scheidung unsere Kenntnis und Erkenntnis der schöpferischen
Grundbezüge und Grundlagen aller philosophischen Arbeit in außer-
ordentlichstem Umfange gefördert und vertieft. Durch die Gegen-
überstellung dieser beiden Typen erhöhte sich ungemein die Sicher-
heit der Einsichtnahme in die Verschlungenheiten der systematischen
Beziehungen und in den Charakter dieser Beziehungen, aus deren
Wechselspiel der vielfältig strukturierte Bau der Philosophie sich
2. Die beiden philosophischen Grundgestalten
445
erhebt. Zu den alten und immer wieder unternommenen Be-
mühungen um eine typologische Einteilung und Ordnung
der phil osophischen Systeme hat Kant einen hervorragend
fruchtbaren Beitrag beigesteuert. Dabei sehen wir hier ganz davon
ab, daß dem Schema jener Einteilung auch noch der Typus des
Skeptizismus oder, in der heutigen Sprache, der des Relativismus
eingefügt ist.
Der entscheidende Wert jener Gegenüberstellung scheint mir nun
jedoch erst auf einem dritten, bisher fast unbeachtet gebliebenen
Umstand zu beruhen. Eine der erstaunlichsten Gaben Kants äußerte
sich in seiner Fähigkeit zu scharfer und folgerichtiger Grenzab-
steckung der verschiedenen Gebiete. Diese Grenzabsteckung besaß
bei ihm die Bedeutung eines Regulativs für die Grundlegung, für die
Entwicklung und für die Durchführung des Kritizismus, und Kant
wachte mit betonter Strenge über der Berücksichtigung der einge-
setzten Unterscheidungen. Denn er wußte genau, wie notwendig
sie für den gesicherten Fortgang der Philosophie und der Wissen-
schaft sind. Vielleicht darf man in der Forderung der Wahrung
jener Unterscheidungen den theoretischen Ausdruck der Erkenntnis
erblicken, daß überhaupt deutliche und saubere Differenzierungen
und Spezialisierungen eines der wichtigsten Hilfsmittel für die er-
folgreiche Ausbreitung der allgemeinen Kultur darstellen. Indem
nun Kant die Gegenüberstellung von Dogmatismus und Kritizismus
in einer so deutlichen Schärfe und Zuspitzung vornahm und ihre Auf-
rechterhaltung verlangte, allerdings mit der Behauptung, daß durch
die Schöpfung des Kritizismus das Ende und die Beseitigung des
dogmatischen Typus gegeben seien, legteer die Grundlage für eine
neue Fragestellung, aus der die unendliche Fruchtbarkeit der
kritischen und kritizistischen Analysen von einer neuen Seite her
zwingend sichtbar wird. Denn wie zahlreich sind die Fälle, in denen
sich beobachten und nachweisenläßt,daßdiese kritizistischenAnalysen
darum zu neuen Problemlagen hintreiben, weil sie ganz von kon-
struktiv-synthetischem Geiste getragen sind, weil ihre zergliedernde
Leistung nur den Ausdruck einer synthetischen Funktion bildet.
Liegt nämlich das Verhältnis zwischen Dogmatismus und
Kritizismus wirklich so, daß hier die Entscheidung ausschließ-
lich den Charakter des Entweder-Oder besitzen muß? Schließt
nicht die Abhebung des einen Typus von dem anderen die Tatsäch-
lichkeit und Bejahung des ausgeschlossenen in sich? Bekundet sich
die schöpferische Kraft des Kritizismus nicht in eigentümlicher
446
Vili. Dogma und Kritik
Weise gerade durch die von ihm vorgenommene Legitimierung des
Dogmatismus als des zu dem Kritizismus nach dem Prinzip der
dialektischen Korrelation gehörenden, ja von ihm dialektisch ge-
forderten, polaren Typus? Offenbart sich nicht darin eines der
einwandfreiesten und stichhaltigsten Zeugnisse für die Größe des
Kritizismus, daß er auf Grund seiner inneren methodischen und
systematischen Bezogenheit auf den Dogmatismus diesem einen
vernünftigen Geltungswert zuspricht, den der Dogmatismus und
Ontologismus von sich aus nicht besitzt und darum nicht in sich
tragen kann, weil er eben — Dogmatismus ist? Mochte Kant
selber auch überzeugt sein, durch sein Verfahren und durch die Er-
gebnisse seiner Kritik die Unhaltbarkeit des ontologistischen Dogma-
tismus dargetan und dessen Überwindung herbeigeführt zu haben:
gerade die Konsequenzen des Kritizismus führen zu einer anderen
Beurteilung des Sachverhaltes. Die Einsicht in die Struktur und in
den Sinn und in die Beziehungsrichtung des Kritizismus veranlaßt
eine bejahende Bewertung des Dogmatismus, verhilft zu dessen
Rehabilitierung, allerdings zu einer Rehabilitierung, die er durch-
aus nur dem Kritizismus verdankt, so daß er ein ewiger Schuld-
ner des Kritizismus bleibt. In welcher Form und in welchem
Umfang diese Rehabilitierung erfolgt, welchen tiefgreifenden Ver-
änderungen der Dogmatismus dadurch unterzogen wird, das sei für
eine spätere Überlegung zurückgestellt, die die kritische Umgestal-
tung des dogmatischen Seinsbegriffes und des alten rationalistischen
Ontologismus genau beachten muß.
Muß aber nicht unsere gespannte Aufmerksamkeit durch den
Umstand wachgerufen werden, daß der Dogmatismus trotz aller
„Widerlegung“ durch den Kritizismus noch immer am Leben ist
und sich, wie die gegenwärtige Entwicklung der Philosophie dartut,
einer zunehmenden Anerkennung und Ausbreitung erfreut? Den
großen metaphysischen Systemen eignet eine andere Gel-
tung und ein anderer Sinnanspruch als den einzelnen, in den posi-
tiven Wissenschaften auftretenden Theorien, und schon darum darf
bei aller Beziehung zwischen Philosophie und Einzelwissen-
schaften doch ihre tiefe Verschiedenartigkeit nicht übersehen
werden. Aus den großen metaphysischen Systemen spricht
eine ewige Aktualität, sie haben eine große metaphysische
Wirklichkeit, die durch die rein theoretische Widerlegung dieses oder
jenes Zuges, und sei dieser von noch so großer, sogar prinzipieller
Bedeutung, dennoch keine durchschlagende Einbuße erleidet. So
2. Die beiden philosophischen Grundgestalten
447
sah auch der Kritizismus sich seit seiner Begründung und zeit seines
Bestehens mehr oder minder sachlichen, mehr oder minder scharf-
sinnigen, mehr oder minder treffenden und geglückten Angriffen
und Widerlegungsversuchen ausgesetzt. Und gerade die letzt-
vergangenen Jahre brachten eine Mehrung der Gegnerschaft und
eine Zunahme der Einwände, so daß die Philosophie Kants bereits
vielfach als eine abgetane Größe, als eine durch die Entwicklung
der philosophischen Forschung in mancherlei Hinsicht überwundene
Erscheinung angesehen wurde. In diesem Zusammenhang konnte —
allerdings nicht auf Grund vorurteilsloser und freier Würdigung des
Tatbestandes — das haltlose Wort fallen, daß wir jetzt an dem Todes-
lager des Kantianismus und Neukantianismus stünden. Trotz aller
Bedenken und Ablehnungen, trotz aller Polemik und Gegnerschaft
hält aber Kant die philosophische Weltmeisterschaft unerschüttert
und ungebrochen in seinen starken Händen. Es ist eine Verkennung
der Sachlage, von einem Schwinden des Ansehens und der Geltung
des Neukantianismus zu sprechen. Seine Tage sind schon deshalb
noch lange nicht gezählt, weil er sich jetzt zur Behandlung und Be-
wältigung einer neuen, ungemein reizvollen, wenngleich schwierigen
Aufgabe anschickt. Nachdem er in seiner ersten Phase die metho-
dische Grundlegung der Mathematik und der mathematischen Natur-
wissenschaften sich hatte angelegen sein lassen — eine Arbeit, die
durch eine Reihe wahrhaft klassischer Werke in vollendeter logischer
Technik durchgeführt worden ist —, ist der Eintritt in seine zweite
Phase durch die Übernahme der Aufgabe gekennzeichnet, nunmehr
auch die transzendental-kritische Begründung der Geisteswissen-
schaften durchzuführen, also vom Standpunkt der Transzendental-
logik aus die Frage zu beantworten: Wie sind die Geisteswissen-
schaften als Wissenschaften überhaupt möglich? Erst dann und
nur dann, wenn sich ergeben sollte, daß er zur Lösung dieser Auf-
gabe, der dringlichsten und wichtigsten in dem ganzen Umkreis der
philosophischen Theoretik, nicht tauglich sein sollte, kann mit
Fug von einer Überlebtheit des Kantianismus und des Neukantianis-
mus die Rede sein. Vorläufig ist aber jede nach dieser Richtung
gehende Voraussage nichts als ein Zeichen eines vorschnell urtei-
lenden Dilettantismus.------
Es wäre nun eine lockende und lohnende Aufgabe, in eingehenden
theoretischen Untersuchungen die Dankesschuld des Dogmatismus
an den Kritizismus und das vielfach verschlungene Wechsel-
verhältnis zwischen ihnen aufzurollen und u. a. zu zeigen,
448
Vili. Dogma und Kritik
wie durch den Kritizismus der Dogmatismus seine alte Natur als eine
Form naiver und damit für die Zwecke der Wissenschaft nicht ver-
wendbarer Tatsachengläubigkeit und ungeprüfter Tatsachenannahme
einbüßte und den Charakter eines empirischen und exakten Positi-
vismus gewann. Doch zu einer so weit ausgesponnenen Darlegung
steht hier der entsprechende Raum nicht zur Verfügung. Wir müssen
uns bei dieser Gelegenheit auf Betrachtungen allgemeinster Art be-
schränken, die jenes Wechselverhältnis mittels einer höch-
sten prinzipiellen und metaphysischen Klärung zu be-
leuchten und zu erleuchten suchen.
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden
Grundgestalten.
a) Erkenntnistheoretische Überlegung.
Wenn wir den Dogmatismus auffassen als den Ausdruck einer
Geisteshaltung, die die Tatsachen der Wirklichkeit, seien es die der
naturhaften oder diejenigen der seelisch-geistigen und geschichtlich-
gesellschaftlichen Wirklichkeit, einfach als solche anerkennt und
hinnimmt, so würden wir mit ihm noch außerhalb der Philosophie
stehen. Denn ein Seiendes als solches, als ein bloßes Faktum, als
ein Vorhandenes, als ein bloß Da-Seiendes ermangelt der erforder-
lichen Beziehung auf die Erkenntnis und auf deren konstituierende,
es theoretisch legitimierende und es begrifflich bemeisternde, weil
begründende Funktion. Ein Sein vor oder jenseits der Funktion
der Erkenntnis ist im genauen Sinn ein Ungedanke, ein Nicht-
gedanke. Ein nichtgedachtes, also ein auf das System der Vernunft
nicht bezogenes Sein — ja, was das „ist“, vermag niemand in sinn-
hafter Rede zu sagen. Diese notwendige Abhängigkeit des Seins
von der Vernunftsystematik, seine logische Gesetztheit durch
diese ist durch Kant und durch alle Ausprägungen des Kantianis-
mus und des Neukantianismus zu zweifelsfreier Gewißheit erhoben
worden. Und Kant und seine Anhänger haben in dieser Lehre ihre
Vorgänger in den Eleaten und in ihrem großen Schüler Plato, die
mit echt kritischer Schärfe die immanente Bezogenheit jeder Tat-
sächlichkeit auf den Logos erkannten und nachwiesen.
Zeigt aber das Verhältnis von Erkenntnis und Sein nur die
soeben kurz angedeutete Einseitigkeit? Ist nicht jede Funktion und
jede Systematik des Logos zugleich auch auf ein Sein bezogen? Und
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 449
zwar auf ein Sein in doppelter Hinsicht? Erstens setzt doch der
Gedanke des funktioneilen Wertes der Erkenntnis den der Sub-
stantialität der Erkenntnis voraus. Wohl handelt es sich „nur“ um
eine logische Substantialität. Wohl betätigt sich diese logische
Substantialität in den Formen funktioneller Konstruktionen und
Synthesen: Aber ein Seinswert muß diesen Funktionen doch zu-
gesprochen werden, nämlich das Sein des Logos, das sich in seinen
Prozessen und Synthesen entfaltet. Zweitens ist doch das Sein
auch dem Erkenntnisprozeß insofern unentbehrlich, als dieser in
seiner konstitutiven Funktion durchaus an einen Stoff, an einen
Inhalt gebunden ist, an dem er sich auswirkt und in seiner metho-
disch-konstruktiven Kraft ausweist. Andernfalls würde er ganz
ins Leere verlaufen und noch weniger als einen hohlen Form-
zusammenhang darstellen. Er könnte sonst im genauen Sinn des
Wortes seine „objektivierende“ Funktion nicht ausüben, und damit
würden ihm überhaupt sein Sinn und sein wissenschaftlicher Wert
entschwinden. Denn alle Wissenschaft entsteht allererst in dieser
objektivierenden Funktion der Kategorien, da von ihrem Wesen der
Begriff der Objektivität, der objektiven Geltung unab-
trennbar ist.
Was aber wollen diese Betrachtungen, methodisch und prinzipiell
gewendet, anders besagen als daß zwischen Kritizismus und Dogma-
tismus logisch das Verhältnis unlösbarer Korrelation obwaltet?
Der Kritizismus vermag sein Amt der transzendentallogischen Be-
gründung nur dann durchzuführen, wenn und wofern ihm durch den
Dogmatismus, der bei seiner methodischen Verwendung durch die
einzelnen konkreten Wissenschaften den Charakter des empirischen
Positivismus trägt, das entsprechende Tatsachenmaterial geliefert,
wenn und wofern ihm durch diesen das „Bathos der Erfahrung“
erschlossen und zugänglich gemacht wird. Es ist besonders das
Verdienst der Marburger Richtung des Neukantianismus, darauf
nachdrücklich hingewiesen zu haben, daß die kritische Grundlegungs-
funktion immer auf das „Faktum“ der Kultur bezogen und an
dieses gebunden sei. Dadurch unterscheidet sich der kritische Idea-
lismus deutlich von dem absoluten oder spekulativen Idealis-
mus, der dieses Faktum in seinen dialektischen Konstruktionen frei
zu erzeugen strebt. So ist jener bei seiner erkenntniskritischen
Grundlegungsarbeit immer und unabweisbar bezogen auf das „Fak-
tum“ der Wissenschaft, bei seiner ethischen auf das des mensch-
lichen Handelns usw.; in seiner systematischen Ganzheit schließ-
Liebert, Dialektik. 29
450
Vili. Dogma und Kritik
lieh ist er bezogen auf das Faktum der Kultur. In diesem Sinne
ist er kritisch-systematische Kulturphilosophie, indem er das Fak-
tum der Kultur begründet durch die objektivierenden Formen der
Kategorien und der Ideen, es also durch das System der Vernunft
erhärtet und beglaubigt. Das heißt: Dieses Faktum selber ist ihm
durchaus unentbehrlich. Von ihm weiß er aber nur durch die Hilfe und
durch die Vermittlung des empirisch-positivistischen Dogmatismus.
b) Ethische Überlegung.
Ein tieferer Zug offenbart sich in diesem Wechselverhältnis
zwischen Kritizismus und Dogmatismus bei der Berücksichtigung
seiner ethischen Seite. Es handelt sich hier um den oft ausgefoch-
tenen Streit, ob die Sittengesetze ein Sein, wie es der ethische Dog-
matismus behauptet, oder ob sie ein Sollen ausdrücken, wie die
kritische Ethik lehrt. Die Alternative von Sein und Sollen
hat den Charakter einer höchsten und gespanntesten Antinomie, die
bereits einen mehr als theoretischen, die bereits einen weltan-
schaulichen Gegensatz ausdrückt. Deshalb ist hier die Ent-
scheidung nach der einen oder nach der anderen Seite für das mensch-
liche Leben und für den Gang der geschichtlichen Kultur von einer
nicht zu unterschätzenden, sie ist von einer geradezu schicksalshaften
Tragweite. Denn der Sinn unseres Daseins äst bis hinein in seine
metaphysisch-religiöse Wertschicht abhängig davon, ob wir als das
Gesetz, das ihn bestimmt und beherrscht, die Immanenz des Seins,
und werde dieses Sein als statisch oder als dynamisch, als kausal-
mechanisch oder als kausal-teleologisch, als beharrend oder als in
Entwicklung befindlich gedacht, oder die Transzendenz des Sollens
anerkennen. Die schicksalsschwere Wucht dieses Gegensatzes,
den wir alle in irgendeiner Form in uns tragen, und unter dem ge-
rade die Tiefsten und Reichsten unter uns oft peinvoll leiden, prägt
sich in einer unverwischbaren Verschiedenheit des inneren Lebens-
standes und Lebensgefühls aus. Wer das Gesetz des Seins in
sich oder über sich weiß, weiß sich positiv in der bereits ge-
wonnenen Hut und Gnade des Absoluten; der Dualismus zwischen
Erscheinung und Idee ist überwunden, die endgültige Begründung
des Lebens im Ewigen ist erreicht. In demselben Sinne läßt sich sagen:
die gesuchte oder erhoffte Erlösung ist gefunden. Diese Einigung und
Einheit vollzieht sich für diesen Standpunkt dadurch, daß das Ab-
solute, sagen wir: der ewige göttliche Geist, in die Erscheinungswelt
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 451
eintritt, in ihr sich offenbart, eine irdische Gestalt annimmt, in ein
irdisches Gewand sich kleidet. Dieser metaphysische Monismus
zeigt immer die Neigung, in einen Pantheismus umzuschlagen und
die Immanenz des absoluten Seins in der Relativität der Erschei-
nungswelt abzuplatten zu dem Gedanken der Identität von Welt
und Gott. Der psychische Niederschlag dieser Überzeugung besteht
in dem Gefühl unbedingter Geborgenheit und beseligender
Ruhe, er besteht in der Gewißheit, daß wir zu jeder Stunde restlos
im Ewigen gebettet und geborgen sind, und daß keine Macht uns
die Sicherheit des Heils zu rauben vermag.
Außer den großen Lehrern der alten Kirche, außer den Apolo-
geten, den beiden Alexandrinern, Clemens und Origenes, und den
drei Kappadoziern, Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa,
wird dieser metaphysisch-monistische Dogmatismus, was das Gebiet
der Philosophie betrifft, von niemandem stärker und mit umfassen-
derer systematischer Ableitung und Begründung vertreten als von
Hegel. Wir haben in ihm die metaphysisch bedeutsamste Über-
tragung des religiösen Einheits- und Erlösungsgedankens in seiner
spezifisch christlichen Ausprägung auf das Reich der Philosophie
und in das Reich des Begriffes. Mit einer bewußten und beabsich-
tigten Steigerung: Die eigentlichen, d. h. die übertheoretischen
Grundlagen der philosophischen Spekulation Hegels stammen aus
dem Dogmatismus jenes religiös-christlichen Glaubenskreises, in den
er durch seine Erziehung im Tübinger Stift hineinwuchs und der
ihn dauernd und nachdrücklich beherrschte. So trifft auf ihn die
Bezeichnung des modernen Philosophus christianissimus zu und nicht
auf Schopenhauer, dem Paul Deussen dieses Prädikat zusprach.
Dabei wird es stets eines der merkwürdigsten und paradoxesten
Schauspiele in der Weltgeschichte des Geistes bleiben, daß gerade
derjenige Denker, der das Prinzip der Dialektik am rückhaltlosesten
befürwortete und anzuwenden suchte, dieser Hauptmethode seiner
Systematik doch untreu wurde und untreu werden mußte. Denn
indem Hegel den Gedanken der endlichen Versöhnung von Er-
scheinung und Idee betonte, indem er das Absolute sich in dem Prozeß
der geschichtlichen Entwicklung offenbaren und vollenden läßt,
indem er unter — bisweilen übermäßiger — Polemik gegen Kant
und Fichte den Dualismus von Sein und Sollen nicht gelten lassen
wollte, weil er das kantische Sollen als eine nur subjektive Forde-
rung mißverstand, beraubte er sich der entscheidenden Voraus-
setzung für die Aufstellung und für die uneingeschränkte Durch-
29*
452
Vili. Dogma und Kritik
führung der Dialektik. Hegels Dialektik ist immer nur eine solche
innerhalb der Entwicklung des Absoluten, das keine andere, ihm
ebenbürtige Macht neben sich hat, das kraft seiner Absolutheit also
jede Entzweiung und Antithese aufzuheben vermag. Seine Dia-
lektik reicht nicht, und das ist das eigentlich Maßgebende, bis in
ihr eigenes Wesen hinein oder hinab. Der absolute Geist ist der
unerschütterliche Bürge für die Erlösung, und da er alles erfüllt
und durchdringt, so besteht für alle Kreatur die Gewißheit, den
Spannungen enthoben, aus der Tragik des Lebens befreit zu werden.
In der Hegelschen Dialektik entrollt sich nur die Erscheinung des
Absoluten in der geschichtlichen Welt, und dadurch kommt der
geschichtliche Prozeß zustande. Diese Dialektik ist die Außenseite
des Absoluten, das seiner Natur nach selber aber jenseits aller
Antinomik steht, alle Dialektik und Antithetik in sich zurücknimmt
und ausgleicht, und das alles, was ihm als Aufgabe bevorsteht und
als Forderung gesetzt ist, auch restlos —verwirklicht, das, mit an-
deren Worten, alles bloß Gesollte zu einem Seienden umstempelt.
Völlig im Geiste Hegels läßt sich mit einer theologisch klingenden
Wendung sagen: Was Gott will und soll, hat er auch ausgeführt
und erreicht; bei ihm decken sich Aufgabe und Leistung, Forde-
rung und Erfüllung. Das Göttliche überwindet alles Endliche; die
ewige Zukunft ist ihm ewige Gegenwart; alle Dissonanzen sind
durch seine Macht ausgeglichen. Und wer sich zu einer adäquaten
Erfassung des absoluten Geistes zu erheben vermag, was in der
Kunst durch die Form der Vorstellung, in der Religion durch die
der Anschauung und in der Philosophie durch die Form des Begriffs
möglich ist, erfährt die Einheit von Erscheinung und Idee, weiß
von dieser Versöhnung und genießt sie: Er ist erlöst.
Das Gegebene ist auf Grund seiner Durchdringung durch das
Absolute, das Reale ist durch das Ideelle zu sittlicher und religiöser
Autorität erhöht; die Tradition ist heilig gesprochen, der
geschichtliche Zusammenhang trägt wegen seiner ihm innewoh-
nenden Autorität den Charakter unbedingter Geltung. In den großen
historischen Einrichtungen und Organisationen, vor allem im Staat
und in der Kirche, offenbart sich die Vernunft des Absoluten, und
damit ist durch sie und überhaupt durch die Geschichte und in
ihr der Ausgleich von Notwendigkeit und Freiheit, von Autorität
und Autonomie erreicht und gewährleistet. Der ontologisch-speku-
lative Dogmatismus besitzt in bezug auf die Ethik sein Kennzeichen
in der schließlichen Überordnung der Autorität über die Autonomie,
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 453
des objektiven Seins über das Sollen. Diese Überordnung gelangt zu
unverkennbarem Ausdruck in der Heiligsprechung und Heilighaltung
der großen objektiven, geschichtlichen Institutionen, in denen der
absolute Geist seine objektive geschichtliche Gestalt gewinnt, und
in deren Schöpfung sich seine Allmacht verkörpert und besiegelt.
Daraus wird einleuchtend und ersichtlich, daß und warum jener
Dogmatismus zu einer konservativen und statischen Gesinnung führt.
Zugleich erhellt daraus jedoch einwandfrei seine Unzulänglich-
keit, sobald er absolut und ohne die ihm unentbehrliche Beziehung
auf die kritische Ethik genommen wird. Diese Unzulänglichkeit läßt
sich durch verschiedene Nachweise aufdecken, die aber alle auf
den gleichen Punkt hinauslaufen: Der Dogmatismus vermag die
Erscheinung der sittlichen Konflikte, er vermag das Auftreten
und das Durchleiden sittlicher Spannungen oder, was genau
dasselbe ist, er vermag den Begriff der Geschichte nicht zu
begründen. Die tragischen Antinomien des Lebens, die dem Leben
doch erst seinen Reichtum und seinen ergreifenden Inhalt verleihen,
sind für ihn lediglich vorübergehende, dahinspielende, relative
Reibungen, für die die Lösung und Aufhebung bereitsteht. Sie sind
für ihn nur ein Äußeres und Äußerliches, nicht jedoch ein Wesent-
liches, das zum Sinn des Lebens unabtrennbar mitgehörte und
dessen Qualität entscheidend mitbestimmte, wie das doch der Fall
ist. Anders ausgedrückt: Jener Dogmatismus vermag dem Begriff
der Geschichte nicht innerlichst gerecht zu werden, weil dieser
Begriff die dialektische Beziehung zu einem transzendenten Sinn,
zu einer transzendenten Norm, d. h. weil er ein Jenseits zum ge-
schichtlichen Sein fordert, weil das wirklich geschichtliche Leben
sich von dem bloß geschichtlichen Lebensablauf durch seine tragi-
sche Transzendierung auf einen Wert unterscheidet, den es in
seinem empirischen Felde nie erreicht. Es ist eine Verkennung des
metaphysischen Sinnes der Idee der Freiheit und Autonomie, wenn
sie als in den geschichtlichen Institutionen verkörpert gedacht,
wenn ihre Unausgleichbarkeit mit den Lebenszusammenhängen
übersehen wird. In dem „Sein“ der Geschichte steckt ein
Doppel wert, steckt ein Doppelsinn, d. h. in ihrem Sinn steckt ein
Sollen, eine Forderung, deren Irrealität und Irrealisierbarkeit gerade
die bindende und bedingende Voraussetzung für alle geschichtlichen
Realitäten und Realisierungen darstellt.
So ist die Irrealität und transzendente Normativität des Sollens
gerade der Geschichte um ihrer selbst willen unabweisbar nötig.
454
Vili. Dogma und Kritik
Die berühmte und unvergleichlich bedeutsame und berechtigte
kritische Unterscheidung von Sein und Sollen ist nicht nur logisch
geboten, um des Begriffes der Sittlichkeit willen, sondern sie ist
auch sittlich gerechtfertigt und sittlich gefordert, um der Sittlich-
keit und um des sittlichen Lebens willen. Der Begriff der Ethik
ist nicht konstruierbar und nicht konstituierbar ohne den
Dualismus von Sein und Sollen, von Notwendigkeit und
Freiheit, von Autorität und Autonomie, weil das Leben, weil
das Handeln, sofern es dem in dem Begriff der Geschichte wirk-
samen Anspruch genügen will, ohne den Aufblick zu werthaften
Unbedingtheiten in sich zerfällt und versandet. Diese Erkenntnis
ist durch die Kritik der praktischen Vernunft Kants so sichergestellt,
daß es entbehrlich ist, in bezug auf die Notwendigkeit des Dualis-
mus von Sein und Sollen noch weitere Worte zu machen. Ohne
Anerkennung der Idee der schöpferischen Freiheit und Auto-
nomie verödet menschlich-geschichtlich-gesellschaftliches Leben zu
einem sittlich wertlosen Automatismus, erlischt sein Sinn in
dem Netzwerk der Determiniertheit. Kants Lehre von der Norma-
tivität der Freiheit ist nicht nur der Herzpunkt der kritischen Sy-
stematik, in dem sich die gewaltige Tiefe des kantischen Denkens
offenbart, sondern säe bedeutet zugleich, was noch immer nicht mit
der erforderlichen Bestimmtheit erkannt oder hervorgehoben wird,
die kritische Grundlegung für die ganze idealistisch-spekulative
Geschichtsphilosophie. Hier zeigt sich ganz deutlich die Haltlosig-
keit der Behauptung, daß die kritische Philosophie sich auf die
Begründung der mathematisch-mechanischen Naturwissenschaften
beschränke; es verrät vollkommene Unkenntnis des Tatbestandes,
zu sagen, daß Kants Interessen ausschließlich durch diese Wissen-
schaften beherrscht gewesen seien. Mit welchem tiefen und dauernden
Interesse ist Kant um die Grundlegung der sittlichen Wirklich-
keit und dadurch um die Aufweisung derjenigen Bedeutung, die
der Idee der Freiheit innewohnt, bemüht. Mit welcher Entschieden-
heit hat er der Welt der Natur die Welt der Freiheit gegenüber-
gestellt. Und wie leicht ist es, die Wichtigkeit zu erkennen, die
der Idee der Freiheit für die eigentliche Wirkungsstätte des mensch-
lichen Handelns, nämlich für die Welt der Geschichte zukommt
und die Brücke zu sehen, die von jener Idee zu dieser Welt führt.
Zwischen dem Begriff der Geschichte und dem der Freiheit
obwaltet das Verhältnis immanenter Korrelation; indem
der Begriff der Freiheit gedacht und gesetzt wird, wird damit
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 455
dialektisch der Begriff der Geschichte mitgedacht und mit-
gesetzt.
Aus dieser Einsicht ergibt sich jedoch die unendlich wichtige
Folge, daß auch in ethischer Hinsicht der kritische Idealismus
eines Seins bedarf, ein Sein voraussetzt. Denn die reine und ab-
solute Aufstellung des Freiheitsgedankens und der Idee der Auto-
nomie führt ohne Frage zur Gefahr des Subjektivismus, solange die
Idee der Norm sich nicht an oder in einer Organisation auszuwirken
und auf diese Weise zu objektivieren vermag. Paradox gesprochen:
Damit die Freiheit sich zu erweisen und zu betätigen vermag, muß
sie von ihrer Freiheit etwas aufgeben, muß sie ihre Freiheit in etwas
„aufheben“. Ihre regulative Kraft muß sich erproben in den Wir-
kungszusammenhängen der Geschichte. So muß sie eingehen in die
Tradition, und von dieser muß sie bejaht und bestätigt werden:
das Prinzip der Autonomie muß sich festigen als Prinzip
der Autorität. Wohl ist die sittlich-autoritative Geltung z. B.
von Staat und Kirche abhängig von der Kraft der Freiheit, auf
der sie beruhen und die sie zu spenden und zu gewährleisten ver-
mögen. Wohl erstarrt jede Form der Tradition zu einer leben-
bedrohenden und unerträglichen Fessel, wenn sie die Möglichkeit
sittlicher Selbstverantwortlichkeit und sittlicher Berechtigung oder
Rechtfertigung aus der Tiefe des eigenen Gewissens ausschließt.
Andererseits verflüchtigt sich die Kraft der Autonomie zu einem
bloß persönlich-subjektiven Erlebnisvorgang, und die Idee der
Freiheit verzittert in der Einmaligkeit eines momentanen Gedanken-
blitzes, wenn die Freiheit sich nicht objektiviert an und in den
zusammenhaltenden und darum haltbaren Formen der Gemein-
schaft, wenn sich die Autonomie nicht als Autorität und nicht in
autoritativen Einrichtungen und Persönlichkeiten bekundet. Aller-
dings kommt dadurch auch über das sittliche Freiheitsprinzip
die Krisis des relativen Abfalls von sich und die Tragik
der Untreue gegen sich. Doch erstens sind diese Krisis und diese
Tragik ganz unvermeidlich; zweitens gehören sie zum Wesen des
Lebens, weil gerade sie mit zu den Bedingungen des Lebens im
ethisch-metaphysischen Verstände dieses Begriffes zählen. Also für
das geschichtliche Leben gilt nicht die Wahl zwischen Sein
oder Sollen, Notwendigkeit oder Freiheit, Autorität oder Auto-
nomie, dogmatische Bindung oder kritische Selbstverantwortung,
gilt nicht die Alternative von Dogmatismus und Kritizismus: Son-
dern für die Gemeinschaft wie für jeden einzelnen ist das beherr-
456
Vili. Dogma und Kritik
sehende und sinngebende Gesetz die Antithese von Notwendigkeit
und von Freiheit, die antinomische Korrelation von Autorität und
Autonomie, von Dogmatismus und Kritizismus.
c) Metaphysische Überlegung.
Die kritische Idee der Freiheit hat durchaus metempiri-
schen, metaphysischen Charakter. Das hat Kant immer wieder und
mit allem Nachdruck geltend gemacht. Gerade darin besteht und
erweist sich ihre ethische und noch darüber hinaus ihre absolute
und sozusagen religiös akzentuierte Bedeutung. Erst durch diese
Bestimmung ist der entscheidende Sinn der Freiheitsidee erfaßt und
aufgedeckt worden, die von allen empirisch-psychologischen Um-
ständen unabhängig ist. Deshalb ist es auch abwegig, die Freiheit
mit irgendeinem Erlebnis, mit irgendeinem seelischen Vorgang in
Verbindung zu bringen. Denn jedes Erlebnis, auch das reichste und
erhebendste, untersteht den allgemeinen psychischen Bedingungen
und Gesetzlichkeiten; es ist immer in irgendeiner Beziehung kau-
siert und determiniert. In der richtig verstandenen Freiheitsidee
dagegen schaffen wir uns den ethischen Weg zum Verlassen aller
Kausationen, schließlich auch zum Verlassen alles Seins: sie stellt
den einzigartigen ethischen Weg des Emporsteigens zur Transzen-
denz, zum Reiche des Sollens, zur Welt der Ideen, zur Welt der
ewigen Aufgaben dar. Sobald aber dieser Sinn der kantischen
Freiheitsidee erkannt und festgehalten wird, dann erkennt man auch die
unvergleichliche Größe der kantischen Freiheitslehre. Diese Lei-
stung ist es, die seinen Ruhm verkündet. Diese Leistung hat
ihre tiefste schöpferische Grundlage in der Aufstellung
und Konstruktion der Freiheitsidee. An diesem Punkt greift
der Kritizismus über jede Art von Rationalismus hinaus, vertieft
und steigert er sich zu einer spekulativen Metaphysik von eindrucks-
vollstem Ausmaße, deren Voraussetzung und konstitutives Prinzip
nichts anderes als der metaphysische und transzendente Sinn des
Freiheitsgedankens ist. Und so sei doch an dieser Stelle die Bemer-
kung gestattet, daß es ein überzeugender Rechtsausweis für die
systematische Überlegenheit des Kritizismus ist, daß dieser eine
„Philosophie der Freiheit“ ist. Und da die Freiheit das Medium
des Geistes ist, so ist der Kritizismus in der ausgesprochensten
Weise eine „Philosophie des Geistes“. In seiner Freiheit bahnt
sich der Geist seinen Weg zu seiner Absolutheit; in seiner Freiheit
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 457
wird er seiner Absolutheit inne und gewiß. Der freie Mensch ist
der geistige Mensch und darum und insofern auch der sittliche. Ich
vermag nicht einzusehen, wie vom Standpunkt des Dogmatismus
aus die Freiheit philosophisch zu begründen ist.
Weil aber die Freiheit die metaphysische Voraussetzung des
Lebens und der Freiheitsbegriff die tiefste transzendentale Voraus-
setzung des kritischen Systems darstellt, darum ist von ihrem
,,Wesen“ keine adäquate Definition mehr zu geben. Was
Freiheit „ist“, kann darum schließlich nicht mehr gesagt werden,
weil die Freiheit kein Sein im ontologischen Sinne hat. Ihr ewiger
Sollenswert übersteigt jeden Seinswert; ihre Unendlichkeit ist die
Unendlichkeit der ewigen Forderung, der ewigen Aufgabe. Wir
stehen hier vor einer anderen Deutung des Wesens des Ab-
soluten, als sie von dem dogmatisch-ontologischen Standpunkt aus
geboten wird. Der entscheidende Charakter eines philosophischen
Systems offenbart sich in der Bestimmung, die von ihm für das
Absolute versucht wird. In irgendeiner Sinnausprägung des Ab-
soluten besitzt jedes metaphysische System seine eigentliche Grund-
lage; auch die Systeme des Empirismus und des Positivismus werden
von einer solchen Grundlage getragen und durch eine solche Deutung
beherrscht. Es gehört nicht mehr in den Rahmen unserer Betrach-
tungen und würde auch zu weit führen, sollte der Nachweis für
diese Behauptung erbracht werden, daß auch der Empirismus sowie
jede Spielart des Positivismus strukturell auf einer bestimmten
metaphysischen Auffassung beruhen und ohne eine solche, ihnen zu-
grunde liegende, von ihnen verschwiegene oder nicht erkannte Meta-
physik gar nicht möglich sind. Ein reiner Empirismus als philo-
sophische Theorie ist ein offenkundiger Widerspruch in sich.
Doch sei in unserem Zusammenhang von einer eingehenderen Be-
gründung dieser Behauptung, so interessant eine solche Begründung
auch wäre, abgesehen. Worauf esuns jetzt zum Schluß unserer Darle-
gungen noch ankommt, besteht in der Hervorhebung und Klarstellung,
daß dem System des Kritizismus eine eigenartige Ausprä-
gung der allwaltenden IdeedesAbsoluten als konstruktive
Voraussetzung dient, und daß der Kritizismus dadurch als ein cha-
rakteristischer Ausdruck einer durchaus metaphysischen Bewußtseins-
haltung und Gedankenführung sich erweist. Die volle Tiefe der kor-
relativen Gegensätzlichkeit zum Dogmatismus erschließt sich in der
Erkenntnis des Absoluten nicht als eines Seins, nicht als
einer sinnhaft und dynamisch fertigen und in sich geschlossenen
458
Vili. Dogma und Kritik
Ganzheit, die vor ihrer Schöpfung und vor ihren Geschöpfen da
,,ist“. Nach der kritischen Auffassung überragt das Absolute seine
Gebilde nicht nur aktiv und virtuell unendlich, sondern es tran-
szendiert jede seiner Leistungen und jedes seiner Erzeugnisse sinnhaft
und normativ, es büßt, mit anderen Worten, bei allen seinen
Bekundungen und Offenbarungen, und seien es die gehaltvollsten
und unvergleichlichsten, die ewige Überlegenheit des Regulativs nie
ein. Der kritische Idealismus ist in seinen letzten Hinter-
gründen normativer Idealismus, wobei der Begriff der Norm,
der Aufgabe keineswegs nur unter den Einschränkungen einer
ethischen Auffassung dieses Begriffes verstanden werden darf.
d) Religionsphilosophische Überlegung.
Diese, dem Kritizismus eigentümliche normativistische Deu-
tung des Absoluten stellt den polaren Gegensatz dar zu der onto-
logischen Bestimmung des Absoluten. Und vielleicht stehen wir
erst an diesem Punkt vor der endgültigen Aufdeckung desjenigen
Grundes, aus dem heraus Kant seine Widerlegung und seine bekannte
Ablehnung der Gottesbeweise unternimmt und durchführt.
Schon seit langem hatte ich den Eindruck, daß diese Widerlegung
nicht eigentlich theoretische Gründe in sich trage, sondern daß hier
eine bestimmte Form der Metaphysik und der metaphysischen Welt-
deutung mit im Spiele sei. Doch erst kürzlich ist es mir klar-
geworden, daß die Möglichkeit der rationalen Erkenntnis Gottes
darum verneint wird, weil Gott kein Sein, sondern ein ewiges
Ziel, ein Postulat, eine Norm bedeutet. Diese Norm aber, diese
ewige und absolute Norm ist darum kein Gegenstand der Er-
kenntnis, weil sie die ewige, alle Objektivität und Seinshaftigkeit
transzendierende Sinnaufgabe der Erkenntnis sowie alles Seins und
Lebens und überhaupt aller Realität bedeutet. Sie steht jenseits
aller Realität als dessen schöpferische ideelle Möglichkeit: Ohne
Norm kein Sein. — So unterbaut der metaphysisch-absolutistisch
verstandene Kritizismus definitiv den Dogmatismus. Er gewähr-
leistet diesem die Absolutheit des Seins, auf die dieser sich einfach
stützt und naiv beruft, durch die Idee der absoluten Norm und durch
die absolute Idee der Norm.
In der Verschiedenheit der Interpretation der religiösen Absolut-
heitsidee, d. h. der Gottesidee, gipfelt die Korrelation und das
Polaritätsverhältnis zwischen Kritizismus und Dogmatismus.
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 459
Wir haben dieses Verhältnis durch drei Stufen und nach drei Be-
ziehungsrichtungen vorhin verfolgt, durch die theoretische, durch
die ethische und durch die metaphysische. Der eigentliche Sinn
dieser Korrelation Öffnet sich in der religionsphilosophisch-meta-
physischen Sphäre, sagen wir kurz und einfach: in der Verschieden-
heit der Deutung der Gottesidee. Dort, im Kritizismus, haben
wir den kritisch-normativen, hier, im Dogmatismus, haben wir den
ontologischen Gottesbegriff.
Diese Verschiedenheit ist die Voraussetzung von zwei Formen
der Religion: Für die eine Form der Religion ist Gott sicher
erwerbbarer und erreichbarer Besitz, ist Gott sich uns mitteilende
Fülle, in die wir dereinst eintreten werden. Seine Ewigkeit wird
einmal reale Gegenwart und Anwesenheit, sei es mittels der Offen-
barung und der Heilsbotschaft, sei es mittels des Sakramentes und
der Fürbitte der Heiligen. Die Eigenart dieses Gottesgedankens
bringt es mit sich, daß die ihm zugrunde liegende Vorstellung
schneller und leichter in den Gemütern der Menschen Eingang
findet und eine, quantitativ gesehen, verhältnismäßig außerordent-
liche Verbreitung erreicht hat. Er verbürgt den nach Erlösung ver-
langenden Menschen die Gewißheit der endlichen Heilserreichung;
er macht sie bereits auf Erden ruhig und glücklich durch die Sicher-
heit des Glaubens an die einmal bestimmt eintretende Aufnahme
in die Herrlichkeit Gottes.
Spekulativ verwickelter und im eigentlichen Sinne belastet mit
der ganzen Schwere der metaphysischen Problematik ist
die zweite Form der Religion und der Gottesvorstellung. Hier
ist nicht unmittelbar die Rede von dem Bewußtsein des Findens
Gottes, sondern hier liegt der Ton auf dem unermüdlichen Suchen
nach Gott, auf dem Ringen um ihn: Gottes Sein besteht in seinem
Aufgegebensein. Deshalb ist nach dieser Auffassung das religiöse
Verhalten erfüllt von der Unruhe ununterbrochener Forde-
rungen. Diese Religion trägt nicht den Akzent des Glückes,
sondern den Akzent der Tragik und des heroischen Kampfes.
Nennen wir die erstbezeichnete Ausprägung des Gottesgedankens
und der Religion, die die dogmatische ist, die orientalische, so
sei für die zweite Ausprägung, für die kritische, die Benennung der
faustischen gestattet.
Die Sicherheit der Gottesgewinnung ist der dogmatischen Über-
zeugung dadurch gewährleistet, daß sie sich der als unerschütterlich
anerkannten, allgemeingültigen Beweise, dieser in ihrer Art doch
460
Vili. Dogma und Kritik
großartigen intellektualistischen Instrumentierungen der rationalen
Theologie bedient. Und die Begabung und die Beglaubigung jedes
der alten Metaphysiker schienen sich in der Ergänzung und in der
ausbauenden Aufrechterhaltung der altehrwürdigen, in einer macht-
vollen Tradition verankerten Gottesbeweise zu bekunden. Nicht ihre
Kritik, geschweige denn ihre Beseitigung wurden als die rechtsgültige
Aufgabe der Vertreter der Metaphysik angesehen. Der gedankliche
Weg zum Absoluten war geebnet und unantastbar gefestigt durch die
rationale Bemühung um jene Begriffsführungen und Deduktionen,
an denen die Jahrtausende und die hervorragendsten Geister gearbei-
tet hatten. Das religiöse Heil und Glück waren dadurch in die denk-
bar gesichertste Aussicht gestellt; ein Zweifel an ihrer Erreichung
konnte durch bündige Beweise widerlegt werden.
Der kritisch-faustische Typ der Religion ruht dagegen auf
dem Grunde eines höchsten und heroischen Wagnisses und Ent-
schlusses; er ist der Ausdruck einer überrationalen Freiheits-
tat und Gewissensentscheidung. Von dieser Stellungnahme aus
werden die rationalen, also in der Form logischer Allgemeinheit sich
bewegenden Begründungen des Daseins Gottes abgelehnt, weil sie
die einzigartige und geheimnisvolle Tiefe des Gotteserlebnisses ver-
äußerlichen. Der Gegenstand dieser Freiheitstat kann nicht
mehr allgemein demonstriert, er kann nur aus der moralischen
Kraft des Gewissens angesonnen und gefordert werden. Kants
berühmte Kritik der alten dogmatischen Gottesbeweise, die un-
zählige Male erörtert, nachgeprüft und von vielen Seiten beanstandet
worden ist, ist ihrer eigentlichen Voraussetzung und Anlage nach
kein wissenschaftlich-theoretisches Unternehmen im begriffsmäßigen
Sinne. Es ist vielmehr der Niederschlag einer moralisch-metaphysi-
schen Opposition gegen ein Verhalten, das unserer Beziehung zum
Ewigen und Absoluten denselben — rationalistisch-dogmatischen —
Charakter aufprägen möchte wie derjenigen zu irgendeinem Gegen-
stand der Erscheinungswelt, dessen man sich mittels der Mathematik
und der mathematischen Naturwissenschaft eindeutig und ein-
wandfrei bemächtigen zu können glaubte.
Darum treffen auch alle Anstrengungen, die dahin zielen, Fehler in
der kantischen Widerlegung der Gottesbeweise und so deren
Schwäche und Unzulänglichkeit aufzudecken, nicht den Nerv dieser
kantischen Kritik. Wir sprachen weiter oben davon (S. 446f.), daß
und weshalb der alte Dogmatismus durch den Kritizismus in einem
höchsten Verstände nicht widerlegt, nicht aufgehoben worden ist.
3. Das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Grundgestalten 461
Aber auch der Kritizismus ist durch keine, unter dem Ge-
sichtspunkt des dogmatischen Rationalismus erfolgende
Gegenargumentation zuwiderlegen, zu beseitigen. Angenom-
men, daß in der Kritik der klassischen Gottesbeweise durch Kant man-
ches nicht in Ordnungist, daßdergroße Kritikernichtimmerden Sinn
und den grundlegenden Ansatz jener alten Beweise erfaßt hat, daß
er nicht seiten vorbeiargumentiert, so besagen diese Mißverständ-
nisse, falls sie vorhanden sind, dennoch nichts gegen das innere
Recht und gegen die Folgen und Ergebnisse jener Kritik. Denn
diese Kritik erwächst aus Voraussetzungen und bewegt sich, inner-
lichst gesehen und gewertet, in Gedankenbahnen, die aus Ge-
wissens- und Freiheitsentscheidungen, die aus metaphysisch-norma-
tiven Einstellungen zum Absoluten stammen. Aus dieser Erkenntnis
ergibt sich die Einsicht, daß die Kantische Widerlegung der
Gottesbeweise selber zu den im höchsten Sinne unwider-
legbaren geistigen Großtaten gehört, daß sie metaphysisch
auf sich selber beruht und in sich selber ruht. Und deshalb ist auch
das Bekenntnis zu dieser Widerlegung eine aus Freiheit
hervorgehende Gesinnungshandlung, ebenso wie Kant eine
ihm eigentümliche positive Art der ,,Beweise“ für Gott und das
Absolute vertritt.------
In zwei machtvollen Typen entfaltet sich der Gesamtbegriff
der Philosophie. Seine systematische Einheit prägt sich in der
konstruktiven Antinomie von Dogmatismus und Kriti-
zismus aus. Ist die Notwendigkeit und die außerordentliche Frucht-
barkeit dieser Antinomie durchschaut, dann ist damit zugleich der
tiefste Grund für die Problematik der Philosophie erkannt. Aber
wie diese Antithese in der einen Richtung Folge und Ausdruck,
Ergebnis und Niederschlag der übergreifenden Synthese ist, die den
Begriff der Philosophie begründet und möglich macht, so ist sie
in der anderen Richtung doch auch wieder die Voraussetzung und
die Ermöglichung für den korrelativen Reichtum und für die Fülle
der philosophischen Arbeit und der philosophischen Entwicklungen.
Nicht zuletzt verdanken wir jedoch gerade dem Kritizismus diese
freie und vorurteilslose Würdigung und Anerkennung der ihm polar
gegenüberstehenden Gedankenform und Weltanschauung. Er ist es,
der uns den Dogmatismus als den zugehörigen korrelativen Faktor
verstehen lehrt. Nicht zu einem feindlichen Ausschluß, sondern zu
einer unbefangenen und unvoreingenommenen Prüfung und Schät-
462
Vili. Dogma und Kritik
zung der Bedeutung des Dogmatismus führt die wahrhaft kritische
Geisteshaltung. Wie sie selber auf dem Prinzip der Freiheit beruht,
so fordert und verhilft sie auch zu dem freien Überschlag über das,
was ihr Antipode an sachlichen Werten in sich trägt und zu leisten
vermag.
Die Gewinnung dieser Freiheit ist vielleicht das
reichste und förderlichste Geschenk des Kritizismus an
die Menschheit, ln dieser Gabe spricht sich die versöhnende
Humanität der ihm zugrunde liegenden Gesinnung aus.
Aus der systematischen Wechselbeziehung von Gegensätzen baut
sich die Einheit der Philosophie auf. In der Dialektik ihrer Arbeit und
ihres Lebens spiegelt sich die Gesamtheit der menschlichen Kultur.
Möge die soeben ausgesprochene Erkenntnis als ein antreibendes
Symbol dafür aufgefaßt werden, daß das Bestehen von Gegensätzen
innerhalb des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens die Erreichung
und die Aufrechterhaltung der übergreifenden und erlösenden Ein-
heit nicht verhindert, daß alle Reibungen und Spannungen den-
noch die Solidarität der Menschheit in ihren hehrsten Interessen
auf die Dauer nicht unterdrücken können und nicht unterdrücken
werden. An diesem Versöhnungswerke mitzuschaffen ist die Auf-
gabe, der Auftrag und die Botschaft der Philosophie. Möge diese dialek-
tische Weltbetrachtung, die ein Ausdruck der höchsten begrifflichen
Synthese der Kultur ist, sich gestalten zu einer eingreifenden Bekun-
dung jenes verbindenden und versöhnenden Geistes, der in der
Freiheit der Philosophie als das innerste Zeugnis ihres Wesens
waltet. Erst in der praktisch-sittlichen Leistung rechtfertigt und
vollendet sich alle Theorie.
Personen-Register
Abel 141.
Adickes 60.
Aristoteles 9, 39, 79, 96, 102, 114, 144,
177f341, 346, 384, 426, 434.
Assisi, Franz von 221.
Aster, Ernst von 427.
Augustin 421, 441.
Avenarius 88.
Bacon 25.
Baeumker 26.
Barth, Kar! 150, 421 ff., 424.
Basilius 451.
Beethoven 424.
Bergson 4, 271.
Berkeley 170, 180.
Brunner 150.
Bruno, Giordano 181.
Cassirer, Ernst 419.
Christus 9.
Clemens 451.
Cohen, H. 24, 79, 81, 388, 426f., 431.
Cohn, Jonas 347, 394, 401, 403f.
Comte 68, 399.
Crusius 183.
Cusa, Nikolaus von 313, 434.
Descartes 3, 25f., 73ff., HOf., 131, 184,
201, 228, 278f., 384.
Deussen, Paul 451.
Dessoir 146f.
Dewey 410.
Diels, Herrn. 317.
Dilthey 5, 9, 24, 67 f., 71 ff., 76ff., 84,
87, 92ff., 179, 213, 259, 297ff., 394ff.
Driesch 416.
Droysen 395.
Eleaten 448.
Empiristen 92.
Engels 400.
Erdmann, Benno 403.
Eucken 139, 416.
Fechner 24.
Feuerbach 5, 24, 72, 400,
Fichte 23, 28, 34, 90, 121, 126f., 139,
155, 167ff., 217, 295, 313, 367, 408,
416, 451.
Freud 225.
Galilei 74ff., 113, 279.
Glaser, Kurt 226.
Goethe 41, 175, 181, 219f., 283, 317,
422, 424.
Gogarten 150, 421.
Gogh, van 226.
Gregor von Nazianz 451.
Gregor von Nyssa 451.
Guardini 222, 346ff., 385f.
Hartmann, Ed. von 24, 84, 89.
— Nik. 87, 307, 317, 346, 394, 419,
426ff., 430ff.
Haym, Rud, 78.
Hegel 3ff., 6ff., 9ff., 12ff., 16, 23, 28,
34, 60, 72, 82, 90, 96, 118ff., 155,
167ff., 201, 206, 217ff., 247f., 526,
261,280ff., 288, 295ff., 307ff., 31 Iff.,
322, 332, 340 f., 352, 381, 384ff.,
398ff., 409ff., 422ff., 430ff-, 435,
451 ff.
Heimsoeth 87.
Helmholtz 80.
Herder 62ff., 217.
Hertling 26.
464
Personen-Register
Hobbes 25, 73ft, 278.
Hofmann, Paul 403.
Hölderlin 226.
Hönigswald 347.
Hume 62, 76f., 88.
Husserl 419.
James, William 410.
Jaspers 226.
Kant 6ff., 9ff., 14, 25, 29f., 33ff.,
39ff., 49, 54ff., 59, 60ff., 64ff., 70,
79f., 87ff., 121 ff., 126, 139, 142ff.,
148, 161 ff., 167 ff., 179, 184ff., 196ff.,
201, 207ff,, 217, 221, 259, 280, 305,
310f., 321, 331 ff., 341 f., 346ff., 367,
384, 408, 413, 416, 425ff., 434ff.,
443ff., 451 ff.
Kiefl 399.
Kierkegaard 227, 421.
Köhler, Rudolf 424f.
Kroner, Rich. 347.
Kühnemann 214.
Laas 353.
Lange, Fr. Alb. 60, 79 ft, 82ff., 86t,
95, 193, 341 f., 376.
Lask 28.
Lasson, Adolf 128.
Laßwitz 79.
Leibniz 24ff., 39, 62ff., 73, 76, 96, 110,
114, 120, 129, 201, 208, 267, 341,
384, 433ff., 442.
Lessing 62ff., 181, 217, 280.
Levy, Heinrich 392.
Liebmann, Otto 79, 86.
Litt 43, 394, 418ft, 421.
Locke 62, 88.
Lotze 24, 126, 341.
Lukács 347.
Lüttge, Willi 421 ff., 424.
Mach 88.
Maier, Heinrich 8, 17, 128f., 352f., 428.
Marek, Siegfried 347.
Marx, Karl 400f.
Mozart 175f.
Munch, Edvard 226.
Natorp, Paul 429.
Newton 55.
Nietzsche 24, 37, 48, 68, 79, 82 Tt, 95,
191 f., 271, 341, 353, 376, 383, 399,
410t, 442.
Norden, Eduard 146E
Occam 69.
Otto, Rudolf 130, 232, 365ff., 370ff.
Parmenides 432.
Plato 11, 16, 28, 39, 54, 79E, 102, 126ff.,
139ff., 144, 154t, 167ff., 182 ft,
187 ft, 198f., 268, 284, 306, 3I6ff.,
330, 346, 384, 386, 411, 426, 430ff.,
448.
Plotin 96.
Rembrandt 175.
Rickert 214, 304, 401, 403ft
Riehl 23, 60, 79, 87ft, 425, 428.
Rosenzweig, Fritz 312.
Scheler 128, 437ff.
Schelling 34, 72, 90, 155, 181, 295, 306,
312ff., 386, 432ff.
Schiller 133, 141 ft, 217.
Schleiermacher 9, 181, 306, 311 ff., 317,
325, 332, 386, 422.
Schmoller, Gustav 128.
Schopenhauer 72, 80, 219, 399, 412,
442, 451.
Sensuaiisten 92.
Shaftesbury 141 ff.
Shakespeare 63, 175.
Sigwart 395.
Simmel 38, 43, 175, 304, 394, 408ff.,
41 Oft, 419, 421.
Skeptiker 92.
Soederblom 370.
Sokrates 92, 127t, 154.
Sophisten 92, 352ft
Spencer 80, 399.
Spinoza 73ff., 96, 124, 131, 154, 181,
184, 228, 267, 313, 318, 341, 409.
Spranger 128f., 303.
Strauss, Dav. Frd. 81.
Personen-Register
465
Strindberg 225f. Swedenborg 226. Sybel 395. Vaihinger 79, 82ff., 95. Vierkandt 416ff. Weber, Max 128, 418.
Thomas von Aquino 96, 34!, 437ff., 441 ff. Trendelenburg 179. Troeltsch 38, 307, 394, 396, 399 ff. Windelband 24, 396, 416. Wobbermin 148. Wolf, Christian 90, 129, 280. Wundt, Wilhelm 114ff., 416. Wust, Peter 221 ff.
Utitz 108 T. Zeno 434.
Liebert, Dialektik.
30
Sach-Register
Absolut 10, 36, 38, 81, 85, 135, 148ff.,
154f., 165, 194, 200, 204, 208f., 224f.,
343, 360ff., 369ff., 378ff., 389, 397,
409, 423ff., 449ff., 456ff.
Ästhetik 141 f.
Affekt 131.
Aktivität 63, 364, 418.
Als-Ob 442.
Analysis 75, 161.
Angst 99, 159, 226ff., 265, 268f., 275ff.
Anthropologie 67, 70, 75.
Antinomie 8ff., 44, 169f., 178, 230, 242,
264, 306, 308 ff., 322, 331 f., 346ff.,
351, 364f., 370, 391, 413, 4!6f., 425,
434 ff., 450.
Antithesis 385.
Aporetik, Aporie 6ff., 127, 187, 245f.,
395, 426, 430, 435.
Aposteriori 111.
Apriorismus, Apriori, Apriorität llf.
17, 88, 104f., 110f., 121, 162, 178,
193, 235, 246, 254, 304ff., 342 f., 364,
388, 433,
Attribut 246, 267, 417.
Aufgabe, Aufgegebenheit 182, 320, 329,
456.
Aufhebung 8, 323, 330, 384ff.
Aufklärung 21, 71, 129f., 172, 205, 208,
353
Autonomie 10, 20, 51, 97, 137, 190 f.,
318, 344, 365, 405, 453ff.
Autorität 20, 49, 220, 455.
Begriff, Begriffsbildung, Begriffsdich-
tung 78f., 95, 124f., 143, 322ff., 331,
377, 395.
Berkeleyanismus 332.
Bestimmung 139, 154.
Bewegung 263, 355.
Bewertung 134.
Bewußtsein 201, 280, 328, 366, 403, 433.
Bildung 2, 131, 357, 420.
Biologie 19, 24, 34, 148, 331, 367, 406,
410, 416f., 436.
Chaos 232.
Charakterologie 233, 239, 297, 338.
Chorismos 431.
Christentum 7, 221, 451.
Dämonie 131 f., 226.
Darwinismus 399, 417.
Deduktion 8, 89, 121 f.
Denken 6, 14, 179ff., 186, 428, 432.
Determinismus 133, 165.
deutsch 414 f., 420ff.
Dialektik, Dialektik der Vernunft 1 ff.,
7ff., 14f., 17, 35f., 38f., 40f-, 43f.,
50, 53, 56, 66, 97, 117, 120f., 145,
150f., 157 f., 161, 163, 166, 168, 178,
183, 186, 192, 230ff., 259, 266f.,
280ff., 290, 294ff., 297ff., 302ff.,
310, 324, 328, 334, 346ff., 371, 392,
395, 422.
Dichtung 80f., 97f.
Diesseits 224, 424.
Diskontinuität 360.
Dogma, Dogmatismus 49, 74, 90, 172,
177f207, 254ff., 296, 308, 319,
343f., 389, 428, 437ff., 443ff.
Dualismus 10, 141, 183ff., 236, 310,
317, 327, 352, 367, 408, 415, 424,
436, 454.
Dynamik 11, 231, 243f., 355, 385.
Einheit 15, 76, 91, 121 f., 132, 169,
181 ff., 222, 235, 246f., 281, 312f.
353 f., 383 ff., 390, 433f., 439.
Sach-Register
467
Eleatismus 179.
Empirismus 62, 78, 88, üü, 116, 164,
180, 238, 457.
endlich 150, 379, 387, 388ff., 423.
Entwicklung 24, 63, 70, 84, 129, 397.
Enzyklopädie 112, 113ff.
Erfahrung 34, 80, 88.
Erkenntnis, Erkenntnistheorie 15, 29f.,
31, 33, 43, 60f., 65, 70f., 76, 86ff.,
90, 106, 118ff., 132, 148f., 176f f.,
201, 211, 279, 300, 305f.,317, 374ff.,
393ff., 423, 428, 436, 448.
Erleben, Erlebnis, Urcrlebnis 40, 57f.,
73, 108, 131, 234, 265, 297ff., 323,
341 f., 364, 380, 456.
Erlösung 8, 12f., 16, 99, 153ff., 156ff.,
318f330, 450ff.
Erneuerung 347, 392, 440.
Erscheinung 132ff., 139, 148ff., 152,
186, 196, 235, 452.
Erziehung 182, 420.
Ethik, Ethizismus, Ethos 11, 35, 37,
40f., 126, 128f131, 141, 167, 169,
174, 230f., 334, 367, 378, 388 ff.,
422, 450ff.
Ewigkeit 421, 424.
Expressionismus 108f.
Fiktion 13f., 80, 85f., 143, 198, 244.
Form, Formung 4, 44, 97, 144, 257 ff.,
320 f-, 357, 414.
Frage 43, 242 ff., 250 f.
Freiheit 9f., 12, 20, 36f., 40, 49f., 63,
131 f., 135ff., 163, 166ff., 170ff.,
201, 202 f., 212, 218, 229, 250, 274 f.,
288, 309, 322, 331, 360, 453 ff., 460 f.
Freude 175, 231.
Gedankengebilde, Gedanke 91, 105, 125.
Gefühl 107 f.
Gegebenheit 149, 152.
Gehalt 323f.
Geist, Geisteshaltung, Geisteswissen-
schaft 1, 23f., 26, 27f., 29, 31, 33f.,
75, 93, 137, 148, 213ff., 243f., 259,
284, 288, 295ff., 302ff., 332, 381 ff.,
387, 392ff., 447, 456.
Gerechtigkeit 173ff.
Geschichte, Geschichtsmethode, Ge-
schichtsphilosophie 7 ff., 13,18f.,23f.,
27ff., 31 f., 33ff., 34, 35, 36, 41, 68,
94, 110, 215, 218f., 234, 238, 258,
281 f., 297ff., 302ff., 309ff., 316,
321 ff., 327ff., 339, 354f., 363, 385ff.,
397, 400, 404ff., 444, 453 ff.
Gesetz 74, 162, 215, 258, 285, 367.
Gestalt, Gestaltpsychologie 24, 140, 162,
357, 393.
Gewissen 378, 460ff.
Glauben 110, 159, 222, 319, 329.
Gott 74, 129f., 346, 421 ff., 458ff.
Grundidee, Grundlegung 2, 28f., 120,
301 ff., 320f., 329, 349, 395, 401.
Guten, Idee des, Güte 40, 126f., 129,
172ff., 434.
Harmonismus 8ff., 15f., 142f., 150, 169,
181 ff., 219f., 221, 225, 226, 232ff.,
246, 282, 307f., 312f., 320ff., 328ff.,
346, 357f., 371 f., 385ff., 416, 424,
434.
Hegel-Renaissance 392.
Hermeneutik 234.
Heroismus 133, 232, 243, 273f., 275,
293, 329, 332, 349, 364, 369, 390.
Heteronom 52.
Historisch 19, 31 f., 33f., 35ff., 84, 214,
306, 324ff., 328ff., 334f., 348, 395ff.
Historismus 35, 92, 294f., 299f., 387,
393, 419.
Humanismus, human 7f., 75,154, 172f.,
181 ff., 188, 221, 290, 357, 386ff.,
391, 417, 420, 422, 462.
Humor 172ff., 174.
Hypostasierung, Hypothese 89, 134, 179,
185, 21 lf., 324, 381, 385.
Idealismus 5ff., 14f., 17, 23, 34, 40, 65,
81, 87, 104f., 106f., 113, 126, 129,
131, 140ff., 157, 161 ff., 167 f., 180,
201, 228, 230, 237, 266f., 284, 303,
308, 313, 332ff., 347, 367, 384ff.,
419, 425, 449, 458f.
Idee, Ideenlehre, Ideologie 9, 14ff., 40,
49, 89, 137, 140f., 151 f., 154, 162f.,
167, 168, 186f., 207, 246, 254, 268,
317ff-, 328, 351, 384ff., 416, 439ff.
30*
468
Sach-Register
Identität 179ff., 311, 325ff., 432ff.
Indeterminismus 165f.
Individualität 259,343f., 401, 404, 415.
Induktiv 89f.
Innenleben 152f.
Intellektuell 105!., 126, 157, 313, 406.
Intelligibilität 36, 80, 250.
Interpretation 149, 241 f.
Intuition 41, 343f., 355, 383, 405.
Irrationalismus 6, 17, 42, 55, 108, 213,
259, 343f., 365ff., 371, 383, 396,
405, 409.
Irrealität 97.
Jenseits 224, 424, 453.
Kantianismus, kantisch 29, 34, 54, 144,
177, 213, 305, 331, 408, 416, 447ff.
Kategorie, Kategorienlehre, Kategorien-
tafel 4, 28, 33, 88, 123, 144, 162f.,
193, 231, 255, 302 ff., 324ff., 351,
368, 394, 429ff.
Kausalität, Kausalbetrachtung 70, 198,
287, 358.
Kirche 69, 110, 159, 455.
Klassizismus 50, 63, 222, 235f., 278f.,
417.
Konflikt 99, 169, 388, 453.
Korrelation 124, 327.
Kosmos 161, 317, 417.
Krisis 8, 22, 50, 150, 293, 345 ff., 351,
365, 371, 392, 423.
Kritik, Kritizismus, kritisch 10, 28f.,
34, 49f., 54f., 59f., 64f., 71, 79f.,
87 ff., 121, 142, 162f f., 165, 174, 179,
187f., 193ff., 207ff., 21 lf., 213ff.,
220, 222ff., 242ff., 253f., 296, 303ff.,
333f., 340ff., 347, 393ff., 425ff.,
437 ff., 443ff., 449, 456.
Kultur 26, 98, 106, 108, 111, 232, 304,
316, 338, 370ff., 407.
Kunst 21, 36, 64, 76, 79f., 110, 140ff.,
146, 192ff., 199, 243, 341 f., 366,
371, 376, 452.
Leben, Lebensdialektik, Lebensbegriff,
Lebensgrund, Lebensmetaphysiklff.,
10, 40, 42f., 49, 50, 51 f., 77, 159,
167, 171 ff., 220, 225, 263, 268ff.,
301 f., 324, 333f., 350ff., 363, 375,
385, 390, 396, 402ff., 408ff., 412,
414ff., 420, 453ff.
Lebensangst 223, 225, 229, 276, 283,
294, 345.
Lebenskraft, Lebensphilosophie 3f., 109,
213ff., 227, 265f., 371, 383, 405, 418.
Leibnizianismus 62.
Liebe 9, 131, 175, 417.
Lösung Jlf., 15, 220, 244, 264.
Logik, Logismus 7ff., 28, 120f., 177,
260f., 303ff., 404, 419.
Logos 3ff., 9ff., 14, 17, 65, 98, 102,
106, 117 f., 160, 168, 185, 206, 256,
363, 387, 420, 444ff
Marburger Schule 427, 429, 449.
Märchen 199, 205.
Maschine 285f., 289.
Materialismus 72, 81, 400.
Mathematik 20ff., 26, 29, 34f., 61 f.,
87, 89, 93, 163, 260, 361.
Mechanik, Mechanismus, mechanisch
74, 401.
Mensch, Menschheit 75, 129, 171, 290,
421.
Metaphysik, Metaphysisch lff., 19ff.,
31, 34f., 38, 56, 58, 61, 65, 69, 71 f.,
76, 86ff., 93 f., 98, 105 f., 109, 111,
113, 117, 123, 137ff., 160, 177, 190,
193, 223, 321, 327, 337, 339, 365 ff.,
375 ff., 381 ff., 389.
Methode 3, 30f., 33, 35, 145, 164f., 331,
358, 392.
Monadologie 62, 267, 434.
Monismus 8f., 168, 181, 236ff., 245f.,
280, 307, 312, 318, 346ff., 351, 385,
405ff., 416, 424, 433, 451.
Moralität 9, 123, 126f., 174, 366f., 418.
Motiv 100f., 105, 125.
Mystik 6, 110, 148, 245, 337, 357, 373.
Mythos 137, 203f., 205ff., 212, 242.
Natur, Naturerkenntnis, Naturerklä-
rung, Naturalismus, Naturwissen-
schaft 3, 10, 19ff., 25f., 29, 34f., 36,
61, 67, 74f., 86, 90, 106, 108, 138,
Sach-Register
469
151 ff., 166f., 170, 196ff., 211, 279,
295, 331 f., 346, 354ff., 359f., 367,
436, 454.
Neuhegelianismus 424.
Neuhumanismus 310ff.
Neukantianismus 29, 34, 55, 60f., 79,
81, 86f., 93, 177, 196ff., 304ff., 404,
424ff., 429, 447ff.
Neuplatonisch 154, 312.
Nihilismus 255, 302, 353.
Norm, Normativ 9, 16, 40f., 53, 90,
126, 333f., 431 ff., 436, 458.
Notwendigkeit 133, 322.
Numinose 130, 133, 230ff., 365.
Objektivation 18, 342, 380, 384f., 435,
449.
Ontologie 14, 77, 91, 124, 164, 177f.,
207, 213, 381 f., 428, 431 ff., 437ff.,
443.
Optimismus 132, 273f., 309, 327, 418.
Pädagogik 418ff.
Panlogismus 206, 280f., 308f., 322, 406.
Pantheismus 422, 451.
Paradoxie 230ff., 348, 385.
Paralleüsmus 179ff,
Personalismus 393.
Pessimismus 132, 255, 273 f., 309, 317,
327, 418f.
Pflicht 9, 101, 160, 417, 436.
Phänomenologie 17, 239, 245, 393, 403,
419.
Phantasie 36, 80.
Philologie 21, 24.
Philosophie 4ff., 13, 20ff., 28f., 49,
51 f., 90, 115, 142, 162f., 177, 217,
237, 241, 248f., 255, 354, 402, 419,
439 ff., 456f.
Physik 24, 87, 120.
Pietismus 182, 22 lf.
Platonismus 141 f., 154, 162, 188ff.,
241, 246, 252.
Polarität 167, 169f., 346ff., 458.
Positivismus, Positiv 2, 22, 37, 58, 70,
78, 84, 92 f., 116, 180, 198, 300,
339, 347, 394, 419, 442, 448, 456.
Postulat 458.
V
Pragmatismus 410.
Praktisch 40f., 79, 90, 168, 367.
Primat, 40, 127, 130, 140, 248.
Prinzip 18, 431.
Problem, Problematik 7ff-, 13f., 43,
98f., 158f., 192, 242f., 254ff., 289,
322ff., 348, 361 f., 381 ff.
Psychoanalyse 225.
Psychologie 24, 57, 67, 70, 75, 84, 120,
152f., 194, 299, 341 f., 379, 393f.,
403, 419.
Rationalismus, Rationalisierung, ratio-
nal 4ff., 17, 37, 42f-, 61 f., 64, 68,
70, 105 f., 109, 111, 113, 117, 123ff.,
129f., 156f., 164, 177, 206ff., 227,
245, 258f., 266f., 278, 301, 303,
310, 372, 383, 404ff.
Realismus 6, 14f., 17, 78, 125, 162, 180,
284, 325, 329.
Realität 180, 195, 307f., 322ff., 342ff.,
348ff., 360f.
Relativismus 13f., 32, 35ff., 81, 84, 92,
156, 203, 224, 244, 334, 348ff., 397,
423, 445.
Religion, Religionsphilosophie, Religions-
wissenschaft 21, 36, 54, 76, 99, 130,
134, 136, 147 ff., 155ff., 192, 210,
243, 252, 275 f., 319ff., 326ff., 340ff.,
364ff., 369ff., 408.
Renaissance 69f., 75, 154, 187, 307, 360,
441.
Romantik 130, 301 ff., 354f.
Satz der Phänomenalität 376.
— vom zureichenden Grunde 76f., 120.
Schau 355f.
Schein 41 ff., 66, 97f., 142 f., 195, 197 ff.,
317, 425.
Schicksal 32, 153f., 192, 361.
Scholastik 25f., 154, 240.
Seele, seelisch 151, 333.
Sein 69, 96, 168, 177ff., 183ff., 316f.,
325, 331, 333ff., 428ff., 436, 444,
448 ff., 458.
Selbstbesinnung, Selbstverwirklichung,
Selbsterkenntnis,Selbsttranszendenz,
Selbstentfaltung 117ff., 153, 353,
365, 411.
470
Sach-Register
Sinn, Sinnform, Sinngebilde, Sinngehalt,
Sinnschichten 53, 58, 101, 102,
104, 118, 132, 134, 139, 153, 250,
329ff., 366ff.
Sitte, Sittlichkeit 35, 38, 126ff., 140,
199, 366, 388, 417, 450.
Skepsis 13ff., 35,68, 179,203, 224, 230f.,
245, 255, 337, 348ff., 445.
Sollen 168, 182, 282, 317, 331 ff., 367,
413, 436, 450, 453.
Spekulation 62, 301, 310f., 347, 449.
Spieltrieb 142, 235, 285.
Spinozismus 246.
Spiritualismus 170, 180.
Spontaneität 63, 118, 120, 159, 165.
Staat 21, 76, 110, 452, 455.
Statik 11, 355.
Subjekt, Subjektivität 2, 72, 109,
298ff., 341.
Substanz 70, 124, 183ff., 235f., 267, 385.
Südwestdeutsche Schule 401, 416.
Sünde 169f., 232.
Synthese llf., 15, 80, 97, 113, 161, 321,
356, 375, 385, 409, 440.
System 2, 10f., 72, 103f., 238, 244,
322f., 327, 386, 431.
Technik 21, 107, 110, 263, 285ff., 289f.,
296.
Teleologie 309, 319, 340, 431 ff.
Theodizee 309, 314, 319f.
Theologie 12,21,25,69,130f., 421 ff., 460.
Theorie, theoretisch 39,40,149,167f.,395.
Thomismus 71, 179.
Totalität 3f., 151, 383, 440.
Tragik 8ff., 16, 232ff., 269ff., 291,
310ff., 320, 326f., 364, 409, 418,
455ff.
Transzendentallogik, Transzendcntal-
philosophic, Transzendentalkritik,
transzendental 28ff., 33, 42, 67,
120f., 150, 164, 187, 198, 238, 335,
422, 426, 450.
Tremendum 232.
Tübinger Stift 451.
Typus 8ff., 179, 240, 297 f., 445.
Unendlich 150, 388ff.
Universalität 102f., 311.
Urerlebnis 248 f., 268, 331, 363.
Urphänomen 265, 365, 413.
Urschuld 227.
Verantwortung 378.
Verdinglichung 91, 337.
Vereinheitlichung 11, 242.
Verjenseitigung 421.
Vernunft, Vernunfteinheit, Vernunft-
prinzip 4ff., 9, 12, 29, 30f., 33, 40f.,
71, 79, 90, 111, 117ff., 123, 168, 186,
206, 214, 219, 237ff., 246, 280ff.,
303,306ff., 309, 326, 340, 360,367ff.,
444, 452.
Versöhnung 309, 452.
Verstand, verstehen 145, 172, 227f.,
246, 303, 366 f.
Vitalismus 406ff.
Voluntarismus 265, 416, 442.
Wahrheit, wahr 3, 17, 31,33, 35, 126ff.,
210, 246f., 320ff.
Wechselbeziehung 17, 244.
Weisheit 139, 320, 374f.
Weltanschauung, Weltbewertung, Welt-
bild, Weltbürger, Weltdeutung, Welt-
erkenntnis, Welterlösung, Weltge-
schichte, Weltgesetz, Weltwürdigung
19, 102f., 105, 110, 120, 123,
130f., 136, 154, 181, 218, 227, 243,
309, 319f., 327, 332ff., 339, 358ff.,
374ff., 408f., 415ff-, 436.
Werden 282, 401 f., 421.
Wert 49, 77, 134ff., 139, 143, 320, 327,
334, 407, 436.
Wesen, wesenhaft 58, 69.
Widerspruch 435.
Wille, Willen zur Macht 72, 83, 135,
410ff.
Wirklichkeit 3, 8, 17, 35, 77, 162, 198,
325, 334, 345, 406.
Wirtschaft 21, 417.
Wissenschaft I9ff., 24, 30, 58f., 78, 90,
93, 109, 111, 120, 243, 321, 367, 396.
Wissenschaftslehre 305.
Zahl 286, 359.
Zeit 163, 287f., 421, 424.
Zukunft 216, 223.
Zweck 369.
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