5. Der tragische Begriff der Dialektik
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rufung auf Kant erfolgt oder kein unmittelbarer Anschluß an seine
Gedanken gesucht wird, ist kantischer Einfluß wirksam. Viel zu
tief ist der Geist des dialektischen Kritizismus in die Substanz des
modernen Geisteslebens eingedrungen, als daß er nicht in hundert
Zügen sich ausprägte. Diese Dialektik bekundet sich darin, daß
der Kritizismus auf der einen Seite den Wert der empirischen Rea¬
lität uneingeschränkt bejaht und den Sinn für diesen Wert wachhält,
auf der anderen Seite aber zugleich die Notwendigkeit einer über
aller Empirie erhabenen unbedingten Norm anerkennt. Der Begriff
der empirischen Realität verwirklicht sich für unser Bewußtsein
im Begriff der Realität der geschichtlichen Welt, den dann die
historischen Wissenschaften mit Fleisch und Blut gefüllt haben. Die
Bejahung beider Reiche, der Empirie der Geschichte und der Tran¬
szendenz der Norm, setzt außer ihrer logischen Begründung eine
Seelenstimmung, eine Geisteshaltung von durchaus heroischem Ge¬
präge voraus, und zwar um so mehr, je weniger auch nur der ge¬
ringste Abstrich von der Geltung des Seins und von der des Sollens
zugelassen wird.-
So erscheinen mir zwei Bedingungen des Geisteslebens unserer
Zeit und zwei Beeinflussungsrichtungen auf dasselbe, wenn diese zu¬
sammenfassende Wiederholung gestattet ist, als maßgebend zu sein
für die Entstehung der auf diesen Blättern immer wieder hervor¬
gehobenen dialektisch-tragisch-heroischen Lebensstimmung: die
kantische Note in dem Bewußtsein der Gegenwart und die in ihrer
Bedeutung gar nicht hoch genug zu veranschlagende Einwirkung
der Erkenntnisse der historischen Wissenschaften. Beide Momente
arbeiten in derselben seelischen Richtung. Sie fördern wechselseitig
jene Stimmung, weil sie sich in eigenartiger Weise ergänzen. Kants
ethisch-metaphysische Beweisführung geht in der genannten Be¬
ziehung Hand in Hand mit der historisch-kritischen Forschung.
Diese ist ein Korrelat zu jener. Und schon aus diesem — keines¬
wegs nebensächlichen — Grunde ist der Philosoph des Kritizismus
in ganz ausnehmendem Sinne der Philosoph der modernen Kultur.
Er steht in innigster Beziehung zu der Gestaltung unseres Seelen¬
lebens und seiner Dialektik, seiner Antinomik, seiner Gespaltenheit,
weil er — natürlich völlig unbewußt und unabsichtlich — in ent¬
scheidendem Umfange an dieser Gestaltung mitgeschaffen hat. Es
ist das ein Einfluß, der weit über das theoretische und über das spe¬
ziell philosophische Gebiet hinausreicht; er bestimmt und durch¬
fließt unser ganzes Sein als Mensch.