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II. Von der Pflicht zur Metaphysik
fassung ein Fragezeichen gesetzt werden muß? Die Metaphysik
würde keine im wahren Sinne des Wortes philosophische Tat an
den positiven Wissenschaften und für dieselben ausüben, wenn sie
sich auf die doch immer nur äußerlich bleibende Handlung einer
summierenden Zusammenstellung und eines Zusammenklebens der¬
jenigen Erkenntnisse beschränkte, die die konkrete Forschung in
einem jahrhundertelangen Kampfe mit der Wirklichkeit erarbeitet
hat. Wiederum darf man sagen, daß die Zuweisung einer derartigen
Aufgabe an die Philosophie in dem Zeitalter der Herrschaft des
Positivismus und Empirismus, also zur Zeit Wundts, vollauf ver¬
ständlich war. Denn damals waren alle geistigen Interessen so aus¬
schließlich auf die Erfassung von Tatsächlichkeiten und der empiri¬
schen Gesetze derselben eingestellt, und zwar eingestellt in einer
eben ganz positivistisch-realistischen Bewußtseinshaltung, daß der
Philosophie eine andere Betätigungsart, eine andere Existenz- und
Berechtigungsform billigerweise nicht zugestanden werden konnte.
In jenen Jahrzehnten war weniger der Sinn für die Spekulation
abhanden gekommen, vielmehr waren das Recht und der Mut zur
metaphysischen Konstruktion vor dem Andrang der positivistischen
Gesinnung in Mißkredit geraten. —
Wird der Metaphysik also nicht eine etwas untergeordnete Rolle
und eine Art von Verlegenheitsdienst zugemutet, wenn ihr im Reiche
des Geistes lediglich jene Leistung additiver Zusammenstellung
Vorbehalten bleibt? Und es würde keine Besserung ihrer Stellung
einschließen, wenn ihr etwa noch die Aufgabe zugewiesen wird, das
Fazit der wissenschaftlichen Einzelarbeit zu ziehen. Es steckt doch
ein tiefes und wohlbegründetes Recht der Philosophie in dem alten
Gedanken, daß sie die Königin im Reiche der Wissenschaft sei.
Ohne fade und gefährliche Überheblichkeit vermag sie diese Stellung
auch fürderhin einzunehmen. Sie wird in dieser Lage die Wissen¬
schaften nicht als ihre Untertanen ansehen, sie wird ihr Feld nicht
mit dem Schweiße der positiven Arbeit düngen, um selber in sorgloser
Lässigkeit herrlich und in Freuden zu leben. Kein Umstand hat
die traditionelle Machtstellung der Metaphysik vielleicht stärker
erschüttert als der Argwohn, daß die Philosophie sich nur von den
Früchten der Arbeit anderer ernähre und so ein bloßes Genußdasein
führe, mithin einen entbehrlichen Luxus darstelle.
Dieser Verdacht ist unberechtigt. In welchem Maße das der Fall
ist, wird sofort klar, sobald wir uns von der positivistischen Auf¬
fassung und Beurteilungsweise, die der Philosophie widerfahren war,