Die Kunst
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er ein Teil ist, der Irrtum z. B. und die Krankheit, und in
großer Stärke die Mängel seiner sittlichen Kraft, ein
Gegenstand, von dem wir noch zu reden haben werden.
Am Dualismus der Welt, an unserem Verkettetsein in
das Reich der Materie, welches das Reich der Unganzheit
ist, leiden wir hier, und aus diesem Verkettetsein in das,
was unserem geistigen Wesen fremd ist, wünschen wir
erlöst zu werden.
Aber „Tod“ ist und bleibt doch das größte Rätsel und
der größte Gefühlserreger.
Nennt man dieses in Wissen und Vermuten eingebettete
und mit ihnen eng verkettete Gefühl von Abhängigkeit,
Leiden und Erlösungswunsch das Gefühl des „Religiösen“,
so endet also die Weltanschauung des kritischen Men¬
schen eben da, wo die des Natürlichen geendet hatte: in
Religion. Freilich in einer Religion, die nicht wissens¬
feindlich, sondern mit Wissen, mit echtem Wissen und
begründeter Vermutung durchaus durchtränkt ist und
sich dadurch von fast allen Kirchenreligionen — vielleicht
mit Ausnahme des frühen Buddhismus — unterscheidet.
Denn dem kritischen Menschen kann der Glaube an
irgendein wissensmäßig durchaus unbegründetes und nicht
zu begründendes Dogma nicht zugemutet werden.
Das religiöse, auf Wissen und berechtigte Vermutung
gegründete Gefühl aber ist, ob es schon Leidens- und Ab¬
hängigkeitsgefühl ist, doch zugleich ein Gefühl des Ver¬
trauens, des Geborgenseins und der Liebe; und damit wird
die auf Erkenntnis gegründete Liebe zum Höch¬
sten — der amor intellectualis dei — das letzte Wort der
Philosophie, das heißt der gedanklich geformten Erfassung
des Wesens der Wirklichkeit seitens des Menschen.
V. Die Kunst
Der Mensch kann das Wesen der Wirklichkeit nun
noch anders erfassen als in gedanklicher Form, näm¬
lich dadurch, daß er sich einzelne ihrer Wesenszüge