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Wissen und Wirken
Einzelschriften zu den Grundfragen
des Erkennens und Schaffens
Herausgeber
Priv.-Doz. Prof. Dr. E. Ungerer
14. Band
Prof. Dr. H. Driesch
Relativitätstheorie und Philosophie
Karlsruhe i. B.
G. BRAUN G.m.b.H.
vormals G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag
1924
Relativitätstheorie
und
Philosophie
Von
Dr. Hans Driesch
ord. Prof, an der
Universität Leipzig
Karlsruhe i. B.
G. BRAUN G.m.b.H.
vormals G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag
1924
Alle Rechte
auch das der Übersetzung
Vorbehalten
Americ. Copyright
by
G.Braun G.m.b.H.
vormals
G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag
Karlsruhe i. B. 1924
Vorwort
Diese kleine Schrift wurde im Jahre 1923 auf Wunsch
eines chinesischen Verlegers in Peking niedergeschrieben
und ist, von Herrn Dr. Carsun Chang übersetzt, auf chine-
sisch erschienen.
Ich habe, als mein Freund, Herr Professor Ungerer, sie
für seine Sammlung erbat, den ersten Teil ganz wesentlich
umgearbeitet und, wie ich glaube, verbessert. Am zweiten
fand ich nichts, was zu ändern gewesen wäre.
Die Relativitätstheorie hat eine der großen Weltmoden
bedeutet, deren Gegenstände durch die Namen Einstein,
Tutanchamun und Coue bezeichnet werden —— welches
wird die nächste sein?
Uns war es nicht um Mode, sondern um Wahrheit zu
tun, und wir haben, unbekümmert um Mode, gesagt, was
uns falsch und was uns wahr an Einstein's großem Lehr-
gebäude zu sein scheint.
Wohl wissen wir, daß es heute ein undankbares Unter-
nehmen ist, will der Philosoph den logischen Richter spielen.
Aber Philosophie ist unseres Erachtens nicht eine Sache
von „heute".
Leipzig, den 12, Juni 1924.
Hans Driesch.
I
Einleitung.
In diesem Aufsatze soll Einstein's Relativitätstheorie auf
ihre philosophische Zulässigkeit hin untersucht werden.
Es werden also die physikalischen Beobachtungen, welche
ihr zugrunde liegen, als völlig gesichert angesehen, und
es wird auch als erwiesen angesehen werden, daß mathe-
matisch alles ohne Fehler ist. Allein die folgende Frage
steht zur Untersuchung: Darf das, was empirisch vorliegt,
natur-logisch so gedeutet werden, wie Einstein selbst
und seine Nachfolger es auf Grund ihrer mathematischen
Formulierungen deuten, oder ist es logisch vielleicht nicht
zulässig von „vielen Zeiten“, von dem „nicht-euklidischen“
Wesen des Naturraumes und von manchem anderen zu
reden, so wie die Relativitätstheoretiker es tun?
Wir werden ganz und gar ohne Mathematik auskommen;
unsere Methode wird reine und schlichte Bedeutungsschau
sein. Viel zu sehr wird diese heute durch mathematische
Formulierung überwuchert.
Einstein's Lehre besteht aus zwei Teilen, der „speziellen“
und der „allgemeinen“ Relativitätstheorie. Beide Teile sind
nacheinander von ihm entwickelt worden; der erste betrifft
das Zeit-, der zweite das Raumproblem, Wir werden die
beiden Teile und damit auch die beiden Probleme nach-
einander behandeln.
2
A. Die „spezielle“ Relativitätstheorie.
1. Ihr Ursprung. Schon die klassischen Begründer der
Mechanik wußten, daß sogenannte „absolute“ Bewegung
sich nicht nachweisen läßt, wenn es sich um gleichförmig
fortschreitende, das heißt um Bewegung mit gleichbleibender
Geschwindigkeit in gleichbleibender Richtung handelt. Das
Problem rotierender Bewegung birgt besondere Schwierig-
keiten und soll hier nicht erörtert werden.
Der Ausdruck „absolut“ bedarf einiger Worte der Er-
läuterung. Er ist nicht metaphysisch zu verstehen, das
heißt: es ist mit dem Satze, daß „absolute“ Bewegung
nicht nachweisbar sei, nicht gemeint, daß wir nicht wissen
können, ob das, was als Bewegung erscheint, auch „wirk-
lich“ Bewegung sei. Mit diesem erkenntnistheoretischen
Problem haben wir es hier gar nicht zu tun, sondern das,
womit wir es zu tun haben, liegt ganz und gar im Rahmen
der Erscheinung, der Empirie selbst. Gemeint ist mit dem
Satze von der Nichtnachweisbarkeit „absoluter“ Bewegung
nur dieses, daß von Bewegung stets nur relativ auf irgend
ein sogenanntes Bezugssystem, praktisch also auf irgend ein
Ding, geredet werden könne, wobei man nie wisse, ob dieses
Ding sich nicht seinerseits relativ zu einem anderen bewegt.
Das Wort „absolut“ steht also im Gegensatz zu „relativ“,
nicht aber, wie bei metaphysischen Untersuchungen, zu
„phänomenal“. Es gibt praktisch kein durchaus „ruhendes“
Bezugssystem — das ist alles, was gemeint ist.
Der Nachdruck liegt hier auf dem Wort „praktisch“,
das heißt: im Bereiche empirischer Nachweisbarkeit liegend.
Logisch gedacht nämlich kann der Begriff „absoluter“
Ruhe und daher auch „absoluter“ Bewegung sehr wohl
werden, ja, man darf sogar, mit Höfler, sagen, daß, wenn
zwei Körper sich relativ zueinander bewegen, sich mit
Sicherheit mindestens einer derselben „absolut“ bewegt.
1*
3
Schon hier, bei der Frage nach „absoluter“ Bewegung,
ist uns also der Gegensatz zwischen „praktisch nach-
weisbar“ und „eindeutig denkbar“ entgegengetreten; ein
Gegensatz, der uns im Rahmen der Relativitätstheorie
wiederum zu beschäftigen haben wird. Weil er uns hier
in seiner einfachsten Form entgegentrat, sind wir über den
Begriff der „absoluten“ Bewegung etwas ausführlicher
gewesen, —
Es traten nun bald zu den praktischen Schwierigkeiten,
welche der Begriff der gleichförmigen, gleichgerichteten
Bewegung, der sogenannten gleichförmigen Translations-
bewegung, mit sich bringt, Schwierigkeiten im Rahmen eines
anderen Begriffs aus der Naturlehre hinzu, Schwierigkeiten
mit Rücksicht auf den Begriff der Gleichzeitigkeit.
Auch hier kommen praktische Schwierigkeiten, wenn
auch von ganz anderer Art, das heißt solche, welche die
empirische Nachweisbarkeit betreffen, in Frage.
Sie liegen darin begründet, daß das Licht sich nicht
streng momentan, sondern mit endlicher, wennschon, an
irdischen Geschwindigkeiten gemessen, sehr großer Ge-
schwindigkeit fortpflanzt, indem es in der Sekunde einen
Weg von ca. 300000 Kilometern zurücklegt. Die prak-
tischen Schwierigkeiten, um die es sich hier handelt,
hängen also nicht mit den Schwierigkeiten, welche der
Begriff der gleichförmigen Translation dem empirischen
Forscher geboten hat, zusammen.
Wir denken uns der Einfachheit halber die Erde als
eine Scheibe von enormer Größe. Auf ihr befinden sich
zwei physikalische Stationen, sehr weit, sagen wir 150000
Kilometer, voneinander entfernt. Auf beiden Stationen
befinden sich sehr gute Uhren, welche aus derselben Fabrik
stammen und ursprünglich genau gleichen Gang hatten.
Die Forscher auf den beiden Stationen haben verabredet,
gelegentlich zu prüfen, ob ihre Uhren noch gleichgehen.
4
Beide geben eines Tages ein Lichtsignal um 12 Uhr mittags
ab; wenn dann die Station A das Lichtsignal von B, die
Station Z?das Lichtsignal von A genau um 12 Uhr 1f2 Sekunde
empfängt, ist doch wohl nachgewiesen, daß die Uhren in A
und in B noch immer gleich gehen; denn lj2 Sekunde
braucht ja das Licht, um den 150000 Kilometer langen
Weg von A nach B, beziehungsweise von B nach A
zurückzulegen?
Alles scheint in Ordnung zu sein, und ist doch nicht
in Ordnung, und zwar aus folgendem Grunde:
Man sah im Licht die Fortpflanzung elektromagnetischer
Schwingungen des sogenannten Äthers. Wie nun steht es
mit der Beziehung der fingierten Erdscheibe zum Äther?
Ruhen beide „relativ“ zueinander oder sind sie zueinander
in relativer Bewegung? Nur, wenn das erste der
Fall ist, haben offenbar die Uhrvergleichungen
zwischen den Stationen A und B einen klaren
Sinn. Denn wenn sich die Erdscheibe in Bezug auf den
Äther bewegen würde, etwa in der Richtung von A nach
B, also derart, daß A einmal an den Ätherort gelangt,
an welchem B früher gewesen ist, so würde offenbar das
Lichtsignal, welches die Station A um 12 Uhr abgibt, die
Station B später erreichen, als das von der Station B
abgegebene Signal die Station A erreicht. Das A-Signal
hätte ja einen größeren Weg zurückzulegen, die ü?-Station
flieht gleichsam vor ihm, während die .¿4-Station dem
.¿¿-Signal aktiv entgegenkommt. Die Beobachter auf A
und auf B würden sich also täuschen, wenn sie ihre Uhren
noch für richtiggehend halten, weil das Lichtsignal der
fremden Station von beiden um 12 Uhr 1/2 Sekunde wahr-
genommen wird. Aus diesen identischen Beobachtungen
muß für einen, der um den „wirklichen“ Sachverhalt weiß,
gerade das Falschgehen der Uhren folgen: A hätte das
Z?-Signal früher, .¿¿das ^4-Signal später als 12 Uhr Sekunde
5
erhalten müssen, wenn die Uhren noch identischen Gang
hätten.
Die große Frage ist nun, wie kann man und kann man
überhaupt um den „wirklichen Sachverhalt“, also um
Ruhe oder Bewegung der Erde zum Äther „wissen“?
Aus dem Versuch, diese Frage zu beantworten, erwuchs
der berühmte Versuch des amerikanischen Physikers
Miehelsonh Er sollte die Frage prüfen, ob eine Bewegung
der Erde relativ zum Äther (ein „Ätherwind“) feststellbar
sei, ob also der Physiker von einem wirklichen Nachweis
von Gleichzeitigkeit reden darf oder sich stets mit seiner
„Ortszeit“, um einen Ausdruck von Lorentz zu gebrauchen,
begnügen muß, ebenso wie er sich bei der Feststellung
von Translationsbewegungen mit dem Nachweis relativer
Geschwindigkeiten zu begnügen hat. Ist wirklich der Äther
das „absolut“ Ruhende?
Ich schildere nun das Wesentliche am Michelson'schen
Versuch in einer schematisierten Form, welche, wenn ich
nicht irre, von Laue stammt:
Man denke sich auf der Erde eine große Hohlkugel,
deren Wand innen eine spiegelnde Oberfläche besitzt; in
ihrem Zentrum wird für einen Moment ein Blitzlicht ent-
zündet; man will prüfen, ob die spiegelnde Oberfläche an
allen Stellen gleichzeitig oder an den einen Stellen früher,
an den anderen später aufleuchtet. Denn die ganze Kugel
bewegt sich mit der Erde, bewegt sich also relativ zum
Äther, falls dieser „absolut“ ruht. Man erwartet, daß
die spiegelnde Fläche nicht überall gleichzeitig aufblitzen
1 Eine die physikalischen Einzelheiten der Versuchsanordnung
berücksichtigende Beschreibung des Michelson-Versuchs enthält
Bd. 15 dieser Sammlung: R. Winderlich, „Das Ding, I, Die Dinge
der Naturwissenschaft“ im Kapitel „Der Weltäther“ des III. Ab-
schnitts; die folgenden Kapitel „Raum und Zeit“ und „Masse"
geben eine kurze Darstellung der Relativitätstheorie und ihrer
physikalischen Folgerungen.
6
werde, sondern zuerst an den Seiten, zuletzt an den Stellen,
welche das vordere Ende X und das hintere Ende Y der
in Bewegung befindlichen Kugel ausmachen. Denn man
ist überzeugt, daß sich die Bewegung der Kugel durch den
Äther, also relativ zum Äther, äußern muß, und in diesem
Falle würde zwar, auf die Kugel bezogen, der Weg vom
Zentrum nach X, nach Y und nach den Seiten und Jedes-
mal zurück für alle Lichtstrahlen gleich sein, nämlich gleich
dem Durchmesser der Kugel, aber die Zeit, welche ein
Lichtstrahl nach den Seiten und zurück senkrecht zur
Bewegungsrichtung der Erde und der Kugel braucht, würde
kleiner sein als die für die Durchmessung des vom Zentrum
nach X oder Y und zurück führenden Weges gebrauchte
Zeit. Denn senkrecht zur Bewegung der Kugel bis zur
Spiegelfläche wird die Bahn auf Hinweg und Rückweg
(immer noch auf die Kugel bezogen) mit gleicher Geschwin-
digkeit durcheilt, nach dem vorderen Ende X hin aber ist
die Geschwindigkeit auf dem Hinweg verkleinert, auf dem
Rückweg vergrößert, nach Y hin umgekehrt.
Dieser Punkt bietet oft dem Verständnis Schwierig-
keiten. Man meint, es müsse für die gebrauchte Zeit
gleichgültig sein, ob ich von M nach N und zurück mit
der Geschwindigkeit 4 oder von M nach N mit der Ge-
schwindigkeit 5, zurück aber mit der Geschwindigkeit 3
gehe. Es ist aber, wenn wir den Weg MN — .r, die für
den Hinweg gebrauchte Zeit = tv die Zeit des Rückwegs
= /2, die gesamte aufgewendete Zeit tx -+- t2 = t setzen:
im ersten Falle t = -4- -+- -4- = -4-
4 4 2 30
T? n , S * 8 16
im zweiten r alle / = -—i- ,T = .-s — ^ s
5 3 1,0 3U
Die im zweiten Falle gebrauchte Zeit ist also um ~
größer.
7
Man wird vielleicht fragen, wie denn eine Verschieden-
heit der Geschwindigkeit des Lichts in den verschie-
denen Richtungen der bewegten Kugel in Betracht kommen
könne, wenn der Äther als absolut ruhend angenommen
wird; es müsse, wird man sagen, in diesem Falle doch die
Geschwindigkeit des Lichts nach allen Seiten hin gleich
sein. Das ist sie auch in Bezug auf ein mit dem absolut
ruhenden Äther ruhendes Koordinatensystem. Aber das
kommt nicht in Frage. In Frage kommt vielmehr, wie sich
die Geschwindigkeit des Lichtes auf den verschiedenen
einander gleichen Radien der Kugel zu einem mit der
Kugel bewegten Koordinatensystem verhält. Und da muß
man eben, wenn man Ruhe des Äthers voraussetzt, erwarten,
daß diese Geschwindigkeit in den verschiedenen Radien
verschieden sei. „Geschwindigkeit“ ist der Weg in der
Zeiteinheit, und diesen Zeiteinheitsweg würde eben der
mit der Kugel forteilende, das Bezugssystem der Koor-
dinaten gleichsam in sich tragende Beobachter in den ver-
schiedenen Radien der Kugel verschieden finden: in der
Zeiteinheit durchläuft das Licht auf den verschiedenen
Radien der Kugel verschieden große Strecken, oder, was
auf dasselbe hinauskommt, es braucht eben verschiedene
Zeit, um auf den verschiedenen Radien die Einheit, also
etwa 1 Zentimeter, zu durchlaufen. Wir können auch
kurz sagen, daß zwar der Kugelweg auf den verschiedenen
Radien der Kugel immer derselbe, der Ätherweg aber ein
verschiedener sei.
Wir haben jetzt in etwas schematisierter Weise aus-
einandergesetzt, was der Michelson'sche Versuch eigentlich
will und was er als Resultat zu finden erwartet. Er will
prüfen, ob sich in Bezug auf eine bewegte Kugel das
Licht in den verschiedenen Richtungen derselben mit ver-
schiedener Geschwindigkeit fortpflanzt oder nicht, und er
erwartet das Erste,
8
Der Michelson’sche Versuch ergab nun aber unerwar-
teterweise das Zweite: Alle Teile der spiegelnden Wandung
blitzen zugleich hell auf; das Licht, welches aus einer im
Zentrum der Kugel befindlichen und mit ihr bewegten
Lichtquelle herstammt, pflanzt sich also in allen Richtungen
der gegen den Äther bewegten Kugel mit gleicher Ge-
schwindigkeit fort, wobei die Geschwindigkeit auf ein der
bewegten Kugel selbst angehöriges und an ihrer Bewegung
teilnehmendes Koordinatensystem bezogen ist.
Wie soll das nun erklärt werden?
Es bieten sich offenbar zwei mögliche Wege zur Er-
klärung dar:
Entweder man nimmt an, daß ein bewegter materieller
Körper, in unserem Falle also die große bewegte Hohl-
kugel, Äther mit sich führt. Dann ist alles ebenso wie
beim Schall in einem gegen die umgebende Luft bewegten
sehr großen geschlossenen Kasten: denken wir uns einen
sehr großen hohlen mit Luft gefüllten Kasten, dann pflanzt
sich in ihm der Schall, auf den Kasten selbst bezogen,
stets nach allen Richtungen gleich schnell fort, ganz gleich-
gültig, ob der Kasten relativ zur umgebenden Luft ruht
oder relativ zu ihr mit irgendeiner ganz beliebigen Ge-
schwindigkeit bewegt wird.
Oder aber man gibt die sogenannte Undulationstheorie der
Optik auf und kehrt zu einer Form der sogenannten Emissions-
theorie zurück: Licht wäre dann keine wellenartige Zustands-
änderung, sei es elastischer oder elektromagnetischer Art,
sondern beruhte auf der Ausstoßung gewisser diskreter Teile
seitens der Lichtquelle; es wäre nicht die Fortpflanzung
eines bloßen Zustandes, sondern die Fortbewegung gewisser,
vielleicht nicht gerade materieller, „Dinge“; es stünde nicht
in Analogie zum Schall oder zur Fortbewegung von Wasser-
wellen, sondern zum Fortschleudern von Steinen, Wenn
in einem Eisenbahnwagen Steine nach verschiedenen Rich-
9
tungen fortgeschleudert werden, bewegen sie sich auch,
von allen Reibungswiderständen abgesehen, ganz ohne Rück-
sicht auf die Art der Bewegung des Wagens oder auf
seine Ruhe, nach allen Richtungen hin, auf ein vom Wagen
selbst mitgeführtes Koordinatensystem bezogen, gleich schnell.
Eine solche Theorie hat für das Licht der französische
Physiker Ritz vertreten. Sie bricht natürlich mit dem
Satze, daß die Geschwindigkeit des von einer Lichtquelle
ausgesandten Lichtes von der Bewegung eben dieser Licht-
quelle selbst unabhängig sei.
Für einen außerhalb des bewegten Systems befind-
lichen Beobachter würde sich natürlich im ersten Beispiel
der Schall, im zweiten der geworfene Stein in den ver-
schiedenen Richtungen mit verschiedener Geschwindig-
keit fortpflanzen-, aber das würde doch auch wohl bezüg-
lich der Lichtfortpflanzung beim Michelson'schen Versuche
für einen außerhalb der Erde mit ihrer großen bewegten
Hohlkugel stehenden und an ihrer Bewegung nicht teil-
nehmenden Beobachter der Fall sein.
Wir fassen, ehe wir weitergehen, das Ergebnis des
Michelson'schen Versuchs noch einmal ohne jede Rücksicht
auf irgendeine theoretische Erklärung kurz zusammen: In
einem System, z. B. auf der Erde, bewegt sich das Licht,
welches aus einer dem System, also der Erde, selbst
angehörigen Lichtquelle herstammt, bezogen auf das System
selbst in allen Richtungen mit gleicher Geschwindigkeit
fort, ohne Rücksicht auf irgendeine Translationsbewegung
des Systems. Wir können also auf 2 irdischen Beobachtungs-
stationen Gleichzeitigkeit feststellen.
Wir haben hier einige Worte besonders hervorgehoben.
Weshalb das geschah, wird sogleich klar werden.
Man hat nämlich das Resultat des Michelson’schen Ver-
suchs in einer bestimmten Richtung verallgemeinert, ohne
eigentlich zu merken, was man da tat. Man sagt:
10
Jedes beliebige, aus einer beliebigen, also auch aus
einer einem System A selbst nicht angehörigen Lichtquelle
stammende Licht pflanzt sich relativ zu dem System A
und von ihm aus bestimmt, mit gleicher Geschwindigkeit
fort, selbst wenn das System A sich der Lichtquelle gegen-
über bewegt.
Oder ganz kurz: Die Lichtgeschwindigkeit {c = 300 000)
kann nie vermehrt oder vermindert werden, sei sie be-
zogen auf welches System immer sie wolle, mag das System,
welches diese Geschwindigkeit relativ zu sich selbst fest-
stellt, relativ zur Lichtquelle ruhen oder in beliebiger trans-
latorischer gleichförmiger Bewegung in Bezug auf dieselbe sein.
Diese Erweiterung des Prinzips hat keine neue ex-
perimentelle Stütze, ja kann gar keine solche Stütze
haben1; sie ist aber dem Ergebnis des Michelson'schen
Versuchs gegenüber etwas ganz Neues, und ist keine bloße
„Erweiterung“ desselben!
Wir wollen nun annehmen, daß die sogenannte „Er-
weiterung“ des Michelson'schen Versuchsergebnisses berech-
tigt sei, daß wirklich die Geschwindigkeit irgend eines
von irgendeiner Lichtquelle herstammenden Lichtstrahls
relativ zu jedem beliebig translatorisch bewegten System
von ihm aus als dieselbe, also als 300000 Kilometer in
der Sekunde, gemessen werde, ganz gleichgültig, ob dieses
System der Lichtquelle gegenüber ruht oder nicht, ja
sogar, wenn es sich geradezu in Richtung des Lichtstrahls
auf die Lichtquelle zu oder von ihr weg bewegt.
Wie könnte man dieses Phänomen erklären?
Machen wir uns zunächst noch einmal in ganz einfacher,
populärer Weise klar, was es bedeutet:
L S
o------------>
X A.
1 Darauf kommen wir am Schlüsse des Ganzen zurück.
x ß.
11
Da ist eine Lichtquelle L und ein von ihr ausgehender
Lichtstrahl S. Der Lichtstrahl geht durch einen sehr langen
Wagen aus Glas, in welchem ein Beobachter B sitzt. Ein
anderer Beobachter A steht außerhalb des Wagens.
Zuerst ruhen die Lichtquelle, der Wagen mit dem
Beobachter B und der Beobachter A alle relativ zuein-
ander, A und B messen die Geschwindigkeit des Licht-
strahls in Bezug auf sich selbst als Beziehungspunkt und
finden natürlich beide c = 300 00U Kilometer in der Sekunde.
Nun beginnt der Wagen mit dem Beobachter B sich
von der Lichtquelle fort (oder auf sie zu) zu bewegen,
und zwar mit der sehr hohen Geschwindigkeit von 100000
Kilometern in der Sekunde, während der Beobachter A
relativ zur Lichtquelle L in Ruhe bleibt.
Da sollen nun beide, A und B, immer noch jeder
c — 300000 setzen. B soll also relativ zu sich selbst
C — 300000 bestimmen sowohl, wenn er in seinem Glas-
wagen gegen die Lichtquelle L ruht, als auch, wenn er
sich mit seinem Wagen von der Lichtquelle L weg (oder
auf sie zu) mit 100000 Kilometern in der Sekunde bewegt.
Also unsere Beobachter A und B, von denen A zur
Lichtquelle ruht, B sich zu A und zur Lichtquelle bewegt,
bestimmen, jeder relativ zu sich, die Geschwindigkeit des
Lichtstrahls S gleich ¿-=300 000. Wie nun kann das ver-
standen werden?
Liegt denn das Geschilderte wirklich als Sachverhalt
vor? So fragt man hier wohl zuerst. Es soll als vor-
liegend gedacht werden, lautet die Antwort. Die Invarianz
der Lichtgeschwindigkeit jedem beliebig geradlinig bewegten
System gegenüber ist Postulat.
Begnügen wir uns einstweilen mit dieser Antwort und
versuchen wir zu verstehen.
Was hier als seltsamer „Sachverhalt“ vorliegt, das kann,
sagt uns da zunächst Lorentz, der große holländische
12
Physiker, nur möglich sein, wenn alle Maßstäbe in dem
gegen die Lichtquelle L bewegten System, dem Glaswagen
mit seinem Beobachter B, ihre Maße verändern, B glaubt
mit demselben Meter und derselben Sekunde wie A zu
messen, tut es aber nicht. Alle Maße im ,0-System
haben sich durch seine Bewegung gegen den absolut ruhenden
Äther verändert. Eine seltsame, aber logisch mögliche
Theorie, welche, wohl gemerkt, angesichts des ursprüng-
lichen Resultates von Michelson nicht erforderlich wäre,
sondern nur seine sogenannte „Erweiterung“ — (die man
für selbstverständlich hält!) — betrifft. Denn der Michel-
son’sche Versuch redet ja nur davon, daß das von einer
dem in Frage stehenden System selbst angehörigen Licht-
quelle ausgesandte Licht sich unbekümmert um irgend-
welche translatorische Bewegung des Systems nach allen
Richtungen relativ zum System gleich schnell fortpflanze,
und hier käme man mit der Lehre vom „mitgeführten
Äther“ aus.
Als seltsam, aber logisch zulässig, haben wir die An-
nahme von Lorentz bezeichnet. Seltsam ist sie, erstens,
weil sie mit dem Begriff der absoluten Bewegung, nämlich
relativ zum absolut ruhenden Äther, geradezu praktisch
rechnet, und eine solche Bewegung nicht nur denkend setzt,
zweitens aber, weil sie die bloße Tatsache des „sich ab-
solut Bewegens“ als Ursache physikalischer Wirkungen,
nämlich der dimensionalen Verkürzung einführt, So etwas
kannte man nicht. Aber es würde nicht den Satz des
Widerspruchs verletzen, und deshalb ist die Theorie logisch
zulässig. Nun gibt es aber gerade hier noch eine andere
Theorie, und mit ihrer Erwähnung kommen wir endlich zu
unserem eigentlichen Thema.
2. Einsteins Theorie. Einstein geht über die physi-
kalischen Paradoxien von Lorentz hinweg zu viel funda-
mentaleren. Er sagt nicht: wegen Veränderung seiner
Driesch H., Relativitätstheorie und Philosophie. 2
13
Maßstäbe täuscht sich der Beobachter B in seinem gegen
die Lichtquelle bewegten Glaskasten, glaubt er eine richtige
Messung auszuführen, was er gar nicht kann. Sondern
Einstein sagt: „Das“ Licht hat tatsächlich immer die Ge-
schwindigkeit c = 300 000, ganz gleichgültig, ob diese relativ
zu einem im Verhältnis zur Lichtquelle ruhenden oder
relativ zu einem im Verhältnis zu ihr irgendwie trans-
latorisch gleichförmig bewegten Systeme, jeweils von dem
in Rede stehenden System selbst aus, bestimmt wird.
Ein Absolutheitsbegriff — (in dem oben festgelegten
Sinne des Wortes „absolut“) — wird hier eingeführt, eine
Seinsaussage wird gemacht: es „ist“ so im Sinne empi-
rischer Realität. Zu c, als der Fundamentalkonstante
aller Physik, kann nichts hinzuaddiert werden,
weder positiv noch negativ; sie ist eine „Geschwindigkeit“,
die anders als jede andere geartet ist.
Freilich wird die Paradoxie dadurch gemildert, daß die
verschiedenen Systeme mit verschiedenen Maßen messen
sollen, wie bei Lorentz. Aber sofort ist eine neue Para-
doxie auf dem Plan. Es wird nämlich zwar, abweichend
von Lorentz, die Verschiedenheit der Maße nicht als rätsel-
haftes empirisches Faktum angesehen, aber als real gilt sie
auch, sogar in ganz fundamentalem Sinne. Sie soll eine
gleichsam ontologische Folge des Begriffs der relativen
Geschwindigkeit und doch auch faktisch-physikalisch, also
z. B. als empirisch reale Verkürzung des „Meters“ aus-
geprägt sein.
3, Die Kritik. Wir wollen nun zunächst von der Ein-
stein’schen Maßstabverkürzung ganz absehen und den Satz,
daß die Lichtgeschwindigkeit eine ganz besondere Art von
Geschwindigkeit sei, rein wörtlich nehmen.
In der Tat wird ja populär die Theorie sehr häufig so
ausgesprochen. Eine ganz einfache Betrachtung zeigt aber,
daß diese populäre Form der Theorie gegen das logische
14
Wesen des Begriffs „Bewegung" verstößt und wört-
lich genommen geradezu eine logische, oder wenn man
es lieber hört, „phänomenologische" Absurdität ist.
Machen wir uns das zunächst einmal restlos klar, wobei
wir nicht vergessen dürfen, daß es sich um den Satz
handelt: „Das Licht ist, abweichend von allem anderen,
ein solches Etwas, dessen Geschwindigkeit relativ zu jedem
beliebig translatorisch bewegten System dieselbe ist."
Denn das ist der Satz, den die orthodoxen Relativitäts-
theoretiker oft vertreten.
Mag nun die Undulationstheorie oder die Emissions-
theorie richtig sein, jedenfalls bewegt sich da, wo sich
Licht bewegt, also ein Lichtstrahl sich fortsetzt, ein „Etwas"
im Raum, sei es ein bloßer Zustand oder etwas Dinghaftes.
Der Begriff „Bewegung" aber braucht, abgesehen von den
Begriffen Zeit und Raum, mehr als ein bewegtes „Etwas"
nicht, um sich in alle seine Konsequenzen verfolgen zu
lassen,
Bewegung nun ist stetige Änderung des Ortes in Zu-
ordnung zur stetigen Zeit seitens eines beweglichen Etwas,
wobei gedanklich im Sinne reiner Logik die Ortsänderung
als auf ein „absolut" ruhend angesehenes Bezugssystem
bezogen betrachtet wird, mag dieses absolut ruhende Be-
zugssystem praktisch auffindbar sein oder nicht.
Man kann auch — (praktisch sogar allein) — von der
Bewegung eines beweglichen Etwas relativ zu einem anderen
bestimmten Etwas reden und es dahingestellt sein lassen, ob
dieses andere Etwas „absolut" bewegt ist oder absolut ruht.
Jedenfalls aber gilt ontologisch der Satz: Wenn
ein Etwas A sich relativ zu einem Etwas B mit der Ge-
schwindigkeit vx bewegt, so bewegt es sich relativ zu
einem Etwas C, das gegen B relativ bewegt ist, nicht
mit der Geschwindigkeit vv sondern mit einer anderen
Geschwindigkeit, welche wir v2 nennen wollen.
2*
15
Denn jeder Ort im Raume „ist" eben der Ort, welcher
er ist, mag er „absolut" als immer derselbe Ort nach-
gewiesen werden können oder nicht; der Ortswechsel, die
Bewegung von M nach JV, „ist“ also auch immer dieser
eine bestimmte Ortswechsel; die Geschwindigkeit, das heißt
der Betrag des Ortswechsels in der Zeiteinheit „ist" auch
immer dieser bestimmte- Eben deshalb muß das, was
relativ zu einem B eine bestimmte Geschwindigkeit besitzt,
relativ zu einem C, das zu B relativ mit bestimmter Ge-
schwindigkeit bewegt ist, eine andere Geschwindigkeit
haben. Wollte man sagen, ein A habe zu einem B und
zu einem relativ zu B bewegten C dieselbe Geschwindig-
keit, so würde man behaupten, daß A gleichzeitig in der
Zeiteinheit die Strecke von M bis N und die Strecke von
M bis zu einem P durchlaufe, daß also die Orte im Raum N
und P verschiedene Orte und auch dieselben Orte
seien. Das widerspricht dem sogenannten Satze vom
Widerspruch, besser von der „doppelten Verneinung“, an-
gewandt auf den Raum. Nach diesem Satze ist der Ort IV
nicht der Ort Nicht-A^, also auch nicht der Ort P.
Gegen diesen fundamentalen, aus dem Wesen des
Bewegungsbegriffs entspringenden Satz fehlt die spezielle
Relativitätstheorie Einsteins in der üblichen orthodoxen
oder, besser vielleicht, populären Fassung, denn da behaup-
tet sie, daß das bewegliche Etwas, welches wir Licht
nennen, so beschaffen ist, daß es gegen ein B und zu-
gleich gegen ein relativ zu B bewegtes C dieselbe
Geschwindigkeit besitzt.
Und zwar behauptet sie das im Sinne eines „es ist“,
also, kurz gesagt, als Seinsaussage, nicht etwa als
Aussage über mögliche Bestimmbarkeit, wobei das Wort
„Seinsaussage“ natürlich nicht auf Metaphysisches, son-
dern auf das, was man empirische Wirklichkeit nennt,
gehen soll.
16
Die Gerechtigkeit erfordert nun freilich sogleich zu sagen,
daß der soeben von uns erörterte vollendete Un-Sinn wohl
nur von ganz wenigen Relativitätstheoretikern so, wie er
da steht, vertreten wird, daß er, wenigstens meist, nur
einen abgekürzten Ausdruck bedeutet.
Jedes der in Frage kommenden Systeme, welche relativ
auf sich c bestimmen, arbeitet ja, wie schon einleitend ge-
sagt wurde, mit eigenem Maßstab, mit „seiner" Sekunde
und „seinem“ Meter. Und jedes soll nur in diesem Sinne
berechtigt sein zu sagen „mein c ist das c“.
So ist die grundlegende Paradoxie zunächst beseitigt.
Ob das, was an ihre Stelle tritt, berechtigt ist, werden
wir sehen. Denn, wie wir schon wissen, eine neue Para-
doxie erscheint sofort: Die orthodoxe Theorie sieht die
Verkürzung von Meter und Sekunde als empirisch-wirk-
liche, physikalische Verkürzung an, bedingt durch das
„Sich-Bewegen",
Ganz klar wird das, abgesehen davon, daß sogar Ein-
stein selbst es oft direkt verkündet, aus den berühmten
Uhren- und Huhnbeispielen.
Zwei Uhren liegen, gleichgehend, nebeneinander. Die
eine, A, bewegt sich mit beinahe Lichtgeschwindigkeit lange
Zeit fort und kehrt endlich zurück: sie ist, zurückgekehrt,
um nur wenige Sekunden vorgerückt, während für die andere,
B, Jahre vergangen sind. So ist es; nicht so „scheint es"!
Eine ausdrückliche Seinsaussage im empirischen Sinne,
nicht eine Scheinbarkeits-, eine Bestimmbarkeitsaussage
wird hier aufs allerklarste gemacht.
Und die Hühnereier: Die aus dem ruhenden geschlüpfte
Henne ist schon Großmutter, das bewegte Ei ist erst in
4 Zellen geteilt, wenn beide, nach der großen Reise des
einen, wieder beieinander sind.
Zum Glück für die Relativitätstheoretiker ist dieses
„Experiment“ nur ein solches in Gedanken.
17
Seltsam ist, daß man nicht merkt, wie man hier eine
Relativbewegung, nämlich die von A zu B, zu einem
Etwas mit Absolutheitseffekt macht. Denn nicht ja
heißt es, daß die Vorgänge und Zustände auf A „schein-
bar“ für B da seien, solange A sich bewegt, in welchem
Falle sie sich ja auch auf der Rückreise, ebenfalls schein-
bar, ausgleichen müßten. Sie sind absolut da, auch
wenn A und B wieder beieinander liegen1. Auch
ist durchaus nicht von einer Reziprozität die Rede, also
nicht davon, daß für B ein Schein mit Rücksicht auf A
bestehe, welcher auch für A mit Rücksicht auf B da sei.
Wir haben hier also die Lorentz'sche Verkürzung; nur
nicht als rätselhaftes empirisches Sonderdatum, sondern
als angebliche reale Folge aus dem Bewegungsbegriff! —
Um allmählich zu dem zu gelangen, was unseres Er-
achtens auf dem Gebiet der speziellen Relativitätstheorie
gesichertes Gut ist —- und es gibt gesicherte Wahrheit
in ihrem Rahmen, wenn sie auch nicht allzuviel bedeutet —
wollen wir selbst zunächst einmal „in Gedanken experi-
mentieren“.
An erster Stelle erwäge man dieses, was ich seltsamer-
weise bei keinem Relativitätstheoretiker erwogen fand:
Wir kehren zu unserem Beobachter in seinem großen
Glaswagen zurück (S, 11). Er ruht zuerst relativ zur Licht-
quelle und bestimmt unweigerlich c= 300000- Dann be-
ginnt seine Bewegung von der Lichtquelle weg mit, sagen
wir, 100000 Kilometern in der Sekunde. Er verkündet
wieder, so sagt die Theorie: „Mein c, also das c, ist
= 300000 km/sec.“ * 2
1 So in besonderer Schärfe bei Born, Die Relat-Theorie,
2. Aufl., 1921, S. 190 ff. Zu Seite 189 dieses Buches möchte ich
übrigens bemerken, daß es zwar keine „scheinbaren Wurstscheiben“,
wohl aber scheinbare Wurstquerschnitte geben kann!
18
Tut er es auch, ja kann er es sinnvoll tun, wenn wir
annehmen, daß er um seine Bewegung zur Lichtquelle weiß?
Muß er dann nicht sagen, vorausgesetzt, daß er wirklich
auch das zweite Mal, wegen „verkürzter Maße“, c — 800000
bestimmt habe: „Meine Messung ist falsch; es muß etwas
Störendes geschehen sein, das ich nicht nachweisen kann?“
So würde er also keine Seinsaussage fällen, sondern
nur eine Bestimmtheitsaussage.
Doch hier haben wir die seltsame „Verkürzung“ immer
noch fiktiv zugelassen.
Jetzt nehmen wir wieder ein A an, das zur Lichtquelle L
ruht, und ein B, das sich zu A und zur Quelle bewegt.
Beiden geben wir Uhren mit, so vollendet, wie Leibniz
sie sich zur Erläuterung seiner prästabilierten Harmonie
ersann, und ebensolche ideal vollendeten Meterstäbe. Beide
Uhren, welche identischen Gang hatten, als B noch relativ
zu A und zur Lichtquelle ruhte, können gar nicht „falsch“
gehen. Meint man nun wirklich, daß B, in Bewegung
gegen die Lichtquelle versetzt und sich etwa mit 100 000
Kilometer Geschwindigkeit auf sie zu oder von ihr weg
bewegend, c immer noch = 800000 finden werde und
nicht = 400 000 das eine, = 200000 das andere Mal?
Wer hat denn festgestellt, daß das zweite nicht
der Fall ist? Doch keiner! Man hat lediglich „postuliert“.
Aber es gibt solche Idealuhren nicht und damit kommen
wir zu dem wahren Kern von Einstein’s Lehre, welcher
aber kein „Naturgesetz“, überhaupt gar nichts für das
Wesen der Natur bedeutsames, sondern lediglich eine
Beschränktheit menschlicher Forschungsmittel
betrifft, welche festgestellt zu haben gleichwohl ein großes
Verdienst bleibt.
Uhren, weil sie eben praktisch keine Leibniz’schen
Idealuhren sind, müssen gelegentlich bezüglich ihres Gleich-
19
ganges reguliert werden und das geschieht durch Ver-
gleich- Hier knüpft alles Folgende an.
1. An erster Stelle wiederholen wir eine Angelegenheit,
welche im Eingang schon einmal zur Sprache kam:
Können in einem gegebenen System zwei in Bezug
aufeinander ruhenden, voneinander entfernt liegenden Uhren
durch Lichtsignale auf ihren gleichen Gang hin endgültig
untersucht werden?
Stellen wir uns auf den Boden der älteren Physik, auf
welchem die endliche Lichtgeschwindigkeit eine „Ge-
schwindigkeit" wie jede andere ist, so lautet die Antwort:
Auf dem System „Erde" können sie es, sei es, daß
sie zur Erde ruhen oder sich zu ihr mit bekannter Ge-
schwindigkeit bewegen. Denn die Erde führt, wenn Miehel-
son's Versuch „normal" gedeutet wird, Äther mit, ebenso
wie ein geschlossener Eisenbahnwagen Luft mitführt.
Im Weltraum können sie es, wenn wir uns Äther von
dem in Rede stehenden System nicht mitgeführt denken
und voraussetzen (vgl, S. 18 f), daß man über Bewegung des
Systems zur Lichtquelle nichts wisse, nicht. Hier würde
stets „falsch" bestimmt werden.
2. Gleichzeitigkeit ist also für ein System auf der
Erde von diesem System selbst aus festzustellen. Für
ein System im Weltraum, das die unter 1 angegebenen
Bedingungen erfüllt, ist sie aber nicht „festzustellen",
sondern nur zu postulieren unter der Fiktion, daß das
Licht sich von A nach B und von B nach A gleich schnell
bewegt. Das Ergebnis des Postulats wird meist „falsch“
sein, denn die Fiktion wird meist nicht zutreffen.
3. Gleichzeitigkeit auf zwei Systemen in Bezug
aufeinander:
a) Auf der Erde: System A ruht zur Erde oder be-
wegt sich zu ihr mit bekannter Geschwindigkeit; Gleich-
zeitigkeit in Bezug auf 2 Uhren auf A ist also feststellbar;
20
B bewegt sich mit bekannter Geschwindigkeit an A vor-
bei in bekannter Distanz; alles ist eindeutig. Kennt da-
gegen B seine Geschwindigkeit relativ zu A nicht und ist
die Distanz zwischen A und B nicht bekannt, so „postu-
liert“ B seine Gleichzeitigkeit und zwar wahrscheinlich
falsch. Gleichzeitigkeit zwischen A und B ist dann also
nicht feststellbar.
b) Im Weltraum; System A, welches nicht Äther
„mitführt“, sei als ruhend gesetzt, jedenfalls ruhe es
relativ zur Lichtquelle; Gleichzeitigkeit in ihm ist nur
postulatorisch bestimmbar. System B läuft mit seinen
Uhren bei seiner Bewegung an den Uhren von A vorbei;
dann kann von A aus relativ zu B Gleichzeitigkeit nur
postulatorisch festgestellt werden. B kann auch relativ
zu sich selbst Gleichzeitigkeit (nach 2) nur postulieren und
sagt aus, daß A seine Gleichzeitigkeit falsch bestimmt habe.
4. Findet die Bewegung von A relativ zu B auf der Erde,
aber mit unbekannter Geschwindigkeit, oder findet sie im
Weltraum statt, so sagt A von B aus, daß B seine Längen
falsch messe; ebenso B von A. Das Unrecht ist also gegen-
seitig. Denn Längen werden in jedem System selbst,
wenn man von abenteuerlichen Annahmen absieht, zwar
unmittelbar gemessen, sie werden aber von A relativ zu
B und von B relativ zu A durch Gleichzeitigkeiten be-
stimmt. Nennen wir 2 voneinander entfernte zueinander
ruhende Uhren auf A und auf B nun a und ß, bezw. a'
und ß', so läßt sich für ein zur Lichtquelle ruhend ge-
dachtes A zwar, wenigstens auf der Erde, die Gleichzeitig-
keit von a und ß feststellen, ebenso wie sich die Gleich-
zeitigkeit von a und a' feststellen läßt. Aber die Gleich-
zeitigkeit zwischen a' und ß' (beide auf B) ist für den
Bestimmer auf A und für den Bestimmer auf B jeweils
eine andere. So kommt also kein eindeutiges Ergebnis
heraus, und im Weltraum wird alles noch problematischer.
21
Von A aus wird also für B gesagt, daß es falsch messe,
daß sein Meter kein „Meter“ sei; und umgekehrt. —
Von einer empirisch-realen „Kontraktion“ der Maßstäbe
(und „Sekunden“) ist hier gar keine Rede. Alles ist schein-
bar; alles bleibt sachlich unbestimmt, muß unbestimmt
bleiben.
Nach der Relativitätstheorie soll nun der Knoten zer-
hauen werden: c soll invariant sein mit Rücksicht auf
jedes beliebig geradlinig-gleichförmig bewegte System.
Glaubt man aber wirklich, daß bei den „Weltraum“-
Geschehnissen, oder wo immer sonst Unbestimmtheit be-
stehen muß, der um seine Bewegung zur Lichtquelle nicht
wissende Beobachter auf einem System c praktisch stets
= 300 000 bestimmen würde? Seine Meter sind doch
„Meter“ geblieben und seine Sekunden sind doch auch
„Sekunden", auch wenn er Gleichzeitigkeit nicht feststellen
kann! Auf das, was ein Beobachter bestimmen „würde“,
kommt es aber doch ganz allein an.
Man „postuliert“ nun, postuliert sogar ganz Unerhörtes,
nämlich daß Sekunde und Meter kontrahiert sei (und nicht
nur vom fremden System aus scheine); und man postuliert,
bloß um die mathematische Einfachheit der Formulierung
zu retten. Man vergißt dabei, obwohl man so stolz darauf
ist, nur Feststellbares als existierend zuzulassen, daß ein
„Feststellen“ hier ganz grundsätzlich gar nicht in Frage
kommt! Noch nie hat man auf einem fiktiven „Welt-
raum“-System c immer gleich „gefunden“ — weit nämlich
Licht immer nur auf dem System „Erde" überhaupt unter-
suchbar ist, mag es stammen, woher es will.
Gerade auf diesen Punkt kommt kein Relativist zu
sprechen. Es ist aber klar, daß auch Fixsternlicht immer
erst „Licht auf dem System Erde" geworden sein muß,
um überhaupt untersucht werden zu können. Dann
aber ist es ja, wenigstens wenn man den Versuch Michel-
22
son's „normal“ deutet, Licht im „ mitg ef ühr ten Äther“
oder, kurz, Erdenlicht. Das aber bewegt sich nach Michel-
son für ein zur Erde ruhendes System auf der Erde natür-
lich mit c-
Ich will diesen Punkt, der mir besonders wichtig er-
scheint, noch durch ein Beispiel erläutern: Ein Schuß ist
irgendwo gefallen; ein langer geschlossener Wagen bewegt
sich dem Entstehungsort des Knalles entgegen mit v. Die
Geschwindigkeit von Knall zu Wagen ist 340 -+- Sowie
aber das Wellensystem, das physikalisch den Knall dar-
stellt, in die Luft des langen Wagens, der ja von ihm
„mitgeführt“ wird, eingedrungen ist, bewegt es sich mit
der Geschwindigkeit 340 und nicht mehr mit 340 ■+■ v>
Zu einem im Wagen mit der Geschwindigkeit w sich Be-
wegenden freilich bewegt es sich mit 340 ifc w, aber das
ist etwas anderes. Und ebenso, wenn sich der Wagen
vom Knallort fortbewegt: dann ist die Geschwindigkeit des
Wellensystems zum Wagen zuerst 340 — v und wird später,
kurz gesagt: als „Wagensystem", — 340, also größer.
Ganz ebenso muß es, wenn Michelson's Ergebnis richtig
ist, mit dem Licht eines Fixsterns sein. Nur Erd-licht
können wir untersuchen, nie Weltraum-licht.
Alle Weltraumlicht-Aussagen sind also fiktiv. Man
kann in Bezug auf sie also auch nie „widerlegt“ werden.
Aber es dürfte doch wohl besser sein, den Weltraumsystemen
in Bezug auf das Wesen des Weltraumlichts nicht gar zu
große Paradoxien, wie z. B. die „Kontraktions“-lehre eine
ist, zuzumuten. Gerade „Positivisten“ sollten das am
allerwenigsten tun!
So bleibt denn also von der speziellen Relativitäts-
theorie nur der an und für sich gewiß bedeutsame Nach-
weis gewisser praktischer Unbestimmbarkeiten übrig.
Das ist ganz und gar nichts „Weltanschauliches“, sondern
Allzumenschliches. Durch sachliche oder logische Para-
23
doxien, also durch die Kontraktionslehre als physika-
lische Lehre oder gar durch den Satz, daß die Licht-
geschwindigkeit eine ganz besondere Spezies von Geschwin-
digkeit „sei“, können aber nie aus menschlichen Beschränkt-
heiten Weltwesentlichkeiten werden.
Das alles haben schon viele gesagt, von Philosophen
zumal Frischeisen - Köhler, Hönigswald, Kraus,
Gawronsky, A, Müller, Th. L. Häring, von Physikern
zumal Gehrke und Lenard, und ich bilde mir nichts
weniger ein als, abgesehen von ein paar Einzelbemerkungen
vielleicht, Neues in dieser Schrift vorgebracht zu haben.
Aber Falsches, wenn es verwirrend wirkt, muß immer
wieder von Neuem richtig gestellt werden. Daß Gefühle
nicht-wissenschaftlicher Art mir ganz und gar fern liegen,
wissen alle, die es wissen wollen. Ja, ich fühle mich
Einstein menschlich und auch ethisch-politisch sogar ganz
nahe verwandt, und daß in seiner Lehre Bedeutsames
enthalten ist, wird ja auch in dieser Schrift ganz und
gar nicht geleugnet, —
Ich will jetzt auf das eigentliche Zeitproblem im
Rahmen der speziellen Relativitätstheorie Einstein's noch
mit ein paar Worten im besonderen eingehen, nachdem wir
oben unsere ganze Kritik im allgemeinen Rahmen gehalten
haben.
Einstein lehrt, daß es „gleichzeitig“ viele verschie-
dene Zeiteinheiten (Sekunden) gäbe, daß es also „viele
Zeiten“ gäbe, indem jedes bewegte System seine eigene
Zeiteinheit und damit „seine Zeit“ besitzt.
Das ist nun, so gefaßt, wie es da steht, wieder „phäno-
menologisch“, das heißt aus dem Wesen der „Zeit“ heraus,
ganz und gar unmöglich. Zeit ist seinem Wesen nach ein
Gefüge von Beziehungen, wie schon Leibniz wußte, und
zwar ganz ausdrücklich ein Gefüge, in welchem alles, was
die Natur (und das bewußte Erleben) angeht, seine bestimmte
24
eine Stelle hat. Die Naturzeit zumal kann ganz ebenso-
wenig in der Mehrzahl gedacht werden wie der Naturraum
oder wie etwa der allgemeine Rahmen, oder wie man es
nennen will, innerhalb dessen die musikalischen Töne
„höher“ oder „tiefer" sind, oder wie der Begriff Dreieck,
innerhalb dessen es rechtwinklige, stumpfwinklige und spitz-
winklige Dreiecke gibt.
Die „vielen“ Zeiten und „vielen“ Zeiteinheiten als
seiend gedacht sind ganz ebenso absurd im logischen
Sinne wie jenes Etwas, welches im Sinne üblicher Aus-
drucksweise1 angeblich relativ zu zwei verschiedenen, relativ
zueinander bewegten Dingen „dieselbe" Geschwindigkeit
haben soll. Will die Relativitätstheorie nur sagen: „ich
sehe meine Zeiteinheit einstweilen als „die“ Zeiteinheit an
(und meine, d. h, die von mir bestimmte Lichtgeschwindig-
keit als „die" Lichtgeschwindigkeit)“, oder auch: „über
Zeiteinheiten läßt sich nicht streiten; da darf jeder sagen,
daß er recht habe“, so liegt die Sache natürlich anders,
wobei, wie wir wissen, alles auf die Unmöglichkeit echter
Gleichzeitigkeitsbestimmung, also auf Uhr-regulierungen
zurückgeht, für die idealen Uhren des Leibniz2 aber nicht gilt.
Aber die Relativitätstheoretiker sprechen ihre Sätze
über die „vielen gleichzeitigen Zeiten“ (!) und über jene
Geschwindigkeit, welche zugleich c und non-i ist, ja meist
ganz ausdrücklich als Seins-urteile aus.
Endlich, am Beschlüsse unserer Erörterung über die
sogenannte spezielle Relativitätstheorie Einstein's noch ein
paar Bemerkungen sehr allgemeiner Art, Zunächst ein
Wort über den bekannten Satz Minkowski's, daß Zeit
ein den drei Achsen des Raumes gleichwertiger „Parameter“
sei, der beliebig an die Stelle einer der drei Ortsvariablen
treten könne,
1 S. o. S. 15 f.
2 S. o. S, 19.
25
Auch diese Behauptung ist phänomenologisch aus dem
Wesen von Raum und Zeit heraus ganz und gar unmög-
lich; die bloß mathematische Erwägung, daß x, y, z und /
eben gleichermaßen „Variable“ seien, genügt hier durch-
aus nicht. Nebeneinander ist nie und nimmer nach-
einander.
Wem das für die Natur zeit nicht einleuchten sollte,
der möge erwägen, daß Zeit doch auch noch auf einem
anderen Felde des empirischen Seins eine Rolle spielt,
nämlich auf dem Felde des bewußten Erlebens, dessen
wir oben schon einmal ganz kurz im Vorbeigehen gedacht
haben. Auf diesem Felde nun spielt nur „Zeit“ eine
Rolle, und kommt „Raum“ gar nicht in Frage, Denn meine
Erlebnisse sind zwar „nach“-, aber in keiner Weise „neben-
einander, Raum ist, um mit Kant zu reden, die Form
des „äußeren Sinnes“, Zeit ist die Form des äußeren und
des inneren Sinnes, ganz unmittelbar wohl gar nur des
inneren. Schon das zeigt das völlig verschiedenartige
phänomenologische Wesen von Raum und Zeit.
Manche haben, teilweise im Anschluß an die Philo-
sophie Bergson’s, für die Lehre Einstein's ins Feld ge-
führt, daß sie mit Recht vom Begriff der Geschwindigkeit
als dem fundamentalen Begriff ausgehe und sich Raum- und
Zeiteinheiten ganz nach Belieben ersinne. Jede mit be-
stimmter Geschwindigkeit geschehende Bewegung von ihrem
Anfang bis zu ihrem Ende sei eine untrennbare Einheit,
Möglich, daß ihr metaphysischer Grund, dessen Wesen
„an sich“ wir nicht kennen, das ist. Das geht die ana-
lytisch-logische Wissenschaft aber gar nichts an. Für
diese sind Strecke und Zeiteinheit einfache Begriffe, aus
denen sich der Begriff der Geschwindigkeit als ein durch-
aus zusammengesetzter Begriff in bestimmter Weise
aufbaut.
26
Auch die Zeittäuschungen im Traum haben mit Ein-
stein's Lehre von den „zugleich" bestehenden vielen Zeiten
gar nichts zu tun, Gewiß kann ich im Traum in einer
Minute glauben Jahre zu erleben. Hier sind wir durchaus
im Gebiete des reinen Erlebens, nicht in dem der Physik.
Und endlich noch ein Wort über das Wort „relativ“
überhaupt. Daß translatorische Bewegung nur „relativ“
auf einen gegebenen Bezugskörper festgestellt werden
kann, weiß man lange; daß auch Gleichzeitigkeit, ja, auch
„die Sekunde", nur „relativ“ auf bestimmte gegebene Daten
feststellbar ist, weiß man heute dazu.
Mit der Lehre, daß die Begriffe des Wahren, Guten,
Schönen „bloß relativ“ seien, d. h. mit einer Wertrelativi-
tätslehre hat das alles gar nichts, durchaus gar nichts
zu tun. Übrigens bezieht sich ja auch bei Bewegung,
Gleichzeitigkeit und Zeiteinheit alle Relativität nur auf
die Feststellbarkeit im praktisch empirischen Sinne, nicht
aber auf das begriffliche Wesen,
Populäre Schriftsteller, welche gar nichts von der Sache
verstanden, haben hier Dinge durcheinander geworfen, die
nicht das mindeste miteinander gemeinsam haben, und
haben das Laienpublikum arg in Verwirrung gebracht. Hier
ist Einstein und sind alle wissenschaftlichen Relativitäts-
theoretiker völlig unschuldig. Einstein und Spengler
haben so wenig miteinander zu tun wie die „Kritik der
reinen Vernunft“ mit einer Symphonie Beethovens.
Die Relativitätstheorie ist so populär geworden wie
noch nie eine Lehre wissenschaftlicher Art zuvor, am
meisten in den Kreisen solcher, die ihrer ganzen Bildung
nach gar nicht fähig sind, sie auch nur in ihren Grund-
gedanken zu begreifen, geschweige denn zu beurteilen.
Mit allem will man sie in Beziehung setzen; mir selbst ist
schon geraten worden, meinen Vitalismus „relativitäts-
theoretisch“ zu begründen, und nächstens wird man wohl
27
noch gar einem Bildhauer raten, er solle „relativitäts-
theoretisch" arbeiten.
Doch wir kehren zum Ernste zurück und wenden uns
von der „speziellen" zur „allgemeinen" Relativitätstheorie
Einstein's.
B. Die „allgemeine“ Relativitätstheorie.
1. Ihre Absicht. Die sogenannte allgemeine Relativitäts-
theorie Einstein's ist eine vollkommene, das heißt auf alle
überhaupt möglichen Fälle ausgedehnte, Erweiterung der
„speziellen“. Sie bringt aber ganz neue Begriffe, nämlich
die Begriffe der sogenannten nicht-euklidischen Geo-
metrie in die Erörterung hinein.
In der speziellen Theorie sollten die Formeln der Optik
für jedes irgendwie translatorisch gleichförmig bewegte
System dieselbe Gestalt behalten, die Lichtgeschwindigkeit
c sollte die absolute höchste „Invariante“ sein. Die Be-
schränkung auf translatorisch gleichförmige Bewegung der
in Frage kommenden Systeme wird jetzt fallen gelassen.
Auch da, wo ein System beschleunigt ist oder — (ein
besonderer Fall der Beschleunigung) — eine krumme Bahn
beschreibt, sollen die Formeln der Optik bleiben, was sie
sind. In Bezug auf jedes denkbare System sind sie
mathematisch dieselben. Fürwahr: eine mathematische
Leistung im Gebiete der Optik von nie gesehenem Glanz!
Aber diese Leistung will noch mehr sein als nur eine
Theorie der optischen Erscheinungen: auch die Gravitation
soll erklärt, soll verstanden, d. h. einem umfassenderen
Ganzen eingereiht werden.
Unserem Plane entsprechend, der ja nur philosophische,
insbesondere logische Erörterungen sich zum Ziel setzt,
nehmen wir nun wieder alles, was physikalisch oder mathe-
matisch im einzelnen in Frage kommt, als erledigt an und
28
fragen nur, ob das logisch und phänomenologisch, das
heißt „wesensmäßig“, im Rahmen der Naturwissenschaft
zulässig ist, was die allgemeine Relativitätstheorie im Sinne
von Seins-urteilen aussagt.
Da eben dreht sich nun alles um das Hineintragen der
sogenannten metageometrischen oder „nicht-euklidischen“
Raumbegriffe in naturwissenschaftliche Betrachtungen.
Denn Einstein „löst“ das Gravitationsproblem, das New-
ton auf seine endgültige Form gebracht zu haben schien,
dadurch, daß er lehrt, ein sogenannter gravitierender
(schwerer) Körper verändere auf eine gewisse Distanz hin
das Wesen des Raumes, und in einem so veränderten
Raume sei dann nicht die im euklidischen Sinne gerade,
sondern eine im euklidischen Sinne gekrümmte Linie die
„kürzeste“ Verbindung zwischen zwei gegebenen Punkten,
ebenso wie bekanntlich im Rahmen der euklidischen
Geometrie selbst auf einer Kugeloberfläche die „kürzeste“
Linie stets eine gekrümmte Linie ist.
Die logische Kritik der allgemeinen Relativitätstheorie
läuft also hinaus auf eine Kritik der sogenannten Meta-
geometrie, insofern als diese den Anspruch erhebt, auf den
Naturraum übertragbar zu sein, also einer naturwissen-
schaftlichen Theorie als Grundlage zu dienen; und so
müssen wir uns denn zunächst mit dem Wesen der Meta-
geometrie selbst, zunächst ohne Rücksicht auf ihre angeb-
liche naturtheoretische Anwendbarbeit, beschäftigen. Wir
wollen dabei etwas weiter ausholen und uns bemühen,
ohne die logische Strenge aufzugeben, so populär wie
möglich zu sein, denn es ist auch in den Kreisen der
Gebildeten heute nur wenigen klar, was eigentlich „Meta-
geometrie“ ist und was sie will. Es gilt zunächst einmal
den Nebel zu zerstreuen, der diese Probleme für so viele
Laien umgibt und der sie, in einer ganz allgemein dem
Mystischen zuneigenden Zeit, gerade bei denen besonders
Driesch H., Relativitätstheorie und Philosophie. 3
29
populär und erregend gemacht hat, die am wenigsten von
ihnen verstehen, ja, meist nicht einmal im geringsten ihre
Bedeutung zu erfassen imstande sind.
2. Die Metageometrie. Die ursprüngliche Absicht der
sogenannten „Metageometrie“ war eine rein logische.
Euklid, der große griechische Systematiker der Geo-
metrie, hatte diese Wissenschaft auf eine Anzahl von
„Axiomen“, das heißt unbeweisbaren Lehrsätzen, aufgebaut.
Mehrere dieser Lehrsätze waren nicht eigentlich geome-
trisch, sondern arithmetisch, wie zum Beispiel der Satz
„Gleiches um Gleiches vermehrt gibt Gleiches“. Aber
andere waren in der Tat rein geometrische unbewiesene
und, wie es schien, unbeweisbare Aussagen, und unter
diesen spielte das sogenannte Parallelenaxiom eine beson-
ders wichtige Rolle: Zu einer gegebenen Geraden kann
man durch einen außerhalb liegenden Punkt nur eine
Parallele ziehen, d. h. nur eine Linie, welche stets gleichen
Abstand von der gegebenen Geraden hat und diese daher
nie schneidet.
Schon gewisse Mathematiker des ausgehenden Alter-
tums hatten die Frage aufgeworfen, ob dieses Parallelen-
axiom nicht doch etwa beweisbar, also nicht eigentlich ein
„Axiom“ sein möchte. In der Renaissance-Zeit, als die
Wissenschaften wieder zu erblühen anfingen, hatte man
diese Untersuchungen wieder aufgenommen, und in ganz
besonderer Schärfe und Strenge geschah das im Beginne
des neunzehnten Jahrhunderts durch einen Polen, Lobat-
schewsky, und durch die Ungarn Bolyai, Vater und Sohn.
Später stellte es sich heraus, daß auch der große deutsche
Mathematiker Gauß sich mit ähnlichen Ideen getragen
hatte, ohne sie zu veröffentlichen.
Um zu prüfen, ob das Parallelenaxiom beweisbar, also
aus den übrigen Axiomen der Geometrie ableitbar, also
nicht ein „Axiom“ für sich sei, ging man nun in sehr
30
scharfsinniger Weise vor: Man setzte die Gültigkeit aller
anderen geometrischen Axiome voraus, nahm aber an,
daß das Parallelenaxiom falsch sei, daß man also zu einer
gegebenen Geraden durch einen außerhalb von ihr liegen-
den Punkt entweder keine oder viele Parallelen ziehen
könne. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte man
in der üblichen Weise die besonderen Lehrsätze einer
„Geometrie“. Und nun sagte man sich: die unter der
Voraussetzung der Gültigkeit aller anderen Axiome,
aber der Ungültigkeit des Parallelen axioms ent-
wickelten besonderen Sätze müssen entweder in sich logisch
widerspruchsvoll oder in sich logisch widerspruchsfrei sein.
Sind sie widerspruchsvoll in sich, so ist bewiesen, daß
das Parallelenaxiom eine logische Konsequenz der übrigen
geometrischen Axiome, also „beweisbar“ ist; sind sie wider-
spruchsfrei, so ist das Parallelenaxiom als echtes Axiom,
also als nicht aus den anderen geometrischen Axiomen
ableitbar, als nicht durch sie beweisbar erwiesen. Denn
es muß sich logischer Widerspruch ergeben, wenn man
als Grundlage der Beweisführung die Gültigkeit
gewisser Sätze, aber zugleich die Ungültigkeit
einer notwendigen Konsequenz dieser Sätze an-
nimmt.
Es ergab sich nun, daß sich eine „nicht-euklidische
Geometrie“ frei von inneren logischen Widersprüchen
entwickeln läßt. Das heißt: Es führt nicht zu logischem
Unsinn, wenn man alle anderen geometrischen Axiome als
gültig ansieht, das Parallelenaxiom aber als ungültig.
Also ist das Parallelenaxiom nicht eine logische Kon-
sequenz der anderen Axiome, also nicht aus ihnen ableitbar,
nicht durch sie beweisbar, also ein echtes für sich
bestehendes „Axiom“.
Ja, man konnte sogar zwei verschiedene in sich wider-
spruchsfreie nicht - euklidische Geometrien aufbauen, je
3*
31
nachdem man annahm, daß durch einen Punkt zu einer
Geraden viele oder keine Parallele möglich seien. Der
Satz, daß die Winkelsumme des Dreiecks zwei rechte
Winkel betrage, ist bekanntlich aus dem Parallelenaxiom
beweisbar, ist im Grunde dasselbe wie dieses Axiom, Die
„nicht-euklidischen“ Geometrien lassen sich daher auch so
kennzeichnen, daß in der einen dieser Geometrien die
Winkelsumme des Dreiecks kleiner, in der anderen aber
größer als zwei rechte Winkel ist.
Soweit ist mit der „Metageometrie“ in der Tat alles
in Ordnung; sie ist eine Leistung von ganz außerordent-
lichem Scharfsinn.
Aber nun ging man weiter. Man wollte sich die Gebilde
der nicht-euklidischen Geometrien anschaulich vorstellen,
ebenso wie man sich ein Dreieck, eine Ellipse, einen Kreis
anschaulich als Gebilde im Raum vorstellen und mit
Raumesausdrücken wie „gerade“, „gekrümmt“ usw. be-
schreiben kann.
Der Begriff der „Krümmung“ spielt eine besondere
Rolle dabei. Jeder Anfänger in der Geometrie weiß, was
dieser Begriff im Rahmen der euklidischen Geometrie mit
Rücksicht auf Linien und Flächen bedeutet; ein Kreis,
eine Ellipse einerseits, eine Kugeloberfläche, eine Eiober-
fläche, ein Ellipsoid andererseits sind „gekrümmt“, und
zwar haben, um hier nur auf gekrümmte Linien Bezug zu
nehmen, Kreise überall gleiche Krümmung, während bei
einer Ellipse oder Parabel an den verschiedenen Stellen
ein verschiedenes „Krümmungsmaß“ besteht, das durch
die Große des Radius des sogenannten Krümmungskreises
gemessen wird, das heißt durch die Größe des Radius
desjenigen Kreises, welcher die in Frage stehende Kurve
an ihren verschiedenen Orten von innen „berührt“, das
heißt auf eine „unendlich kleine“ Strecke hin mit ihr den-
selben Verlauf hat, Je größer der Radius des Krümmungs-
32
kreises ist, um so geringer ist das Krümmungsmaß der
Kurve an der in Rede stehenden Stelle.
Die Begriffe „Krümmung“ und „Krümmungsmaß“ wendet
man nun auf „den Raum“ an. Wie Linien und Flächen
gekrümmt sein können in verschiedenem Maße, so sollen
auch Raumteile als solche in verschiedenem Maße als
gekrümmt gedacht werden können.
Hier muß ein grobes Mißverständnis von vornherein
ferngehalten werden: Nicht darum handelt es sich, daß
eine Fläche, etwa die Oberfläche eines Ellipsoides oder
Eies, im dreidimensionalen Raum gekrümmt ist, sondern
der Raum, das „Dreidimensionale“ soll als in verschie-
denem Maße und in verschiedenem Sinne („positiv“ oder
„negativ“) gekrümmt angesehen werden.
Es ergibt sich dann, daß der Raum bei der einen der
beiden Metageometrien eine positive Krümmung von be-
stimmtem Maße besitzt, bei der anderen eine negative,
während das Krümmungsmaß des euklidischen Raumes (d. h.
ein dem Krümmungsmaß von Flächen analog definierter, rein
analytischer Ausdruck) gleich Null ist.
Die euklidische Geometrie ist also ein „ausgezeichneter“
Fall unter der Fülle der „möglichen“ Geometrien und zwar
der logisch einfachste Fall. Anders gesagt: Im Rahmen
der euklidischen Geometrie brauchen wir uns keine beson-
dere Zahl für die Krümmung des Raumes zu merken,
während wir für jede andere Form von Geometrie eine
besondere Zahl, nämlich die Maßzahl der Krümmung, im
Gedächtnis behalten müßten.
Nur beiläufig bemerke ich an dieser Stelle, daß die
Metageometer die alte euklidische Geometrie auch noch
in anderer Hinsicht „erweitert“ haben. Die euklidische
Geometrie kennt bekanntlich nur einen Raum von drei
sogenannten „Dimensionen“, das heißt aufeinander senk-
rechten Richtungen. Mehr Dimensionen „gibt es nicht“ für
33
sie. Hier sagt uns nun die Metageometrie, daß Räume
von mehr als drei Dimensionen, also von 4, 5, 6 usw., ja
von unendlich vielen Dimensionen denkbar seien.
Wir kehren nach dieser kurzen Abschweifung zur Meta-
geometrie, insoweit sie die Krümmung „des Raumes“
angeht, zurück.
Und hier werfen wir nun die sehr einfach lautende, aber
folgenschwere Frage auf: Ist denn die nicht-euklidische
Geometrie überhaupt „Geometrie“, das soll heißen Wissen-
schaft vom Raum? [Wörtlich übersetzt heißt Geometrie
bekanntlich Erdmeßkunst.]
Wir beginnen mit der Erörterung der Sonderfrage, ob
man sich die Gedankengebilde der Metageometrie anschau-
lich vorstellen, ob man ihr Wesen in Anschaulichkeit
erfassen könne, so wie man das Wesen von Kugel, Würfel,
Dreieck, Ellipse in Anschaulichkeit erfaßt, wobei die Be-
deutung des Wortes „Anschaulich“ nicht weiter definierbar,
sondern als phänomenologisches Urphänomen hinzunehmen ist.
Eine anschauliche Erfassung „gekrümmter“ Räume oder
der Sondergebilde in einem „gekrümmten“ Raum ist nun
ganz und gar unmöglich, und zwar deshalb, weil „unser
Raum“ nun einmal nur drei, aber nicht mehr Dimensionen
für die Anschauung besitzt. Wir wissen anschaulich, was
eine gekrümmte Linie ist, weil wir wissen, was „zweite“
Dimension heißt, weiche die Voraussetzung für die Krüm-
mung einer Linie (im einfachsten Falle) ist. Wir wissen
auch anschaulich, was Krümmung einer Fläche bedeutet,
weil wir deren notwendige Voraussetzung, die „dritte“
Dimension, anschaulich unmittelbar kennen.
Aber von einer „Krümmung“ des Raumes zu reden ist
phänomenologisch-anschaulich ein vollkommenes Unding,
weil „vierte“ Dimension, deren anschauliches Erfassen hier
die notwendige Voraussetzung sein würde, phänomenologisch
nicht existiert.
34
Man hat nun freilich gelegentlich versucht, besondere
Einzelgebilde der nicht-euklidischen Geometrie sozusagen
im euklidischen, also nicht-gekrümmten, dreidimensionalen
Raume abzubilden. Aber dabei handelte es sich doch nie
um die nicht-euklidischen Gebilde als Ganzes. Sondern
man stellte entweder irgend einen nebensächlichen Teil
eines nicht-euklidischen Gebildes euklidisch dar, so wie
man ja Schnitte durch einen dreidimensionalen Körper auf
einer Ebene darstellen kann, weil sie eben flächig sind,
oder aber man „projizierte“ sozusagen die ganzen nicht-
euklidischen Gebilde auf die dritte Dimension, so wie man
von einem Körper von drei Dimensionen seine „Projektion“
auf eine Ebene zeichnen kann.
Ich meine sogar, diese Versuche, nicht-euklidische Ge-
bilde euklidisch zu veranschaulichen, haben, entgegen den
Absichten ihrer Urheber, ganz besonders deutlich die
radikale Unanschaulichkeit der nicht-euklidischen
Gebilde als solcher gezeigt; mehr vielleicht als alles andere!
Was nun folgt aus dieser ganzen Sachlage ?
Etwas sehr Bedeutsames, wie mir scheint, nämlich
dieses, daß die sogenannte nicht-euklidische oder
Meta-geometrie gar keine „Geometrie“, das soll
heißen, gar keine Wissenschaft vom Raume ist,
sondern etwas anderes.
Aber was ist sie denn?
Man erinnere sich hier unserer Behauptung, daß ursprüng-
lich alle Metageometrie nur aus logischen Gründen im
Rahmen der euklidischen Geometrie betrieben wurde: man
wollte prüfen, ob das Parallelenaxiom aus den anderen
Axiomen beweisbar oder ein echtes Axiom sei. Man fand
das zweite, denn es führte nicht zu Widersprüchen in sich,
wenn man ein Gefüge von Lehrsätzen entwickelte auf der
Basis der Gültigkeit der anderen Axiome, aber der Ungültig-
keit des Parallelenaxioms; da konnte das letzte nicht wohl
35
die „Konsequenz“ der anderen sein; das hätte sich in
inneren Widersprüchen zeigen müssen.
Erst als der Begriff der „Krümmung“ des Raumes ein-
geführt wurde, wurde die neue Lehre angeblich selbst
„geometrisch“, handelte sie von den „möglichen Räumen“,
unter denen der euklidische Raum ein ausgezeichneter,
nämlich der einfachste, Fall sei.
Was hatte man nun in der ersten, der bewußt logischen
Phase der Metageometrie, ja, was hatte man auch in der
zweiten, der angeblich geometrischen Phase dieser Wissen-
schaft eigentlich getan:
Man hatte nur die Besonderheiten allgemein bezieh-
ungstheoretischen (relationstheoretischen) Charakters aus
den Axiomen herausgelöst und studiert, ohne das eigent-
lich „Geometrische“ an ihnen, welches nur anschaulich
gegeben ist, zu berücksichtigen. Im Rahmen dieses rein
Relationstheoretischen hatte man dann gewisse Variationen,
eben bezüglich des Parallelenaxioms, eingeführt, welche im
eigentlich geometrischen Sinne nicht realisiert, welche, wie
ich sagen möchte, nicht „durch geometrische Daten erfüllt“
sind, und hatte gezeigt, daß das keinen inneren Widerspruch
zur Folge hat.
Geometrisch erfüllt ist dasjenige reine Beziehungsver-
hältnis, welches, wenn so erfüllt, „Krümmung“ genannt
wird, für die Linie und für die Fläche, Man nannte nun
dasselbe reine Beziehungsverhältnis für den Raum, welches
geometrisch nicht erfüllt ist, ebenfalls „Krümmung“ und
meinte so mögliche nicht-euklidische „Räume“ entdeckt zu
haben. Tatsächlich hatte man nur ein Problem der reinen
Relationstheorie behandelt und dabei das Wort „Krüm-
mung“ etwas unvorsichtig, nämlich nicht nur, was wohl
erlaubt gewesen wäre, analogienhaft-bildlich, angewendet.
Hatte doch schon die von Descartes stammende soge-
nannte analytische Geometrie, welche die Geometrie, wie
36
man sagt, „arithmetisiert“, von der Anschauung in sehr
erheblicher Weise „sich befreit“. Warum sollte man hier
nicht weitergehen?
Man übersah, daß schon die angeblich die Geometrie
arithmetisierende analytische Geometrie keine „Geometrie“
mehr ist, daß schon sie nichts tut, als gewisse Beziehungen
der reinen Relationstheorie studieren, freilich solche, welche
„geometrisch erfüllt“ sind.
Die Metageometrie hat also in sehr schöner Weise ein
Kapitel der allgemeinen Relationstheorie ausgebaut, darf
sich aber nicht so nennen, wie sie sich nennt, nämlich
nicht „Geometrie".
Was aber ist nun allgemeine Relationstheorie
oder Beziehungslehre?
Sie ist, um das Kantische Wort einmal zu verwenden,
eine aprioristische, das heißt nicht von Empirie abhängige
und andererseits apodiktische, absolut sichere Lehre recht
neuen Datums, Sie ist in ihren Anfängen, Sie handelt
von allen Besonderheiten, welche im Bereiche des Begriffs
Beziehung aus dem Wesen dieses Begriffs heraus „gesetzt“,
populär gesprochen „gedacht“, werden können.
Die Begriffe Beziehung und Bezogen selbst sind
nicht definierbar, sie können nur in ihrer Bedeutung
„geschaut“ werden.
Aber wenn ich sie „schaue“, so schaue ich zugleich,
so weiß ich zugleich, was für Möglichkeiten von Beziehung
besonderer Art es geben kann. Ich bedarf dazu freilich
gewisser anderer Begriffe, deren undefinierbare Bedeutung
ich ebenfalls endgültig schaue, zum Beispiel gleich, un-
gleich, viele usw.
Da kann ich also etwa die Begriffe der wechselseitig-
gleichen und der einseitigen Beziehung bilden. „Bruder-
Bruder“ ist ein Beispiel für das erste: Wenn A der Bruder
von B ist, so ist auch B der Bruder von A. Aber „Vater-
37
Sohn“ ist eine einseitige Beziehung, denn wenn A der Vater
von B ist, so ist nicht B der Vater von A.
Das, wo zwischen Beziehung (Relation) besteht, heißt
Glied (Relat), Ich kann nun auch den Begriff der Reihe
setzen und sie definieren als ein zusammengesetztes Gebilde
von Gegenständen, in welchem stets eine Beziehung zwischen
zwei Gliedern und ein Glied zwischen zwei Beziehungen steht.
1, 2, 3, 4, 5 usw. ist zum Beispiel eine „Reihe“. Ein
bestimmtes „Soviel“, eine „Zahl“, steht hier immer zwischen
zwei Beziehungen; eine Beziehung, und zwar die Beziehung
mehr, steht zwischen zwei Gliedern.
In diesem Beispiel sind die Glieder alle verschieden
(1, 2, 3 etc.), die Beziehungen sind aber alle gleich, näm-
lich „um 1 mehr“. In der Reihe: 1, 3, 8, 13, 100 ist das
zweite nicht der Fall.
Ohne weiteres ergeben sich die Begriffe der gleich-
gliedrigen, ungleichgliedrigen, gleichbeziehlichen, ungleich-
beziehlichen Reihe und ihre möglichen Kombinationen.
Und sehr viele andere Begriffe sind hier noch setzbar.
Hervorgehoben sei der Begriff der übergreifenden oder
transitiven Reihe; eine solche besteht, wenn das Wesen
der Reihe durch Fortlassen beliebiger Glieder nicht gestört
wird. Die Reihe 1, 3, 8, 13, 100, 124 ist zum Beispiel
mit Rücksicht auf die Beziehung „mehr“ transitiv, denn
wenn ich etwa die Zahlen 8 und 100 streiche, so bleibt
im Rest die Beziehung „mehr“ ungestört.
Auch die für die Lehre vom Syllogismus so wichtige
Reihe, welche sich auf den Begriff des Inhaltseinschlusses
aufbauen läßt, ist transitiv. Wenn ich zum Beispiel in der
Reihe: „Quadrat von 4 cm SeitenlängeQuadrat—vRhom-
bus —i>■ Parallelogramm —Viereck -> Eck -> ebene Figur“ die
Begriffe „Rhombus" und „Viereck“ weglasse, so bleibt die
Reihe transitiv, das heißt: auch dann noch schließt jeder
frühere Begriff in der Reihe den folgenden inhaltlich ein.
38
Man kann nun den Reihenbegriff nach zwei Seiten
weiter ausbauen.
Erstens kann man sagen; von jedem Glied einer Reihe
soll eine neue Reihe ausgehen, und so fort. Dann bekommt
man Beziehungskomplexe, die man bildlich als zwei-,
drei-, vier-, fünf- usw. „dimensional" bezeichnen darf,
weil die zwei- und drei-dimensionalen Gebilde der Geometrie
Illustrationen, „Erfüllungen" zu ihnen sind, während freilich
die höheren Relations-Dimensionen nicht „geometrisch
erfüllt" werden.
Zweitens aber kann bildlich der Begriff der Richtung
in die Lehre von den Reihen eingeführt werden, und zwar
mit allem, was er in sich birgt, also auch mit der rela-
tionstheoretischen begrifflichen Grundlage des geometrischen
Begriffs der „Krümmung"; aber nicht nur er, sondern auch
der Begriff des „Senkrechtstehens“, der „Parallele", des
„Winkels" und vieles andere. Ja, wenn wir hier ins Ein-
zelne gehen und etwa den Begriff der Krümmung streng
definieren wollten — ein ziemlich kompliziertes Unter-
nehmen —, so würden wir wohl nicht umhin können,
vorher das zu definieren, was in der unvermeidlich bild-
lichen Sprache der reinen Relationstheorie die Namen
„Abstand“, „gleicher Abstand“, „senkrecht stehen“ trägt.
Man wird sagen, diese ganze Relationstheorie sei eine
große Selbsttäuschung. Das sei ja alles „Geometrie";
alle Worte seien Raumesworte, alle Beispiele Raumes-
beispiele. Zugegeben, daß das letzte richtig ist. Aber
„Geometrie" ist darum die Relationstheorie doch ganz und
gar nicht. Es ist nur leider so, daß überall unsere allzu-
menschliche Natur mit hineinspielt, die uns zwingt, immer
Raumbeispiele und Raumworte unterzuschieben, wenn wir
eigentlich etwas viel Allgemeineres meinen. Hat doch
Bergson gezeigt, daß wir sogar beim Zählen, ja, bei aller
Arithmetik immer Raumesbilder unterschieben, um unsere
39
Gedanken zu fixieren, obwohl weder der Begriff des
Soviel, der „Zahl", noch der Begriff des Mehr auch nur
irgend etwas mit dem Raume zu tun hat.
Man sieht nun wohl, wie es mit der „Arithmetisierung"
der Geometrie durch die sogenannte „analytische" rechnende
Geometrie bestellt ist: hier wird nicht die Geometrie,
nicht das Geometrische, d. h. das Raumhafte arithmetisiert,
sondern nur dasjenige an der Geometrie, dessen relations-
theoretische Erfüllung sie ist.
Und in der sogenannten Metageometrie ist alles ganz
ebenso, nur daß hier kompliziertere relationstheoretische
Gebilde in Frage kommen, als die übliche analytische
Geometrie sie behandelt, und daß zweitens die Meta-
geometrie nicht, wie die übliche Analysis, aus gegebenen
geometrischen Daten das Relationstheoretische herauszieht,
sondern ohne solche Daten relationstheoretische Möglich-
keiten frei erwägt.
Das ist eine schöne scharfsinnige Leistung — nur ist
es keine „Geometrie".
Aber nun kommen wir zu einer neuen wichtigen Frage:
Warum ist das denn „keine Geometrie"? Woher wissen
wir das so genau? Woher kommt denn unser Wissen vom
Raum als Raum, und wie ist es beschaffen?
Diese Erwägungen werden uns nun bald wieder zu
unserem eigentlichen Problem, der allgemeinen Relativitäts-
theorie und zu ihrer Kritik, zurückführen, von dem wir
allzuweit abgeschweift zu sein scheinen — freilich nur
„scheinen“.
Als ich oben von der allgemeinen Relationstheorie sprach,
sagte ich einmal, daß sie handele „von allen Besonderheiten,
welche im Bereiche des Begriffs Beziehung aus dem
Wesen dieses Begriffs heraus gesetzt werden können". Es
ergab sich da eine ganze Fülle solcher möglicher Besonder-
heiten,
40
Nun — auch aus dem Wesen der Bedeutung „Raum“
heraus wird sich eine Fülle solcher Möglichkeiten ergeben,
zugleich aber die sichere Einsicht, daß es den nicht-
euklidischen gekrümmten Raum nicht „gibt“.
Die Worte „Raum“, „räumlich“, „ausgedehnt“ usw.
bezeichnen etwas, das wir ganz unmittelbar bewußt besitzen,
und zwar etwas, das als Qualität bezeichnet werden kann,
obwohl in etwas anderem Sinne als die eigentlichen Qua-
litäten wie rot, grün, sauer, warm usw. Der beste Aus-
druck für das, was gemeint ist, scheint mir das Wort
neben zu sein: unter dem allen, was ich als Gegenstand
erlebe, ist vieles „neben“ einander.
Neben ist undefinierbar, ebenso wie eine echte Quali-
tät; es ist eine Beziehung, aber eine solche von ganz
bestimmtem undefinierbarem Sosein; eben deshalb kann es
selbst als Qualität bezeichnet werden. Es gehört auch
zum Wesen der Qualität Neben, daß alles, was nebenein-
ander ist, „da draußen“ ist — auch das ist undefinierbar.
Ich weiß nun weiter unmittelbar über die Qualitäts-
beziehung neben, daß sie eine Beziehungsform von der
dreidimensionalen Art darstellt, wobei der Begriff „drei-
dimensional“ in der allgemeinen Relationslehre definiert
ist. Neben „erfüllt“ anschaulich das abstrakte allgemeine
Beziehungsgebilde „dreidimensional“,
Die Lehre von den einzelnen Erlebnisdaten, welche den
Begriff des dreidimensionalen Neben für mich schaffen,
gehört in die Psychologie. Wir sagen hier nur das Folgende:
Die Begriffe „hier“ und „dort“, also das Null-dimensionale
in Bezug auf den Raum, werden mir gegeben zugleich mit
den sogenannten Berührungs- und Gesichtsempfindungen.
Die „erste“ Dimension, die Linie, und ebenso die Fläche,
erlebe ich zugleich mit Gesichts- und Bewegungsempfin-
dungen, die „dritte“ Dimension, die sogenannte Tiefe,
41
nur im Anschluß an Bewegungsempfindungen, zum Beispiel
meiner Arme und Beine.
Ich „sehe“ also die Tiefendimension nicht, obwohl ich
sie „erlebe“ oder, ganz streng gesprochen, bewußt habe.
Man darf hier nicht vergessen, daß das sogenannte Sehen
nur bei ganz unbewegtem Auge ein reines „Sehen“ ist;
praktisch bewege ich, wenn ich sehe, stets zugleich mein
Auge, und eben die dabei erlebten Bewegungsempfindungen
geben mir die dritte Dimension des Neben, außer den
beiden anderen, welche ich auch durch andere Daten, wie
gesagt, gewinne.
Alles, was bis hierher über unser Wissen vom Raume
gesagt ward, kann unter den Kantischen Begriff der „reinen
Anschauung“ gebracht werden. Was „dreidimensionaler
Raum" ist, weiß ich durch reines Schauen von der „anschau-
lichen“ Art, ganz ebenso wie ich weiß, was rot, warm und
süß ist, wobei „anschauen“ aber, wie gesagt, nicht mit
„sehen“ verwechselt werden darf. Auch mit „schauen“
im allgemeinsten Sinne darf es nicht verwechselt werden,
denn „geschaut“ in diesem Sinne werden auch „unanschau-
liche“ Bedeutungen, z, B. was nicht, was weil, was
bezogen heißt.
Nun haben wir aber gesagt, daß Neben zwar Qualität,
aber zugleich Beziehungsform ist. Es ist, streng gesprochen,
Träger eines Systems von Beziehungen oder auch „Rahmen“
eines Beziehungsgefüges, nämlich des geometrischen.
Im Raum „gibt“ es alle die Gebilde, von denen die
Geometrie handelt; das heißt: in dem allgemeinen Be-
ziehungsgefüge „dreidimensionaler Raum" schaue ich alle
die besonderen Beziehungsarten, von denen die geome-
trische Wissenschaft handelt, als möglich.
Die grundlegenden unter diesen „möglichen" besonderen
Beziehungen sind nun diejenigen, welche in den Axiomen
des Euklid ihren Ausdruck finden, insbesondere also der
42
Satz, daß die Gerade die „kürzeste“ sei, und daß es zu
einer Geraden durch einen außerhalb von ihr gelegenen
Punkt nur eine Parallele gibt.
Auch das weiß ich mit absoluter Endgültigkeit durch
„reine Anschauung“. Mit dem Wissen um das, was Raum
ist, also mit dem Wissen um das Wesen des Raumes,
weiß ich zugleich um die Gültigkeit und zwar die absolute
„unverbesserbare" Gültigkeit der euklidischen Axiome.
Nun richtet sich aber das reflektierende analytische
Denken auf das Ergebnis dieser unmittelbaren Wesensschau.
Dieses analytische Denken macht sich klar, daß ja der
Raum ein dreidimensionales Beziehungsgefüge besonderer
Art ist, daß „Raum" den viel allgemeineren Begriff „drei-
dimensionales Beziehungsgebilde“ anschaulich erfüllt, und
da sagt es sich nun dieses: Dreidimensionale Beziehungs-
gebilde können, wie alle, auch schon die einfachsten ein-
dimensionalen, zusammengesetzten Gefüge von Beziehungen,
„eben“ oder in bestimmtem Maße „gekrümmt" sein. Mein
Raum, in dem ich die Gültigkeit des Parallelenaxioms
schaue, ist ganz offenbar nicht „gekrümmt", hat das Krüm-
mungsmaß O, ist also ein ausgezeichneter, ein einfachster
Fall — nicht zwar mit Rücksicht auf andere mögliche
„Räume“, wohl aber mit Rücksicht auf mögliche andere
dreidimensionale „Beziehungsgefüge“. Denn von anderen
möglichen „Räumen“ zu reden, im eigentlichen Sinne des
Wortes Raum, ist sinnlos.
Man sieht: Die gleichsam instinktive Wesenserfassung
vom Raum mit allen seinen Besonderheiten ist das Erste,
die Erkenntnis, daß in diesen Besonderheiten ein schon
gekanntes allgemeines Beziehungsschema „erfüllt“ zum
Ausdruck kommt, ist das Zweite, Es ist nicht ohne Inte-
resse hier beiläufig zu erwähnen, daß in einem der Geometrie
sehr fern gelegenen Gebiet, in der Ethik, ganz ähnliche
Verhältnisse vorliegen: auch hier folgt der unmittelbaren
43
Schau des „Guten“ die analysierende Reflexion darüber,
was gut eigentlich heißt.
Wir haben oben gesagt, das Wissen um dreidimensionalen
Raum überhaupt und um die in ihm zum Ausdruck kom-
menden „Axiome“ lassen sich wohl dem Kantischen Begriff
der reinen Anschauung zuordnen. Es lassen sich nun die
Axiome selbst einem anderen Begriff der Philosophie Kants
zuordnen, nämlich dem Begriff des „synthetischen Urteils
a priori“. Es liegt nicht in dem Subjekts-Begriff „Die
Gerade“, daß von ihr das Prädikat „ist die kürzeste" gilt;
und das ist doch ganz sicher. Ich würde zwar den vor-
liegenden Sachverhalt einfacher ausdrücken und sagen:
im Rahmen der Geometrie weiß ich ohne „Empirie“ in
Endgültigkeit über die notwendige Zusammengehörig-
keit gewisse Eigentümlichkeiten, ohne daß doch dieses
absolut sichere („apodiktische“) Wissen lediglich auf dem
Satze vom Widerspruche ruht. Denn daß mein Wissen in
die Form eines Urteils („.5' ist Z3“) gebracht werden kann,
ist offenbar eine Nebensache.
Wir müssen uns nun zwei sehr wichtigen besonderen
Fragen zuwenden; erstens müssen wir das ,,gesehene“
Neben vom „rein angeschauten“ oder, schlicht gesagt,
„gehabten“ Neben trennen, zweitens müssen wir uns fragen,
wie sich denn das allgemein rein angeschaute Neben zu
dem Raum der Natur stelle.
Der gesehene Raum, bei dem, wie gesagt, nur zwei
Dimensionen in Frage kommen, ist etwas ganz anderes als
der allgemeine „gehabte“ oder rein angeschaute Raum.
Im gesehenen Raum laufen Parallelen aufeinander zu,
wie jeder feststellen kann, der sich Eisenbahnschienen
näher betrachtet. Das Parallelenaxiom wird also mit abso-
luter Evidenz auf Grund „reiner Anschauung“ ausgesprochen
dem Zeugnis des Gesichtsinnes entgegen! Wer das
nicht begreift, hat den Begriff der „reinen Anschauung“,
44
des allgemeinen endgültigen Wesen-Habens, nicht verstanden.
Dieses „Haben“ von Wesen ist nicht „Sehen“, ist viel
mehr als Sehen, und zwar sogar, ehe die reflektierende
Analysis, die uns den Raum als ausgezeichneten einfachsten
Fall erkennen läßt, einsetzt.
Gesehener Raum und rein wesenhaft geschauter
Raum sind also zweierlei Gegenstände.
Der rein wesenhaft geschaute Raum und der Raum
der empirischen Wirklichkeit, insofern sie Natur (nicht
Innenleben) ist, oder kurz der Naturraum, sind aber
dasselbe Ding!
Denn alles, was ich von „Natur“ weiß, geht letzthin
zurück auf ganz unmittelbar bewußt Erlebtes, soweit
dieses irgend ein Raumeszeichen an sich trägt, also „hier“
oder „dort“ ist, „so groß“, „so lang“, „von hier nach dort
bewegt“ usw. Kurz: Alle letzten Data für unser Wissen
um Natur sind Aussagen darüber, daß „Jetzt — Hier —
ein Solches ist“ oder, ganz kurz: Aussagen von der Form
„Jetzt — hier — so“.
Der Naturraum also ist der allgemeine rein angeschaute
Raum, ausdrücklich als „dieser Eine fest fixierte“ ange-
sehen oder auch als „dieser Eine mit diesem (praktisch
freilich nicht bestimmbaren) festen Bezugssystem (Koor-
dinatensystem)“.
Weil nun also der Naturraum der allgemeine rein
angeschaute Raum, unter bestimmtem Gesichtspunkt be-
trachtet, ist, und weil für den allgemeinen rein angeschauten
Raum die euklidische Geometrie mit absoluter Wesens-
evidenz gilt, so gilt auch für den Naturraum die
euklidische Geometrie mit absoluter Wesensevi-
denz, und die Frage, „ob“ wohl die euklidischen Axiome
für den Raum der Physik gelten möchten oder nicht, ist
von vornherein eine Frage ohne jeden Sinn. Ich
Driesch H., Relativitätstheorie und Philosophie. 4
45
weiß um wenige Dinge so sicher, wie ich um die absolute
Gültigkeit der euklidischen Geometrie für die Physik weiß.
Jene Frage nach der Gültigkeit oder Ungültigkeit der
euklidischen Geometrie für die Physik aufwerfen bedeutet
in der Tat nichts anderes, als es bedeuten würde zu fragen:
Gilt der Satz der allgemeinen Farbenwissenschaft, daß Rot
dem Gelb ähnlicher ist als dem Grün, auch für die Natur-
farben? Man weiß gar nicht, was das heißen soll, meine
ich. Man sollte es auch bei der angeblichen geometrischen
Frage nicht wissen!
3. Die Kritik der Theorie. Damit nun kommen wir
endlich unmittelbar auf unser Thema, die Kritik der
allgemeinen Relativitätstheorie Einstein's, zurück.
Unsere eingehenden Vorarbeiten erlauben uns, jetzt ganz
kurz zu sein; denn alles für die Kritik Wesentliche ist
implicite erledigt.
Einstein wirft die Frage auf, „ob“ der Naturraum ein
euklidischer Raum sei oder nicht, und verneint die Frage,
weil er durch Annahme des nicht-euklidischen Wesens des
Raumes die Gravitation „erklären“ zu können glaubt.
Überall, wo Materie ist, soll der Raum der Natur nicht-
euklidisch sein, ja, er soll das sogar an verschiedenen
Orten in verschiedenem Maße sein, wohl gar an unendlich
wenig voneinander verschiedenen Orten in verschiedenem
Maße, so daß Einstein geradezu von einem „Raummollusk“
redet.
Wo nun schon die Frage keine legitime „Frage“ ist,
ist die Antwort natürlich keine legitime Antwort!
Die Frage war übrigens schon von dem Mathematiker
Gauß aufgeworfen worden, und er hatte versucht, sie durch
Messung zu entscheiden, d. h, zu entscheiden, ob die Winkel-
summe eines von drei weit voneinander entfernten Orten
gebildeten Naturdreiecks gleich 2 Rechten sei. Er fand
2 Rechte, Er sah nicht, daß auch, wenn seine Messung
46
anders ausgefallen wäre, irgendwelche störende Umstände
im euklidischen Raum zur Erklärung hätten herangezogen
werden müssen!
Denn der Naturraum, welcher der rein angeschaute
Raum der euklidischen Geometrie, unter bestimmtem Ge-
sichtspunkte betrachtet, ist, ist nun eben euklidisch, kann
wesensmäßig gar nicht anders als euklidisch erfaßt werden.
Das ist eine der ganz wenigen Sachen, die wir ganz
sicher und endgültig wissen.
Ein Anhänger Einstein's hat einmal gesagt, daß wir
in unseren physikalischen Theorien über Zeit- und Raumes-
data beliebig verfügen konnten. Nein: sondern wir können
über alles, was Natur-ursachen angeht, beliebig verfügen
und so viele Wirkungsgesetze und Naturfaktoren ersinnen,
wie wir brauchen, um die beobachteten Phänomene auf
elementare Wirkungsgesetze zurückzuführen; aber die eine
Zeit und der euklidische Raum, die sind wirklich ein
noli me tangere, eine absolute „Norm“, wenn man so
will, für unser Denken.
Einstein leitet aus seiner Lehre die Endlichkeit der
materiellen Welt ab. Ich gehe darauf nicht näher ein.
Denn, wenn die ganze Lehre unerlaubt ist, ist natürlich
auch eine aus ihr gewonnene Konsequenz nicht legitim
gewonnen. Im übrigen ist die Frage nach der Endlichkeit
oder Unendlichkeit des materiellen Universums eine durch-
aus legitime, auch zum Beispiel von E. v. Hartmann
behandelte Frage. Aber sie muß mit legitimen Mitteln
behandelt werden. —
Es ist viel davon geredet worden, daß gewisse astro-
nomische Beobachtungen, nach denen die von Fixsternen
ausgesendeten Lichtstrahlen, wenn sie nahe an der
Sonne Vorbeigehen, auf diese zu aus ihrer Bahn abge-
lenkt werden, die allgemeine Relativitätstheorie Einstein's,
also das nicht-euklidische Wesen des Naturraums, „beweise“.
4*
47
Namentlich im großen Publikum und in der Tagespresse
spielt dieser „Beweis“ eine große Rolle.
Wer aber hier von „beweisen“ spricht, der verstößt
gegen fundamentale Prinzipien desjenigen Teils der reinen
Logik, welcher vom „Schlüsse“, von den Begriffen „Grund“
und „Folge“ handelt. Es gelten nämlich in der reinen
Logik des Schließens zwei fundamentale Sätze. Der erste
heißt: Wer einen Grund zuläßt, muß auch alle Folgen
des Grundes zulassen (oder kurz: Grund bejahen heißt
Folge bejahen). Der zweite lautet: Wer eine Folge als
bestehend ablehnt, der muß auch alles als bestehend
ablehnen, was ihr Grund sein könnte [oder kurz: Folge
verneinen heißt Grund verneinen]. Aber es gibt keinen
Satz, welcher in kurzer Form etwa lautete: „Folge bejahen
heißt Grund bejahen“. Das heißt: Wenn ich weiß, daß
irgend ein Sachverhalt besteht, und daß er irgend einen
„Grund“ hat, so weiß ich damit über das Wesen des
Grundes noch nichts. Wenn die Straße vor meinem
Hause naß ist, so kann es geregnet haben, es kann aber
auch die Straße gesprengt, es kann von einem Kinde
Wasser verschüttet worden sein.
Wer also die Konsequenz einer Theorie als tatsächlich
aufzeigt, hat damit nicht die Theorie bewiesen. Er hat
nur gezeigt, daß die Theorie rein formal-logisch nicht un-
möglich ist. Wer dagegen die Konsequenz einer Theorie
als nicht bestehend aufzeigt, der hat die Theorie selbst
widerlegt.
Die erwähnten astronomischen Beobachtungen haben
also nur gezeigt, daß Einstein's allgemeine Relativitäts-
theorie rein formal nicht unmöglich ist. „Bewiesen“
ist aber hier gar nichts,
Die genannten Beobachtungen über die Ablenkung des
nahe an der Sonne vorbeigehenden Fixsternlichtes sind
natürlich an und für sich sehr wichtig, und man muß Ein-
48
stein Dank dafür sagen, daß er sie angeregt hat. Aber
seine Theorie wird dadurch auch nicht irgendwie gestützt,
geschweige denn „bewiesen“, weil eine phänomenologisch
unmögliche Theorie überhaupt durch nichts „gestützt“
werden kann. Man muß die interessanten Beobachtungs-
ergebnisse irgendwie zu erklären versuchen, aber nur
nicht so, wie Einstein es tut.
Einstein ist ein Kind seiner wissenschaftlichen Umwelt,
und das heißt bei einem Physiker der Jetztzeit: er ist im
Banne der funktional-mathematischen, im Gegensatz zur
kausal-naturlogischen, Weltauffassung. Die Mathematik ist
der Gott der Physiker unserer Zeit, von wenigen Aus-
nahmen abgesehen. Man sieht nicht, daß man mathematisch
immer nur quantitative Begleiterscheinungen der Natur-
phänomene fassen kann, aber nie ihre ganze Fülle. Schon
der Begriff der Ursächlichkeit überhaupt ist mathematisch
unfaßbar; er ist aber ein berechtigter Begriff, welcher
mehr besagt als nur „eindeutige Bestimmtheit“, welche
allein mathematisch fixiert werden kann. Den großen
Unterschied zwischen Kausalität und bloßer „funktionaler“
eindeutiger Zuordnung kann man schon daraus entnehmen,
daß jedes Funktionalverhältnis sich umkehren läßt, ein
Kausalverhältnis aber nicht.
Mach war der Vater der funktionalen Physik, die von
Einstein in ihre letzten, nur noch Mathematik kennenden
Konsequenzen getrieben worden ist. Da ist es denn doch
recht interessant zu erfahren, daß gerade Mach, trotz
seiner Vorliebe für akausale Betrachtungen, die Relativitäts-
theorie ausdrücklich abgelehnt hat, was ihm die radi-
kalen Einsteinianer sehr übel genommen haben.
Lenard hat sich der Relativitätstheorie gegenüber auf
den „gesunden Menschenverstand“ berufen. Diese Berufung
ist, wörtlich und eng verstanden, nun zwar etwas gefähr-
lich, Wenn der „gesunde Menschenverstand“, im üblichen
49
Sinne genommen, so sehr viel wert wäre, so brauchten
wir wohl keine Wissenschaft und keine Philosophie!
Aber: ,,des gesunden Menschen Verstand“, der ist in
der Tat etwas wert, und den gilt es in seiner ganzen
Fülle zum Ausdruck zu bringen. Er ist das Prinzip der
Ordnung in jedem Sinne, Was er an Bedeutungen alles
erfassen kann, lehrt die Ordnungslehre oder Logik oder
auch Phänomenologie. Sie aber zeigt nun eben, daß es
sehr viel mehr Ordnungsformen gibt als nur die mathe-
matischen, und zwar schon im Rahmen der unbelebten Welt.
Im Anfänge des vorigen Jahrhunderts suchte man alle
Naturerscheinungen auf elementare Gesetze des Wirkens
zwischen letzten Einheiten zurückzuführen, so wie Newton
das für die Schwerkraft getan hatte. So entstand zum
Beispiel das Coulomb'sche Gesetz der Elektrostatik und
viele andere Gesetze. Diese Art der ordnungshaften Er-
fassung der Welt ist sehr viel befriedigender im allgemein
logischen Sinne als die „funktionale“, nur mit Gleichungen
arbeitende Methode, welche sie abgelöst hat.
Harmlos, obschon unvollständig, bleibt immerhin die
funktionale Methode, wenn sie zwar nur einen Teil der
Phänomene, aber diesen in phänomenologisch legitimer
Weise trifft.
In Einstein's Theorien aber geht die funktionale Methode
über alle endgültige Wesenserfassung souverän hinweg, das
aber heißt, daß diese Theorien wirklich „gegen des gesunden
Menschenverstand“ sind — im tiefsten Sinne dieses Wortes,
Wir zweifeln nicht, daß unsere Kritik der allgemeinen
Relativitätstheorie als sehr unzeitgemäß, ja, daß sie als
Anmaßung eines Philosophen, der „nichts von der Sache
versteht“, angesehen werden wird. Unsere Ansicht ist es
aber, daß Philosophie ein Regulativ für wissenschaftliche
Lehren bilden müsse, und daß sie nicht allen „Theorien“
als Magd nachzulaufen habe, so wie sie in früheren Zeiten
50
gelegentlich die ancilla theologiae gewesen ist. Über
Wesensmöglichkeiten hat nur die Philosophie als Wesens-
lehre zu entscheiden.
Mag man in mathematischer Formelsprache soviel mit
Nichteuklidischem arbeiten, wie man will. Aus der physi-
kalischen Deutung der Formeln muß das Nichteuklidische
restlos hinaus! Und hinein in die Deutung muß das, was
Mathematik grundsätzlich gar nicht fassen kann: der echte
Begriff der Kausalität in ihren verschiedenen Formen.
Dabei denke ich noch gar nicht einmal an die Lebens-
probleme. Die mathematische Physik unserer Zeit ist
wirklichkeitsarm1, ebenso wie die Mathematik unserer
Zeit, mit ihrer sogenannten „axiomatischen“ Methode,
wesensarm ist.
Man soll nie einen Teil für das Ganze ausgeben.
1 Man lese die gediegene „Philosophie der Naturwissenschaft“
von Th. L. Haering 1923, der ich als Einziges allzugroße Gut-
mütigkeit in der Kritik vorwerfen kann.
51
Literatur
Die kurze Zusammenstellung von Schriften aus der überreichen
Fülle des zur Relativitätstheorie Gedruckten umfaßt einige wich-
tige Werke einführenden Charakters (*), wenige im engeren Sinne
wissenschaftliche Darstellungen, welche aber nur dem mathema-
tisch vorgebildeten Leser verständlich sind (**), ferner kritische
Schriften, sowie einige Arbeiten zur philosophischen Grundlegung
des ganzen Gebiets,
*Born, M, Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physika-
lischen Grundlagen (Als Bd. III der „Naturwissensch. Mono-
graphien u, Lehrbücher“ hgg. v. d. Schriftleitung der „Natur-
wissenschaften“.) 3. Aufl. 1922.
Driesch, H Ordnungslehre. 2. Aufl. 1923.
^Einstein, A Über die spezielle und allgemeine Relativitäts-
theorie. (Samml. Vieweg. H 38.) 13. Aufl. 1923.
* Geometrie und Erfahrung. 1921.
* Freundlich, E. Die Grundlagen der Einstein'schen Gravita-
tionstheorie. 4, Aufl. 1920,
Gehrke, E. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der ver-
schiedenen physikalischen Relativitätstheorien. In „Kant-
studien" 19. 1914
— Physik und Erkenntnistheorie (Wissenschaft und Hypo-
these XXII.) 1922.
Haering, Th- Die Philosophie der Naturwissenschaft, 1923,
Kraus, 0. Fiktion und Hypothese in der Einstein'schen Re-
lativitätstheorie. In „Annalen der Philosophie“ 2. 1920.
*■ - Die Verwechselung von „Beschreibungsmittel“ und „Beschrei-
bungsobjekt“ in der Einstein'schen speziellen undaligemeinen
Relativitätstheorie. In „Kantstudien“ 26 1920
**Laue, M,v Die Relativitätstheorie. l.Bd.4 Aufl. 1920. 2.Bd. 1920,
Lenard, Ph. Über Relativitätstheorie, Äther, Gravitation.
3. Aufl. 1921.
Über Äther und Uräther. 1921.
**H. A. Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski- Das Relati-
vitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen mit einem
Beitrag von H- Weyl u. Anm. von A. Sommerfeld (Fort-
schritte der mathem. Wissenschaften H, 2), 4. Aufl. 1922.
Müller, A. Die philosophischen Probleme der Einstein'schen
Relativitätstheorie. (Die Wissenschaft Bd. 39; 2. Aufl. der
Schrift „Das Problem des absoluten Raumes“). 1922.
* Schlick, M. Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik.
4. Aufl. 1922.
Weyl, H, Raum. Zeit, Materie. 4. Aufl 1921.
Winternitz, J. Relativitätstheorie und Erkenntnislehre.
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Buthbînaare!
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f: • • Saar