Full text: 1962 (0090)

halte der Älteste dem Vater in den Ohren gelegen, 
bis der schließlich nachgab. Aber ganz vergessen 
konnte der Vater diese Geschichte nie. 
Über diesen Gedanken war Mutter Gertrud einge= 
nickt. Stimmengewirr riß ihr die Augen wieder auf. 
O Gott, es war schon elf Uhr durch, und noch war 
nichts gerichtet! 
Wie sich die kranke Frau aufrichten will, fällt sie 
wieder in die Kissen zurück. Fieberschauer treiben 
ihr die Zähne aufeinander. Nach einer Weile ver= 
sucht sie es noch einmal mit dem Aufstehen. Un= 
endlich langsam richtet sie sich auf, kriecht aus dem 
Bett und bleibt zitternd stehen. Ein Schwindelge= 
fühl will sie umwerfen. Mit letzter Willenskraft 
drängt sie die Schwäche zurück. Wie darf sie jetzt 
schwach sein, wenn ihre Gäste jeden Augenblick 
kommen können? 
Mutter Gertrud sperrt die Türe ab — ihre Gäste 
treten auch durch verschlossene Türen ein —, zieht 
ihr bestes Kleid an und schleppt sich zwischen Tisch 
und Schrank hin und her, um die Weingläser auf= 
zustellen. Eines für ihren Mann, sechs für die Kin= 
der und eines für sich selbst. Eine grausame Ar= 
beit ist das mit den Korken! Schließlich hat sie auch 
das geschafft, und aufseufzend stellt sie fest, daß 
eigentlich die Männer diese Arbeit hätten tun 
müssen. 
Aber was soll's? Heute nacht, wenn das neue Jahr 
beginnt, wird sie all ihre Lieben um sich haben, 
dann wird sie wieder fröhlich und glücklich sein. 
Vor lauter Aufregung verschüttet sie etwas Wein, 
als sie gerade das erste Glas füllen will. Unwill= 
kürlich schaut sie dabei auf den Platz ihres Man= 
nes. Der war immer ärgerlich gewesen, wenn etwas 
verschüttet wurde. Er hatte immer gemeint, das 
brächten nur Frauen fertig, die mit ihren Gedanken 
immer woanders sind. 
Mutter Gertrud lächelt. Und mit diesem Lächeln 
auf dem Gesicht zündet sie die acht Kerzen auf 
dem Tisch an, rückt die Stühle ein wenig zurück, 
legt noch dem Feuer nach und dreht dann das Licht 
aus. 
Als sie sich umwendet und zum Tisch schaut, ju= 
beit ihr Herz: sie sind alle gekommen! Doch nein, 
der Platz von Barbara ist leer! Die Hand auf dem 
wild schlagenden Herzen, schleppt sich Mutter 
Gertrud zum leeren Platz ihrer Tochter. Wo ist 
Barbara? Denkt sie nicht mehr an ihre Lieben? 
Die alte Frau schaut in das Gesicht ihres Mannes, 
in die Gesichter der Kinder. Alle lächeln sie. Ach 
so, vielleicht ist es mit Barbara ein Geheimnis! 
Alle wissen darum, nur die Mutter ist ahnungslos. 
Es muß aber ein gutes Geheimnis sein, sonst wür= 
den sie nicht lächeln. 
Voller Freude umarmt die Mutter ihre zweite Toch= 
ter Martha, die vor vielen Jahren mit ihrem zwei 
Wochen alten Kind die Erde verlassen hat. Martha 
hält voller Freude der Mutter ihren Säugling hin. 
Die alte Frau lächelt selig: „Martha, wie freue ich 
mich, daß du heute bei mir bist!" 
Da! Ruft nicht Peter, ihr Mann, etwas zu ihr her= 
unter? „Aber Muttchen, so beeil dich doch! Es war= 
ten noch viel mehr auf dich." 
„Ich komme, ich komme," winkt Frau Gertrud ih= 
rem Manne zu. Ja, so war er immer gewesen. An 
dem Morgen, als sie ihn ohne Leben von der 
Arbeit heimbrachten, hatte er noch beim Weggehen 
gemeint: „Gertrud, du mußt die Kinder nicht so 
verziehen. Im Leben können nur die Harten be= 
stehen." 
Die Mutter begrüßte ihren jüngsten Sohn, den Ar= 
nold. Mein Gott, was hat der nur auf der Stirn? Es 
sieht aus wie ein Loch. Und Ludwig, der neben sei= 
nem jüngeren Bruder sitzt, o Gott, der hat eben= 
falls dieses Loch in der Stirn! Nun fällt es der Mut= 
ter ein; so hatte man ihr damals geschrieben: „Ihr 
Sohn Arnold ist im Osten durch Kopfschuß gefal= 
len." Und dann: „Ihr Sohn Ludwig starb im Osten 
den Heldentod für das Vaterland. Er brauchte nicht 
zu leiden. Ein Kopfschuß brachte ihm einen schnel= 
len Tod." 
Tot? Welch ein dummes Zeug! Da sitzen sie leben= 
dig vor ihr und freuen sich, wieder zu Hause zu 
sein. 
Und jetzt zum Karl! Breit wie immer hockt er am 
Tisch, und Mutter Gertrud hört ihn sagen, wie er 
es immer getan hat: „Na, Mutter, was hast du 
heute Gutes gekocht?" Aber waschen hätte sich der 
Lümmel doch können! Kommt man denn so dreckig 
zu einem Fest, das die Mutter am Silvesterabend 
gibt? Da weiß es die Mutter wieder, und um Ver= 
zeihung bittend streichelt sie die Hand ihres Soh* 
nes: Karl war bei einem Unglück ums Leben ge= 
kommen. Ums Leben gekommen? Schon wieder 
dieses dumme Zeug! Lebendig sitzt ihr Karl da 
und wartet auf die vollen Schüsseln. 
Da ist Franz, ihr Ältester. Seine Uniform ist ja ganz 
naß! Schneit es denn draußen? Ach so, Franz hat 
doch damals geschrieben, daß er in Danzig liege 
und auf den Abtransport durch ein Schiff warte.
	        
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