halte der Älteste dem Vater in den Ohren gelegen,
bis der schließlich nachgab. Aber ganz vergessen
konnte der Vater diese Geschichte nie.
Über diesen Gedanken war Mutter Gertrud einge=
nickt. Stimmengewirr riß ihr die Augen wieder auf.
O Gott, es war schon elf Uhr durch, und noch war
nichts gerichtet!
Wie sich die kranke Frau aufrichten will, fällt sie
wieder in die Kissen zurück. Fieberschauer treiben
ihr die Zähne aufeinander. Nach einer Weile ver=
sucht sie es noch einmal mit dem Aufstehen. Un=
endlich langsam richtet sie sich auf, kriecht aus dem
Bett und bleibt zitternd stehen. Ein Schwindelge=
fühl will sie umwerfen. Mit letzter Willenskraft
drängt sie die Schwäche zurück. Wie darf sie jetzt
schwach sein, wenn ihre Gäste jeden Augenblick
kommen können?
Mutter Gertrud sperrt die Türe ab — ihre Gäste
treten auch durch verschlossene Türen ein —, zieht
ihr bestes Kleid an und schleppt sich zwischen Tisch
und Schrank hin und her, um die Weingläser auf=
zustellen. Eines für ihren Mann, sechs für die Kin=
der und eines für sich selbst. Eine grausame Ar=
beit ist das mit den Korken! Schließlich hat sie auch
das geschafft, und aufseufzend stellt sie fest, daß
eigentlich die Männer diese Arbeit hätten tun
müssen.
Aber was soll's? Heute nacht, wenn das neue Jahr
beginnt, wird sie all ihre Lieben um sich haben,
dann wird sie wieder fröhlich und glücklich sein.
Vor lauter Aufregung verschüttet sie etwas Wein,
als sie gerade das erste Glas füllen will. Unwill=
kürlich schaut sie dabei auf den Platz ihres Man=
nes. Der war immer ärgerlich gewesen, wenn etwas
verschüttet wurde. Er hatte immer gemeint, das
brächten nur Frauen fertig, die mit ihren Gedanken
immer woanders sind.
Mutter Gertrud lächelt. Und mit diesem Lächeln
auf dem Gesicht zündet sie die acht Kerzen auf
dem Tisch an, rückt die Stühle ein wenig zurück,
legt noch dem Feuer nach und dreht dann das Licht
aus.
Als sie sich umwendet und zum Tisch schaut, ju=
beit ihr Herz: sie sind alle gekommen! Doch nein,
der Platz von Barbara ist leer! Die Hand auf dem
wild schlagenden Herzen, schleppt sich Mutter
Gertrud zum leeren Platz ihrer Tochter. Wo ist
Barbara? Denkt sie nicht mehr an ihre Lieben?
Die alte Frau schaut in das Gesicht ihres Mannes,
in die Gesichter der Kinder. Alle lächeln sie. Ach
so, vielleicht ist es mit Barbara ein Geheimnis!
Alle wissen darum, nur die Mutter ist ahnungslos.
Es muß aber ein gutes Geheimnis sein, sonst wür=
den sie nicht lächeln.
Voller Freude umarmt die Mutter ihre zweite Toch=
ter Martha, die vor vielen Jahren mit ihrem zwei
Wochen alten Kind die Erde verlassen hat. Martha
hält voller Freude der Mutter ihren Säugling hin.
Die alte Frau lächelt selig: „Martha, wie freue ich
mich, daß du heute bei mir bist!"
Da! Ruft nicht Peter, ihr Mann, etwas zu ihr her=
unter? „Aber Muttchen, so beeil dich doch! Es war=
ten noch viel mehr auf dich."
„Ich komme, ich komme," winkt Frau Gertrud ih=
rem Manne zu. Ja, so war er immer gewesen. An
dem Morgen, als sie ihn ohne Leben von der
Arbeit heimbrachten, hatte er noch beim Weggehen
gemeint: „Gertrud, du mußt die Kinder nicht so
verziehen. Im Leben können nur die Harten be=
stehen."
Die Mutter begrüßte ihren jüngsten Sohn, den Ar=
nold. Mein Gott, was hat der nur auf der Stirn? Es
sieht aus wie ein Loch. Und Ludwig, der neben sei=
nem jüngeren Bruder sitzt, o Gott, der hat eben=
falls dieses Loch in der Stirn! Nun fällt es der Mut=
ter ein; so hatte man ihr damals geschrieben: „Ihr
Sohn Arnold ist im Osten durch Kopfschuß gefal=
len." Und dann: „Ihr Sohn Ludwig starb im Osten
den Heldentod für das Vaterland. Er brauchte nicht
zu leiden. Ein Kopfschuß brachte ihm einen schnel=
len Tod."
Tot? Welch ein dummes Zeug! Da sitzen sie leben=
dig vor ihr und freuen sich, wieder zu Hause zu
sein.
Und jetzt zum Karl! Breit wie immer hockt er am
Tisch, und Mutter Gertrud hört ihn sagen, wie er
es immer getan hat: „Na, Mutter, was hast du
heute Gutes gekocht?" Aber waschen hätte sich der
Lümmel doch können! Kommt man denn so dreckig
zu einem Fest, das die Mutter am Silvesterabend
gibt? Da weiß es die Mutter wieder, und um Ver=
zeihung bittend streichelt sie die Hand ihres Soh*
nes: Karl war bei einem Unglück ums Leben ge=
kommen. Ums Leben gekommen? Schon wieder
dieses dumme Zeug! Lebendig sitzt ihr Karl da
und wartet auf die vollen Schüsseln.
Da ist Franz, ihr Ältester. Seine Uniform ist ja ganz
naß! Schneit es denn draußen? Ach so, Franz hat
doch damals geschrieben, daß er in Danzig liege
und auf den Abtransport durch ein Schiff warte.