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Eine Kuh
kommt
ins Haus
Von Alfred Petto
ein Vater erreichte ein biblisches Alter. Hätte
er noch zwei Monate länger gelebt, wäre er vier=
undachtzig geworden. So viele Jahre ging dieser
zarte, eigenwillige Mann über die Erde, ohne ein
Buch gelesen zu haben, außer seinem Bienenbuch,
einem Leitfaden für rationellen Obstbau und einer
Beschreibung der Rheinlande. Diese Tatsache gibt
mir den Mut, einmal ein Buch über ihn zu schrei=
ben. Ich zweifle nicht, daß er, hätte ich das schon zu
seinen Lebzeiten getan, nicht das geringste danach
gefragt hätte, was ich da alles von ihm erzählte.
Und jetzt schaut er mir ganz gewiß nicht aus sei=
nem Himmelsfenster über die Schulter. Das aber
versetzt mich in die für einen Erzähler bedenkliche
Lage, seine Fehler und Schwächen aus Fairneß zu
verschweigen oder wenigstens schönzufärben.
Kann ich das? Darf ich das? Ich würde es nie unter*
nehmen, einen Menschen in einem lustigen Buch
der Erinnerung so darzustellen, daß er ohne jeden
Makel war. Solche Gestalten sind die Erfindungen
unredlicher Erzähler. Natürlich hatte mein Vater
auch seine Fehler, aber für mich hatten diese Fehler
immer etwas Liebenswertes und Belustigendes.
Seine Schwächen reizten mich nie zu Ärger oder
Zorn, sondern stets zu Nachsicht oder höchstens zu
Spott.
Er trug auf seinem schmalen Körper einen kan*
tigen, eckigen und ganz und gar eigenen Kopf. Von
äußerer Gestalt war er schmal und eher schmächtig
als robust, sein Gesicht war blaß und hohlwangig,
und wenn seine derbe Mutter nach seiner Geburt
im Spaß von dem Bürschlein, das jede Nahrung
wieder heraussprudelte, gesagt hatte, man solle
ihn an die Wand werfen, so war er sein Leben
lang immer gesund, stark und flink wie ein Wiesel
gewesen. Noch ein paar Wochen vor seinem Tod
ging ich eines Tages mit ihm durch Saarbrücken,
doch plötzlich war er weg, war verschwunden, und
zu meinem Erstaunen sah ich ihn, behend wie ein
Hase, über die Straße laufen, sich auf das Tritt*
brett der Straßenbahn schwingen. Mit stolzem
Grinsen wandte er sich nach mir hin und winkte
mir mit seinem grünen Jägerhütchen zu.
Er war mäßig im Essen, aber verwöhnt und fein*
schmeckerisch, seit er als junger Mann und Soldat
im Offizierskasino Ordonnanz gewesen war. (Lie=
ber Gott, dies neckische Kapitel seines Lebens zu
erzählen, darf ich nicht vergessen!) Er trank nur
sonntags sein Glas Pfalz* oder Moselwein, und
nur in seinen jungen Jahren hat er seine Sonntags*
Zigarre geraucht. So habe ich ihn selten krank ge*
sehen. Wie alle Menschen kleinbäuerlicher Her*
kunft hielt er nicht viel von der Kunst der Ärzte,
sondern kurierte sich mit erprobten Hausmitteln.
Seine Allheilkur waren das Bett, ein ausgiebiger
Schlaf, waren Schwitzen und Teetrinken, vor allem
aber eine kräftige, heiße Zwiebelsuppe.
„Mach mir 'ne Zwiebelsuppe, mir ist nicht gut",
pflegte er dann zu meiner Mutter zu sagen.
Er blieb dann nie länger als anderthalb, höchstens
zwei Tage im Bett, während ihn meine Mutter wie
einen kleinen hilflosen Jungen betreute, ihm drei*
mal am Tag sein Zwiebelsüppchen bereitete, das er
andächtig herunterschlürfte.
„Wenn er krank ist und im Bett liegt", sagte meine
Mutter einmal, „ist der der fügsamste Mann von
der Welt."
Diesen Mann, der sich niemals schwach zeigte und
den die Verwandtschaft für einen ausgemachten
Sonderling hielt und von dem sie nur mit nachsich*
tigern Lächeln sprach, sah sie gerne einmal schwach,
hilfsbedürftig, ihrer sanften Macht ausgeliefert.
Sie konnte dann nicht nur ihre brachliegenden sa=
maritanischen Gefühle verströmen, ohne von ihm
abgewiesen zu werden (denn er war ein herber
Charakter und allen Zärtlichkeiten abhold), son*
dern sie konnte sich endlich einmal der Einbildung
hingeben, das Übergewicht über ihn zu haben. Er
war ihr geistig eindeutig überlegen, an Schärfe und
Weite des Denkens, an Unternehmungsgeist und