Full text: 1962 (0090)

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Eine Kuh 
kommt 
ins Haus 
Von Alfred Petto 
ein Vater erreichte ein biblisches Alter. Hätte 
er noch zwei Monate länger gelebt, wäre er vier= 
undachtzig geworden. So viele Jahre ging dieser 
zarte, eigenwillige Mann über die Erde, ohne ein 
Buch gelesen zu haben, außer seinem Bienenbuch, 
einem Leitfaden für rationellen Obstbau und einer 
Beschreibung der Rheinlande. Diese Tatsache gibt 
mir den Mut, einmal ein Buch über ihn zu schrei= 
ben. Ich zweifle nicht, daß er, hätte ich das schon zu 
seinen Lebzeiten getan, nicht das geringste danach 
gefragt hätte, was ich da alles von ihm erzählte. 
Und jetzt schaut er mir ganz gewiß nicht aus sei= 
nem Himmelsfenster über die Schulter. Das aber 
versetzt mich in die für einen Erzähler bedenkliche 
Lage, seine Fehler und Schwächen aus Fairneß zu 
verschweigen oder wenigstens schönzufärben. 
Kann ich das? Darf ich das? Ich würde es nie unter* 
nehmen, einen Menschen in einem lustigen Buch 
der Erinnerung so darzustellen, daß er ohne jeden 
Makel war. Solche Gestalten sind die Erfindungen 
unredlicher Erzähler. Natürlich hatte mein Vater 
auch seine Fehler, aber für mich hatten diese Fehler 
immer etwas Liebenswertes und Belustigendes. 
Seine Schwächen reizten mich nie zu Ärger oder 
Zorn, sondern stets zu Nachsicht oder höchstens zu 
Spott. 
Er trug auf seinem schmalen Körper einen kan* 
tigen, eckigen und ganz und gar eigenen Kopf. Von 
äußerer Gestalt war er schmal und eher schmächtig 
als robust, sein Gesicht war blaß und hohlwangig, 
und wenn seine derbe Mutter nach seiner Geburt 
im Spaß von dem Bürschlein, das jede Nahrung 
wieder heraussprudelte, gesagt hatte, man solle 
ihn an die Wand werfen, so war er sein Leben 
lang immer gesund, stark und flink wie ein Wiesel 
gewesen. Noch ein paar Wochen vor seinem Tod 
ging ich eines Tages mit ihm durch Saarbrücken, 
doch plötzlich war er weg, war verschwunden, und 
zu meinem Erstaunen sah ich ihn, behend wie ein 
Hase, über die Straße laufen, sich auf das Tritt* 
brett der Straßenbahn schwingen. Mit stolzem 
Grinsen wandte er sich nach mir hin und winkte 
mir mit seinem grünen Jägerhütchen zu. 
Er war mäßig im Essen, aber verwöhnt und fein* 
schmeckerisch, seit er als junger Mann und Soldat 
im Offizierskasino Ordonnanz gewesen war. (Lie= 
ber Gott, dies neckische Kapitel seines Lebens zu 
erzählen, darf ich nicht vergessen!) Er trank nur 
sonntags sein Glas Pfalz* oder Moselwein, und 
nur in seinen jungen Jahren hat er seine Sonntags* 
Zigarre geraucht. So habe ich ihn selten krank ge* 
sehen. Wie alle Menschen kleinbäuerlicher Her* 
kunft hielt er nicht viel von der Kunst der Ärzte, 
sondern kurierte sich mit erprobten Hausmitteln. 
Seine Allheilkur waren das Bett, ein ausgiebiger 
Schlaf, waren Schwitzen und Teetrinken, vor allem 
aber eine kräftige, heiße Zwiebelsuppe. 
„Mach mir 'ne Zwiebelsuppe, mir ist nicht gut", 
pflegte er dann zu meiner Mutter zu sagen. 
Er blieb dann nie länger als anderthalb, höchstens 
zwei Tage im Bett, während ihn meine Mutter wie 
einen kleinen hilflosen Jungen betreute, ihm drei* 
mal am Tag sein Zwiebelsüppchen bereitete, das er 
andächtig herunterschlürfte. 
„Wenn er krank ist und im Bett liegt", sagte meine 
Mutter einmal, „ist der der fügsamste Mann von 
der Welt." 
Diesen Mann, der sich niemals schwach zeigte und 
den die Verwandtschaft für einen ausgemachten 
Sonderling hielt und von dem sie nur mit nachsich* 
tigern Lächeln sprach, sah sie gerne einmal schwach, 
hilfsbedürftig, ihrer sanften Macht ausgeliefert. 
Sie konnte dann nicht nur ihre brachliegenden sa= 
maritanischen Gefühle verströmen, ohne von ihm 
abgewiesen zu werden (denn er war ein herber 
Charakter und allen Zärtlichkeiten abhold), son* 
dern sie konnte sich endlich einmal der Einbildung 
hingeben, das Übergewicht über ihn zu haben. Er 
war ihr geistig eindeutig überlegen, an Schärfe und 
Weite des Denkens, an Unternehmungsgeist und
	        
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