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D ie stattliche Burg Montclair ist längst der
Zerstörung anheimgefallen. Nur Ruinen künden
noch von versunkener Größe und Herrlichkeit.
Wenige Schritte vor dem Eingang in den Burghof
ragt ein flacher, breiter Felsen über den Rand
eines Abgrundes, der zur Saar hin steil abfällt. Es
ist der ebenso berühmte wie berüchtigte Breitem
stein.
Am Rande des Felsens ist ein großes Hufeisen ein»
gemeißelt, und daneben verläuft eine Furche, die,
wie die Sage erzählt, die Spur eines Wagenrades
ist. An diese Zeichen knüpft sich die Erinnerung
an ein Geschehnis, das sich vor Zeiten auf dem
Breitenstein abgespielt hat.
Der Graf, der über die Burg von Montclair gebot,
war einer der mächtigsten Herren des Gaues. Er
hatte eine Tochter, die ebenso tugenhaft war wie
schön. Viele Burgen erhoben sich ringsumher in den
Gauen an der Saar und Mosel, und reiche Ritter,
die schöne Töchter hatten, saßen auf ihnen. Es ging
aber die Rede, die schönste unter ihnen sei die
vieledle Tochter des Grafen von Montclair.
Von weither kamen die Ritter, die schöne Grafen»
tochter zu gewinnen. Sie besaß die seltene Gabe,
den Menschen ins Herz zu sehen, und nahte ein
Ritter, so sah sie sogleich, wes Geistes Kind er
war. All die vielen Bewerber, die um ihre Hand
anhielten, wies sie ab, denn sie fand unter ihnen
nicht einen, der ohne Tadel war. „Es hat noch
Zeit", sagte sie nur und lächelte. Es war ein seit»
sames Lächeln, hinter dem sich das Wissen ver»
barg um die Fehler dessen, der sie zur Frau be=
gehrte.
Eines Tages nun ließ sich auf der Burg Montclair
ein stattlicher Ritter melden. Er kam von weither,
aus deutschen Landen, von dort, wo das Nordmeer
rauscht. Er war von hohem Wuchs und ritter»
Iichem Wesen und sein Herz ohne Furcht und Tadel.
Dies sah das Mädchen auf den ersten Blick. Dies
war er, auf den sie gewartet hatte all die Tage und
Jahre. Ihm wollte sie ihr Herz schenken und kei»
nem anderen, das gelobte sie im stillen. So reich
der Ritter war an schönen Mannestugenden, so
arm war er an Geld und Gut. Aber danach fragte
die Tochter des Grafen von Montclair nicht.
Wieder traf ein Gast auf Burg Montclair ein. Er
kam von Westen her aus Welschland, brachte ein
stattliches Gefolge mit, viel edle Pferde, einen
Kopf voller Esprit und einen gesammelten Schatz
erprobter Galanterien, mit denen er die Grafen»
tochter zu betören suchte.
Stürmisch begehrte er die Tochter des Grafen zur
Frau. Aber ein Blick in sein Herz genügte, um zu
wissen, daß es unbeständig und grausam war. Sie
hätte es auch erkannt ohne die besondere Gabe,
die ihr eigen war. Schon sein flammendes Auge,