Full text: 1961 (0089)

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D ie stattliche Burg Montclair ist längst der 
Zerstörung anheimgefallen. Nur Ruinen künden 
noch von versunkener Größe und Herrlichkeit. 
Wenige Schritte vor dem Eingang in den Burghof 
ragt ein flacher, breiter Felsen über den Rand 
eines Abgrundes, der zur Saar hin steil abfällt. Es 
ist der ebenso berühmte wie berüchtigte Breitem 
stein. 
Am Rande des Felsens ist ein großes Hufeisen ein» 
gemeißelt, und daneben verläuft eine Furche, die, 
wie die Sage erzählt, die Spur eines Wagenrades 
ist. An diese Zeichen knüpft sich die Erinnerung 
an ein Geschehnis, das sich vor Zeiten auf dem 
Breitenstein abgespielt hat. 
Der Graf, der über die Burg von Montclair gebot, 
war einer der mächtigsten Herren des Gaues. Er 
hatte eine Tochter, die ebenso tugenhaft war wie 
schön. Viele Burgen erhoben sich ringsumher in den 
Gauen an der Saar und Mosel, und reiche Ritter, 
die schöne Töchter hatten, saßen auf ihnen. Es ging 
aber die Rede, die schönste unter ihnen sei die 
vieledle Tochter des Grafen von Montclair. 
Von weither kamen die Ritter, die schöne Grafen» 
tochter zu gewinnen. Sie besaß die seltene Gabe, 
den Menschen ins Herz zu sehen, und nahte ein 
Ritter, so sah sie sogleich, wes Geistes Kind er 
war. All die vielen Bewerber, die um ihre Hand 
anhielten, wies sie ab, denn sie fand unter ihnen 
nicht einen, der ohne Tadel war. „Es hat noch 
Zeit", sagte sie nur und lächelte. Es war ein seit» 
sames Lächeln, hinter dem sich das Wissen ver» 
barg um die Fehler dessen, der sie zur Frau be= 
gehrte. 
Eines Tages nun ließ sich auf der Burg Montclair 
ein stattlicher Ritter melden. Er kam von weither, 
aus deutschen Landen, von dort, wo das Nordmeer 
rauscht. Er war von hohem Wuchs und ritter» 
Iichem Wesen und sein Herz ohne Furcht und Tadel. 
Dies sah das Mädchen auf den ersten Blick. Dies 
war er, auf den sie gewartet hatte all die Tage und 
Jahre. Ihm wollte sie ihr Herz schenken und kei» 
nem anderen, das gelobte sie im stillen. So reich 
der Ritter war an schönen Mannestugenden, so 
arm war er an Geld und Gut. Aber danach fragte 
die Tochter des Grafen von Montclair nicht. 
Wieder traf ein Gast auf Burg Montclair ein. Er 
kam von Westen her aus Welschland, brachte ein 
stattliches Gefolge mit, viel edle Pferde, einen 
Kopf voller Esprit und einen gesammelten Schatz 
erprobter Galanterien, mit denen er die Grafen» 
tochter zu betören suchte. 
Stürmisch begehrte er die Tochter des Grafen zur 
Frau. Aber ein Blick in sein Herz genügte, um zu 
wissen, daß es unbeständig und grausam war. Sie 
hätte es auch erkannt ohne die besondere Gabe, 
die ihr eigen war. Schon sein flammendes Auge,
	        
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