Full text: 1961 (0089)

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Und doch, damit man in diesem Land an keinem seiner Punkte vergißt, welch 
eine Macht Kohle, Stahl und Eisen sind, die zum menschlichen und politischen 
Schicksal des Landes durch die Jahrhunderte wurde, reckt sich ganz im Süden die 
Dreieckspitze einer Bergehalde empor, und weit dahinter, schon auf dem Weg ins 
Lothringische kräuselt eine gelbe Rauchwolke herauf und verweht im Blau des 
Horizonts. Wo man auch geht und weilt, überall stehen Land und Mensch unter 
dem Gesetz der Industrie. Die Kohle führt ihr beherrschendes, die Menschen 
mittelbar und unmittelbar ernährendes Regiment. Die Kohle gibt das Brot. Die 
Kohle ist Reichtum, Schicksal, Geschichte, Fluch und Segen dieses kleinen Landes, 
das, fast so groß wie das benachbarte Luxemburg, mehr als eine Million Men= 
sehen beherbergt, auf engstem Raum. 
Zwiegesichtigkeit in allem, in der Struktur der Landschaft, in Wesen und Mund= 
art der Bewohner, in der Geschichte. Ungebrochene, klare und harmonische 
Natur neben entstellter, verunreinigter Natur; klare Wald= und Wiesenbäche, 
verträumte Weiher, hell sprudelnde Quellen über moosigen Steinen — neben 
ölschimmernden, stinkigen, alkalisch riechenden Gewässern und Abwässern, in 
denen zuzeiten die Fische zu Millionen sterben. Hochöfen, Rätterhallen, trostlos 
öde Abraumkegel und all die anderen Konstruktionen der nivellierenden Technik 
neben der Romantik zerbröckelnder Burgen, verfallener Klöster und Rittersitze, 
in deren Mauern die geile Königskerze wuchert. Ehrwürdige Kirchen, durch Alter 
und Wunderglaube geheiligte Wallfahrtsorte, kostbare Schätze einer schlichten 
gotthuldigenden Kunst, edle Funde aus der Keltenzeit und dann wieder Krampf 
und Kitsch, süßliches Pathos und vulgäre Bauformen. Überhastete, knatternde 
Straßen und Autobahnen neben versonnenen Wegen und einsiedlerischen Wald= 
pfaden, die sich durch Fichten= und Buchenwälder schlängeln, an Teichen und 
kleinen Seen entlang, in deren geheimnisvoll blickender Tiefe die Sage schlum= 
mert. 
So ist das Land, so und so und noch viel anders. Man muß es kreuz und quer 
durchwandert haben, um sein Inneres kennenzulernen. Man muß in eine der 
zahlreichen Gruben eingefahren und bis vorne hin, „vor die Kohle", auf dem 
Bauch gekrochen sein, wo die schweißnassen Männer — man lasse sich nicht ein= 
fallen, „Kumpel" zu sagen! — mit kohlenstaubverschmierten nackten Oberkör= 
pern und den gespenstisch schwarzen Gesichtern mit der Schrämmaschine und 
den Bohrhämmern die Kohle „hereingewinnen". Man muß vor den glühenden 
Schlünden der Hütten gestanden haben, in den Walzengassen, an den Bessemer 
Birnen, man muß den Glasbläsern zugeschaut haben bei ihrem altvererbten 
kunstvollen Handwerk, man muß bei den kleinen Bauersleuten im Hochwald 
und an der Blies und Prims und auf dem Saarlouiser oder Merziger Gau geschafft 
haben, um zu verstehen, wie die Leute hierzulande sind, welcher Art ihr Denken 
ist, ihr Fühlen, was sie tun, wie sie mit dem Leben zurechtkommen. 
Auch in dem Menschenschlag herrscht Zwiegestalt und kraftvolles Anderssein 
als die anderen. Im Norden wohnen die Moselfranken, im Süden die Rheinfran= 
ken, die Grenzen sehr grob gezogen. Vieles trennt sie, manches eint sie und 
machte sie einander ähnlich, verwandt. Ihre Dialekte sprechen die Charakter= 
unterschiede aus: das Moselfränkische ist durchweg bedächtig, liebt den mittel* 
baren, verblümten Ausdruck, die Umschreibung. Der kehlige Laut gibt ihnen 
etwas Hartes, Gröbliches, Hausbackenes. Das Rheinfränkische dagegen kommt 
leichtzüngig, direkt, wortreich, ohne Distanz. Jenes hat starke poetische Akzente 
in seinem Reichtum an Metaphern und Symbolen, in diesem ist mehr Unmittel 
barkeit, das Nüchterne, Sachliche der Technik mit einem Einschlag ins Vulgäre, 
Lamentierende. In der moselfränkischen Mundart gibt es die kernige, sehr dich* 
terische Volkslyrik eines Ernst Thrasolt, Dorfnachbar eines Peter Wust, im 
Rheinfränkischen, vollends in seiner Verschlechterung zum Industrieplatt, sucht 
man vergebens nach einem wirklichen Mundartgedicht. 
Die Unterschiede in der Lebensweise beider Volksarten erklären sich aus der 
Andersartigkeit der Berufe und des damit verbundenen Milieus. Die Mosel*
	        
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